Magerwahn 2.0: Wie Pro-Ana und Pro-Mia - Beck-Shop

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Bachelorarbeit
Magerwahn 2.0: Wie Pro-Ana und Pro-Mia Essstörungen glorifizieren
Bearbeitet von
Stefanie Sukal
Erstauflage 2015. Taschenbuch. 72 S. Paperback
ISBN 978 3 95820 423 2
Format (B x L): 15,5 x 22 cm
Weitere Fachgebiete > Pädagogik, Schulbuch, Sozialarbeit > Sozialarbeit >
Sozialarbeit: Kranken-, Alten- und Behindertenhilfe
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Leseprobe
Textprobe
Kapitel 3.1.1, Exkurs: Ätiologiemodell und Risikofaktoren
Die Frage, wie Essstörungen entstehen, beschäftigt die Forschung zwar seit längerem, doch kann
sie bisher nicht vollständig geklärt werden. Da Essstörungen – und somit auch Anorexie und
Bulimie – zu den psychischen Störungen gezählt werden, stützen sich die meisten
Entstehungstheorien auf ein multifaktorielles Ätiologiemodell (vgl. JACOBI u.a. 2004: S. 21). Die
Bezeichnung multifaktoriell bezieht sich hierbei auf „drei wesentliche Klassen von ,Ursachen‘ […]:
prädisponierende, auslösende und aufrechterhaltende Faktoren“ (GROß 2008: S. 54), die
zusammenwirken müssen, damit sich eine Essstörung manifestieren kann. Dies bedeutet auch,
dass es nicht nur eine Ursache gibt und die Entstehung von Essstörungen ein komplexer Vorgang
ist. Dadurch wird die Prävention erschwert, die in mehreren Lebensbereiche wirken muss um
erfolgreich zu sein
Die Vorgänge, die zu einer Essstörung führen, hat Jacobi in einem sogenannten
Bedingungsmodell zusammengefasst (vgl. JACOBI u.a. 2004: S. 34ff. und JACOBI 2011: S.
205ff.): „Soziokultureller Kontext, Risikofaktoren [und ein] niedriges/labiles Selbstwertgefühl“
(JACOBI 2011: S. 206) sind die Grundlage, auf der Anorexie und Bulimie entstehen können.
Ausgelöst wird die Erkrankung durch bestimmte Situationen oder Lebenslagen. Es kommt zum
bereits beschriebenen Krankheitsbild, gezeichnet durch einen Kreislauf von Nahrungskontrolle
und kompensatorischen Maßnahmen. Aufrechterhalten wird dieser Kreislauf durch den Ehrgeiz,
die Nahrungsaufnahme noch stärker zu reglementieren. Dieses Verhalten bedingt „körperliche,
psychische und soziale Folgeschäden“ (ebd.: S. 206), die wiederum das Selbstwertgefühl weiter
senken und somit zur Aufrechterhaltung der Störung beitragen. Die Unterscheidung in Ursachen
und Folgen einer Essstörung ist dabei oft schwierig (vgl. JACOBI u.a. 2004: S. 21). Das labile
Selbstwertgefühl z.B. ist Ursache und Folge zugleich
Viele der Risikofaktoren, die bei der Entstehung von Essstörungen eine Rolle spielen, können
ebenso nicht eindeutig als ursächlich bezeichnet werden. Als sicher kann nur gelten, dass es eine
Vielzahl unterschiedlicher Faktoren gibt, die sich grob in drei Bereiche gliedern lassen:
biologische, psychosoziale und soziokulturelle Risikofaktoren
In biologischer Perspektive stellt sich vor allem die Frage, ob Essstörungen genetisch bedingt
sind. Familien- und Zwillingsstudien haben zwar ergeben, dass es in der direkten Verwandtschaft
zu Anorexie- oder Bulimiepatient_innen ein erhöhtes Erkrankungsrisiko gibt (vgl. FRIELING &
BLEICH 2008: S. 63 f.), eine zwangsläufige Erkrankung lässt sich dadurch allerdings nicht
vorhersagen. Ebenso wird ein Mangel an verschiedenen Hormonen und am Neurotransmitter
Serotonin als Ursache für Essstörungen diskutiert, doch ist hierbei unklar, inwieweit diese Werte
ursächlich sind, da sie auch durch die Störung selbst hervorgerufen werden können (vgl.
WUNDERER & SCHNEBEL 2008: S. 58f.)
Die Gruppe der psychosozialen Risikofaktoren bezieht vor allem die familiäre Situation sowie
individuelle Verhaltensmuster und Copingstrategien ein. Das bereits erwähnte niedrige
Selbstwertgefühl ist dieser Gruppe zuzuordnen, ebenso wie ein ausgeprägtes Diätverhalten,
exzessive sportliche Betätigung, negative und belastende Lebensereignisse (z.B. sexueller
Missbrauch), weitere psychische Erkrankungen, familiäre Probleme im interaktiven und
kommunikativen Bereich sowie ein starker Perfektionismus (vgl. JACOBI u.a. 2004: S. 22). Auch
hier finden sich Faktoren, die sowohl Ursache als auch Folge sein können: Eine gestörte
Kommunikation zwischen einer Tochter und ihren Eltern kann auch durch das gestörte
Essverhalten der Tochter entstanden sein
Weitere Risikofaktoren liegen schließlich im soziokulturellen Bereich, also in gesellschaftlichen
Anforderungen und kulturellen Prägungen. „Den wichtigsten Aspekt scheint der westlich geprägte,
gesellschaftliche Druck zum Schlanksein darzustellen…“ (JÄGER 2008: S. 75), welcher zwar nicht
alleinverantwortlich für Essstörungen ist, aber aufgrund seiner ständigen Präsenz, z.B. in den
Medien, nicht unterschätzt werden darf. Schlankheit ist Teil des modernen Schönheitsideals in der
westlichen Gesellschaft. Wie dieses Schönheitsideal gestaltet ist, wie es sich auf die Entstehung
von Anorexie und Bulimie auswirkt und welche Rolle die Vermittlung durch diverse Medien dabei
spielt, wird nun im Folgenden erläutert
3.1.2, Bedeutung des medialen Schlankheitsideals
Das aktuelle Schönheitsideal für Frauen ist durch mehrere Aspekte geprägt. Waltraud Posch führt
an dieser Stelle „Schlankheit, Jugendlichkeit, Fitness und Authentizität“ (POSCH 2009: S. 85) an.
Für diese Arbeit ist allerdings nur Schlankheit relevant und somit gehe ich allein darauf ein.
Während Gesundheitsinstitutionen den Body Mass Index als Maßstab für Körper anlegen,
vertreten Medien und Modeindustrie ein Schlankheitsideal, dass sich in nur drei Zahlen
niederschlägt: 90-60-90 (vgl. ebd.: S. 86). Gemeint ist der ideale Brust-, Taillen- und Hüftumfang
einer erwachsenen Frau in Zentimetern. Diese Traummaße werden vor allem durch eine
Berufsgruppe vertreten, nämlich die der Models. Das britische Model Cara Delevingne erfüllt
beispielsweise diese Anforderungen: Sie hat ihrer Agentur zufolge einen Taillenumfang von 60,96
Zentimetern und einen Hüftumfang von 86,36 Zentimetern, als Konfektionsgröße wird 34
angegeben (vgl. STORMMODELS). Doch nicht nur Models verkörpern dieses Ideal. Die
Süddeutsche Zeitung konstatierte anlässlich einer deutlich sichtbaren optischen Veränderung der
Schauspielerin Renée Zellweger: „Die Filmindustrie fordert makellose, fettlose, alterslose Stars“
(KOCK 2014). Schlankheit ist also gefragt und sogar eine Voraussetzung, wenn Frauen als
Models oder Schauspielerinnen erfolgreich sein wollen. Somit wird das Schlanksein auch mit
Erfolg und Starksein gleichgesetzt. „Wer abnimmt, hat sich unter Kontrolle, wird bewundert –
selbst oder gerade wenn er bereits sehr schlank ist“ (WUNDERER & SCHNEBEL 2008: S. 53). All
diese Faktoren setzen sich zum Idealbild einer überaus schlanken, willensstarken, erfolgreichen
und bewundernswerten Frau zusammen
Einer breiten Masse zugänglich gemacht wird dieses Idealbild vor allem durch seine
breitgefächerte mediale Vermittlung. Über den Auftritt der jünger und schlanker aussehenden
Renée Zellweger berichteten im Oktober 2014 mehrere Internetseiten, darunter die
Onlineredaktionen der Welt, des Sterns und des Spiegels (vgl. BING NEWS 2014). Cara
Delevingne war 2014 auf dem Titelblatt der Septemberausgabe der britischen Vogue zu sehen,
einer der bekanntesten Modezeitschriften der Welt (vgl. VOGUE). In Filmen, Serien und
Fernsehwerbungen sowie auf Plakatwänden sind schlanke Models und Schauspielerinnen auch
ständig präsent. Somit ergibt sich eine große Bandbreite an Medien, die dieses Schlankheitsideal
der Öffentlichkeit präsentieren und es dadurch zu einem medialen Schönheitsideal machen
Obwohl sich Frauen und Mädchen in vielen Situationen und Bereichen mit dem Ideal des
schlanken weiblichen Körpers konfrontiert sehen, entspricht dieser keineswegs der Realität. „Beim
aktuellen Schönheitsideal handelt es sich einen an Unterernährung erinnernden Kunstkörper“
(POSCH 2009: S. 87). Wie weit dieser Kunstkörper von realen Frauenkörpern entfernt ist, wird
klar, wenn man die durchschnittlichen Maße deutscher Frauen zum Vergleich mit dem 90-60-90Ideal heranzieht: Die Nationale Verzehrsstudie II misst bei Frauen einen durchschnittlichen
Taillenumfang von 83 Zentimetern (MRI 2008: S. 79) und einen durchschnittlichen Hüftumfang
von 103,6 Zentimetern (vgl. ebd.: S. 80). Der Hüftumfang liegt somit 13,6 Zentimeter über dem
propagierten Ideal, der Taillenumfang sogar 23 Zentimeter darüber. Die durchschnittliche
deutsche Frau müsste ihren Körperumfang also drastisch reduzieren um wenigstens in die Nähe
des Schlankheitsideals zu kommen. Das scheint viel verlangt und ist auf gesundem Wege kaum
zu erreichen
Anorexie und Bulimie stehen nicht für den gesunden Weg der Gewichtsreduktion. Gerade
Anorektikerinnen, die aufgrund ihres Krankheitsbildes ja bereits untergewichtig sind, müssten das
Schlankheitsideal erfüllen bzw. sogar unterbieten. Daraus müsste sich nun folgern lassen, dass
der Schlankheitsdruck, der durch die Medien aufgebaut wird, eine der Hauptursachen für Anorexie
ist. Doch genau das ist nicht der Fall. Bei der Entstehung von Anorexie stehen psychosoziale
Probleme im Vordergrund und nicht das Ziel, so schlank wie das mediale Idealbild zu werden (vgl.
JÄGER 2008: S. 76). Die bereits erwähnte Gleichsetzung von Gewichtsreduktion mit Stärke,
Selbstkontrolle und Bewunderung ist allerdings ein wichtiger Aspekt der Aufrechterhaltung einer
anorektischen Erkrankung. Durch das Gefühl, stark zu sein und bewundert zu werden, wird das
Selbstwertgefühl der Betroffenen gesteigert und somit kann der Kreislauf der Störung
fortbestehen. Das Schlankheitsideal wirkt sich also auf die Manifestation der Anorexie weit mehr
aus als auf ihre Entstehung
Als Ursache für Bulimie spielt der Schlankheitsdruck hingegen eine wichtige Rolle:
Vorausgehende, jahrelange Diätversuche sind typisch für Bulimikerinnen und haben ihren
Ursprung im vorherrschenden schlanken Schönheitsideal (vgl. ebd.: S. 77). Aufgrund der positiven
Konnotation von Schlanksein und Selbstwert kommt dem medialen Schönheitsideal eine große
Bedeutung bei der Aufrechterhaltung einer bulimischen Störung zu, ebenso so wie bei einer
anorektischen Störung
Welchen Einfluss Medien generell auf Frauen haben, die ein erhöhtes Risiko tragen an einer
Essstörung zu erkranken, zeigt Katrin Kiehl in ihrer Studie von 2011: Durch Computerexperimente
und Fragebögen fand sie heraus, dass Frauen mit einem hohen Erkrankungsrisiko „lieber so
aussehen wollen wie die Frauen, die im Fernsehen und in Filmen auftreten, und wie Models in
Zeitschriften und Musikvideos“ (KIEHL 2011: S. 143). Zudem ist ihr Medienkonsum (Internet,
Zeitschriften, Fernsehen) im Vergleich zu Frauen mit niedrigerem Risiko wesentlich höher und sie
messen Schlankheit eine größere Bedeutung zu (vgl. ebd.: S. 144). Die verschiedenen Medien mit
ihrem Schönheitsideal beeinflussen also die individuelle Meinung über Schlankheit und können
sogar Auswirkungen auf die Entstehung und Aufrechterhaltung von Anorexie und Bulimie haben.
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