Partizipative Entscheidung ist nicht immer einfach, aber

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BaslerZeitung 15.06.2017 | Meinung und Profile | Seite 15
Second Opinion
Partizipative Entscheidung ist nicht
immer einfach, aber anzustreben
Von Manuel Battegay
Szenario 1*: Ein 51-jähriger Patient wird notfallmässig in kritischem Zustand
wegen einer schweren Weichteilinfektion hospitalisiert. Die Todeswahrscheinlichkeit liegt bei zirka 15 Prozent und würde ohne Operation und sofortige Antibiotikaabgabe kurzfristig weiter ansteigen. Der Patient sagt, er
möchte sterben. Der Arzt erklärt die Bedrohlichkeit und Wichtigkeit eines sofortigen Vorgehens. Der Patient stimmt der vorgeschlagenen Behandlung zu.
Szenario 2: Eine 63-jährige Frau riskiert wegen erhöhter Blutfette an
Herz/Kreislauf zu erkranken. Nach einer differenzierten Meinungsbildung
entschliesst sie sich, auf eine medikamentöse Therapie zu verzichten, Diät zu
halten und mehr Sport zu treiben.
Szenario 3: Bei einer 47-jährigen Patientin wird eine Infektion der
Herzklappe festgestellt. Diese erfordert eine gezielte intravenöse,
mehrwöchige Antibiotikatherapie und gegebenenfalls einen chirurgischen
Eingriff. Auf die Frage, ob zwei Wochen Antibiotika nicht reichen, erklärt die
Ärztin, dass diese Therapiedauer zu kurz und nicht Erfolg versprechend sei.
Die Patientin stimmt nach dieser Auskunft der empfohlenen Therapie zu.
Eine partizipative Entscheidungsfindung, in der Fachterminologie «Shared
decision making» genannt, war nur in Szenario 2 vollumfänglich gegeben.
Das ändert aber nichts daran, dass der Patient/die Patientin in allen drei
Szenarien intensiv miteinbezogen wurde. Die Autoren Gerber und Co.
diskutieren partizipative Entscheidungsfindungen im klinischen Kontext
(Schweiz. Ärztezeitung 2014; 95:50, S. 1883–89). Entscheidungsbasis ist die
evidenzbasierte Medizin, das heisst, was aufgrund von Studien und Erfahrung
für Diagnostik, Therapie und Vorgehen belegt ist. Eine partizipative
Entscheidungsfindung ist Priorität, wenn mindestens zwei praktisch
gleichwertige Optionen vorhanden sind, zum Beispiel verschiedenartige
chirurgische Eingriffe, die Wahl von Medikamenten, oder das Abwarten als
Option.
In Akutsituationen ist der Faktor Zeit entscheidend und häufig ist ein unter
Spezialisten angepasstes Vorgehen optimal, um die Behandlung erfolgreich
zu gestalten. In Szenario 1 war der Patient verzweifelt und deshalb froh, dass
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er nicht wirklich über den Entscheidungsweg mitbestimmen musste.
Trotzdem war das Zuhören, Aufklären und die Beantwortung von Fragen
unabdingbar. Zuerst non-verbal, dann ausdrücklich gab er sein Einverständnis
zum weiteren Handeln. In Szenario 2 wurden Wahlmöglichkeiten der
Therapie bei Bluttfettstörungen sorgfältig erörtert, Kriterien, Lebensqualität
und Wertvorstellungen reflektiert und gegeneinander abgewogen. In Szenario
3 gab es bei einer Herzklappeninfektion keine Alternativen – die Mortalität
wäre bei Nichthandeln nahezu 100 Prozent im Gegensatz zur gut möglichen
Heilung. Unter fachlichen Gesichtspunkten war somit die indizierte
Behandlung eindeutig. Auch hier entschied am Schluss die Patientin.
Selbst in einem «alternativlosen» Szenario ist der Arzt nach eingehender
Aufklärung auf das Einverständnis des Patienten angewiesen und auf
Vertrauen als Basis. Auch wenn in akuten, intensiven Situationen mit hoher
Komplexität die gemeinsame Entscheidungsfindung erschwert ist, steht der
letzte Entscheid dem Patienten zu. Besonders ist die Situation bei nicht
ansprechbaren Patienten, wo der mutmassliche Wille eines Patienten mit
Angehörigen eruiert wird.
Bundesrat Berset schlägt eine neue ambulante Tarifierung unter anderem mit
Zeitrestriktionen vor. Dies wird partizipatives Entscheiden erschweren –
leider! Paradoxerweise wird Medizin ohne genügend Zeit für ein gutes
Gespräch teurer werden und sicher nicht besser, weil verschiedene Optionen,
so auch präventive Wege, weniger genau diskutiert werden können.
Partizipatives Entscheiden ist nicht einfach. Überzeugen Sie sich davon, zum
Beispiel in diesem Sommer auf einer Wanderung mit Familie oder Freunden,
wenn über alternative Wege, Pausen etc. diskutiert wird. Gemeinsam
entscheiden – auch dann, wenn Sie einen grossen Informationsvorsprung
haben oder unterschiedliche Rollen wahrnehmen.
*Die Patientenbeispiele sind derart verändert und kombiniert, dass sie nicht
einer wirklichen Patientengeschichte entsprechen; sie hätten sich jedoch so
zutragen können.
Manuel Battegay ist Professor für Infektiologie und Innere Medizin und als
Chefarzt der Klinik Infektiologie & Spitalhygiene am Universitätsspital Basel
tätig. Er schreibt diese Kolumnen als Privatperson.
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