Leseprobe - Allitera Verlag

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Richard Wagner. Fotografie von Franz Hanfstaengl, München, 1871
[Portr.A. Wagner, Richard (8)]. Martin Geck: Die Bildnisse Richard Wagners, Nr. 22 A.
Richard Wagner
Die Münchner Zeit (1864–1865)
Ausstellung in der Bayerischen Staatsbibliothek
vom 15. März bis 28. Mai 2013
Erstveröffentlichung von Briefen
Cosima und Hans von Bülows
zu Tristan und Isolde
Herausgegeben von der Bayerischen Staatsbibliothek
Autorinnen: Dr. Sabine Kurth und Dr. Ingrid Rückert
Redaktion: Dr. Reiner Nägele
König Ludwig II., 1864 [Portr.A. Ludwig II., König von Bayern (2)].
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Biografischer Rundgang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
1. Wege nach München . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
2. Berufung nach München . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
3. Tristan und Isolde: Vorbereitungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
Exkurs: Richard Wagners Quelle in einer alten Handschrift . . . . . . 30
4. Tristan und Isolde: Uraufführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
5. Hans von Bülow . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
6. Abschied aus München . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
7. Huldigungsmarsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
8. Der fliegende Holländer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78
Fußnoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
Erstveröffentlichung von Briefen zu Tristan und Isolde . . . . . . . . . . . . . . . 103
Cosima von Bülows Briefe an Malvina Schnorr von Carolsfeld . . . . . . 105
Hans von Bülow an Ferdinand Praeger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
Liste der Exponate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
Vorwort
Am 22. Mai 2013 wird der 200. Geburtstag des Komponisten Richard Wagner
(1813–1883) gefeiert. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts steht Wagner als Dichter, Musikdramatiker, Schriftsteller, Theatertheoretiker, als politisch und weltanschaulich kontroverse Persönlichkeit in ununterbrochener Diskussion – in der sich
von geradezu ideologischer Gefolgschaft bis zur pauschalen Ablehnung jede Facette
finden lässt.
Mit dem unerwartet frühen Regierungsantritt des achtzehnjährigen Kronprinzen
Ludwig (1845–1886) im März 1864 und der sogleich erfolgten Berufung Richard
Wagners (Anfang Mai 1864) wird das etablierte Münchner Musikleben auf eine
schwere Probe gestellt. Wagner ist bestrebt, mithilfe eines ihm aus früherer Zeit
vertrauten und befreundeten Personenkreises ein umfassendes Kunstprogramm in
München zu verwirklichen, das in der Uraufführung von Tristan und Isolde unter
der Leitung Hans von Bülows (1830–1894) kulminiert und seine Strahlkraft bis
heute bewahrt hat. Die unmittelbare Nähe zum Monarchen, die rasche Berufung
externer Kräfte, die schier unerschöpflichen finanziellen Mittel, die Ludwig II. für
Wagner und seine Projekte freigibt, und die Versuche politischer Einflussnahme von
Seiten Wagners verursachen Widerstände und mehrere Presseskandale, die schließlich Anfang Dezember 1865 zur Bitte Ludwigs II. führen, Wagner möge Bayern auf
einige Monate verlassen.
Die in diesem Buch dokumentierte Ausstellung der Bayerischen Staatsbibliothek
wagt es, diese oft erzählte Geschichte von Wagners »Münchner Zeit« (1864 bis
1865) wieder aufzugreifen, anhand des im Hause vorhandenen Quellenmaterials
eigene Schwerpunkte zu setzen und neu erworbene oder weitgehend unbeachtete
Quellen in diesem Zusammenhang erstmals zu würdigen und zu präsentieren.
Der thematische Schwerpunkt liegt dabei auf den Vorbereitungen zur Uraufführung von Wagners Tristan und Isolde und den drei daran hauptsächlich beteiligten
Künstlern: dem Ehepaar Malvina (1825–1904) und Ludwig Schnorr von Carolsfeld
(1836–1865) als ersten Interpreten der Titelpartien und dem unermüdlich tätigen
Dirigenten Hans von Bülow, den Ludwig II. auf Drängen Wagners 1864 als »Vorspieler des Königs« in seine Dienste gestellt hatte. Weit über die Einstudierung und
Dirigate des Tristan und Wagners Ausweisung hinaus ist Bülow der Garant für den
gelungenen Aufbau der »Königlichen Musikschule«, der Etablierung musterhafter Opernaufführungen (darunter 1868 der Uraufführung von Wagners Oper Die
Meistersinger von Nürnberg) und der Erneuerung des Repertoires am Königlichen
Hof- und Nationaltheater in München.
7
Seit 1857 verfügt die Bayerische Staatsbibliothek über eine eigene Musikabteilung, deren erster Leiter, Julius Joseph Maier (1821–1889), Wagners Münchner
Aufenthalt unmittelbar miterlebte. Einige von Wagners veröffentlichten Werken
fanden bereits früh Eingang in die Bestände, während bis heute Musikhandschriften Wagners dort nur sporadisch überliefert sind. Vielmehr bestimmt auch hier das
Umfeld, bestimmen die Quellen des Münchner Musiklebens im 19. Jahrhundert
das Bild; diese finden sich in den großen Nachlässen – zum Beispiel von Franz
Lachner (1803–1890) und Joseph Gabriel Rheinberger (1839–1901) – und der Musiksammlung unserer Bibliothek. Herausragend in diesem Zusammenhang sind
vor allem der Nachlass des Wagner-Schülers und bedeutenden Dirigenten Felix
Mottl (1856–1911) zu nennen sowie das Historische Aufführungsmaterial der Bayerischen Staatsoper, das unter anderem Partituren und Stimmenmaterial zu fünf
Uraufführungen Wagnerscher Musikdramen im Hof- und Nationaltheater enthält.
Der Schwerpunkt an autographen Quellen liegt jedoch in der Handschriftenabteilung mit den umfangreichen Brief- und Dokumentensammlungen des Referates für Nachlässe und Autographen. Die Erwerbung von Dokumenten zu Richard
Wagner und seinem Umfeld reicht ins frühe 20. Jahrhundert zurück und wird bis
in die Gegenwart kontinuierlich weiterverfolgt. Einschlägige Quellen finden sich
unter zahlreichen Handschriftensignaturen, als Teil von Nachlässen ebenso wie als
Einzelautographen. Angesichts der Preisentwicklung konzentriert sich die Erwerbung vorrangig auf hochkarätige Einzelstücke mit Bezug zu München, wie im Jahr
2011 Wagners Brief an den Musikmeister Siebenkäs (1826–1888) aus München zur
Aufführung des Huldigungsmarsches vom 6. Oktober 1864. Ein umfangreiches
Konvolut von ausführlichen Briefen Wagners an seine Mainzer Freundin Mathilde
Maier (1834–1910) beleuchtet exemplarisch die Lebensumstände des Komponisten
in den 1860er Jahren.
Quellen zu Richard Wagner und seiner Zeit kamen vielfach auch im Zusammenhang mit Nachlässen anderer Personen in den Besitz der Bayerischen Staatsbibliothek. So sind aufschlussreiche Fotografien etwa im Nachlass des Sängers und Konservatoriumsdirektors Franz Hauser (1794–1870) enthalten. Ergänzend zu Briefen
und Dokumenten König Ludwigs II. sind Notizen aus der Sicht der bayerischen
Verwaltung in den Tagebüchern von Franz Seraph von Pfistermeister (1820–1912)
überliefert, dem königlichen Kabinettssekretär von Maximilian II. (1811–1864)
und Ludwig II.
Oft gehen Quellen in Nachlässen weit über die Münchner Zeit hinaus, etwa in
den Papieren des Hofsekretärs Ludwig von Bürkel (1841–1903), des Dirigenten und
Münchner Generalmusikdirektors Hermann Levi (1839–1900), des Musikkritikers Willy Krienitz (1882–1954), des Musikschriftstellers und Leiters des RichardWagner-Vereins Hans von Wolzogen (1848–1938), der Solorepetitorin Evelyn Faltis
(1887–1937) oder der Tochter Hans von Bülows, verheiratete Blandine Gräfin von
Gravina (1863–1941).
In nachlassähnlichen Sammlungen finden sich wichtige Wagner-Bezüge in drei
Konvoluten mit Briefen Cosima von Bülows (1837–1930) vor und nach der Ehe-
8
schließung mit dem Komponisten, in Schriftstücken von Persönlichkeiten aus deren
Umkreis, bei den Materialien aus dem Nachlass des amerikanischen Komponisten
Theodore Spiering (1871–1925) und in den Heften des Dirigenten und Komponisten Oscar von Pander (1883–1968).
Ohne das Wirken Hans von Bülows freilich wäre Richard Wagners vielfältiges
Münchner Arbeitsprogramm nicht denkbar gewesen. Ebenso wie Wagner korrespondierte Bülow mit einem weiten Kreis von Kollegen. In den offenherzigen
Briefen an seinen engen Freund, den Pianisten und Komponisten Joachim Raff
(1822–1882), überliefert in den »Raffiana« der Handschriftenabteilung, äußert sich
Bülow über musikalische, gesellschaftliche und politische Themen. Eine wesentlich
distanziertere Haltung nimmt Bülow in den Briefen an den Komponisten und in
London tätigen Musikkorrespondenten Ferdinand Praeger (1815–1891) ein, die in
einigen Schreiben wichtige, bisher völlig unbekannte Aussagen zum Thema des
Wagnerschen Aufenthaltes in München enthalten. Davon werden drei auf Tristan
und Isolde und Wagners Ausweisung aus München bezogene Briefe erstmals in
diesem Buch vollständig veröffentlicht.
Die wichtigste Korrespondenz im Besitz unserer Bibliothek aus dem engsten persönlichen Umkreis in Wagners Münchner Zeit sind die im Jahr 2000 erworbenen
Briefe Cosima von Bülows an ihre Freundin, die Sängerin und erste Isolde Malvina
Schnorr von Carolsfeld. 16 der insgesamt 39 Briefe der Jahre 1865 bis 1866 werden
hier erstmals vollständig ediert. Sie zeigen, wie rasch Cosima die Rolle einer Assistentin und Agentin für Richard Wagner übernahm und ihre zentrale Position zwischen König, Komponist, Dirigent und weiteren Verhandlungspartnern behauptete.
Gleichzeitig mit den Vorbereitungen der Ausstellung wurden für die »Digitalen
Sammlungen« der Bayerischen Staatsbibliothek der Bestand an Musikhandschriften, Erst- und Frühausgaben der musikalischen Werke Richard Wagners sowie
einige einschlägige Briefwechsel aus der Abteilung Handschriften und Alte Drucke digitalisiert. Unter dem Projekttitel »Wagner, Richard: Notendrucke, Musikhandschriften und Briefmanuskripte der BSB« stehen sie online frei zur Verfügung
(http://www.digitale-sammlungen.de).
Die Ausstellung entstand im Zusammenwirken der Abteilungen Musik, dem
Referat für Nachlässe und Autographen der Abteilung Handschriften und Alte
Drucke, der Abteilung Karten und Bilder sowie dem Referat Münchner Digitalisierungszentrum / Digitale Bibliothek der Abteilung Bestandsaufbau und Erschließung. Allen Beteiligten danke ich für ihr großes Engagement.
Danken möchte ich allen externen Leihgebern und Mitarbeitern, die zum Gelingen der Ausstellung und zur Bereicherung dieses Buches beigetragen haben: Herrn
Dr. Friedrich Bechmann und Frau Jutta Bechmann für eine private Leihgabe; Herrn
Gerhard und Frau Rosemarie Hagemann für Ausstattungsstücke zur Möblierung
des Ganges vor der Schatzkammer; Frau Dr. Claudia Blank, Frau Dr. Birgit Pargner
und Frau Dr. Susanne de Ponte vom Deutschen Theatermuseum München für die
Leihgabe von Entwürfen für Bühnenbilder und Kostüme der Uraufführung von
Tristan und Isolde 1865 am Hof- und Nationaltheater in München; Frau Karin
9
Braun für die Leihgabe von Richard Wagners Brille; Frau Dr. Gudrun Föttinger
vom Richard Wagner Museum mit Nationalarchiv und Forschungsstätte der Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth und Herrn Dr. Uwe Gerd Schatz von der Bayerischen Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen für die Bereitstellung von digitalem Quellenmaterial; Frau Irmgard Rückert für ihre Mitarbeit an
der Edition der veröffentlichten Quellentexte sowie Herrn Dr. Jörg Spennemann,
dem stellvertretenden geschäftsführenden Direktor der Bayerischen Staatsoper, für
die Leihgabe zweier wertvoller Gemälde von Ludwig Schnorr von Carolsfeld und
Franz von Lenbach. Ein herzlicher Dank gilt insbesondere den Kuratorinnen der
Ausstellung Frau Dr. Sabine Kurth und Frau Dr. Ingrid Rückert, zugleich Autorinnen dieses Buches, sowie Herrn Dr. Reiner Nägele, dem Leiter der Musikabteilung,
für die Konzeption und Gesamtredaktion dieser Publikation.
Dr. Rolf Griebel
Generaldirektor
der Bayerischen Staatsbibliothek
10
Biografischer Rundgang
Doch erstens hast Du keine Freunde – ein Mensch wie Du,
der nicht seines gleichen hat, der außer aller Linie steht,
einer anderen Welt angehört, als dieser gemeinen und trivialen –
wie sollte dem Freundschaft zu Teil werden können?
Freunde blickt man an, zu Dir blickt man auf.
Hans von Bülow an Richard Wagner1
Mein theurer Freund!
Ludwig II. an Richard Wagner2
1. Wege nach München
Die extreme Bandbreite musikalischer Emotionen, die Richard Wagners Tonsprache charakterisiert, ist auch ein Spiegelbild der Umstände seines Lebens und
Schaffens, denen sich die Ausstellung der Bayerischen Staatsbibliothek am Beispiel
der beiden Münchner Jahre Richard Wagners von Mai 1864 bis Ende 1865 dokumentarisch widmet. Im Mittelpunkt stehen Richard Wagners Beziehung zu seinem
zweiunddreißig Jahre jüngeren Gönner und Förderer König Ludwig II. und die Bestrebungen rund um die Uraufführung von Tristan und Isolde am 10. Juni 1865.
Das Ereignis des Gelingens mag in der Rückschau der Kulminationspunkt von
Wagners Münchner Zeit und angesichts der immensen vorausgehenden Schwierigkeiten Wagners größter und wichtigster Bühnenerfolg sein. Er ist jedoch eingebettet
in ein Panorama lange im Voraus entwickelter Kunstprojekte, deren Realisierung
erst in einem biografisch, institutionell und finanziell abgesicherten Rahmen möglich werden konnte.
Die drei ineinandergreifenden Kernpunkte in Wagners »Kunstprogramm« – Musteraufführungen seiner Werke, die Errichtung einer »Deutschen Musikschule« für die
Ausbildung von hochqualifizierten Nachwuchssängern sowie der Bau eines Festspieltheaters – und die Hoffnung auf ihre Verwirklichung verknüpfen sich unmittelbar
mit den Namen gleichgesinnter Persönlichkeiten, die mit Wagner bereits seit langem
befreundet sind, die er als unmittelbare Mitarbeiter bereits von früher her kennt und
auf deren verlässliche Mitwirkung er auch bei seiner Berufung nach München vertrauen kann: allen voran der Komponist und Dirigent Hans von Bülow, der letztlich
der Garant für die Verwirklichung schon lange bestehender Aufführungswünsche
und kultureller Reformideen Wagners ist; das Sängerehepaar Malvina und Ludwig
13
Schnorr von Carolsfeld, der Komponist Peter Cornelius (1824–1874) als enger Mitarbeiter in der Wiener Zeit, der Architekt Gottfried Semper (1803–1879), Cosima von
Bülow als Mitarbeiterin für die Organisation vieler geschäftlicher Angelegenheiten
und zur Niederschrift seiner von Ludwig II. erbetenen Autobiographie »Mein Leben«,
der Chorleiter und Musikkritiker Heinrich Porges (1837–1900), den er gerne als Sekretär nach München verpflichtet hätte, ein Kreis, der sich innerhalb weniger Monate
noch um zahlreiche strahlkräftige Persönlichkeiten erweitert, wie den Tenoristen und
Gesangslehrer Friedrich Schmitt (1812–1884), den Wagner bereits aus Magdeburg
kennt3, und dessen Schüler, den Münchner Musiklehrer Julius Hey (1831–1909)4.
Dresden
Nicht nur als Schöpfer genialer Musikdramen ist Richard Wagner ein Revolutionär.
Als Königlich Sächsischer Hofkapellmeister präsentiert er sich der Öffentlichkeit
mit risikobereitem, politischem Engagement für republikanische Reformideen auf
Dresdens Barrikaden. Er wird seit seiner Mitwirkung am Dresdener Mai-Aufstand
1849 in Deutschland steckbrieflich verfolgt. Im Unterschied zu manchen seiner
Kampfgenossen, darunter der ihm eng befreundete Kapellmeister August Röckel
(1814–1876), gelingt es Wagner, der Auslieferung an den sächsischen König und
der drohenden Festungshaft zu entgehen. Unterstützt von Franz Liszt (1811–1886),
flieht er über Weimar überstürzt nach Zürich. Dort betätigt er sich zunächst, aufgefangen durch einige in der Schweiz tätige Bekannte aus Würzburger und Dresdener
Kapellmeistertagen und den Künstler- und Gesellschaftskreisen um die Ehepaare
François und Eliza Wille (1811–1896 bzw. 1809–1893) und Otto und Mathilde
Wesendonck (1815–1896 bzw. 1828–1902), als Musikschriftsteller und Komponist.
Zwischen 1850 und 1855 leitet er als Kapellmeister Konzert- und Opernaufführungen des Zürcher Aktientheaters und der Allgemeinen Musikgesellschaft. Er ruft
Hans von Bülow zu sich; als assistierender Kapellmeister arbeitet Bülow eine halbe
Spielzeit lang mit Wagner zusammen und übernimmt im Dezember 1850 für einige
Monate selbstständig die Stelle des Musikdirektors in St. Gallen, wo er als Dirigent
und Pianist große Erfolge feiert.
In Dresden hatte Wagner zwischen 1842 und 1845 seine drei Opern Rienzi, der
Letzte der Tribunen, Der fliegende Holländer und Tannhäuser zur Uraufführung
gebracht. Dichtung und Komposition des Lohengrin sind zum Zeitpunkt der Flucht
abgeschlossen, die Aufführung kann jedoch erst 1850 unter Franz Liszts Leitung in
Weimar stattfinden. Im Exil entstehen zentrale Werke: Bis zur Berufung nach München sind Tristan und Isolde, Das Rheingold und Die Walküre vollendet und zum
Teil schon im Druck veröffentlicht. Die vier Textbücher des Ring des Nibelungen
liegen seit 1853 als Privatdruck vor; die Komposition der Opern Die Meistersinger
von Nürnberg und Siegfried ist fortgeschritten.
14
Zürich und Venedig
In den Schweizer Jahren 1849–1851 entstehen die drei zentralen kunsttheoretischen Schriften Wagners: »Die Kunst und die Revolution«, »Das Kunstwerk der
Zukunft« und »Oper und Drama«. Zusätzlich veröffentlicht Wagner auch die erste
Fassung des antisemitischen Pamphlets »Das Judenthum in der Musik« und »Eine
Mittheilung an meine Freunde«, die das Vorwort der 1851 erschienenen »Drei
Operndichtungen«-Ausgabe von Fliegendem Holländer, Tannhäuser und Lohengrin bildet5.
Bereits 1850 entwickelt Wagner in seiner Korrespondenz auch die »Festspielidee«
als besonderen Aufführungsrahmen in Hinblick auf Siegfried. Darin offenbart sich
»die Verwurzelung der Festspielidee in der Opposition zum bürgerlichen Kunstbetrieb und in der Vorstellung, dass ein Kunstwerk aus der Gegenwart hervorgeht […]
und nach einmaliger Verwirklichung bereits nicht mehr gilt – […]«6 .
Eine weitere, über das lokale Interesse hinausweisende Konstante bildet eine
theaterbezogene »umfassende Reformschrift«7 »Ein Theater in Zürich«. Wie
die vorausgehenden und nachfolgenden Publikationen gleicher Gattung bezieht
sie ihren Impuls aus den unmittelbaren Arbeitserfahrungen als Kapellmeister.
Opernreform ist und bleibt ein Thema, das Wagner erst ab 1864 in München und
Bayreuth in den »Musteraufführungen« von Holländer und Tristan sowie Versuchen der Umstrukturierung der Ausbildungswege für angehende Musiker und der
Idee eines adäquaten Festspielhauses in die Tat umsetzen kann.
Angestoßen durch den Dichter und Revolutionär Georg Herwegh (1817–1875),
lernt Wagner in Zürich die Gedankenwelt und Philosophie Arthur Schopenhauers
kennen. Die Liebesbeziehung und der künstlerische Austausch mit Mathilde Wesendonck und einem weiten Freundeskreis inspirieren Wagner zur raschen Konzeption, Dichtung und Komposition seiner »Handlung in drei Aufzügen« Tristan
und Isolde, deren musikalische Faktur Passagen der fast zeitgleich entstehenden
Vertonung von zweien der fünf Gedichte Mathildes aufgreift, die als WesendonckLieder bezeichnet werden.
Zehn Jahre lang, bis August 1858, bleibt Zürich ständiger Wohnsitz von Richard
und seiner Ehefrau Minna Wagner (1809–1866). Der Komponist verdankt der
mäzenatischen Unterstützung durch den Seidenhändler Otto Wesendonck während der Arbeit am Tristan die schaffensreichste Zeit seines Lebens. Nach einem
von Minna heraufbeschworenen Eklat über die Beziehungen ihres Mannes zum
Hause Wesendonck verlässt Wagner Zürich, trennt sich endgültig von seiner Ehefrau und übersiedelt nach Venedig. Dort arbeitet er im Winter 1858 / 1859 an der
Komposition des Tristan. Im August 1859 ist das Werk nach dreijähriger Arbeit an
Text und Komposition fertiggestellt. Wagner ist bestrebt, seine »Handlung in drei
Aufzügen« baldmöglichst aufzuführen.
Dass Hans von Bülow bei der Produktion der Oper eine zentrale Rolle übernehmen würde und die Uraufführung letztlich nur durch ihn verwirklicht werden
konnte, zeichnet sich bereits früh ab: Er erstellt als engster Mitarbeiter Wagners
15
zeitgleich mit dem Entstehen der ersten vollständigen Niederschrift der Dichtung
(1857) eine aktweise Abschrift von Wagners Textbuch8 . Bülow ist zugleich Verfasser der ersten und bis heute maßgeblichen Klavierauszüge von Tristan und Isolde.
Wagner lässt sich ein erstes Mal auf das waghalsige Unternehmen ein, Komposition, Niederschrift und Drucklegung eines Werkes gleichzeitig zu betreiben, indem er
noch vor dem Abschluss des Gesamtentwurfes der Komposition bereits bestehende
Teile der Partitur sofort an seinen Verleger Breitkopf & Härtel in Leipzig zum Stich
sendet. Wagner und Bülow erhalten die Probeabzüge und entsprechende Seiten des
Partiturautographs vom Verlag zur Korrektur zugesandt. Gleichzeitig erstellt Bülow anhand des vorliegenden Materials den Klavierauszug des Werkes9 .
Da keine Möglichkeit einer raschen Uraufführung der Oper in Aussicht steht, fügt
Hans von Bülow die erste Aufführung des Vorspiels in ein Konzert am 12. März
1859 in Prag ein. Die Bereicherung von Konzertprogrammen um einzelne Ouvertüren, Szenen oder Arien gehört auch im 19. Jahrhundert zur selbstverständlichen
Routine des Konzertbetriebs, auch wenn es sich um Teile aus noch nicht vollständig
auf- bzw. ausgeführten Bühnenwerken handelt. Für Wagner bedeutet dies nicht nur
eine Möglichkeit zur finanziellen Nutzung seiner neuesten Werke; deutlich wichtiger ist dabei das Bekanntmachen der neuen Schöpfungen.
Wagners Weigerung, selbst den nötigen Konzertschluss für das Vorspiel zu verfassen10 , veranlasst Bülow zu eigenem Handeln. Er komponiert einen Konzertschluss,
den er Wagner mithilfe einer Notenskizze am 4. März 1859 brieflich mitteilt: »Mit
dem Schluß zum Tristan (A dur) werde ich’s Dir vielleicht nicht allzu ungeschickt
gemacht haben. Ich behalte eigentlich alles bei, moduliere nur vom ersten G dur
ab gleich eine kleine Terz tiefer – [Notenbeispiel] und nun allmählig immer langsamere Nachhalle des letzten Taktes bis zum gänzlichen Ersterben […]. Wenn Du
schiltst, so bedenke, daß Du selbst dran schuld bist, denn es hätte Dir doch nur einen Federstrich gekostet, etwas Ordentliches zu machen.«11 Wagner antwortet vier
Tage darauf brüsk: »In den Schluß zum Vorspiel kann ich mich nicht finden, bereue
überhaupt, Dir meine Einwilligung gegeben zu haben.«12 Wagner komponiert dennoch im Dezember 1859 selbst einen »geheimnissvoll beruhigenden Schluß«13 für
drei selbst geleitete Konzerte im Pariser »Théâtre Italien«.
Paris und Karlsruhe
Die im ersten dieser drei Konzerte im »Théâtre Italien« am 25. Januar 1860 anwesende Corona der französischen Kollegen – unter anderem Hector Berlioz, Giacomo Meyerbeer, Charles Gounod und Daniel-François-Esprit Auber – gewinnt
etwas ratlos einen ersten Eindruck vom neuen Wagnerschen Klangbild14 . Das
Hauptanliegen von Wagners Aufenthalt in Paris ist ein anderes Großunternehmen:
die erste Aufführung des Tannhäuser in Frankreich. Um eine Annäherung an die
große französische Oper zu erreichen, arbeitet er den Tannhäuser in wesentlichen
16
Teilen um. Die Erstaufführung des Werkes am 13. März 1861 mündet in einen
großen Theater- und Presseskandal; »Bülow ist in Verzweiflung davongegangen«,
notiert der anwesende Heinrich Marschner (1795–1861) in sein Tagebuch15. (In den
zwei nachfolgenden Aufführungen wurde eine ad hoc sehr stark gekürzte Fassung
der Oper gespielt.)
Hans von Bülow versucht, Wagner die Wege zurück an ein deutsches Hoftheater
in einer herausgehobenen Position zu ebnen. Parallel zum Fiasko der ersten Tannhäuser-Aufführung in Paris, das als gemeinsam durchstandene Krise lange bis zur
Münchner »Schweinehunde«-Affäre nachwirkt, ist Hans von Bülow (als »treuer
Klavierhans«, wie er sich selbst in einem Brief an Wagner bezeichnet16) schon wieder in Karlsruhe um diplomatische Vermittlungsversuche bemüht. Im Brief vom
30. März 1861, eine Woche nach der Abreise aus Karlsruhe, beschreibt er detailliert die Erfolg verheißenden Bemühungen, die Gunst des großherzoglichen Paares
für die Uraufführung des Tristan und eine sehr komfortable Bestallung Richard
Wagners am Karlsruher Hoftheater zu gewinnen17. Im Entwurf der Bestallung
schlagen schon Ideen durch, die Wagner tatsächlich in München umsetzen kann:
Der hoch dotierte Dienst als Generalmusikdirektor (mit 5000 Gulden Jahresgehalt)
soll festlichen Aufführungen eigener und selbst gewählter Werke vorbehalten sein;
Wilhelm Kalliwoda (1827–1893) soll als Nachfolger Joseph Strauß’ (1793–1866)
als »diensttuender ordinärer Kapellmeister« wirken. Letztlich zerschlägt sich dieser Plan an den Widerständen der Intendanz und dem schmalen Etat des Theaters.
Karlsruhe gehört zu den ersten deutschen Orten, die Wagner nach seiner Amnestierung aufsucht. Die Teilamnestie für Deutschland ohne Sachsen erlangt Wagner am
15. Juli 1860, die vollständige, durch den sächsischen König gewährte Amnestie
am 28. März 186218 .
Wien
Unverhofft eröffnet sich für Wagner bereits im Frühjahr 1861 die Möglichkeit, die
erste Aufführung von Tristan und Isolde direkt im Wiener Hofoperntheater zu
unternehmen, nicht wie zuvor geplant mit aus Wien engagierten Sängern in Karlsruhe. Wagner übersiedelt von Paris nach Wien. Dort steht ihm Peter Cornelius zur
Seite, der die schwierige Einstudierung der Gesangspartien übernimmt. Das Unternehmen erfährt durch die langwierigen Erkrankungen des Heldentenors Alois
Ander (1821?–1864)19 viele Verzögerungen und wird nach 77 Proben in der Zeit
von April 1861 bis Herbst 1863 Ende 1863 abgesagt20 .
Wagner richtet von vielen Aktionsorten seines Exils aus inhaltsreiche Briefe an
Mathilde Maier, einer in Mainz lebenden Notarstochter, die er im Februar 1862
im Hause des Verlegers Schott kennengelernt hat. Er versucht vergeblich, sie »als
eine Art Haushälterin und Lebensgefährtin an sich zu binden«21, und steht zu ihr in
einer »innig-intimen, aber durchaus mehrdeutigen Beziehung«22 . Gegenüber dieser
17
Briefpartnerin findet Wagner
einen Tonfall großer Offenheit
und Detailfreude, der diese
Briefe zu herausragenden Dokumenten macht.
Aus Wien berichtet ihr Wagner von den Verzögerungen
und Schwierigkeiten bei der
Einstudierung von Tristan und
Isolde und von den Besetzungsschwierigkeiten der Partie des
Tristan mit dem Wiener Tenor
Alois Ander. Schließlich erkennt
Wagner in Ludwig Schnorr von
Carolsfeld den idealen Interpreten dieser Rolle, die diesem in
München als zentrale Sängerpersönlichkeit zufallen wird.
Ihn erlebt Wagner zum ersten
Mal während seines Sommeraufenthaltes 1862 in Biebrich
bei einer Aufführung des Lohengrin in Karlsruhe. Daraufhin ist Wagner so begeistert von
Ludwig Schnorr von Carolsfeld, dass er darauf hinwirkt,
ihn sogar auf eigene Kosten für
Mathilde Maier. Nicht datierte Fotografie
die geplante Aufführung nach
[Cgm 8839(162].
Wien zu holen: »Es ist möglich,
dass Ander doch noch die Partie des Tristan liefert: im höchsten Mistrauen hatte ich aber bereits schon Schnorr’s
Hierherkunft für Januar durchgesetzt, – allerdings, mit grossen Opfern: 1000 fl.
muss ich ihm von meinem Honorar selbst zahlen; und zwar ohne dass Er, noch dass
die oberste Theaterbehörde davon weiss, dass das Geld von mir kommt«23. Dieses
Vorhaben zerschlägt sich.
Dankbar gedenkt Wagner in dieser Zeit auch der »künstlerisch wie auch materiell erfolgreichen Konzertreise nach Rußland«24 , die ihn von den stagnierenden
Proben für Tristan und Isolde in Wien erlöst. Seine Abreise nach Sankt Petersburg
begründet er am 1. Februar 1863 noch von Wien aus gegenüber Mathilde Maier
mit den Worten: »Das Studium des Tristan, so gut es sich jetzt auch anlässt, ist der
eigenthümlichen Störungen durch das Repertoir wegen, doch wohl vor der zweiten
Hälfte des März nicht zur Aufführung reif«25 .
Ein ebenfalls für Mathilde Maier geschriebener Reisebericht aus Pest (20. Juli
18
1863) beleuchtet Wagners berufliche Tätigkeit als Kapellmeister, der in seinen zwei
Gastkonzerten unter anderem Szenen und Fragmente aus den bislang unaufgeführten Bühnenwerken dirigiert; neben Passagen aus dem Ring gehört dazu auch Tristan und Isolde: »Und nun sitze ich einmal wieder mitten drin: Lenke die Conzertprobe, liess Walküren reiten und Tristan u. Isolde sterben!!«26
Insgesamt befindet sich der Komponist kurz nach seinem fünfzigsten Geburtstag
am 22. Mai 1863 bei mangelnder Gesundheit und in einer schweren Schaffenskrise, die er fast mit Worten beschreibt, die er Hans Sachs im »Fliedermonolog« des
zweiten Aktes der Meistersinger von Nürnberg in den Mund gelegt hatte (»Soll
mir die Arbeit nicht schmecken«): »Das Traurigste ist, dass mich die Arbeit nicht
mehr freut. […] Ueberhaupt wird mir die Musik immer lästiger: durch sie verfalle ich
dem eigentlichen Teufel meines Lebens; was ist denn den Menschen Musik? Amüsement, sinnlicher Kitzel! Eher würde es gehen, wenn ich sie ganz an den Nagel
hinge, und nur noch dichtete und so etwa Literatur trieb: man sieht dann die nicht,
mit denen man zu thun hat.«27
Schon ein halbes Jahr zuvor, am 1. Februar 1863, hatte Wagner zu Mathilde
Maier von seiner Sehnsucht nach einem festen Wohnsitz gesprochen und dabei
konkret an »das Badische Oberland, bei Freiburg« gedacht28 . Stattdessen begibt er
sich im März 1864 notgedrungen erneut auf die Flucht und reist von Wien aus zu
François Wille nach Mariafeld am Zürichsee, 29 da er wegen übermäßiger Schulden
in Österreich täglich mit der Inhaftierung rechnen muss.
Der Weg führt ihn über München, wo er sich vom 24. bis 26. März aufhält
und im Hotel »Bayerischer Hof« absteigt. Es herrscht Staatstrauer – eine suggestive Schilderung findet sich in seiner Autobiographie: »Vor wenigen Tagen [am
10. März] war der den Bayern so liebgewordene König Maximilian II. gestorben
und hatte seinen Sohn in dem so jugendlichen, dennoch bereits zum Antritt der
Regierung berechtigenden Alter von 18½ Jahren als Thronerben hinterlassen. An
einem Schaufenster sah ich ein Porträt des jungen Königs Ludwig II., welches mich
mit der besonderen Rührung ergriff, die uns Schönheit und Jugend in vermuteter
ungemein schwieriger Lebenslage erweckt.«30
Wagner ist zwar kein politischer Flüchtling mehr, die erneute Entwurzelung aus
dem verständnisvollen Freundeskreis und der Arbeit an den Meistersingern31 stürzt
ihn dennoch in tiefe Hoffnungslosigkeit. Gegenüber Mathilde Maier äußert er am
5. April 1864 Selbstmordgedanken: »Wann soll ich zur Ruhe kommen? Wer so
elend, wie ich, dem Glücke überlassen ist, und einzig nur darauf bedacht sein muss,
vom Glücke nichts mehr zu verhoffen, der kann nur noch eine Ruhe – im Auge
haben! […] Ich fürchte, nun ist’s mit Allem aus. […] so tief zerstreut und lebensmüde
war ich noch nie.«32
Wagner erreicht die Berufung nach München durch König Ludwig II. völlig unerwartet: Sie versetzt den Komponisten in einen euphorischen Taumel. Mathilde
Wesendoncks Verse: »Hüllet der, der wahrhaft leidet, sich in Schweigens Dunkel
ein«, zu der Wagner die Musik des 3. Tristan-Aktes fand, verlieren mit einem Mal
ihre Bedeutung.33
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2. Berufung nach München
Ludwig II. ist seit seiner Jugendzeit ein glühender Verehrer Richard Wagners. Er
hatte zwischen 1861 und Wagners Ankunft in München (laut Eintragungen in seinen Tagebüchern und im »Besetzungsbuch« der Oper im Bayerischen Hauptstaatsarchiv) jeweils vier Aufführungen von Lohengrin und Tannhäuser erlebt, die ihn
tief beeindruckten. Zudem kannte der theaterbegeisterte Kronprinz unter anderem
Wagners theoretische Schriften »Oper und Drama«, »Das Kunstwerk der Zukunft«
und »Zukunftsmusik«, Franz Liszts »Lohengrin et Tannhäuser de Richard Wagner«
(Leipzig, 1851), sowie die Texte des Fliegenden Holländer und der 1863 erschienenen Textausgabe des Ring des Nibelungen. Kronprinz Ludwig verinnerlicht Wagners darin geäußerte Frage nach der Existenz eines Fürsten, der den Mut habe, die
Aufführung dieses Werkes zu ermöglichen. Der Kronprinz vertraut die permanenten Reflexionen über Eindrücke aus Wagners Schriften und Operntexten seinen Tagebüchern an und fasst am 28. Dezember 1863 den Entschluss, Richard Wagner zu
schreiben. Erst vier Monate später setzt er – als Souverän – diesen Entschluss in die
Tat um34 . Der achtzehnjährige König sieht in dem einundfünfzigjährigen Komponisten den »Künstlertypus personifiziert, dem er selbst so gerne geglichen hätte«35.
Am 10. April 1864 sendet Ludwig II. seinen Kabinettssekretär Franz Seraph Freiherrn von Pfistermeister nach Penzing bei Wien mit dem Auftrag, Richard Wagner
nach München zu holen – der Komponist war schon in die Schweiz abgereist. Nach
längerer Suche auf einer erneuten Reise trifft Pfistermeister am 3. Mai Wagner
schließlich in Stuttgart an und überreicht ihm Brief, Bild und Ring des Königs. Der
Komponist reist mit Pfistermeister nach München und wird tags darauf, am 4. Mai
1864, von Ludwig II. in der Residenz empfangen.
Nicht nur bewundert Ludwig II. den Komponisten seit Längerem, nun hat auch
umgekehrt Wagner für den König Feuer gefangen: »Sieh hier das Bild eines wundervollen Jünglings, den das Schicksal zu meinem Erlöser bestimmte. […] Er liess
mich aufsuchen, überall hin sandte er mir nach. Unsre gestrige Zusammenkunft
war eine grosse, nicht enden-wollende Liebesscene. Er ist vom tiefsten Verständnisse meines Wesens und meines Bedürfnisses. Er bietet mir Alles was ich brauche,
zum Leben, zum Schaffen, zum Aufführen meiner Werke. Nur sein Freund soll
ich sein, keine Anstellung, keine Functionen. Er ist das vollendete Ideal meiner
Wünsche.« (Wagner an Mathilde Maier, München, 5. Mai 1864) Das Porträt ist
bislang nicht identifiziert; höchstwahrscheinlich handelt es sich um ein Porträt des
Hoffotografen Joseph Albert (1825–1886), der zwischen 1860 und 1884 mehrere
Bilderserien von Ludwig II. herstellte36 .
Wagner bezieht Haus Pellet in Kempfenhausen am Starnberger See (Briefadresse:
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