Die Qual der Wahllosen - Messies

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Tages-Anzeiger – Donnerstag, 1. März 2012
Hintergrund
Die Qual der Wahllosen
Die Messies: Sie türmen auf und breiten sich aus, denn sie können nicht anders.
Ein neuer Dokumentarfilm macht klar, warum uns das Chaos der anderen so fasziniert. Es ist nicht unseres.
Von Jean-Martin Büttner
Mit einer Stirnlampe steigt er in die
Tiefe. Er dringt vor, sucht Halt, kriecht
weiter, arbeitet sich vor wie ein Minenarbeiter in der Kohlengrube. Aber Karl
ist kein Minenarbeiter, er ist Architekt.
Und er steigt nicht in eine Grube, sondern in seinen Keller. Und er sucht
nicht, er findet. Und er findet viel. Denn
Karl findet sehr vieles wichtig oder zumindest brauchbar: Radios, Bücher,
Schuhe, Schirme, Schlösser, Zeitschriften, Schrauben, Holz, Metall. Er stapelt
die Sachen im Keller. Er türmt sie im Estrich auf. Er verteilt sie um das Haus herum. Er verstellt damit den Vorplatz.
Karl hat drei Scheunen gemietet und
eine Remise. Alle sind voller Sachen, die
er für wertvoll hält; er allein.
Der Scherbenhaufen
Karl ist ein Messie. Einer von vier, die
der Berner Dokumentarfilmer Ulrich
Grossenbacher in seinem neuen Film
porträtiert. Die vier unterscheiden sich
stark voneinander. Doch sie leiden alle
an einer psychischen Störung, die mangels Alternativen mit diesem verniedlichenden Wort aus Amerika versehen
wird. Zwar hält sich Karl nicht für krank,
dafür leiden andere umso mehr. Seine
Kinder kommen nicht mehr zu Besuch,
weil sie den Müll des Vaters nicht mehr
ertragen. Auch seine Frau Trudi hält es
nicht mehr aus. Sie werde ihn verlassen,
sagt sie ihrem Mann am Anfang des Filmes. Am Ende tut sie es, in einem Akt
der Verzweiflung. Allein steht sie im
Wintergarten, umgeben vom Sammelgut ihres Mannes: «Vierzig Jahre Ehe und
am Schluss ein Scherbenhaufen», sagt
sie. Karl, allein mit seinen Sachen, wirkt
erleichtert. «Jetzt habe ich dann Zeit
zum Aussortieren», sagt er. Stattdessen
häufe er laufend weiter auf, sagen Besucher. Der Hund habe kaum mehr Platz
vor dem Haus.
«Das schöne Chaos», hat der Regisseur seinen Film untertitelt; er nennt
ihn eine Komödie. Aber das sagt mehr
über das Marketing als über den Film.
Denn Grossenbacher verharmlost weder
das Thema, noch macht er die Figuren
lächerlich. Es gibt auch heitere, sogar
selbstironische Auftritte; dennoch werden hier Tragödien verhandelt, das permanente Scheitern beim Versuch, das
Leben zu ordnen, statt in der Unordnung unterzugehen. Auf deutschen Privatsendern werden Messies als Verwahrloste, Verdreckte und Verrückte blossgestellt. Der Schweizer Filmer stellt sie dar.
Er zeigt, statt zu denunzieren, er dokumentiert, statt zu erklären, er lässt reden, ohne sich einzumischen. Und
kommt seinen Protagonisten dabei so
nahe, wie es ihre Scham und ihr Durcheinander erlauben. Dafür hat sich der
Regisseur drei Jahre Zeit genommen.
Am meisten Angst haben Messies vor
der Veränderung. Manchmal kommt der
Impuls von aussen wie bei Arthur, einem
Bauern, der verrostende Autos, Traktoren, Motoren und andere Geräte um seinen Hof streut. Erst entscheiden die Gerichte, dann kommt der Gemeindepräsident und am Ende die Polizei. Arthur
sagt, man wolle ihn kastrieren. Manchmal kommt wenigstens der Wille zur
Veränderung von innen. Elmira hat keinen Bauernhof, bloss eine Wohnung.
Und die ist so voll wie der Estrich. Berge
von Zeitungen türmen sich, Prospekte,
Programmhefte und Tausende von Kassetten. Darauf hat die agile Rentnerin
Kultursendungen aufgenommen, die sie
irgendwann hören möchte. Sie kämpft
seit Jahrzehnten gegen ihre Zwänge.
Zwei messbare Erfolge kann sie vorweisen: eine Büchervitrine, die frei bleibt.
Und einen Pfad, den sie zum Herd schlagen konnte, um sich etwas kochen zu
können. Gegessen wird weiter auf einer
Ecke des Bettes.
Dauernd fällt ihnen etwas ein
Elmira hat dreimal ein Studium angefangen, zuletzt Archäologie. Sie hat auch
mehrere Therapien absolviert, darunter
eine Analyse. Sie kann genau über ihr
Problem reden. Sie kann es bloss nicht
lösen. Dieses Dilemma teilt sie mit Johannes von Arx; der Fachjournalist, gilt
Die Angst vor dem Vakuum: Szenenbild aus dem Dokumentarfilm von Ulrich Grossenbacher. Foto: Fair & Ugly
als Pionier der Schweizer Szene. Er hat
sich früh und öffentlich zu seiner Störung bekannt. Er hat die erste Selbst­
hilfegruppe koordiniert, Kontakt zu Mitleidenden gesucht. Er publiziert zum
Thema, konsultiert Fachliteratur, hat
den Verband Less Mess initiiert samt
Website. Er entwirft Theorien, hält Vorträge.
Man trifft die beiden an einem neutralen Ort, sie sitzen an einem Sitzungstisch in einem Versammlungsraum. Sie
bei sich zu Hause zu besuchen, wäre
nicht möglich gewesen. Und auch hier
fangen sie sofort damit an, das Zimmer
aufzufüllen. Nicht mit Papier oder Sperrgut. Dafür mit Wörtern. Die beiden sind
intelligent und gebildet, können gut re-
Messies suchen
nicht, sie finden.
Und sie finden
alles wichtig.
den. Und sie hören nicht auf damit. Der
therapeutische Jargon bestimmt ihr Vokabular. Sie deuten sich selber und einander mit lückenlosen Psychologismen.
Routiniert berichten sie von schrecklichen Erfahrungen aus ihrem Leben,
­Elmira von ihrer alles kontrollierenden
Mutter, Johannes von Jahren der Verzweiflung und Einsamkeit. Beide wirken
getrieben, reden hastig, dauernd fällt ihnen wieder etwas ein. «Wie die Natur
hält der Messie das Vakuum nicht aus»,
sagt Johannes einmal. Das Vakuum stehe
für Leere, und diese sei Ausdruck von
Hilflosigkeit, Unsicherheit. «In der Fülle
suchen wir Ersatz, und weil wir ihn nicht
finden, schaffen wir eine Überfülle um
uns herum.»
Einverstanden. Aber warum Wert­
loses häufen, statt Wertvolles zu sammeln? Johannes lacht: «Ein Messie wird
bei jeder Schraube und jedem Prospekt
eine Erklärung dafür finden können,
­warum er es nicht wegwerfen kann.
‹Man kann es noch brauchen›: Das ist
unser Mantra.» Elmira: «Was ich sammle,
ist Ausdruck meiner vielen Interessen.
Darum konnte ich mich auch nicht für
ein Studium entscheiden. Denn Wählen
heisst Auswählen, und Auswählen heisst
Einschränken.»
Was denn passieren würde, fragt man
sie, wenn ihre Wohnung einfach geräumt
würde? Das sei schon mehrmals vorgekommen, sagt Elmira, wenn gar nichts
anderes geholfen habe. «Mir kam es jedes
Mal so vor, als reisse mir jemand die Haut
ab.» Im Kopf wisse sie ganz genau, wie absurd ihr Verhalten sei, aber der Körper
wisse davon nichts. «Wenn ich Wörter
wie Ordnung, Aufräumen oder Mulde
nur schon höre», sagt sie, «dreht sich bei
mir der Magen um.»
Das lässt wenig Hoffnung zu, aber die
Hoffnungslosigkeit täuscht. Elmira und
Johannes finden ihre Lage aussichtslos,
aber nicht mehr so ernst. Elmira empfand schon eine grosse Erleichterung, als
sie vor rund zehn Jahren in der Sendung
«Quer» Johannes reden hörte und merkte,
dass sie nicht allein war mit ihrem Problem. Auch die Therapien hätten ihr geholfen, sagt sie. Sie sei ihre Schuldgefühle
los; sie könne akzeptieren, wer sie sei. Ihr
Mitmachen im Film habe viele gute Reaktionen ausgelöst. Am schönsten die Erfahrung, die sie während der Dreharbeiten gemacht habe: von ihrem Sohn erst
besser verstanden und dann ganz akzeptiert zu werden.
Auch Johannes sagt, dass es ihm
heute deutlich besser gehe. «Ich kann an
einem Flohmarkt vorbeigehen, ohne etwas zu kaufen», sagt er. «Ich kann einen
Haufen Sperrgut anschauen und mir genau überlegen, ob ich dieses kaputte
Velo wirklich brauche.» Beruflich gehe
es vorwärts, und seit vier Jahren lebe er
in einer sehr guten Beziehung.
Wir sind alle überfordert
Gegen zwei Prozent der Bevölkerung leidet unter dieser ungewöhnlichen, auffälligen Störung. Sie wird behelfsmässig
mit «Organisations-Defizit-Syndrom»
umschrieben, es gibt aber noch keinen
offiziellen Krankheitsbegriff dafür. Das
hat weniger damit zu tun, dass sich der
Allerweltsbegriff «Messie» so schnell
durchsetzte. Sondern mehr, weil die
Unterschiede zwischen den Betroffenen
viel grösser sind als die Gemeinsamkeiten. Der Hang zum Horten nämlich, die
Unfähigkeit zum Ordnen sind eher Folge
denn Ursache. «Die äussere Unordnung
symbolisiert den Kampf gegen eine innere Leere, hinter der sich oft eine Depression verbirgt», sagt der Psychotherapeut Heinz Lippuner. Die Störung
habe sowohl mit Zwang als auch mit
Sucht zu tun. Der Psychologe hat schon
Hunderte von Messies erlebt, in Selbsthilfegruppen, in seiner Praxis, an öffentlichen Debatten. Und dabei ein Paradox
wahrgenommen: Viele Messies scheitern an ihrem Perfektionismus. Sie wol-
Immer wieder
sabotieren sie
die Hilfe, die sie
so nötig haben.
len ihre Sachen so gut ordnen, dass sie
gar nicht erst damit anfangen.
Der Psychologe tut im Gespräch, was
Messies gerade nicht können: Er räumt
auf. Mit Vorurteilen, Verklärungen, Verallgemeinerungen. Messies hat es schon
immer gegeben, erfährt man von ihm,
und zwar auch in sehr armen Ländern.
Es mag Gemeinsamkeiten mit der Kaufsucht geben, und man ist auch versucht,
das Verhalten als Symptom einer Konsum- und Wegwerfgesellschaft zu interpretieren. Von einer Zivilisationskrankheit mag Lippuner aber nicht reden.
Dass man heute so viel mehr über
Messies erfahre, führt der Psychologe
auf die vielen Medienberichte zurück.
Das enorme öffentliche Interesse deutet
er als «heimlichen Protest gegen unsere
eigene Ersetzbarkeit», als «Ausdruck
unserer Überforderung mit den wuchernden Angeboten der Freizeitgesellschaft». Ihm ist zudem eine aufschlussreiche Parallele aufgefallen: Die Medien
hätten in den Neunzigerjahren damit be-
gonnen, sich für das Phänomen der Messies zu interessieren. Zur selben Zeit
seien die Vorstellungen populär geworden, die das Individuum als eine Art
Ich-AG begreifen – im Sinne, dass jeder
ein Unternehmer seiner selbst sei und
aus seinem Leben etwas machen müsse.
«Der Neoliberalismus leitete daraus sein
politisches Programm ab: wirtschaft­
licher Egoismus als Selbstverwirk­
lichung.» Da biete sich der Messie als
ideale Pathologisierung an. «Er ist die
Projektionsfigur des Gescheiterten.»
Messies widerstehen Therapien
Der Therapeut sieht bei Messies auch
einen Hang zur Selbstverklärung. «Sie
halten sich für kreativ, was sie selten
sind. Sie sind oft sehr kontaktfreudig,
deswegen aber noch nicht sozial begabt.
Sie wähnen sich dauernd im Recht, obwohl andere ihretwegen leiden.» Dazu
kommt eine destruktive Intelligenz im
Umgang mit Konflikten. Davon weiss Helene Karrer-Davaz zu erzählen, die als
Haushaltsmanagerin vor Ort hilft. Immer wieder erlebt sie, wie Messies Hilfe
sabotieren, Termine ignorieren, Abmachungen hintertreiben und vor allem:
Ämter und Helfer gegeneinander ausspielen. «Sie wollen ihr Verhalten ändern, tun sich aber unglaublich schwer
damit. Dafür sind sie Meister darin, uns
immer wieder hinzuhalten.»
Selbsthilfegruppen und Einzeltherapie könnten die Probleme lindern, sagen
die Fachleute, aber nicht lösen. Das beginnt schon damit, dass Messies mehr an
den Folgen ihrer Störung leiden denn an
der Störung selber. Sie fangen viel zu
spät eine Therapie an, die wenigsten von
ihnen freiwillig. Oft habe sich die Störung verselbstständigt, sagt Lippuner,
und das Symptom versteinere. «Das Einzige, was dann noch bleibt, ist Schadensbegrenzung.»
Etwa der freigelegte Pfad vom Eingang zum Bett. Und an den Herd.
UIrich Grossenbacher: «Messies – das
schöne Chaos», ab heute in den Kinos.
Infos unter www.lessmess.ch
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