Geschichte der Psychopharmaka

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W
Peter F. Riederer, Gerd Laux (Hrsg.)
Grundlagen der
Neuro-Psychopharmakologie
Ein Therapiehandbuch
SpringerWienNewYork
Prof. Dr. Dr.h.c. Peter Franz Riederer
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie,
Klinische Neurochemie, Universität Würzburg
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Gerd Laux
Inn-Salzach-Klinikum gGmbH, Fachkrankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie,
Psychosomatische Medizin und Neurologie, Wasserburg a. Inn · Rosenheim · Freilassing,
Akademisches Lehrkrankenhaus der Ludwig-Maximilians-Universität München
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ISBN 978-3-211-85472-3 SpringerWienNewYork
Geleitwort
1992, das ist eine geraume Zeit her, haben wir,
Gerd Laux, Walter Pöldinger und Peter Riederer, Band 1 der damals konzipierten Handbuchreihe „Neuro-Psychopharmaka“ die „Allgemeinen Grundlagen der Pharmakopsychiatrie“
unter Einschluss vieler kompetenter und renommierter Autoren herausgegeben. Der geneigte
Leser wundert sich wahrscheinlich, warum eine
Neuauflage des Bandes solange auf sich warten
lassen musste. In der Tat sind ja die anderen
Bände unserer umfassenden sechsbändigen
Therapie-Handbuchreihe bereits in mehreren
Neuauflagen erschienen. Im Gegensatz zu psychotropen Substanzen, die bedingt durch industriellen Konkurrenzdruck relativ rasch in
marktreife Produkte umgesetzt werden, sind die
dafür zugrunde liegenden Erkenntnisse weniger dynamisch entwickelbar. Ebenso sind Kapitel wie klinische Prüfstudien, Compliance,
juristische Aspekte, Therapie während Schwangerschaft und Stillzeit, Abusus und Abhängigkeit sowie Statistik alles Themen, die keinem
starken Wandel unterzogen sind.
Nun aber ist es Zeit, eine Aktualisierung
vorzunehmen und grundlegende Aspekte der
Neuro-Psychopharmakologie auf ein zeitgemäßes Niveau zu bringen.
Die Herausgabe von Büchern zur Fortbildung hat sich in den letzten Jahren zunehmend
schwieriger gestaltet. Lassen sie uns dieses Thema in diesem Vorwort aufgreifen.
Es sind eine Reihe von Faktoren, basierend
auf gesellschaftlichem Wandel und veränderten Maßstäben in den Interaktionen Patient –
Arzt – Regulationsbehörde – Pharmaindustrie,
die einem Wandel unterliegen. Wie wurden
Ärzte 1992 fortgebildet und wie sind Möglichkeiten und Anspruch heute? Geändert hat sich
vornehmlich der „Wert“ eines Buchartikels für
den Autor. Das Buch und der Buchartikel spielen
in der bibliometrischen Erfassung (fast) keine
Rolle mehr. Während bis zum Ende der 80er
Jahre des vorigen Jahrhunderts das Verfassen
eines Handbuchartikels eine Ehre war und man
stolz darauf sein konnte, dem elitären Kreis der
ausgewiesenen, erfahrenen Fachwissenschaftler
anzugehören, ist heute die persönliche Meinung
eines Autors zu einem Themenbereich Randerscheinung des Wissenschaftsbetriebes. Dies
hängt damit zusammen, dass Buchartikel und
Buch keinem peer-review-Verfahren, also Prüfung des Inhalts durch andere Spezialisten des
Fachgebietes, unterliegen. Im Gegensatz zu wissenschaftlichen Originalpublikationen, für wel-
VI
che peer-review-System und Impact-Faktoren
(IF) noch eher Sinn machen, sind wir der Meinung, dass die derzeit vorliegende bibliometrische Bewertungsart von Übersichtsarbeiten
und Buchkapiteln zu einem Verlust der Standortbestimmung und -bewertung eines Themenbereiches führt. Gerade die durch einen kompetenten Experten unter Einschluss seiner
klinischen Erfahrung erfolgende bewertendsynoptische Darstellung eines fast unübersehbaren Publikationsberges macht für den Leser
das „Salz in der Suppe“ aus.
Dem gegenwärtigen Wissenschaftssystem
ist das egal – es zählt nur, was einen IF-Wert
aufweist. Der Buchartikel wird für den AutorNachwuchs wertlos. Es wird daher in der Folge
zunehmend schwieriger, jüngere Autoren für
diesen so wichtigen Bereich der Fortbildung zu
gewinnen. Dabei erfüllt gerade der Handbuchartikel die modernen Kriterien der Unabhängigkeit von der Pharmaindustrie, des Antikorruptionsgesetzes und der freien Meinungsäußerung.
Im Buch kann man schmökern, „mal schnell
was nachschlagen“, Analogien rasch nachgehen,
alles Dinge, die selbst das Internet kaum und
wenn nur bedingt bieten kann. Warum schafft
man also kein eigenes Bewertungssystem für
wissenschaftliche Bücher? Es ist höchste Zeit,
dieses Problem zu lösen, da die von der Pharmaindustrie unabhängige Fortbildung von Ärzten
zunehmend wichtiger wird.
Als Herausgeber eines Viel-Autoren-Werkes
und eingedenk obiger Erschwernisse freut man
sich daher, so man es geschafft hat, alle WunschAutoren zur Abgabe ihrer entsprechenden Kapiteln bewegt zu haben. Dass geplante bzw. gesetzte Deadlines von einigen Autoren/Kollegen
fast die Grenzen freundschaftlicher Toleranz
überstiegen, sei nicht verschwiegen.
Nun aber legen wir alle unser Werk vor!
Der vorliegende Band beinhaltet grundlegende theoretische und therapeutische Aspekte
der Psychopharmakotherapie: Zunächst werden
neben einem historischen Abriss die „Grundbedingungen der Psychopharmakotherapie“, nämlich Arzt-Patienten-Beziehung, Nutzen und
Geleitwort
Risiko sowie ethische Aspekte der Pharmakopsychiatrie dargelegt. Es schließen sich die theoretischen Grundlagen von Studien am Tier,
präklinischen Humanversuchen, des Pharmako-EEGs, der Pharmakopsychologie, der Psychometrie und Skalierung sowie die Darstellung des Placebo-Problems, der Compliance
und der Review-/Meta-Analysenproblematik
an. Des Weiteren werden juristische Aspekte
sowie Ergebnisse der Pharmakoökonomie behandelt. Grundlagenkapitel beleuchten molekulare Grundlagen, Wirkmechanismen, Aspekte
der Pharmakogenetik sowie Basiswissen der
Pharmakokinetik. Die Perspektive der Praxis
findet in den Kapiteln Psychopharmaka und
Lebensqualität, Psychopharmaka und Fahrtauglichkeit, Psychopharmaka in Schwangerschaft
und Stillzeit sowie in den Abschnitten Psychopharmakotherapie bei Kindern und Jugendlichen bzw. in der Geriatrie/Gerontopsychiatrie
Berücksichtigung.
Gesondert wird auf das Problem Abusus
und Abhängigkeit, Kombination von Psychopharmaka und kombinierte Pharmako- und
Psychotherapie eingegangen. Der Band schließt
mit einem Kapitel über Qualitätsmanagement
und Leitlinien.
Die Herausgeber danken vor allem den
Autoren, die die Herausgabe dieses Werkes ermöglicht haben. Besonders gedankt sei Frau
I. Riederer für ihre Sekretariats-Tätigkeit sowie
dem Springer-Verlag für die verständnisvolle,
angenehme Zusammenarbeit und die hervorragende Ausstattung des Werkes.
Für konstruktive Kritik und Anregungen
sind wir aufgeschlossen. Möge mit der Herausgabe dieser Handbuchreihe auch im deutschsprachigen Raum die Forschung auf dem Gebiet
der Neuro-Psychopharmakologie trotz zunehmender Hindernisse intensiviert werden. Dem
in Klinik und Praxis tätigen Facharzt soll die
tägliche Arbeit durch ein kompetentes Handbuch erleichtert werden.
P. Riederer, G. Laux
Würzburg/Wasserburg, im Herbst 2009
Inhaltsverzeichnis
1.
Grundbedingungen der
Psychopharmakotherapie . . . . . . . . . . . 1
H. Hinterhuber
und E. A. Deisenhammer
2.
Historischer Abriss: Geschichte
der Psychopharmaka . . . . . . . . . . . . . . 11
R. Tölle und H. Schott
3. Neurobiologische Grundlagen . . . . . . 31
3.1 Neurotransmission
und Signaltransduktion. . . . . . . . . . . . . 31
P. F. Riederer, A. Eckert, J. Thome
und W. E. Müller
3.2 Pharmakologische Grundlagen . . . . . . .63
W. E. Müller
3.3 Verhaltenspharmakologie
und typische Testmodelle . . . . . . . . . . . 99
W. E. Müller
3.4 EEG-Mapping und
EEG-Tomographie in der
Neuropsychopharmakologie . . . . . . . 109
B. Saletu, P. Anderer, J. Stanek
und G. M. Saletu-Zyhlarz
3.5 Bildgebende Verfahren . . . . . . . . . . . . 125
H. P. Volz
4. Psychologische Grundlagen . . . . . . . 137
4.1 Neuropsychologische Grundlagen . . 137
A. Brunnauer
4.2 Persönlichkeit, Persönlichkeitsstörung
und Psychopharmakaeffekte. . . . . . . . 153
H. P. Kapfhammer
4.3.1 Psychoedukation . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
W. Kissling
4.3.2 Patientenaufklärung. . . . . . . . . . . . . . . 187
J. Bäuml
4.4 Partizipation,
Integrierte Versorgung . . . . . . . . . . . . 199
W. Kissling und J. Hamann
5. Methodik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
5.1 Klinische Prüfung . . . . . . . . . . . . . . . . 215
T. Reum und K. Broich
5.2 Ratingskalen und Interviews
in der Psychopharmakotherapie . . . . 227
R.-D. Stieglitz
5.3 Systematische Reviews und Metaanalysen und ihre Bedeutung in der
Bewertung von Psychopharmaka . . . 245
S. Leucht
VIII
Inhaltsverzeichnis
5.4 Wirksamkeitsnachweis/
Placeboproblematik . . . . . . . . . . . . . . . 255
H.-J. Möller und K. Broich
5.5 Compliance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279
M. Linden
6. Pharmakokinetik . . . . . . . . . . . . . . . . 289
6.1 Allgemeine Grundlagen . . . . . . . . . . . 289
W. E. Müller, C. Hiemke und P. Baumann
6.2 Spezielle Pharmakokinetik . . . . . . . . . 305
W. E. Müller, C. Hiemke und P. Baumann
6.3 Therapeutisches Drug-Monitoring . . 313
B. Pfuhlmann, J. Deckert und C. Hiemke
6.4 Pharmakogenetik . . . . . . . . . . . . . . . . . 337
P. Baumann
7.
Nomenklatur, Einteilung
von Psychopharmaka . . . . . . . . . . . . . 353
G. Laux
8.
Pharmakoepidemiologie . . . . . . . . . . 369
J. Fritze
9.
Unerwünschte Wirkungen/
Nebenwirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 391
D. Degner, R. Grohmann und E. Rüther
10. Interaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405
C. Hiemke
11. Kombinationen
von Psychopharmaka . . . . . . . . . . . . . 425
Th. Messer, C. Tiltscher und M. Schmauß
12. Kontrolluntersuchungen unter
Therapie mit Psychopharmaka. . . . . 451
Ch. Stuppäck, Ch. Geretsegger und
Ch. Egger
13. Psychopharmaka und
Lebensqualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465
D. Naber, M. Bullinger und A. Karow
14. Psychopharmaka und
Fahrtüchtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475
A. Brunnauer und G. Laux
15. Psychopharmakotherapie bei
Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . 483
C. Mehler-Wex und J. M. Fegert
16. Psychopharmaka in Schwangerschaft
und Stillzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507
E. M. Meisenzahl
17. Psychopharmaka in Geriatrie und
Gerontopsychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . 521
H. Förstl, M. M. Lautenschlager,
N. T. Lautenschlager und G. Laux
18. Die medikamentöse Therapie von
Missbrauch und Abhängigkeiten
(Tabak, Alkohol
und illegale Drogen). . . . . . . . . . . . . . 537
O.-M. Lesch, W. Platz, M. Soyka und
H. Walter
19. Gesundheitsökonomische
Bewertungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557
R. Dodel, U. Siebert und J. Wasem
20. Kombinierte Pharmako- und
Psychotherapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575
G. Sachs und H. Katschnig
21. Rechtliche Grundlagen
der Behandlung (Einwilligung und
Ersatzeinwilligung). . . . . . . . . . . . . . . 589
N. Nedopil
22. Qualitätsmanagement, Leitlinien:
Entwicklung und Implementierung
von Leitlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601
B. Janssen, R. Menke und W. Gaebel
Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617
1
Grundbedingungen
der Psychopharmakotherapie
H. Hinterhuber und E. A. Deisenhammer
„Das letzte und höchste Ziel aller Forschung
ist die Bekämpfung der Krankheiten.“
Emil Kraepelin
1.1 Einführung
In den letzten zwei Jahrzehnten haben psychopharmakologische Therapiestrategien einen beeindruckenden Entwicklungsschub vollzogen.
Die derzeitige Situation ist durch folgende Gegebenheiten gekennzeichnet:
Das ärztlich-medikamentöse Armamentarium wurde und wird durch einen Anstieg
neu zugelassener Arzneimittel immer mehr
erweitert. Dies führt allerdings – als unerwünschte und aus ärztlicher Sicht unbefriedigende Begleiterscheinung – zunehmend
dazu, dass ältere, durchaus verdiente Präparate, die bei Therapieresistenz oder als intramuskuläre Depot-Antipsychotika im ärztlichen Alltag durchaus noch ihren Stellenwert
haben, aus Rentabilitätsgründen von den
Herstellerfirmen vom Markt genommen
werden.
Es finden zunehmend Medikamente, die bereits in der somatischen Medizin zugelassen
sind (beispielsweise Antikonvulsiva), eine Indikation im Rahmen psychischer Störungen.
Mit neuen Substanzgruppen können die für
die Behandlung psychischer Erkrankungen
bedeutsamen Neurotransmittersysteme und
deren prä- und postsynaptische Rezeptoren –
mittlerweile unter weitgehender Ausschaltung der nicht gewünschten Aktivierung
anderer, vorwiegend nebenwirkungsrelevanter Transmitter – gezielter stimuliert
beziehungsweise blockiert werden. Damit
stehen nun für die Behandlung der Schizophrenie sowie der affektiven Störungen Medikamente zur Verfügung, die bei meist
gleicher Wirkung ein deutlich günstigeres
Nebenwirkungsprofil gegenüber den „alten“
Substanzen aufweisen. In der Demenzbehandlung wurden mit der Hemmung der
Acetylcholinesterase und der Blockade der
NMDA-Rezeptoren erstmalig spezifische
Wirkansätze entdeckt.
Die überwiegende Mehrzahl der neu eingeführten Substanzen basiert noch auf dem Paradigma einer Neurotransmitter-Dysbalance als
biologisches Korrelat psychiatrischen Krankseins. Parallel dazu wurden jedoch – teils unabhängig, teils in Ergänzung dazu – neue Zugänge
2
der Beeinflussbarkeit des Zentralnervensystems
gefunden oder zumindest angedacht. Klinischepidemiologische Forschung, neuroendokrinologische und molekularbiologische Erkenntnisse tragen dazu bei, die Entstehung psychischer
Krankheiten zunehmend besser zu verstehen
und neue therapeutische Optionen zu eröffnen.
So haben, um nur ein Beispiel zu nennen, die
Beobachtungen eines späteren Erkrankungsbeginns schizophrener Psychosen bei Frauen den
Zusammenhang mit dem Östrogen-System zu
einem Forschungsfokus gemacht (Häfner et al.
1998; Riecher-Rössler et al. 2003, 2005). Inwieweit ein antipsychotischer Therapieansatz mit
Östrogenen allerdings tatsächlich Eingang in
den klinischen Alltag finden wird, wird – auch
angesichts der zunehmend effizienteren Forschung zur Arzneimittelsicherheit – die Zukunft zeigen (Chua et al. 2005).
In der Depressionsforschung könnte die
Hypothese der frühkindlichen, chronischen
oder rezidivierenden Stress-Belastung mit Autonomisierung der primär Stimulus-gesteuerten Cortisol-Ausschüttung und nachfolgender
Störung des Serotonin-Haushaltes eine Art
„missing link“ zwischen den (tiefen-)psychologischen Postulaten frühkindlicher Traumatisierung und korrespondierenden biologischen
Vorgängen auf Rezeptor-Ebene darstellen (Van
Praag 2005). Entsprechend werden antagonistisch am Corticotropin-Releasing-Hormon-Rezeptor wirkende Substanzen bereits in Studien
auf ihre antidepressive Potenz untersucht (Baldwin und Thompson 2003). Ein MelatoninAgonismus oder ein Substanz-P-Antagonismus
stellen weitere Beispiele für die Erweiterung und
Ergänzung der Monoaminmangel-Hypothese
für depressive Erkrankungen dar.
Die Implosion des Dogmas von der Unfähigkeit von Nervenzellen, sich nach der Geburt
noch weiter teilen und vermehren zu können,
hat für das Verständnis der Entstehung, aber
auch der therapeutischen Beeinflussbarkeit psychischer Krankheiten neue Wege bereitet. Im
Laufe der letzten Jahre konnte zunehmend gezeigt werden, dass, zumindest in einigen Hirnarealen, das Potential zur Neubildung von
Neuronen auch beim Menschen bis ins Erwachsenenalter gegeben ist. Die hippocampale Neu-
1 Grundbedingungen der Psychopharmakotherapie
roneogenese, moduliert durch biologische und
psychosoziale Faktoren und damit Ausdruck
der Plastizität des zentralen Nervensystems,
könnte in absehbarer Zeit die postulierte Störung der Transmitter-Balance als zentrale biologische These depressiver Krankheiten ablösen (Jacobs et al. 2000).
Abgesehen von einzelnen Indikationen, in
denen primär andere Therapiestrategien zum
Einsatz kommen, ist die Psychopharmakotherapie unzweifelhaft die zentrale Säule im
multidimensionalen Behandlungsspektrum psychischer Krankheiten. Ebenso unbestritten sind
allerdings die immer noch bestehenden Unzulänglichkeiten und Probleme, die mit der
medikamentösen Behandlung psychischer Störungen einhergehen. Auch die neueren Antidepressiva und Antipsychotika sind mit einer Reihe
von potentiellen Nebenwirkungen belastet. Früher weniger beachtete Medikamenteneffekte,
wie etwa das Auftreten sexueller Dysfunktionen,
cardiale oder metabolische Nebenwirkungen
werden nun systematischer untersucht, was, meist
fälschlicherweise, zum Eindruck einer scheinbar größeren Häufigkeit dieser Nebenwirkungen bei den neueren Medikamenten geführt hat
(Deisenhammer und Hinterhuber 1999).
An den unbefriedigend niedrigen Ansprechraten und den zu langen Latenzzeiten bis zum
Eintritt der spezifischen Wirkung eines Medikaments hat sich substantiell noch nichts geändert.
Schließlich nimmt die Akzeptanz von Psychopharmaka, deren Natur es ja ist, in die
(krankhafte, aber) subjektive Art der Wahrnehmung der Umwelt und in die selbstgesteuerte
Interaktion mit der Umgebung einzugreifen
(und die damit nicht selten als Korrekturinstrument des individuellen Erlebens und des Ausdrucks erfahren werden), in der Bevölkerung
nur langsam zu (Angermeyer und Matschinger
2005). Dies ist eng mit der Stigmatisierung psychischer Krankheiten verbunden. (Gaebel et al.
2006; Meise und Wancata 2006)
Ökonomische Faktoren und politische Vorgaben beeinflussen schließlich die ärztliche
Verschreibungskultur zunehmend und führen
dazu, dass nicht in allen Fällen für den Patienten die beste psychopharmakologische Strategie
gewählt werden kann.
3
1.2 Unspezifität der Wirkung von Psychopharmaka
Die Beforschung einer Erkrankung und deren therapeutischer Beeinflussbarkeit hängt somit nicht unwesentlich von den wirtschaftlichen Interessen der pharmazeutischen Industrie
ab. Der aus der Medizin der Entwicklungshilfe
stammende Begriff der „orphan diseases“ (Iribarne 2003) beschreibt Krankheiten, die insgesamt wenig beforscht werden, da sie entweder
selten sind oder – wie Malaria, Tuberkulose oder
die Chagas-Krankheit – überwiegend Menschen
betreffen, für deren Gesundheitsversorgung
nur sehr limitierte Finanzmittel zur Verfügung
stehen, weshalb eine Investition in eine innovative Therapieforschung keinen großen finanziellen Gewinn verspricht. Innerhalb der Psychiatrie könnte entsprechend von „orphan therapies“
gesprochen werden, wenn man etwa das Ungleichverhältnis von Forschungsarbeiten zum
Thema Psychotherapie (und Soziotherapie) im
Vergleich zu der Vielzahl von psychopharmakologischen Publikationen betrachtet. Unter den
ersten 50 der derzeit 95 wissenschaftlichen
Zeitschriften des Fachbereiches „Psychiatry“
des Journal Citation Report, Science Edition,
finden sich elf mit dem Begriff „-pharmaco-“
und nur eine mit „-psychotherapy-“ im Titel.
Ein Zeitschrift mit „-social-“ im Titel vermisst
man gänzlich. Dieses Ungleichgewicht dokumentiert einerseits die Faszination der Psychopharmakologie, andererseits aber auch die Bedeutung der Pharma-Industrie. Nichts aber
würde engagierte Psychotherapie-Forscher daran hindern, ihre Erkenntnisse – durchaus auch
in hochgerankten Journalen – zu publizieren:
Die Psychopharmakologische Forschung scheint
jedoch – abgesehen von den zweifellos bestehenden methodologischen Unterschieden – mit
deutlich höherer Attraktivität verbunden zu sein.
Eine ganze Reihe von „Grundbedingungen“
und Faktoren steuern also Wirksamkeit oder
Nicht-Wirksamkeit der Psychopharmakotherapie, viele davon werden implizit in anderen Kapiteln diese Buches behandelt. Hier sollen nun
einige grundsätzliche Aspekte der psychiatrisch-pharmakologischen Therapieführung beleuchtet werden.
1.2 Unspezifität der Wirkung
von Psychopharmaka
Es ist grundsätzlich festzuhalten, dass mit pharmakologischen Therapiestrategien im Wesentlichen keine psychischen Krankheitsentitäten,
sondern Symptome, bestenfalls Syndrome behandelt werden. Wir können depressive Stimmung, Ängstlichkeit oder Schlafstörungen positiv beeinflussen, inkohärentes und wahnhaftes
Denken reorganisieren helfen, den Abbau von
Merkfähigkeit und Konzentration verlangsamen – von einer kausalen Beeinflussung psychischer Morbidität im engeren Sinne kann
aber auch mit den neuen psychopharmakologischen Ansätzen noch nicht gesprochen werden.
Zum einen liegt dies in der sich erst entwickelnden Darstell- und Nachweisbarkeit psychischer
Vorgänge, zum anderen tappen wir mit unseren
kausalen Überlegungen zur Entstehung psychischer Erkrankungen – seien sie von biologischer,
psychosozialer oder (tiefen)psychologischer Anschauung geprägt – letztlich noch zu einem
Gutteil im Dunkeln. Eine Unspezifität der Behandlung ist aber auch bei somatischer Morbidität gegeben: Auch hier werden im wesentlichen Symptome wie Schmerz, Muskelspasmen,
spontane synchrone Neuronenentladungen oder
Zellentartungen usw. therapiert.
In Weiterführung dieser Analogie – und
defizitorientierte Denkschemata verlassend –
könnte man psychische Symptome, etwa depressive Verstimmtheit, entsprechend den körperlichen „Krankheitszeichen“ Schmerz oder
Fieber als physiologische Alarmsignale, als eine
Rückmeldung des Organismus über eine „Störung im System“ bzw. eine Überforderung der
individuellen Anpassungs- und Bewältigungsmechanismen auffassen. Dann bestünde der
erste Schritt zur Kompensation in einer Änderung des Verhaltens: Ein Ausweichen der belastenden Situation und Stressabbau würden dann
etwa der Schonhaltung bei Schmerz oder der
Bettruhe bei Fieber entsprechen. Erst wenn auf
sozialer Interaktion beruhende Verhaltensänderungen (Psychotherapie und physio-/ergotherapeutische Maßnahmen zeigen hier gewisse
Analogien) keinen entsprechenden Erfolg bringen, käme eine – symptomatisch wirkende –
4
Medikation zum Einsatz. Aus bekannten Gründen ist jedoch ein solcher Zugang zu kausal
versus symptomatischen Veränderungen weder
im psychischen noch im körperlichen Bereich
realistisch. Schon allein der (in der Bevölkerung immer stärker werdende) Druck auf rasche
Funktionswiederherstellung und Symptomeliminierung, verbunden mit einem starken
magischen Denken, weist in unserer Kultur
derzeit in die entgegengesetzte Richtung.
Als Ziel jeder psychopharmakologischen
Behandlung sollte nicht nur die Reduktion belastender psychischer Symptome, sondern die
Hilfe zur Selbsthilfe und das Empowerment der
Betroffenen anvisiert werden: Wesentlich ist die
Hilfestellung zur Befähigung des Patienten, seine
Lebensumstände selbst oder im Rahmen von
sozio- und/oder psychotherapeutischen Anleitungen zu verändern. Auf tierexperimenteller
Ebene entspricht dieser Ansatz der Definition
von Therapieerfolg beim meist verwendeten
Tiermodell für depressive Störungen und antidepressive Behandlung, dem forced-swim-test:
Eine Ratte oder eine Maus wird wiederholt in
ein mit Wasser gefülltes, glattwandiges Gefäß
gegeben und die Zeit gemessen, wie lange sich
das Tier durch Schwimmbewegungen gegen
das Untergehen wehrt. Frustrierte, „depressiv
gemachte“ Tiere geben früher auf, durch die
Gabe von Antidepressiva lässt sich die Phase
des (Über-) Lebenskampfes deutlich verlängern.
Der Begriff „Wirk-Unspezifität“ von Psychopharmaka bezieht sich einerseits darauf,
dass ähnliche Syndrome verschiedener Genese,
die zum Teil als recht unterschiedliche Krankheitsentitäten definiert werden, mit den gleichen
Medikamenten behandelt werden, andererseits
auf die Beeinflussbarkeit unterschiedlicher
Symptomatiken durch dieselben Substanzen.
Wir setzen Antidepressiva erfolgreich nicht nur
bei der uni- wie bei der bipolaren depressiven
Episode (bei letzterer zumindest in Europa)
ein, sondern auch beim postremissiven depressiven Erschöpfungszustand, der Dysthymie oder
der depressiven Anpassungsstörung. Gleichzeitig haben sich einige Vertreter dieser Substanzklasse bei so unterschiedlichen Erkrankungen
wie der Sozialphobie, der Panikstörung, der
Zwangsstörung, der Bulimie oder dem chroni-
1 Grundbedingungen der Psychopharmakotherapie
schen Schmerzsyndrom als wirksam erwiesen.
Atypische Antipsychotika wirken nicht nur bei
der Schizophrenie, sondern auch bei der Manie
und bei aggressivem Verhaltenssymptomen im
Rahmen dementieller Erkrankungen und positionieren sich derzeit gerade in der Depressionsbehandlung.
Die „Wirk-Unspezifität“ von Psychopharmaka spielt sich aber auch auf der molekularen
Ebene ab. Heute sind etwa 80 (zumindest potentielle) Neurotransmitter mit einer Vielzahl
von Rezeptoren bekannt. In den präklinischen
und pharmakodynamischen Untersuchungen
an neuen Medikamenten wird jedoch der Focus meist auf die wenigen, als relevant bekannten Transmittersubstanzen gesetzt. Inwieweit
gleichzeitig Ko-Transmitter (v. a. Neuropeptide) die postsynaptischen intrazellulären Mechanismen beeinflussen und damit Anteil an
der klinischen Wirkung eines Psychopharmakons haben, ist in vielen Fällen noch unbekannt.
Immerhin konnten wir in den letzten drei Jahrzehnten die Entwicklung von den an einer Vielzahl von Rezeptoren bindenden „dirty drugs“
(Trizyklische Antidepressiva oder Clozapin) hin
zu rezeptorbiologisch sehr spezifischen Substanzen erleben. Escitalopram beispielsweise scheint
fast ausschließlich am Serotonin-Transporter
aktiv zu sein (Sánchez et al. 2003).
1.3 Eine fundierte Psychopathologie als Grundbedingung
psychopharmakotherapeutischen
Handelns
Nancy Andreasen ist überzeugt, dass das Fehlen psychopathologischer Kenntnisse in der
Psychiatrie zwangsläufig zu einem Sistieren des
neurowissenschaftlichen Fortschrittes führt
und somit auch die Entwicklung der Psychopharmakologie hemmt (Andreasen 1998). Sie
konfrontierte die Psychiater mit dem Vorwurf,
psychopathologische Kenntnisse und Fähigkeiten verloren zu haben. Vehement beklagte sie
eine bedrohliche Entwicklung innerhalb der
Psychiatrie, wonach „das Erheben einer umfassenden Krankengeschichte, die auch Informatio-
5
1.4 Evidence-based medicine
nen über die Familie, über soziale Beziehungen
und über personale Interessen – also all jene
Dinge, die den Patienten zu einem einmaligen
Individuum machen – enthält, nur reine Zeitverschwendung sei. Stattdessen solle die psychiatrische Anamnese nur aus einer Symptomcheckliste bestehen, die in einen Computer
eingegeben werden kann und dann als Basis für
die Gewinnung einer DSM-Diagnose herhält“
(Andreasen 2002). Die Operationalisierungsund Standardisierungssysteme der WHO und
der APA haben in der Tat psychopathologisches
Interesse und Denken in den Hintergrund gedrängt. Skalen, Merkmalskataloge und Inventarlisten können psychopathologisches Wissen
und Fragen nicht ersetzen. Psychopathologie ist
stets mehr als eine „Sammelbezeichnung für
die Summe symptomatologischer Auffälligkeiten, die per Skalen erhältlich sind,“ (Saß 2003)
sie ist jene Wissenschaft, die der Psychiatrie als
einer medizinischen Disziplin ihr begriffliches
Handwerkszeug und ihr methodisches Rüstzeug liefert: Psychiater benötigen für ihre gezielten psychopharmakotherapeutischen Maßnahmen eine Ordnung des Beschreibbaren, eine
Sorgfalt des Beschreibens und eine Genauigkeit
der Begriffsverwendung (Scharfetter 2002). Die
Psychopathologie sieht den Menschen, der in
seinen lebensgeschichtlichen und soziokulturellen Zusammenhang als krank bezeichnet
wird, stets als Teil eines gesellschaftlichen Kontextes mit einer Vielzahl von lebendigen Wechselbeziehungen, nie wird er isoliert betrachtet.
Eine exakte beschreibende Psychopathologie ist
immer die Basis für eine einfühlende, verstehende und letztendlich Erfolg versprechende
therapeutische Arbeit. (Scharfetter 2002; Hinterhuber 2006)
Neurowissenschafter glauben heute, durch
ihre Methodik eine „objektive“, „experimentelle“ oder „konnektionistische Psychopathologie“
begründen zu können, die die „subjektive Psychopathologie“ zu ersetzen in der Lage wäre,
die sich „nur“ auf die Innenperspektive des
Menschen bezieht (Jacobs und Thome 2003).
Naturwissenschaftliche Reduktionismen, die
die in der Ersten-Person-Perspektive subjektiv
erfahrenen und erlebten mentalen Zustände
nicht berücksichtigen, können aber niemals als
Basis einer Diagnostik und erfolgreichen psychopharmakologischen und psychosozialen
Therapie psychisch leidender Menschen dienen. Auch sind beispielsweise Endophänotypen
wohl relevant für die Darstellung der molekularen Ätiopathogenese, sie sind aber kein Ersatz
einer psychopathologisch begründeten Diagnose. Selbst fundierte Neurowissenschafter wie
Fuchs sehen in den operationalen Definitionen
und diagnostischen Algorithmen durch deren
reduktionistische Tendenz die ganzheitliche, gestalthafte Erfassung des Menschen und dessen
Erkrankungen in Frage gestellt (Fuchs 2003).
Derzeit bemühen sich aber nicht wenige Hirnforscher zunehmend, Phänomenologie und
Psychopathologie mit Molekulargenetik und
den bildgebenden Verfahren in Verbindung zu
bringen.
Psychopathologie und Phänomenologie
müssen sich in der Tat in permanenter Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen der
kognitiven Neurowissenschaften fort- und weiterentwickeln. Auch braucht die klinische Psychopathologie verfeinerte theoretische Konstrukte. Neben psychologischen Konstrukten und
pharmakologischen Tiermodellen sind es neuronale Netzwerkmodelle, die die psychopathologische Forschung weiterhin befruchten werden (Spitzer 1997).
Eine empirisch arbeitende, differenzierte
Psychopathologie bleibt die Grundvoraussetzung
für jede seriöse und somit auch erfolgreiche
psychiatrische Forschung und Therapieplanung,
sie darf nicht auf ein Instrument der Klassifikationsforschung und der Verfeinerung der operationalisierten Diagnostik reduziert werden:
Eine differenzierte Psychopathologie ist immer
die Basis jeder psychopharmakologischen Intervention.
1.4 Evidence-based medicine
Obwohl viele der grundlegenden Entwicklungen
in der Geschichte der Psychopharmakotherapie
auf mehr oder weniger zufälligen Entdeckungen durch Einzelforscher beruhen (Hinterhuber 2005) oder aus Kleinstlabors stammen, sind
richtungsweisende Neuentwicklungen in Zu-
6
kunft wohl nur noch aus den großen Forschungsabteilungen, vorwiegend der pharmazeutischen Konzerne zu erwarten. Dies liegt
nicht nur an dem dafür notwendigen Zusammenspiel von präklinischer und klinischer Forschung,
sondern auch an den Anforderungen von FDA,
EMEA und den nationalen Behörden für die
Zulassung eines neuen Medikaments. Für die
dazu notwendigen aufwändigen Studien fehlt in
vielen Fällen die entsprechende Finanzierung
aus öffentlichen Mitteln. Für die Pharma-Industrie, die in der Lage ist, solche Studien zu sponsern (bzw. in den meisten Fällen überhaupt erst
initiiert), stehen aber – neben einem jeweils ins
Treffen geführten selbstgestellten humanistischen
Auftrag – ökonomische Interessen naturgemäß
im Vordergrund. Nicht immer sind die ärztlichethischen Grundsätze des „primum nil nocere“
in Therapie und Forschung mit den Zielen und
methodischen Abläufen Industrie-gesponserter
Studien spannungsfrei zu vereinen.
Die randomisiert-kontrollierte, doppelblind
durchgeführte Wirksamkeits-Studie mit ausreichender Fallzahl wird heute allgemein als GoldStandard in der Evaluierung der therapeutischen
Potenz eines neuen Arzneimittels angesehen.
Mit diesem operationalisierten Vorgehen können wichtige potentiell konfundierende Faktoren wie eine unbewusste Einflussnahme des
Untersuchers, die Erwartungshaltung des Patienten oder statistische Zufälle zumindestens reduziert werden. Dennoch bleiben bei einer zu
einseitigen Fokusierung auf Resultate aus der
evidence-based medicine – neben der Vernachlässigung des Erfahrungsschatzes klinischer Alltagsarbeit und individueller Beobachtungen –
eine Reihe von Fragen auf dem Weg zum besten
Einsatz medizinischen Wissens.
Einer der Kritikpunkte an der auf prospektiv geplanten, großen Studien beruhenden Generierung von Evidenz äussert sich in der Skepsis, ob diese Studien tatsächlich dem klinischen
„real-life“ entsprechen (Zetin et al. 2006). Im
Bestreben, eine möglichst homogene (und möglichst wenig komplikationsanfällige) Studienpopulation zu definieren, werden – so die Kritik – neue Arzneimittel an Menschen untersucht,
die volljährig, aber auch nicht zu alt sind, möglichst nur eine einzige psychiatrische Diagnose
1 Grundbedingungen der Psychopharmakotherapie
haben, nicht suizidgefährdet sind und keine
akute körperliche Begleiterkrankung und -medikation haben. Damit sind die so rekrutierten
Studienteilnehmer nicht unbedingt repräsentativ für jene Patienten, die später mit den dann
zugelassenen Arzneimitteln behandelt werden
(Kemmler et al. 2005; Möller und Maier 2007).
Die Wirksamkeit eines Psychopharmakons und
Relevanz für die tägliche klinische Praxis kann
durch die kontrollierten, interventionellen Studien nicht in ausreichendem Ausmaße dargestellt
werden. Aus diesen Gründen sind naturalistische
Studien für die Beurteilung von Psychopharmaka von großer Bedeutung, da sie wichtige
Informationen zu Krankheitsverlauf, Lebensqualität und Prognose psychiatrischer Patienten zu liefern in der Lage sind. Auch der Mangel
an Daten zur Wirksamkeit von Medikamenten
bei Kindern und Jugendlichen und der daraus
resultierende off-label-use von Psychopharmaka
in dieser Population oder die heftig diskutierte
Frage, ob Antidepressiva nun Suizidalität – parallel zu den anderen depressiven Symptomen –
reduzieren oder doch eher Suizidgedanken induzieren (Brent 2007; Hegerl 2007), rühren unter
anderem von den beschriebenen Studien-inhärenten Einschränkungen her.
Wichtige neue Erkenntnisse und Einsichten
haben in den letzten Jahren zu einer etwas
wohlwollenderen Einschätzung des oftmals als
etwas anrüchig empfundenen und mit dem
Stigma des „Patientenbetruges“ assoziierten
Placebo-Effektes geführt. Zum einen macht
sich zunehmend die Ansicht breit, dass eine,
wenn auch pharmakologisch inerte, Substanz,
die in 30 und mehr Prozent der Fälle eine klinische Wirkung hervorruft, nicht als unwirksam
bezeichnet werden kann. Zum anderen haben
sich von Patienten wahrgenommene Effekte
auch mittels bildgebender Verfahren darstellen
lassen (Mayberg et al. 2002; Wager et al. 2004).
Der Placebo-Effekt beruht ganz wesentlich auf
dem Glauben des Patienten, dass das verabreichte Medikament wirken wird, auch wenn er,
etwa im Rahmen einer klinischen Studie, nach
entsprechender Aufklärung darüber informiert
ist, dass er mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eine Placebo-Medikation erhalten wird.
Ein Placebo-Effekt tritt auch bei der Gabe eines
1.5 Disease-mongering
„richtigen“ Medikamentes auf, er ist integraler
Bestandteil einer jeder Arzt-Patienten-Beziehung (Deisenhammer und Hinterhuber 2003).
Die Möglichkeit für den Patienten, sich durch
vertrauensvolle (zumindest teilweise) Abgabe
von Verantwortung an den Arzt im Sinne einer
Eltern-Übertragung in eine sichere Beziehung
zu begeben, und die Zuversicht und Stabilität
vermittelnde Haltung des Arztes sind wesentliche Voraussetzungen für die Wirksamkeit jedweden ärztlichen Tuns. Deshalb sollte der Placebo-Effekt als ein an der Oberfläche sich
manifestierender Ausdruck dieses speziellen
Verhältnisses nicht gering geschätzt und als ein
durchaus legitimer Teil einer psychopharmakologischen Behandlung gesehen werden.
Eine nicht unwesentliche Gefahr der Fokusierung auf Resultate aus der evidence-based
medicine liegt im sogenannten „publication
bias“. Selbstverständlich müssen nicht alle Ergebnisse von wissenschaftlichen Studien veröffentlicht werden, sei es, weil sie nicht interessant oder wissenswert genug erscheinen, sei es,
weil sich im nachhinein methodologische Fehler zeigen. Nicht nur wissenschaftliche Unschärfen, sondern auch gravierende ethische
Probleme ergeben sich allerdings, wenn Studienergebnisse von neuen Prüfsubstanzen, die den
Autoren oder Auftraggebern wirtschaftlich nicht
gelegen sind, (weil die geprüfte Substanz sich
als nicht wirksam herausstellt) der Öffentlichkeit vorenthalten werden, während „positive“
Untersuchungen sehr wohl publiziert werden.
Wiederholt wurde darauf hingewiesen, dass Industrie-assoziierte Studien häufiger als „unabhängige“ Untersuchungen positive Ergebnisse
zugunsten der „investigational drug“ erbrachten oder die Ergebnisse tendenziell positiver
darstellten (Jørgensen et al. 2006; Etter et al.
2007; Tungaraza und Poole 2007).
1.5 Disease-mongering
In den letzten Jahren wird noch ein anderes
Phänomen zunehmend kritisch diskutiert: Mit
dem Begriff „disease mongering“ (Moynihan et
al. 2002) wird das künstliche Aufbauschen von
Prävalenzzahlen als Auswuchs der Medikalisie-
7
rung und Pathologisierung von nur grenzwertig krankhaften Symptomen oder überhaupt von
physiologischen Zuständen beschrieben. Als
wesentlicher Hintergrund des „disease mongering“ ist wohl die damit verbundene Ausweitung der Absatzmärkte für die entsprechenden
pharmazeutischen Produkte anzusehen. Neben
dem Colon irritabile und dem Restless Legs
Syndrom werden aus der psychiatrischen Diagnosenpalette vor allem das Hyperkinetische
Syndrom (attention-deficit/hyperactivity disorder, ADHD; Polanczyk et al. 2007) mit Häufigkeitszahlen bis zu 18,2 % (Smalley et al. 2007)
sowie auch die Sozialphobie genannt. Gerade
bei letzterer scheint die Abgrenzung zwischen
weit verbreiteten Gefühlen von Unwohlbefinden und Scheuheit in bestimmten sozialen Situationen und einer tatsächlichen, mit „deutlicher Beeinträchtigung der Lebensführung“ und
„erheblichem Leiden“ (DSM-IV) einhergehenden Störung schwierig zu sein. Lang und Stein
(2001) weisen auf die extremen Unterschiede in
den Prävalenzzahlen der Sozialphobie hin: 1,9 %
bis 18,7 %, je nachdem, ob die Symptomatik
„marked interference“ oder „moderate interference or distress“ hervorgerufen hatte.
Oft betreffen die diskrepanten Angaben der
publizierten exorbitanten Prävalenzzahlen und
den im klinischen Alltag beobachteten Häufigkeiten gerade jene Störungen, für die rezent ein
medikamentöser Therapieansatz entwickelt worden ist. Selbstverständlich sollen jene Betroffenen, die aufgrund des Krankheitsbildes tatsächlich unter starkem Leidensdruck stehen, die
optimale Therapie erhalten. Ob die pharmakologische Behandlung von fast 20 % der Bevölkerung wegen Unruhe oder sozialer Ängstlichkeit
notwendig und erstrebenswert ist oder ob sich
hier (ähnlich wie bei bestimmten sexuellen Verhaltensweisen) nicht eine gewisse LifestylePharmako-Mentalität manifestiert, die auf ein
medikamentös gesteuertes Multi-Funktionieren
abzielt, sei dahingestellt.
Es ist zumindest aus ärztlich-ethischer Sicht
wichtig, sich der sinnvollen und vertretbaren
Grenzen bewusst zu sein, die pharmakologisch
zu behandelnden Störungen definieren. Um einen eventuell falschen Eindruck zu vermeiden,
ist es bei öffentlichen Meinungsäusserungen und
8
bei Therapieempfehlungen unerlässlich, dass vor
allem in der klinischen Forschung tätige Ärzte
transparent ihre eigenen wissenschaftlichen Interessen und ihre möglichen finanziellen Verknüpfungen mit der pharmazeutischen Industrie mit großer Offenheit darlegen (Dear und
Webb 2007).
1.6 Ausblick
Integrativer Bestandteil jeder psychiatrischen
Therapie ist neben der optimalen psychopharmakologischen Einstellung die Einbeziehung
der sozialen und psychologischen Dimension
des Patienten. Grundlegend für den therapeutischen Erfolg ist die Vermittlung einer Gesundungs- und Hoffnungsperspektive: Die Gesundung unserer Patienten ist nicht nur Folge der
Verordnung effizienter und möglichst nebenwirkungsfreier Medikamente, sondern – darauf
aufbauend – das (Wieder-)Einüben von sozialen Fähigkeiten und Fertigkeiten, der Aufbau
von Vertrauen und Verständnis sowie die Verbesserung der zwischenmenschlichen Kommunikation und die Stärkung der Frustrationstoleranz. Alle diese Faktoren werden heute mit dem
Begriff „Recovery“ umschrieben. (Schrank und
Amering 2007) „Recovery“ ist eine Antwort auf
die oft überbetonte neurowissenschaftliche Sicht
der derzeitigen Psychiatrie, die sich bemüht,
durch Neuroimaging-Verfahren die Betrachtung des Patienten von außen zu optimieren,
dabei jedoch die individuelle, subjektive Sichtweise der Betroffenen außer Acht lässt. Der
Weg zur Gesundung ist dann erleichtert, wenn
sich eine optimale psychopharmakologische
Betreuung mit einer humanistischen Begleitung des Patienten verbindet, die diesen auch
mit allen seinen Bedürfnissen und Einschränkungen wertschätzt.
1 Grundbedingungen der Psychopharmakotherapie
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2
Historischer Abriss:
Geschichte der Psychopharmaka
R. Tölle und H. Schott
Wie weit reicht die Geschichte der Psychopharmaka zurück, wie lässt sie sich periodisieren,
welche epochalen Wendepunkte können wir
ausmachen? Die Beantwortung dieser Fragen
hängt vom Verständnis dessen ab, was wir unter
einem „Psychopharmakon“ verstehen. Die griechischen Wörter psyché und phármakon betreffen wissenschafts- und kulturgeschichtlich
schillernde Begriffe, die im Deutschen „Seele,
(Atem)Hauch, Schmetterling“ bzw. „Gift, Droge,
Arznei“ bedeuten. Psychopharmakon wäre wörtlich als „Seelenarznei“ (lat. medicina animae)
zu verstehen. Als Psychopharmaka wären demnach all jene Mittel anzusehen, die kranke Seelen zu heilen und schwache zu stärken vermögen.
Hier findet sich bereits in der Antike ein ganzes
Arsenal unterschiedlicher Mittel: religiöse, magische, philosophische, rhetorische – und nicht
zuletzt auch medizinische, insbesondere diätetische. Offenbar taucht das Wort „Psychopharmakon“ vereinzelt jedoch erst im Mittelalter auf,
freilich nicht im medizinischen, sondern im religiösen Zusammenhang. In dieser Ausrichtung
erschien 1548 eine Sammlung von Trost- und
Sterbegebeten unter dem Titel: „Psychopharmacon, hoc est: medicina animae“, die von Reinhardus Lorichius aus Hadamar herausgegeben
wurde. (Vgl. Hall, 1997, S. 13; Hippius 1986)
Diese frühere Assoziation von „Psychopharmakon“ und Ars moriendi, der Sterbekunst, ist bemerkenswert.
Obwohl wir in diesem Beitrag vor allem die
Geschichte der Psychopharmaka nach heutigem Verständnis – ausgehend von der Entwicklung der Neuroleptika in den 1950er Jahren
(siehe unten) – ins Auge fassen wollen, lohnt
sich ein Rückblick in die fernere Vergangenheit.
Hierbei geht es weniger um die affirmative Feststellung des wissenschaftlichen Fortschritts, als
vielmehr um gedankliche Anregungen für die
eigene Theorie und Praxis, welche wir unter
Umständen aus historischen Quellen schöpfen
können.
2.1 Heilmittel für die Seele:
Zur Vorgeschichte der Pharmakopsychiatrie
Welchen Stellenwert nimmt das Arzneimittel in
der antiken Heilkunde ein? Der römische Enzyklopädist Celsus (1. Jh. n. Chr.) formulierte in
seiner Schrift De medicina (Prooemium, 9) drei
Techniken antiker Heilkunst: „Erst die Diäetetik, dann die Arzneimittellehre und schließlich
12
2 Historischer Abriss: Geschichte der Psychopharmaka
Abbildung 2.1: „Die Heilung der zehn Aussätzigen und der dankbare Samariter“; Codex aureus von Echternach
(1020–1030); Deutsches Nationalmuseum Nürnberg. Aus J. Neumann, 1996, pp 91 Harenberg
die Chirurgie“1. Damit sind bereits die drei
Grunddisziplinen der Medizin, drei verschiedene
Ansätze der Therapie angedeutet, wie sie auch
heute noch erkennbar sind: Psychotherapie (Psychiatrie im buchstäblichen Sinn), bei der das gesprochene Wort, innere Medizin, bei der das zu
applizierende Medikament und Chirurgie, bei
der der körperliche Eingriff, die Operation, im
Mittelpunkt steht. In dieser Rangfolge steht das
phármakon also zwischen Psychotherapie und
Chirurgie.
2.1.1 Religiöse und
magische Heilmittel
Die Arznei wird am sinnfälligsten dort, wo sie
in Form einer stofflichen Substanz vorliegt und
vom Kranken entsprechend aufgenommen, eingenommen wird: als Tablette, Zäpfchen, Injektionsflüssigkeit etc. Aber auch quasi nicht-stoffliche Substanzen können als Heilmittel wirken,
als ob sie ein stoffliches Arzneimittel wären. Hierzu zählen geistige Inhalte, Vorstellungen, Worte,
die von einer heilenden göttlichen Instanz oder
1
Originaltext:
„Primam
Διαιτητικήν
Φαρμακευτικήν tertiam Χειρουργίαν“.
secundam
einer entsprechend wirksamen philosophischen
Lehre ausgehen. In der Religions- und Geistesgeschichte ist dies in den unterschiedlichen Kulturkreisen dokumentiert. Ein Beispiel wäre das
eingangs erwähnte Tröstungsbuch „Psychopharmakon“, das sich auf klassische antike Autoren
wie Seneca beruft. In der christlichen Tradition
erlangte die Heilung durch den Geist Gottes,
durch die Gegenwart und die gesprochenen
Worte von Jesus Christus zentrale Bedeutung.
Christus medicus als „großer Arzt“, „Heiland“,
wurde zum Leitbild der religiösen Heilkunde
im christlichen Abendland.
Wenngleich sich diese religiöse Heilkunde
auf alle Krankheiten und Leiden der Menschen
bezog, hatte sie zu psychischen Störungen eine
besondere Affinität. Die vier Evangelisten berichten, wie Christus u. a. Gelähmte und Blinde
durch seine Anwesenheit oder durch Berührung von ihren Leiden befreit hat. Was hier beschrieben wird und in erster Linie theologisch
zu verstehen ist, entzieht sich der historischen
Analyse, gehört aber zum christlichen Glaubensbestand. Die Bibel wurde zur „großen Hausapotheke der Menschheit“ (Heinrich Heine).
Unter medizinhistorischem Aspekt ist festzuhalten, dass Christus die Exorzismus-Rituale bei
2.1 Heilmittel für die Seele: Zur Vorgeschichte der Pharmakopsychiatrie
denjenigen anwendet, deren Erkrankung er als
Besessenheit begreift: „Fahre aus, du unsauberer Geist, von dem Menschen! [...] Und es war
daselbst an den Bergen eine große Herde von
Säuen auf der Weide. Und die Teufel baten ihn
alle und sprachen: ‚Laß uns in die Säue fahren!‘
Und alsbald erlaubte es ihnen Jesus. Da fuhren
die unsauberen Geister aus und fuhren in die
Säue; und die Herde stürzte sich von dem Abhang ins Meer [...].“ (Mk 5, 8 u. 11–13) Heilen
wurde nun zu einem christlichen Missionsauftrag, zum Handeln in der Nachfolge Christi.
Diese „Imitatio Christi“ stand in der religiösen
Heilkunde des Abendlandes im Mittelpunkt.
Der segnende und exorzierende „Christus medicus“ wurde zu einer beliebten Gestalt der kirchlichen Kunst (z. B. Echternacher Evangelienbuch). (Vgl. Neumann, 1996)
Psychotherapie lässt sich in dieser Perspektive als eine säkulare Form der „Heilung durch
den Geist“ (Zweig, 1931) verstehen, als eine
Nutzung der „Heilkraft“ der Suggestion (Bernheim 1888) mit Hilfe unterschiedlicher Methoden. Bernheims Schlüsselsatz: „Das Wort
allein genügt“ erinnert an religiöse Traditionen, gerade auch im Umgang mit dem Geisteskranken.
Magische Arzneimittel weisen eine enge Verwandtschaft mit religiösen auf: Denn ihre naturphilosophische Begründung verweist in der
Regel auf den göttlichen Ursprung der Natur. Einer der wirkmächtigsten Gestalten der neuzeitlichen Medizin- und Wissenschaftsgeschichte,
der sich der magischen Medizin verschrieben
hatte, war Paracelsus. Am Beispiel der Anwendung der Korallen lässt sich zeigen, wie die magischen Heilmittel u. a. auch gegen (aus unserer
heutigen Sicht) psychiatrische Störungen wirken.
Die roten „schönen“ Korallen sind nach Paracelsus – im Unterschied zu den dunkel gefärbten
(braunen oder schwarzen) – heilkräftig. In seiner Schrift „Herbarius“ legt er ausführlich dar,
wie sie gegen „fantasei“ (verführerische Phantasie), „phantasmata“ (Nachtgeister), „spectra“
(Astralkörper Verstorbener) und „melancholei“
(Schwermut) wirken. All diese Krankheiten seien „natürlich“ („aus der natur und nit wider die
Natur“) und so wirkten auch die Korallen als natürliche Heilmittel („eins aus natürlichen secre-
13
ten“). Auf den ersten Blick könnte der Eindruck
entstehen, als sei hiermit ein spezifisch „psychiatrisches“ Heilmittel angegeben. Wenn man jedoch den gesamten Kontext berücksichtigt, wird
deutlich, dass hiervon keine Rede sein kann.
Denn die Korallen vertreiben auch Gewitter,
Schauer, Hagel und Blitz. Die Natur könne zwar
ein „ungewitter machen im himel“, aber zugleich
auch „ein beschirmung“ dagegen. (Paracelsus,
Ed. Sudhoff, Bd. 2, S. 43) Des Weiteren würden
die Korallen auch die „wilden monstra“ austilgen
(„ein tier, das nit in der zal der geschöpf ist“) und
somit monströse Missgeburten verhindern. Sie
vertrieben insbesondere den Teufel bzw. seine
Geister, die den Menschen umlauern: Denn die
roten Korallen, so argumentiert Paracelsus, glichen der Sonne, deren Licht der Teufel fliehe –
im Gegensatz zu den braunen Korallen, die dem
(dunkleren) Mondschein glichen und die entsprechenden dunklen Geister anzögen (S. 44):
Gerade schwangere Frauen, die für Anfechtungen besonders anfällig seien, sollten deshalb rote
Korallen tragen. Sie könnten auch alle „Flüsse“
stillen, Gebärmutterflüsse („flüß der muter“),
Bauchflüsse, Blutflüsse. Dieses Beispiel macht
deutlich, wie die magische Medizin die moderne
Einteilung in physische und psychische Störungen und damit auch eine entsprechende psychiatrische Nosologie gleichsam überspringt.
2.1.2 Heilmittel im Sinne von
Humoralpathologie und Diätetik
Die antike Humoralpathologie (Säfte- bzw. Qualitätenlehre), die erstmals in den hippokratischen
Schriften auftauchte, begründete in der abendländischen Medizingeschichte die maßgebliche
Krankheitslehre. Nach ihrer umfassenden Kanonisierung durch den griechischen Arzt Galen
(2. Jh. n. Chr.) wurde der „Galenismus“ bis weit
in die Neuzeit hinein zur dogmatischen (durchaus auch flexiblen) Richtschnur medizinischer
Theorie und Praxis. Die Mischung der vier Kardinalsäfte Blut, gelbe Galle, schwarze Galle und
Schleim und ihre jeweilige Qualität („Reinheit“) waren ausschlaggebend: Eukrasie (gute
Mischung) bedeutete Gesundheit, Dyskrasie
(schlechte Mischung) führte zur Krankheit. Psychische Störungen wurden primär als Gallen-
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