No body is perfect - Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund

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No body is perfect
… und die Diskurse darüber auch nicht
Frank Mathwig
«Ihr seid teuer erkauft. Verherrlicht also Gott mit eurem
Leib!»
1Kor 6,20
«Eine Rede vom oder über den Körper muss vielmehr
gleichzeitig von dem, was keinesfalls Rede ist, berührt
werden und daran rühren. Das bedeutet schlicht und einfach, dass die Rede vom Körper keinen Sinn vom Körper
hervorbringen kann, dem Körper keinen Sinn verleihen
kann. Sie muss vielmehr an jenen Teil des Körpers rühren,
der den Sinn der Rede unterbricht.»
Jean-Luc Nancy, Corpus1
1. Leib/Körper und Fleisch als Gabe und Gift
1.1 Leib und Seele
Über «Leib» und «Fleisch» nachzudenken, ist das Selbstverständlichste. Jede und jeder, die
oder der das tut, ist – soweit wir das sagen können – leibhaftig aus Fleisch und Blut. Auch
wenn der Leib beim Nachdenken in komplexer Weise beteiligt ist, gilt das Denken nicht als
eine körperliche, sondern geistige Aktivität. Wenn Sie sich jetzt bemühen, meinem Vortrag zu
folgen, sind Sie zweifellos körperlich anwesend, verlassen sich darauf, dass Sie Ihre Ohren
nicht täuschen, und spüren eine körperliche Erleichterung, wenn der Vortrag vorbei ist. In jedem Fall sind Sie mit Körper und Geist oder Leib und Seele anwesend. Die bekannten Redewendungen «mit Leib und Seele» bzw. «mit Körper und Geist» signalisieren, dass Körper und
Leib allein für bestimmte Angelegenheiten nicht ausreichen. Vielmehr müssen der Geist oder
die Seele oder beide dazukommen, um für eine Vorlesung ‒ und viele andere Vorfälle im Leben ‒ gerüstet zu sein. Angenommen Sie würden später im Vortrag eine dramatisch ansteigende Müdigkeit verspüren und dieser vielleicht sogar erliegen, dann ergeht es Ihnen wie den
Jüngern im Garten Getsemani: «Der Geist ist willig, das Fleisch aber schwach.» (Mt 26,41).
Das ist ganz menschlich oder wie Paulus sagen würde: eine Folge des «ἐν σαρκὶ ζῆν» (Gal
2,20), des Lebens im Fleisch. Wäre Ihnen der Vorfall aber nicht nur eine Bestätigung ihrer
biologischen Konstitution, sondern ausserdem noch peinlich, hätten Sie sich als Anhängerin
bzw. Anhänger der westlichen Philosophie- und Theologiegeschichte geoutet. Diese haben ‒
nach Jürgen Moltmann ‒ «die Tendenz zur Herrschaft der Seele über den Leib und folglich
zur Distanzierung, Disziplinierung und Instrumentalisierung des Körperlichen».2 Der Grund für

1
2
Vortrag anlässlich der Ringvorlesung «Unsere grossen Wörter. Reformatorische ReVisionen, Universität Bern,
Bern 22.05.2017.
Jean-Luc Nancy, Corpus, Zürich, Berlin 22007, 109.
Jürgen Moltmann, Gott in der Schöpfung. Ökologische Schöpfungslehre, Gütersloh 1985, 248.
1
Ihr unangenehmes Gefühl besteht in der ‒ zwar gut biblischen (Mt 19,30) ‒ aber moralisch
diskreditierten Umkehrung der Hierarchie: das nachgeordnete Fleisch hätte bei Ihrem Vortragsschlaf über den übergeordneten Geist gesiegt.
Damit wäre die grundlegende Herausforderung der ungleichen Geschwister Leib und Seele
bzw. Körper und Geist bereits genannt: Es geht um das «und» dazwischen, also die Frage,
wie der Leib und der Körper mit der Seele und dem Geist verbunden sind. Das «und» markiert
einen Graben, dessen Tiefe und Brisanz durch die lapidare Konjunktion bloss verschleiert wird.
Das versteht sich allerdings nicht von selbst. Denn ‒ abgesehen von einigen komplexen pathologischen Zuständen ‒ erscheint die Vorstellung, dass der Geist und/oder die Seele einer
körperlich/leiblich anwesenden Person nicht gleichzeitig da, sondern an einem anderen Ort
wären, einigermassen befremdlich. Natürlich können Menschen ihren Verstand am Eingang
abgeben oder sich ziemlich geistlos verhalten, aber die Kritik daran setzt bereits das Gegenteil
– die Einheit der Präsenz bzw. die Identität von Körper und Geist – voraus. Warum argumentieren die Philosophie und Anthropologie im 20. Jahrhundert und seit einiger Zeit auch die
Theologie und Sozialwissenschaften so entschieden für die Einheit, Gleichrangigkeit oder
Wechselseitigkeit von Leib und Seele, Körper und Geist? Verständlich wird diese Absicht im
Rückblick auf die Geschichte der Begriffe.
1.2 Zur Begriffsgeschichte von soma und sarx
Trotz der enormen Weite und Entwicklung des griechischen Begriffs σῶμά können vier Grundbedeutungen unterschieden werden:3 Ursprünglich ‒ bei Homer ‒ hatte σῶμά die Bedeutung
von «menschlicher Leichnam», weil nur ein Toter, bei dem die verschiedenen Organfunktionen
erloschen waren, mit einem umfassenden Ausdruck bezeichnet werden konnte. Eine Ausweitung erfuhr der Begriff in der Bedeutung von Organismus und lebendiger Leib vor allem bei
Platon. Σῶμά stand für die alle Lebensfunktionen umfassende Einheit einer «Person», «freilich
meist so, dass sie als Objekt betrachtet wird, über das einer verfügt».4 Die Bedeutung von der
zusammengesetzten Ganzheit gilt nicht nur für Menschen, sondern auch für soziale, politische,
logische oder rhetorische Zusammenhänge. In anthropologischen Kontexten blieb aber nach
wie vor die enge Verbindung zum Tod bestehen: Einerseits war der Leib ‒ im Gegensatz zur
Seele ‒ sterblich und andererseits stand er einem glücklichen Leben und wahrer Erkenntnis
im Weg. Die dritte Bedeutung von σῶμά entsprach ungefähr unserem Körperbegriff, also allen
Arten dreidimensionaler geometrischer Körper oder physikalischer Objekte. Schliesslich wurden mit σῶμά häufig Sklaven und Gefangene bezeichnet. Diese Bedeutungsvariante schlägt
3
4
Zum Folgenden vgl. Lorenzo Scornaienchi, Sarx und Soma bei Paulus. Der Mensch zwischen Destruktivität
und Konstruktivität, Göttingen 2008, 68‒72; ders., Die Unterscheidung von σάρξ und σῶμά und ihre Konsequenzen für die Ethik des Paulus: Friedrich W. Horn/Ulrich Volp/Ruben Zimmermann (Hg.), Ethische Normen
des frühen Christentums. Gut ‒ Leben ‒ Leib ‒ Tugend, Tübingen 2013, 329‒349; Michael Tilly, Aspekte der
Leiblichkeit im paulinischen Denken: Bernd Janowski/Christoph Schwöbel (Hg.), Dimensionen der Leiblichkeit.
Theologische Perspektiven, Neukirchen-Vluyn 2015, 69–85; ders., Aspekte des leibhaften Personseins bei
Paulus: Elisabeth Gräb-Schmidt et al. (Hg.), Leibhaftes Personsein. Theologische und interdisziplinäre Perspektiven, Leipzig 2015, 21–35; Eduard Schweizer, σῶμά: ThWNT, Bd. VII, Stuttgart 1966,1024‒1042; Tilmann Borsche, Leib, Körper: HWPh, Bd. 5, Basel, Stuttgart 1980, 173‒178; Matthias Krieg/Hans Weder, Leiblichkeit, Zürich 1983.
Schweizer, σῶμά (Anm. 3), 1028.
2
auf die übrigen Verwendungsweisen zurück. «Das Individuum als σῶμά ist von daher nicht
der frei handelnde Mensch, sondern der Mensch, der fast zum Zustand eines Objekts entwertet und von anderen bestimmt wird.»5
Bezeichnenderweise rückt die neueste Paulusforschung genau diese Bedeutung von σῶμά
als Sklave resp. Gefangener ins Zentrum des Leibverständnisses des Apostels, der als einflussreichster theologischer Leib- und Fleischtheoretiker die Theologiegeschichte bis heute
prägt. Paulus verwendet die Begriffe «Körper/Leib» und «Fleisch» nicht nur häufig, sondern
auch sehr unterschiedlich, greift auf jüdische und römisch-hellenistische Vorstellungen zurück
und lässt sie genauso selbstverständlich weit hinter sich: Zunächst meint σῶμά die schlichte
leibliche Anwesenheit von Personen (1Kor 5,3; 2Kor 10,6) Die Bemerkung «körperlich zwar
abwesend, im Geist aber anwesend» in 1Kor 5,3 zeigt, dass die pneumatische Präsenz unvollständig ist, also σῶμά und πνεῦμα zusammengehören: «… um heilig zu sein an Körper
und Geist» (1Kor 7,34). Dieses dichotomische Paar kann sich zum, damals nicht unüblichen,
trichotomischen Schema von πνεῦμα, ψυχή und σῶμά ausweiten: «Geist, Seele und Leib mögen euch unversehrt und untadelig erhalten bleiben bis zur Ankunft unseres Herrn Jesus
Christus» (1Thess 5,23). Diese Erwähnung darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass
Paulus dem Geist für seine Zeit sehr reserviert gegenüberstand, wie seine Auseinandersetzung mit dem Zungenreden in der Korinther Gemeinde verdeutlicht.6 Stattdessen betont er
durchaus schroff: «aber in der Gemeinde will ich, um auch andere zu unterweisen, lieber fünf
Worte mit meinem Verstand [νοῦς] sagen als tausend Worte in Zungen» (1Kor 14,19).
Die Komplexität des paulinischen Leibverständnisses resultiert aus der Verbindung von anthropologischen mit eschatologischen und ekklesiologischen mit ethischen Aussagen. In Phil
3,21 spricht der Apostel von der Hoffnung auf den Retter Jesus Christus, «der unseren armseligen Leib verwandeln wird in die Gestalt seines herrlichen Leibes». Gesät wird der natürliche σῶμά ψυχικόν, auferweckt der geistliche σῶμά πνευματικόν (1Kor 15,44). Dass es dem
Apostel tatsächlich um einen neuen Leib ‒ und nicht nur einen neuen Geist ‒ geht, verdeutlichen die metaphorischen Umschreibungen in 2Kor 5,1‒10: Paulus spricht von der Sehnsucht
«mit unserer himmlischen Behausung bekleidet zu werden, so wahr wir nicht nackt dastehen
werden, auch wenn wir unser jetziges Kleid ablegen» (V. 3). Der irdische Leib ist dabei ‒ in
Übereinstimmung mit dem antiken Sprachgebrauch – bezogen auf den Tod. Der Leib ist sterblich (Röm 6,12), sodass Paulus ausrufen kann: «Ich elender Mensch! Wer wird mich erretten
aus diesem Todesleib?» (Röm 7,24) Der todgeweihte Leib wird durch die Einwohnung des
Geistes Gottes, «wird er, der Christus von den Toten auferweckt hat, auch euren sterblichen
Leib lebendig machen durch seinen Geist, der in euch wohnt» (Röm 8,10f.). Das Leben im
Geist ist kein geistliches, sondern ein leibhaftiges Leben. Folgerichtig ist der Leib «ein Tempel
des heiligen Geistes, der in euch wirkt und den ihr von Gott habt» (1Kor 6,18). Das gilt allerdings unter der – für ein neuzeitliches Denken irritierenden – Prämisse «dass ihr nicht euch
selbst gehört» (ebd.). Dann wird der Leib selbst zum «Offenbarungsträger» (Welker): «Allezeit
tragen wird das Sterben Jesu an unserem Leib, damit auch das Leben Jesu an unserem Leib
5
6
Scornaienchi, Sarx (Anm. 3), 71.
Vgl. Michael Welker, Die Anthropologie des Paulus als interdisziplinäre Kontakttheorie: Jahrbuch der Heidelberger Akademie der Wissenschaften für 2009, Heidelberg 2010, 98–108 (101).
3
offenbar werde.» (2Kor 4,10) und Paulus bekennt: «Ich […] bin guter Hoffnung, dass […] Christus […] durch meinen Leib verherrlicht wird, sei es durch mein Weiterlebe, sei es durch meinen
Tod» (Phil 1,20).
Das Leibverständnis des Apostels betont – in Übereinstimmung mit seiner Zeit und im Gegensatz zu einem modernen Verständnis – die Passivität, Unselbständigkeit und das Angewiesensein des σῶμά. Der «Wiederfahrnischarakter» ist bezeichnend und gilt sowohl für den mit
der Geburt empfangenden, wie für den durch die Wiedergeburt verwandelten Leib.7 Ein radikal
neuer Aspekt liegt dagegen «in der Dynamik der Erlösung, in dessen Mittelpunkt der Tod und
die Auferstehung Christi stehen […]. Die inaktive Bedeutung von σῶμά ist verknüpft mit dem
Bedeutungsgehalt des Sklaven. Dieser liegt auch 1Kor 6,12‒20 zugrunde, wo der Leib des
Menschen als Eigentum Christ bezeichnet wird (1Kor 6,13) und ein ‹Loskaufen› des Menschen
angedeutet wird (1Kor 6,20).»8 Anstatt Körperbeherrschung und Körperertüchtigung – die
Paulus durchaus auch kennt – geht es sowohl aus anthropologischer wie auch christologischsoteriologisch-eschatologischer Sicht um ein Körper-beherrscht-Werden und leibliches Pathos. «Der gekreuzigte Christus gilt Paulus als typologisches Vorbild und Zuspruch der eigenen Bestimmung.»9
Das Leibverständnis des Apostels beschränkt sich nicht auf das personale Sein ἐν Χριστῷ
(Röm 6,10), sondern ist konstitutiv gemeinschaftsstiftend als fortgesetzte Teilhabe der Christengemeinde am σῶμά τοῦ Χριστοῦ im Abendmahl und wird zur Kollektivbezeichnung für die
christliche Gemeinde (1Kor 10,17; 11,29; vgl. 1Kor 12).
Gegenüber der Wandlungsfähigkeit des Leibes fokussiert «Fleisch» ganz auf die irdische Existenz des ἐν σαρκὶ ζῆν (Gal 2,20; vgl. Phil 1,24; 2Kor 10,3).10 Dabei können σάρξ und σῶμά,
wie damals üblich, synonym verwandt werden (2Kor 5,6–9). Fleisch steht für das biologische
Leben der gesamten Menschheit und Tierwelt und kennzeichnet ihre Hinfälligkeit und
Schwachheit: als Krankheit (2Kor 12,7; Gal 4,13), Bedrängnis in Beziehungen (1Kor 7,28),
Schmutz (2Kor 7,1) oder Verderben (1Kor 5,5; Gal 6,8). Mit dem Ausdruck «Fleisch» wird
daneben die genealogische Verbundenheit von Familie, Volk, Klasse, Religion oder Stand zum
Ausdruck gebracht (vgl. Röm 4,12; 9,2.5; 11,4; Gal 4,23). Entgegen der verbreiteten Meinung
vom Gegensatz zwischen Leib und Fleisch, begegnet bei Paulus – wenn überhaupt – eine
dualistische Tendenz von σάρξ und πνεῦμα, also von Fleisch und Geist. In Gal 5,16f. stehen
sich σάρξ und πνεῦμα als Quellen antagonistischer Begehren gegenüber: «Ich sage aber:
Führt euer Leben im Geist, und ihr werdet dem Begehren des Fleisches nicht nachgeben!
Denn das Begehren des Fleisches richtet sich gegen den Geist, das Begehren des Geistes
aber gegen das Fleisch. Die beiden liegen ja miteinander im Streit, so dass ihr nicht tut, was
ihr tun wollt.» Von der Schwerkraft des Fleisches kann auch der Leib infiziert werden: «Wenn
ihr nämlich nach dem Fleisch lebt, müsst ihr sterben; wenn ihr aber durch den Geist tötet, was
der Leib aus sich heraus tut, werdet ihr leben.» (Röm 8,13) Umgekehrt kann das, was Paulus
über das Offenbarwerden Christi im Leib ebenso für das Fleisch gelten: «… damit auch das
7
8
9
10
Vgl. Hans Weder, Leiblichkeit. Neutestamentliche Anmerkungen zu einem aktuellen Stichwort: Krieg/ Weder,
Leiblichkeit (Anm. 3), 31–50 (45).
Scornaienchi, Sarx (Anm. 3), 81.
Tilly, Aspekte (Anm. 3), 79.
Zum Folgenden vgl. Scornaienchi, Sarx (Anm. 3), 287–291.
4
Leben Jesu an unserem sterblichen Fleisch offenbar werde» (2Kor 4,11). Mehr noch, in 2Kor
4,11 betont der Apostel in Aufnahme von Ez 11,18: «Ihr seid erkennbar als ein Brief Christi,
von uns verfasst, geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes,
nicht auf Tafeln aus Stein, sondern auf andere Tafeln: in Herzen aus Fleisch.» Auch das
Fleisch ist Offenbarungsträger, sofern es nicht auf sich selbst bezogen bleibt, sondern vom
Geist bestimmt wird. Fleisch und Geist bilden also keinen antagonistischen Gegensatz und
das Fleisch ist nicht ipso facto das Verderben, vielmehr bildet es so etwas wie die Kondensationsfläche für die Sünde. Diesen Zusammenhang fasst Paulus unter die Ausdrücke ἐν σαρκὶ
und κατὰ σάρκα, im bzw. nach dem Fleisch (Röm 7,5; 8,8.9). Es hängt alles daran, in der
menschlichen Existenz ἐν σαρκὶ nicht κατὰ σάρκα zu leben: «Wir führen zwar unser Leben im
Fleisch, unseren Kampf aber führen wir nicht nach dem Fleisch.» (2Kor 10,3) «[D]ie σάρξ bekommt ihren negativen Charakter dadurch, dass sie zum Gegenstand wird, den der Mensch
vorzeigen, mit dem er sich rühmen kann. […] Sündig ist also nicht die σάρξ, sondern das
Vertrauen auf sie.»11
Auf einen in diesem Zusammenhang wichtigen Aspekt soll wenigstens kurz hingewiesen werden. Eine integrale Rolle bei der Vermittlung von Leib, Fleisch und Geist (πνεῦμα) spielt die
jüdische Vorstellung vom Herz (καρδιά).12 Für Paulus kommt in Übereinstimmung mit der gesamten biblischen Tradition (Ausnahmen sind Tobit 3,17; 4,3) der Seele keine privilegierte
eschatologische Bedeutung zu. Gottes Geist wirkt nicht auf die ψυχή, sondern berührt die
καρδιά und kann nur darüber auf die Seele zurückwirken. «Über das Herz erreicht der göttliche
Geist den Leib und die mentalen Kapazitäten des Menschen (2Kor 1,22; 3,3; Gal 4,6; Röm
3,29; 55). Ja, Gott selbst kann im Herzen des Menschen ‹aufleuchten› (2Kor 4,6). Das göttliche
Wort weckt im Herzen den Glauben (Röm 10,8ff.). […] Das Herz bündelt emotionale und moralische Energien, es gibt charakterliche ‹Festigkeit›, empfängt Trost und Orientierung (1Thess
3,13; 1Kor 7,37; 2Thess 2,17; 3,5); es ist der Ort des Eifers und der festen Vorsätze und des
geistlichen Gehorsams (Röm 6,17; 8,16; 9,7).»13
1.3 Das Rohe und das Gekochte
Die strikte Leiborientierung in der paulinischen Theologie wurde allerdings weder in der biblischen Rezeptionsgeschichte allgemein geteilt, noch konnte sie sich gegen den übermächtigen
Einfluss platonischer, aristotelischer und stoisch-hellenistischer Philosophien behaupten. Dessen ungeachtet begegnet die Natur von Leib/Körper und Fleisch stets in dem kulturell vermittelten Zusammenhang von Geist/Seele14 und Tod. Das Nachdenken über Leib/Körper und
11
12
13
14
Eduard Schweizer, σάρξ: ThWNT, Bd. VII, Stuttgart 1966, 123–145 (129).
Vgl. Welker, Anthropologie (Anm. 5), 106f.; Matthias Krieg, Leiblichkeit im Alten Testament: ders./Weder, Leiblichkeit (Anm. 3), 7–29); Bernd Janowski, Der ganze Mensch. Zu den Koordinaten der alttestamentlichen Anthropologie: ZThK 113/2016, 1–28; ders., Das Herz – ein Beziehungsorgan. Zum Personenverständnis des Alten
Testaments: ders./Christoph Schwöbel (Hg.), Dimensionen der Leiblichkeit. Theologische Zugänge, Neukirchen-Vluyn 2015, 1–45.
Welker, Anthropologie (Anm. 6), 106.
Es ist an dieser Stelle unerheblich, ob das Körper-Geist-Verhältnis dichotomisch oder trichotomisch (als Körper-Seele-Geist-Relation) gedacht wird; die Unterscheidung zwischen Seele und Geist ist der Bibel eigentlich
fremd; vgl. Heinz-Horst Schrey, Leib/Leiblichkeit: TRE, Bd. XX, Berlin, New York 1990, 638‒643; Karen Gloy,
Leib und Seele: TRE, Bd. XX, Berlin, New York 1990, 643‒649.
5
Fleisch hängt – in Anlehnung an einen Gedanken von Claude Lévi-Strauss – gewissermassen
ab von der epistemischen Garstufe zwischen «the raw and the cooked»15 Der Ethnologe unterschied zwischen drei Zuständen: (1.) dem natürlich Rohen, das deshalb mit der Zeit zum
(2.) natürlich Verfaulten wird und dem (3.) dazwischen geschalteten ‒ auf Zeit spielenden ‒
kulturell Gekochten. Die Ernährungssicherheit hat es sozusagen mit einem umgekehrten Parusieproblem zu tun: Was hier zu schnell geht, dauert dort zu lange. Wie beim Kochen geht es
auch Philosophie und Theologie um die Verlängerung des Haltbarkeitsdatums, um Zeitgewinn
und Vergänglichkeitsschutz. Die (noch) unaufhebbar kurze Halbwertzeit von Leib und Fleisch
bildet das anthropologische Grundmotiv für die Suche nach einer Sphäre ohne Verfallsdatum,
wo die essentiellen Schätze menschlicher Existenz vor Rost, Motten und Diebstahl sicher sind
(Mt 6,19). Das Interesse am Leib/Körper entspringt dem Wissen um seine Vergänglichkeit.
Vom Tod aus erhält das Nachdenken über Leib/Körper und deren Verhältnis zu Seele und
Geist sein Gewicht und seine Dringlichkeit. Leib/Geist und Fleisch gehören sachlich eher zur
Thanatologie als zu den Life Sciences.
Weil sich Philosophie und Theologie nicht auf konservierende Kochkünste verlassen können,
haben sie sich ein eigenes Denaturalisierungswerkzeug konstruiert. Die Funktionsweise ist im
Grunde ganz einfach: Weil die Ideen der Unvergänglichkeit und Ewigkeit nicht zu den Erfahrungen menschlich-biologischer Aggregatzustände passen, müssen sie in eine jenseits der
Körperlichkeit liegende, meta-physische Welt verlegt werden, die zunächst von alterungsbeständigen Göttinnen und Göttern bevölkert wurde. Die aus dieser kosmologischen Gütertrennung resultierende Herausforderung besteht darin, ob und wie die metaphysische Sphäre der
Unendlichkeit mit der leibhaftigen Vergänglichkeit allen Lebens verbunden und zurück in den
Menschen kommen kann. Als attraktive Vermittlungsinstanz erscheinen dafür die Kandidaten
Seele und Geist. Über sie kann das Unendliche und Ewige in das unter den Bedingungen der
Endlichkeit seufzende Sein (Röm 8,22) einwandern. Die Behauptung von der Existenz der
Seele und des Geistes macht der in der biologischen Verfallskonstitution ihres Fleisches gefangenen Kreatur Hoffnung, dass «das was ist, nicht alles ist».16 Das paulinische Seufzen der
Kreatur ist die Grundmelodie dieser Hoffnung. In der Philosophie- und Theologiegeschichte
geht es seit jeher darum, wie diese Hoffnung auf ein möglichst plausibles Fundament gestellt
werden kann. So wird auch verständlich, warum gegen die im 20. Jahrhundert dominierende
protestantische Vorstellung, die Seele würde ‒ wie der Körper ‒ am Ende kompostiert, so
verbissen gekämpft wird.
Es kommt an dieser Stelle nicht auf die komplexen und aus heutiger Sicht manchmal schwer
nachvollziehbaren Details der theoriegeschichtlichen Debatten an. Entscheidend ist die Konfrontation die in dem «und» zwischen Leib und Seele bzw. Körper und Geist steckt. Über die
längste Zeit galten Leib/Körper und Fleisch als das Problem, für das Seele und Geist die Lösung sind. Die Entwicklung des westlichen Denkens lässt sich auf die grobe Formel bringen:
Je stärker sich die Seele und der Geist als verlässliche Instanzen etablierten, desto verdächtiger konnte der Körper/Leib werden. Der Siegeszug von Seele und Geist wurde umgekehrt
15
16
Vgl. Claude Lévi Strauss, Mythologica I. Das Rohe und das Gekochte, Frankfurt/M. 2000.
Jürgen Ebach, Weil das, was ist, nicht alles ist. Theologische Reden IV, Frankfurt/M 1998.
6
zum Grabgesang für Körper/Leib und Fleisch. Lange vor der neuzeitlichen Devise, dass verlassen ist, wer sich auf andere verlässt, hatte das entgegengesetzte Motto Konjunktur: Wer
sich auf seinen Leib/Körper verlässt, die oder der ist von allen guten Geistern verlassen.
Bereits bei den Vorsokratikern begegnet ein Merkmal von σῶμά, das sich im Laufe der Zeit
verstärkte und ‒ trotz mancher Gegenbewegungen ‒ den Körper/Leib-Verständnissen bis
heute anhaftet: die Ambivalenz seines Gegebenseins zwischen Gabe (gift) und Gift:17 Die
abendländische Mentalitätsgeschichte ist gekennzeichnet durch einen «philosophischen Skrupel gegenüber dem Körper […] Insbesondere die eng mit dem Körper verbundenen Dispositionen und Vermögen des Menschen, nämlich die Leidenschaften und die Sinneswahrnehmungen, waren entsprechenden Vorbehalten ausgesetzt. Ebenso wie der Körper die Seele gefangen hält, so die gemeine Annahme, halten die Sinne und die Leidenschaften die Erkenntnis in
Irrtum und Vorurteil gefangen.»18 Leib/Körper und Fleisch stehen unter dem Generalverdacht,
die Wahrheit, kontemplative Schau des Ewigen ‒ in der Antike die Verbindung mit dem Göttlichen ‒, reine Erkenntnis, Transzendenzbezug oder das rationale Denken zu irritieren und zu
vergiften.
Prototypisch begegnet diese Leibflucht in der Verweigerung des zum Tode verurteilten Sokrates gegenüber der Befreiungsaktion seiner Freunde. Die Begründung des antiken Philosophen
ist so bestechend einfach wie irritierend: «Wenn [die Seele] sich rein losmacht und nichts von
dem Leibe mit sich zieht, […] sondern ihn floh und in sich selbst gesammelt blieb und dies
immer im Sinn hatte, was nichts anderes heissen will, als dass sie recht philosophierte und
darauf dachte leicht zu sterben; oder hiess dies nicht, auf den Tod bedacht zu sein? ‒ Allerdings ja. […] Tritt also der Tod den Menschen an, so stirbt, wie es scheint, das Sterbliche an
ihm, das Unsterbliche aber und Unvergängliche zieht wohlbehalten ab, dem Tode aus dem
Wege.»19 Der antike Philosoph nimmt damit die viel zitierte Überschrift des 20. Kapitels aus
dem ersten Buch von Michel de Montaignes Essais vorweg: «Philosophieren heisst sterben
lernen»20 und erzählt zugleich die ungemein einflussreiche Masterstory vom Leib als Gefängnis der Seele. Tatsächlich lesen sich die philosophischen und theologischen Debatten über
die Hoffnung angesichts der Vergänglichkeit von Leib und Leben weitgehend wie Fussnoten
zu den Reflexionen des prominenten antiken Todeskandidaten.
Nicht unerheblich für die theologische Frage nach Körper/Leib und Fleisch ist an dieser Stelle
die Erinnerung an das andere Todesopfer politischer Justiz ungefähr 400 Jahre später: der
gekreuzigte Gottessohn. Unterschiedlicher könnten die Szenen kaum sein. Auf der einen Seite
der souveräne, abgeklärte Philosoph, der mit seinen Freunden in seinen letzten Stunden über
das Verhältnis von Leib und Seele und ihre Unsterblichkeit debattiert. Auf der anderen Seite
Jesus, der das Wort des Psalmisten (Ps 22,2) brüllte: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du
mich verlassen?» (Mt 27,46; Mk 15,34) und mit einem lauten Schrei auf den Lippen starb.
Diese Sterbeszene dokumentiert – verglichen mit derjenigen des Philosophen21 – ein ganz
17
18
19
20
21
Vgl. dazu aus ethischer Perspektive: Brigitte Boothe/Philipp Stoellger (Hg.), Moral als Gift oder Gabe? Zur
Ambivalenz von Moral und Religion, Würzburg 2004.
Joerg Fingerhut/Rebekka Hufendiek/Markus Wild, Einleitung: dies. (Hg.), Philosophie der Verkörperung.
Grundlagentexte zu einer aktuellen Debatte, Berlin 2013, 9‒102 (19).
Platon, Phaidon 80e‒81a.106e; vgl. 40c‒41a.
Vgl. Montaigne, Michel de, Essais. Erstes Buch, übers. v. Hans Stilett, München 2000, 126–146.
Vgl. Platon, Phaidon 114d–118a.
7
und gar untröstliches Ende. Zwar hatte Jesus dem reuigen Mitgekreuzigten versprochen:
«Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.» (Mt 34,43) Aber dieser war kein Philosoph,
der die Befreiung von seinem Körper herbeisehnte, sondern ein einfacher Straftäter, der für
seine Vergehen martialisch gebüsst wurde. Vor allem bewirkte die postmortale Aussicht auf
das Paradies beim Gottessohn selbst ganz offensichtlich keine philosophisch-kontemplative
Gelassenheit. Was immer der Tod Jesu am Kreuz bedeutete, darf ‒ im Kontrast zu der Seelenbefreiungsaktion des Sokrates ‒ die brutale Trostlosigkeit des Endes seiner leiblichen Existenz nicht theologisch relativiert oder übersprungen werden. Die harmartiologische Pointe ist
der Schleppanker des Leibes, der den Menschen Jesus ‒ wie jeden anderen Menschen ‒ bis
zum letzten Atemzug zur fleischlichen Existenz in der Welt verdammt. Kein transzendentalphilosophischer oder theologischer Seitenschneider kann die Kette, die das Leben unentrinnbar an den irdischen Leib bindet, durchtrennen. Nirgendwo bestimmt das Fleisch radikaler den
Geist als im Schmerz – diesen Umstand machen sich seit jeher die Folterknechte dieser Welt
und ihre politischen Herren zunutze.
Bis zur Neuzeit gerieten Σῶμά und σάρξ immer dann auf die schiefe Ebene, wenn ein Neuplatonismus ins Spiel kam. Anschliessend trat als zweiter Verdachtsgenerator die cartesianische Unterordnung der res extensa unter die res cogitans hinzu, also das hierarchische Verständnis von denkendem Ich und seinem körperlichen Dasein. Seit dem 18. Jahrhundert behauptet eine weiterentwickelte Variante, im Verbund mit wechselnden Koalitionären ‒ etwa
dem Empirismus (Francis Bacons, John Lockes und John Stuart Mills), Materialismus (Karl
Marx’ oder Friedrich Engels) oder der Transzendentalphilosophie (Immanuel Kants oder Friedrich Wilhelm Joseph Schellings) ‒ eine Hierarchie zwischen objektiver (wissenschaftlicher) Erkenntnis und bloss subjektiven Wahrnehmungen und Empfindungen. Dieses Denkmodell legte
eine steile Karriere hin und lieferte das erkenntnistheoretische Fundament für die wissenschaftlich-technologischen Revolutionen. Wie immer diese Entwicklungen im Einzelnen verlaufen sind und beurteilt werden, fest steht, dass Körper/Leib und Fleisch unter diesen Bedingungen keine Konjunktur haben. Der Verweis auf das Körperlich-Leibliche wird allenfalls zum
Protest oder zu einer Form subversiven Denkens.
Mit der Erfindung der Natur entledigt sich das neuzeitliche Subjekt des lebendig-kosmologischen «σῶμά τοῡ κόσμου»,22 des «Weltleibes» (Waldenfels) ebenso wie des eigenen beseelten Körpers. Das Erkenntnissubjekt präpariert seine eigenen Köper/Leib und seine Umwelt als
seelenlose, mechanisch konstruierte und gesetzmässig strukturierte Natur und macht sie damit zum ‒ «willenlosen», aller Selbstzweckhaftigkeit entledigten ‒ Objekt seiner Verfügungsmacht. Es mag auf den ersten Blick paradox klingen, aber die moderne Vorstellung von übermächtigen «Naturgewalten» markiert lediglich die Ausnahme vom Normalfall der Bemächtigung des Anderen als Natur. Natur ist nicht die Blume im Topf oder die Gämse im Nationalpark, sondern die Legitimationsfigur für eine scheinbar grenzenlose Aneignung, zu der sich
der Naturschutz wie der klägliche Versuch verhält, ein Interkontinentalflugzeug mit einer Fahrradbremse zu stoppen.23 Moralische Empörung hilft hier genauso wenig weiter wie eine an
vormoderne Naturverständnisse appellierende, ghettopolitische Naturromantik. Beide Strategien verstellen den Blick dafür, dass wir uns die Natur gemacht und den Sinn für das Pathos
22
23
Platon, Timaios, 32c.
Vgl. Ulrich Beck, Weltrisikogesellschaft, Frankfurt/M. 2007, 31.
8
ausgetrieben haben. Wir organisieren unsere Leben unter den Bedingungen des Risikos und
nicht der Gefahr: das Gegenüber und unsere Umwelt bringen uns nur noch in die Bredouille,
wenn wir sie übersehen oder falsch kalkuliert haben.
Seit dem 20. Jahrhundert, stemmen sich unter dem Eindruck zweier Weltkriege und der rasanten technologischen Entwicklungen in der zweiten Jahrhunderthälfte die Phänomenologie,
der Pragmatismus und die philosophische Anthropologie gegen die Einseitigkeiten naturwissenschaftlich-technologischer Weltbilder. Descartes denkendes Ich, hatte sich zwar seiner
Leiblichkeit nicht entledigt, aber den eigenen Körper zu einem mehr oder weniger frei verfügbaren Objekt degradiert. Anschliessend hatten Marx die Gesellschaft, Darwin die Natur und
Freud das Innenleben entzaubert. Nach kritischen Anfängen bei Immanuel Kant und Arthur
Schopenhauer kam bereits im 19. Jahrhundert vom ewigen Nörgler Friedrich Nietzsche massiver Protest: «Also Umlernen! [...] Das Geistige ist als Zeichensprache des Leiblichen festzuhalten»24 In gewisser Weise stellt der Philosoph damit das wahrscheinlich auf Pythagoras zurückgehende Wortspiel von σῶμά = σῆμα, (Körper/Leib = Zeichen/Grabmal auf den Kopf: «καὶ
τὸ μὲν σῶμά ἐστιν ἡμῖν σῆμα» ‒ und unser Körper ist uns ein Grab, auf den Kopf.25 In der
Folge ging es um eine systematische Entgiftung und Rehabilitierung von Leib/Körper und
Fleisch in Form einer Art philosophischem Antiveganismus. Angesichts der unzähligen Opfer
der zum Himmel schreienden Gewalt im 20. Jahrhundert, kamen die Welt- und Selbstbilder
nicht mehr an der rohen Existenz aus Fleisch und Blut vorbei. Vielmehr stellte sich die umgekehrte Frage, ob die Humanität und das sie auszeichnende Denken nicht selbst in den Gemetzeln untergegangen seien. Dieser kolossale Zweifel zieht sich durch die Werke von Arendt,
Adorno, Lévinas, Derrida, Nancy, Waldenfels, Henry, Marion u. a. Allerdings kommt es – wiederum durch ein epochales politisches Ereignis, den Fall des Eisernen Vorhangs 1989 – zu
einem fundamentalen Bruch. Die aktuell diskutierten Konzepte von embodied cognition26 passen eher in die sterile Welt biotechnologischer Labors oder geisteswissenschaftlicher Elfenbeintürme als auf die harten Bretter flexibilisierter und beschleunigter Lebenswelten unter der
Knute ökonomischer Verteilungskämpfe. Die aktuellen Leib- und Körperdebatten haben das
Thema adaptiert, aber den Ort gewechselt.
2. Körper/Leib und Fleisch als Thema der Reformation
Luther: «Das Wort sagt, dass Christus einen Körper hat. Das glaube ich. Das Wort sagt, dass
der Körper Christi in den Himmel aufgestiegen ist und zur Rechten des Vaters sitzt.
24
25
26
Friedrich Nietzsche, KSA Bd. 10, 285. Vgl. ders., Zarathustra: KSA 4, 40: «Das schaffende Selbst schuf sich
Achten und Verachten, es schuf sich Lust und Weh. Der schaffende Leib schuf den Geist als eine Hand seines
Willens.»
Platon, Gorgias, 493a2‒3; vgl. Bernhard Waldenfels, Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie
des Leibes, Frankfurt/M. 2000, 17.
Vgl. für den deutschsprachigen Raum grundlegend Joerg Fingerhut/Rebekka Hufendiek/Markus Wild (Hg.),
Philosophie der Verkörperung. Grundlagentexte zu einer aktuellen Debatte, Berlin 2013, Thiemo Breyer et al.
(Hg.), Interdisziplinäre Anthropologie. Leib – Geist – Kultur, Heidelberg 2014; Gregor Etzelmüller/Annette
Weissenrieder (Hg.), Verkörperung als Paradigma theologischer Anthropologie, Berlin, Boston 2016; Michael
Staudigl (Hg.), Gelebter Leib ‒ verkörpertes Leben. Neue Beiträge zur Phänomenologie der Leiblichkeit, Würzburg 2012.
9
Auch das glaube ich. Das Wort sagt, dass der selbst Körper im Abendmahl ist, und
ich glaube das.»27
Zwingli: «Das Fleisch ist nichts nütze (Joh 6,63) […] Diese Stelle bricht euch den Hals.»28
Luther: «Rühmet nicht zu sehr, so schnell brechen die Hälse nicht. Ihr seid in Hessen, nicht
in der Schweiz.»29
Diese frei komponierte Episode aus den Protokollen des Marburger Religionsgesprächs von
1529 markiert einen wesentlichen Zusammenhang, in dem die Reformatoren über Körper/Leib
und Fleisch nachdachten. (Heute hätte Zwingli dem Kontrahenten aus dem Flachland ‒ 164
m N.N. in Eisleben geboren und gestorben ‒ bei einer alpinen Gebirgstour die ihm unbekannten Risiken gewaltiger Fallhöhen hautnah vor Augen geführt). Die Begriffe «Fleisch» und
«Leib» gehören nicht zu den Fundamentalkategorien der Reformation, wie ein Blick in die einschlägige Literatur und die Register der Werke Zwinglis, Bullingers, Calvins oder Luthers zeigt.
Dieser Befund wird bestätigt durch die aktuellen theologischen Leib- und Körper-Debatten, bei
denen im historischen Teil von der Bibel und den antiken Denktraditionen mehr oder weniger
direkt zur neuzeitlichen Philosophie weitergegangen wird. Die Reformatoren tauchen als begriffsgeschichtliche Ressource nur am Rand auf30 und dann im Zusammenhang des Abendmahlsverständnisses.31
Angesichts der zentralen Anliegen der Reformation und eines infolge des Humanismus erst
im Entstehen begriffenen humanwissenschaftlichen Interesses, verwundert dieser Befund
nicht. Natürlich waren wichtige Fundamente bereits vorher gelegt worden, allen voran der
scholastische Nominalismus. Seine Entstehung wurde ‒ wie Heiko A. Oberman gezeigt hat ‒
27
28
29
30
31
Martin Luther, Rhapsodie colloquii ad Marburgum: ders., WA 30 III, 157,22‒25: «verbum dicit, Christum habere
corpus, hoc credo, verbum dicit corpus Christi ascendisse in coelum, sedere ad dexteram patris, hoc quoque
credo, verbum dicit, hoc ipsum corpus esse in coena, et hoc credo»; Übersetzung nach Lyndal Roper, Der
feiste Doktor. Luther, sein Körper und seine Biographen, Göttingen 22016, 68.
Zit. n. Heiko A. Oberman, Luther. Mensch zwischen Gott und Teufel, verb. Aufl., Berlin 1987, 250; vgl. Martin
Luther, Scholia 1532/4 (Vorlesung über Jesaja 1527‒29): WA 25, 107,4f.: «Ne audiamus eos, qui dicunt: Caro
nihil prodest. Tu potius, inverte et dic: Deus sine carne nihil prodest.» ‒ Lasst uns nicht auf die hören, die
sagen: Das Fleisch ist nichts nütze. Kehre die Sache eher um und sage: Gott ohne Fleisch ist nichts nütze.
Ebd.
Abgesehen von älteren Studien (Erdmann Schott, Fleisch und Geist nach Luthers Lehre unter besonderer
Berücksichtigung des Begriffs ‹totus homo›, Leipzig 1928; Paul Althaus, Paulus und Luther über den Menschen. Ein Vergleich, Gütersloh 1938; Gerhard Ebeling, Lutherstudien II: Disputatio de homine, 3 Tlbde., Tübingen 1977‒1989) findet die engere thematische Diskussion in der Gegenwart weitgehend im englischsprachigen Raum statt; instruktiv der Sammelband von Anne Eusterschulte/Hannah Wälzholz (Hg.), Anthropological Reformations ‒ Anthropology in the Era of Reformation, Göttingen 2015; vgl. die Ausnahme Magdalene L.
Frettlöh, ‹Gott im Fleisch …› Die Inkarnation Gottes in ihrer leibeigenen Dimension beim Wort genommen:
‹Dies ist mein Leib.› Leibliches, Leibeigenes und Leibhaftiges bei Gott und den Menschen. Jabboq 6, Gütersloh 2006, 186–229.
Diese Fokussierung bestätigt zuletzt das Handbuch Amy Nelson Burnett/Emidio Campi (Hg.), A Companion
to the Swiss Reformation, Leiden 2016; vgl. auch Christof Gestrich, Luther mit Leib und Seele. Impulse für
eine christliche Eschatologie: Johannes von Lüpke/Edgar Thaidigsmann (Hg.), Denkraum Katechismus. Festgabe für Oswald Bayer, Tübingen 2009, 289–314, der die Leibkategorie lediglich am Rande und funktional
zugespitzt als Kontrastbegriff behandelt. Erwähnt werden können daneben noch Beiträge mit biographischem
Hintergrund, etwa Volker Leppin, Madensack und Tempel des Heiligen Geistes. Leiblichkeit bei Martin Luther:
Bernd Janowski/Christoph Schwöbel (Hg.), Dimensionen der Leiblichkeit. Theologische Zugänge, NeukirchenVluyn 2015, 86–97.
10
durch die Erfahrungen der Unordnung in einer durch die Pest-Pandemien verwüsteten Welt
im Hoch- und Spätmittelalter begünstigt32 und schuf die Bedingungen dafür, «dass eben das
christliche Europa zum Zentrum des technologischen Fortschritts geworden ist. Drei nominalistische Grundprinzipien sind hier zum Tragen gekommen: (1) Die Priorität des Einzelphänomens, welches die Wirklichkeit konstituiert; (2) die induktive Methode, welche die vorgefasste
Meinung zum wissenschaftlichen Laster par excellence stempelt; und vor allem (3) der Unterschied zwischen dem unbekannten, nur durch seine Selbstoffenbarung erkennbaren Gott und
der genauso unbekannten, nur durch Vernunft und Erfahrung zu erschliessenden Natur.»33
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der menschlichen Natur machte im Jahrhundert der
Reformation bedeutende Fortschritte: Magnus Hundt verwandte in «Anthropologium de hominis dignitate» (1501) erstmals den Begriff «Anthropologie», Andreas Vesalius führte in «De
humani corporis farbrica» (1543) den Autopsiebegriff ein und Theophrastus Bombastus von
Hohenheim revolutionierte in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, unter dem Namen Paracelsus, die an der Antike (Galen) orientierte Medizin seiner Zeit. Es herrschte so etwas wie
eine (natur-)wissenschaftliche Aufbruchsstimmung, freilich immer wieder getrübt durch grausame Pest-Einbrüche, die auch an der Wiege der reformatorischen Bewegung stehen: 1519
wäre Zwingli fast an der Seuche gestorben. Aus Dankbarkeit für seine Genesung komponierte
und textete er sein Pestlied.34 Niklaus Manuel schuf zwischen 1516 und 1519 seinen legendären, 80 m langen Totentanz an der Friedhofsmauer des Dominikanerklosters in Bern.35 Die
Bedrohung von Leib und Leben in jener Zeit machen Körper und Fleisch zu einer selbstverständlichen, öffentlichen Angelegenheit.
2.1 Martin Luther
Martin Luther nimmt in seiner «Disputatione de homine»36 von 1536 eine Verhältnisbestimmung vor zwischen dem «homo theologicus»37 auf der einen Seite und den Verständnissen
vom Menschen in Philosophie, Jurisprudenz und Medizin auf der anderen Seite. Von den 40
knappen und narrativ gehaltenen Thesen gelten die ersten acht einer anerkennenden Rekapitulation der vernunftgeleiteten Sicht auf den Menschen, die wesentlich den damaligen state
of the art einer scholastisch vermittelten, aristotelischen Erkenntnistheorie wiedergibt: «Die
32
33
34
35
36
37
Vgl. Heiko A. Oberman, Zwei Reformationen. Luther und Calvin ‒ Alte und Neue Welt, Berlin 2003, 24: «Die
Erfahrung der Pest ist einer der Faktoren, die zum Verständnis des Aufstiegs des Nominalismus im fünfzehnten Jahrhundert, seiner Neuerungen im gesamten Bereich von der Theologie bis zur Naturwissenschaft sowie
zum Verständnis seines erfolgreichen Vordringens in die Schulen und Universitäten beitragen, wo er sich
schliesslich als via moderna etablierte.»
Heiko A. Obermann, Werden und Wertung der Reformation. Vom Wegestreit zum Glaubenskamp, 2., durchges. Aufl., Tübingen 1979, 365.
Vgl. Gesangbuch der Evangelisch-reformierten Kirchen der deutschsprachigen Schweiz, Basel, Zürich 1998,
Nr. 713; vgl. dazu Thomas Martin Schneider, Der Mensch als ‹Gefäss Gottes› ‒ Huldrych Zwinglis Gebetslied
in der Pest und die Frage nach seiner reformatorischen Wende: Zwingliana XXXV/2008, 5‒21.
Vgl. zuletzt Susan Marti (Hg.), Söldner, Bilderstürmer, Totentänzer – Mit Niklaus Manuel durch die Zeit der
Reformation, Zürich 2016; Johannes Tripps, ‹Den Würmern wirst Du Wildbret sein›. Der Berner Totentanz des
Niklaus Manuel Deutsch in den Aquarellkopien von Albrecht Kauw (1649), Bern 2005.
Martin Luther, Disputatione de homine: WA 39 I, 175‒177; die Übersetzung folgt Gerhard Ebeling, Lutherstudien, Bd. II/1: Disputatione de homine. Text und Traditionshintergrund, Tübingen 1977, 15‒24; vgl. dazu Albrecht Peters, Der Mensch, Gütersloh 1979, 27–59.
Martin Luther, Das Disputationsfragment: WA 39 I, 179,5.
11
Philosophie, die menschliche Weisheit, definiert den Menschen als vernunftbegabtes, mit Sinnen und Körperlichkeit ausgestattetes Lebewesen.» (These 1) Die Attributierungen animal rationale, sensitivum, corporeum gehören bis heute zum Standardrepertoire der westlichen philosophischen und theologischen Anthropologie. Die Legitimität des ausser-theologischen, wissenschaftlichen Blicks begründet Luther in These 9 damit, dass Gott die «Hoheit der Vernunft»
trotz «Adams Fall» für die Menschen bestätigt habe. In These 10 wechselt die Perspektive mit
der Bemerkung, dass reine Vernunfterkenntnis nicht zu den Ursachen vordringen, sondern nur
«Rückschlüsse aus den Wirkungen» ziehen könne. Deshalb können Philosophie und Vernunft
«über den Menschen nahezu nichts wissen» (These 11). In den Thesen 12‒21 bestimmt Luther mit Hilfe der aristotelischen Ursachenlehre das Leib-Seele-Verhältnis und konfrontiert zugleich die philosophische mit der theologischen Sichtweise: Weil die Philosophie über die
«stoffliche Ursache» (causa materialis; These 12) und die «wirkende Ursache» (causa efficiens; These 13) nichts wisse, setze sie allein auf die «irdische Wohlfahrt» als «Zweckursache» (causa finalis; These 14) des Menschen. Die Seele als «gestaltende Ursache» (causa
formalis; These 15) sei einerseits höchst umstritten und reiche andererseits nicht aus, um «sich
seinem Wesen nach erkennen» zu können (These 17). Gegen die «irdische Wohlfahrt» als
Zweckursache setzt der Theologe Luther Gott den Schöpfer (These 14) und an die Stelle der
Introspektion der menschlichen Seele betont er die Wahrnehmung Gottes als Quelle allen
menschlichen Seins. Entgegen der menschlichen Erkenntnis, die «dürftig, schlüpfrig und allzu
sehr an der Stofflichkeit orientiert» sei (These 19), definiere die Theologie «aus der Fülle ihrer
Weisheit den ganzen und vollkommenen Menschen» (These 20): «Nämlich: Der Mensch ist
Gottes Geschöpf, aus Fleisch und lebendiger Seele bestehend, von Anbeginn zum Bilde Gottes gemacht ohne Sünde, mit der Bestimmung, Nachkommenschaft zu zeugen und über die
Dinge zu herrschen und niemals zu sterben; das aber nach Adams Fall der Macht des Teufels
unterworfen ist, nämlich der Sünde und dem Tode ‒ beides Übel, die durch seine Kräfte nicht
zu überwinden und ewig sind» (These 21f.). Die aus der Rechtfertigungslehre folgende Konsequenz (vgl. These 32) lautet: «So ist denn der Mensch dieses Lebens Gottes blosser Stoff
zu dem Leben seiner künftigen Gestalt.» (These 35).
Üblicherweise werden Luthers Bestimmungen des Menschen mit These 32 über den rechtfertigungstheologischen Kamm geschoren: «Paulus fasst in Röm. 3,28: ‹Wir erachten, dass der
Mensch durch Glauben unter Absehen von den Werken gerechtfertigt wird› in Kürze die Definition des Menschen dahin zusammen, dass der Mensch durch Glauben gerechtfertigt
werde.» Entgegen dem Eindampfen der Disputation auf die Rechtfertigungsfigur geben die
Thesen zunächst einen instruktiven Einblick in das Ringen des Reformators mit seinem scholastischen Erbe. Seine Zweifel an der menschlichen Erkenntnisfähigkeit der vier causae gründen in der postlapsischen Begrenztheit der Vernunft. Der Mensch kann sich nur «in der Quelle
selbst, welche Gott ist» (These 17) wahrnehmen. Anstelle des aktiven Erkennens (cognoscere) spricht der Reformator vom eher passiven Wahrnehmen (videre). Und was sich dem
Menschen in fonte ipso zu erkennen gibt, ist eine Kompilation aus Gen 2,7 und 1,26f.:38
Mensch ist Gottes Kreatur, fleischlich, von Gott beseelt und zu seinem Ebenbild geschaffen.
Das Fehlen des aristotelischen Ursachen-Schemas in der theologischen Perspektive legt den
38
Vgl. Peters, Mensch (Anm. 36), 33.
12
Schluss nahe, dass es für den Menschen coram deo nichts zu erkennen gibt. Vielmehr müsse
die philosophische, an den physischen Gegenständen orientierte Begrifflichkeit – wie Luther
ein Jahr später bemerkt – «erst wohl zum Bade» geführt, d. h. getauft werden.39
Die philosophisch-anthropologische Skepsis des Wittenberger Reformators resultiert aus seiner Bestreitung eines menschlichen Erkenntnismediums, das die postlapsischen Folgen
schadlos überstanden hätte. Die erkenntniskritische Frage des Reformators lautet: Was erkennt der durch den Fall Adams vollständig geprägte Mensch, wenn er auf den durch den Fall
Adams vollständig geprägten Menschen schaut? Auf anderer Ebene begegnet hier bereits die
Denkfigur aus der späteren aufklärerischen Kritik an der Erkenntnis des Dings an sich. Luther
kritisiert die aus der Tradition überkommene Konstruktion einer Teflonseele, an der alles Sündhafte wirkungslos abperlt, sodass sie harmartiologisch unkontaminiert die menschliche Erkenntnis leitet. Dagegen «neigt» (Ebeling) Luther zum Traduzianismus, der von Tertullian entwickelt und von der offiziellen kirchlichen Lehre geächtet, die Seele – wie den Leib – als vererbt
betrachtete.40 «Aber ist das Verhältnis von Baum und Blüte den weniger wunderbar als das
von Leib und Seele? Ist es begreiflicher, dass aus dem Samen eines Ochsen ide anima bovis
entspringt, als dass aus dem Menschensamen die anima rationalis hervorgeht?»41
Obwohl Luther in seiner Magnifikat-Auslegung von 1524 noch nahe an einem Leib-Seele-Dualismus argumentiert, verwirft er deutlich die erkenntnistheoretischen Prämissen eines substanzontologischen Seelenbegriffs: «Das zweite, die Seele, ist ebenderselbe Geist der Natur
nach, aber doch in einer anderen Aufgabe, nämlich in der, dass er den Leib lebendig macht
und durch ihn wirket […] Denn der Geist kann wohl ohne den Leib leben, aber der Leib lebt
nicht ohne den Geist. […] Und seine Art ist nicht, die unbegreiflichen Dinge zu fassen, sondern
was die Vernunft erkennen und ermessen kann. Die Vernunft ist nämlich hier das Licht in
diesem Hause, und wo der Geist nicht, mit dem Glauben als einem höheren Licht erleuchtet,
dies Licht der Vernunft regiert, so kann sie nimmer ohne Irrtum sein. Denn sie ist zu gering,
über göttliche Dinge zu handeln.»42 Luther vertritt hier letztmals – mit Verweis auf 1Thess 5,23
– ein trichotomisches Verständnis und ordnet Leib, Seele und Geist «nicht der Natur, sondern
der Eigenschaft (nach)» dem Geist oder dem Fleisch zu: «die Natur hat drei Stücke ‒ Geist,
Seele, Leib ‒ und (diese) können allesamt gut oder böse sein, denn das heisst Geist und
Fleisch sein».43 Der Reformator unterscheidet in gewisser Weise zwischen einer anthropologischen und theologischen Sichtweise: der einen Differenz zwischen Leib und Geist entspricht
die andere – übergeordnete – zwischen Glauben und Unglauben.44
39
40
41
42
43
44
Martin Luther, Die Promotionsdisputation von Palladius und Tilemann: WA 39I, 229,23: «Si volumus uti philosophicis terminis, müssen wir sie erst wohl zum Bade führen».
Vgl. Gerhard Ebeling, Lutherstudien II/2: Die philosophische Definition des Menschen. Kommentar zu These
1–19, Tübingen 1982, 46–58.
Ebeling, Lutherstudien II/1 (Anm. 36), 52 (mit Verweis auf WAT 3, 697,30f. Nr. 3904 und WA 39II, 396,13–
397,3).
Martin Luther, Das Magnificat verdeutschet und ausgelegt (1524): WA 7, 550,35–551,9; zit. n. ders., Luther
Deutsch, Bd. 5, 2., erw. und neubearb. Aufl., Stuttgart, Göttingen 1963, 280.
WA 7, 550, 26f.; zit. n. Luther Deutsch, Bd. 5, 280.
Vgl. Sibylle Rolf, Die Kommunikation des Menschlichen. Überlegungen zum Verhältnis von Leib und Seele im
Anschluss an Martin Luther: NZSTh 53/2011, 119–136 (126f.).
13
Gleichzeitig rückt er das Herz als geheimnisvolles Zentrum und Ort der Seele mit ihrem «Leben, Weben, Sinn und Kraft»45 in den Mittelpunkt und schafft damit die Voraussetzung für die
Überwindung des traditionellen Fleisch-Geist-Dualismus: «Was von flaisch geboren ist, das ist
flaisch. Das flaisch haist der gantze mensch mit leyb und seel, vernunft und willen, Und yederman hat flaischlichen sinn, mut, lust und willen, der nit us dem geist gporn ist. Denn die seel
ist also tieff gesenckt yn das flaisch, das sie es wil behüten und beschützen, das es nit schaden
leyde, also das sie mehr flaisch ist denn das flaisch selber.»46
Die Bestreitung der Seele als archimedischen Punkt der Erkenntnis führt nicht – wie vermutet
werden könnte – zu einem negativen Menschenbild und Körperverständnis. Vielmehr wird die
Seele zur beschützenden Komplizin des Fleisches, indem die leibliche Einheit der gläubigen
Seele mit Christus auf den Leib zurückwirkt, wie Luther in seinem Freiheitstraktat ausführt.47
So gewinnt er in «De servo arbitrio» eine differenziert positive Sicht auf das Fleisch: «In
Summa, dies wirst du in der Schrift beobachten: wo immer vom Fleisch die Rede ist im Gegensatz zum Geist, dort versteht man durchgehend unter Fleisch alles, was dem Geist entgegen ist, wie dort: ‹Fleisch ist nichts nütze› (Joh 6,63). Wo es jedoch absolut behandelt wird,
dort bezeichnet es, wie du wissen musst, den leiblichen Zustand oder die leibliche Natur, wie
‹Die zwei werden ein Fleisch sein› (Gen 2,24)».48
2.2 Johannes Calvin
Während Luther seit 1520 sowohl eine aristotelisch-substanzontologische Auffassung der
Seele wie auch ihre Unsterblichkeit ablehnt, hält Johannes Calvin ausdrücklich an dem platonischen Verständnis einer unsterblichen Seele fest. Der Genfer Reformator versteht unter
«‹Seele› ein unsterbliches, wenn auch geschaffenes Wesen, das des Menschen edlerer Teil
ist […] Wir können den unsichtbaren Gott und die Engel mit unserem Verstande denken; auch
das steht dem Körper keineswegs zu! Das Rechte, Gute, Anständige, das doch körperlichen
Sinnen verborgen ist, vermögen wir zu erfassen.»49 Entsprechend liegt für Calvin der «Sitz»
der Gottebenbildlichkeit «zweifellos in der Seele».50 Im Anschluss an Röm 7,22 betont er die
Hierarchie von Seele und Körper: «Denn wie die Seele der ausgezeichnetere Teil des Menschen ist, der Körper aber untergeordnet, so ist der Geist höher als das Fleisch.»51 Scharf
verwirft er die Auffassung Osianders, die Gottebenbildlichkeit sei auf den menschlichen Geist
und Leib bezogen. Vielmehr gälte: «Das Bild Gottes, das an solch äusseren Merkmalen sichtbar hervorschimmert, ist geistlich.»52 Die platonische Auffassung vom Fleisch als Kerker der
Seele begegnet häufiger in Calvins Schriften.53 Gleichzeitig bestreitet er – wiederum gegen
45
46
47
48
49
50
51
52
53
WA 7, 554,20.
Martin Luther, Sommerpostille (1526): WA 10 I,2, 301,27–32.
Vgl. Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520): WA 7, 25,26–26,4.
Martin Luther, De servo arbitrio (1525): WA 18, 735,31–35.
Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion. Institutio Christianae Religionis, Neukirchen-Vluyn
32012, I,15,2.
Calvin, Inst. (1559), I,15,3.
Johannes Calvin, Der Brief an die Römer. Ein Kommentar: ders., CStA 5,2, Neukirchen-Vluyn 2005, 369.
Ebd.
Vgl. etwas Calvin, Inst. (1559), II,7,113; III,3,14; IV,1,1; CO 50, 61vgl. dazu Kyle J. Dieleman, Body an Resurrection in Calvin's Commentaries: Anne Eusterschulte/Hannah Wälzholz (Hg.), Anthropological Reformations
14
manichäische Auffassungen bei Servet und Osiander – eine göttliche Wesenhaftigkeit des
Geistes: «Auch wenn der Geist von Gott gegeben ist und, nachdem er aus dem Fleische ausgewandert, zu ihm zurückkehrt, so kann man doch keineswegs gleich sagen, er sei aus Gottes
Grundwesen (substantia) entnommen.»54 Diese Prämisse ist notwendig, um die vollständige
Sündhaftigkeit des Menschen behaupten zu können: «Der ganze Mensch ist von Kopf bis Fuss
wie von einer Sintflut derart über und über (mit Sünde) bedeckt, dass kein Teil unberührt ist,
und deshalb wird alles, was von ihm kommt, als Sünde gerechnet, wie denn auch Paulus sagt,
alle Sinne des Fleisches und all sein Denken seien Feindschaft wider Gott (Röm 8,7) und
deshalb der Tod!»55 Calvins grundsätzlich negative Sicht auf das Fleisch verschiebt sich
scheinbar nur unter dem Druck seiner Kritiker. So relativiert er das menschliche Eingeschlossensein in das «enge irdische Knechthaus des Leibes» im Blick auf die Inkarnation des Gottessohnes dahingehend, dass Christus zwar «mit der Natur des Menschen zu einer Person
zusammengewachsen, aber doch nicht darin eingeschlossen» sei.56 Damit fällt die Last der
fast als Identität erscheinenden Verbindung von Sünde und Fleisch auf den vom Fleisch beherrschten Geist.57 Freilich ändert das nichts an der leibkritischen Haltung: im einen Fall steckt
die Sünde dem Menschen zwischen Haut und Knochen, im anderen Fall wird der eigene Körper zum permanenten Feindbild und zur schizophrenen Bedrohung des darin inkorporierten
Geistes. In diesem Sinne spricht Calvin von der «Seele selbst» als «ein Sumpf und eine Herberge allen Schmutzes».58
Diese und viele weitere Beispiele zeichnen ein misanthropisches Bild des Genfer Reformators.
Das mag ein Indiz dafür sein, warum in der deutschsprachigen Calvin-Literatur die Anthropologie gar nicht, nur stiefmütterlich oder beschwichtigend-apologetisch behandelt wird.59 Dabei
bleiben dann auch ganz anderslautende Äusserungen Calvins verborgen ‒ etwa: «Ebenso
erfordert es ausgezeichneten Scharfsinn, die innere Einheit, das Ebenmass, die Schönheit
54
55
56
57
58
59
‒ Anthropology in the Era of Refomation, Göttingen 2015, 157‒164 (157f.); Margaret R. Miles, Theology, Anthropology, and the Human Body in Calvin's ‹Institutes of the Christian Religion›: The Harvard Theological Review 74/1981, 303‒323 (bes. 311) sowie grundlegend Mary Potter Engel, John Calvin's Perspectival Anthropology, Atlanta, GA 1988 und Alida L. Sewell, Calvin, the Body, and Sexuality. An Inquiry into His Anthropology, Amsterdam 2011. Thomas J. Davis, Not ‹Hidden and Far Off›. The Bodily Aspects of Salvation and Its
Implications For Understanding the Body in Calvin's Theology: Calvin Theological Journal 29/1994, 406‒418,
(411, Fn. 17), weisst darauf hin, dass die Formel vom Gefängnis des Leibes in der letzten Ausgabe der «Institutio» signifikant häufiger auftaucht als in den vorangegangenen Fassungen.
Calvin, Inst. (1559), I, 15,5.
Calvin, Inst. (1559), II,1,9.
Calvin, Inst. (1559), II,13,4.
Vgl. mit Bezug auf Calvins Korintherbrief-Kommentar Dielemann, Body (Anm. 53), 160: «So, perhaps Calvin's
thoughts on the physical body are actually not so negative. In his comments on 2 Corinthians 5, the body as
a ‹prison›, says Calvin, not because of any ontological properties but because being in the body means a
person remains in bondage of sin. The body, then, is not itself a dspicable thing.»
Calvin, Inst. (1559), I,15,5.
Vgl. etwa Anthony N. S. Lane, Mensch: Herman J. Selderhuis (Hg.), Calvin Handbuch, Tübingen 2008, 270‒
284, der lediglich am Schluss äusserst knapp auf das Körper- und Fleischverständnis Calvins zu sprechen
kommt; Eberhard Busch, Zum Zusammenleben geboren. Johannes Calvin ‒ Studien zu seiner Theologie,
Zürich 2016, 113‒123, der sich lediglich um eine Relativierung des Platonismus im Seelenverständnis Calvins
bemüht (bes. 116) oder Olivier Millet, Humanitas. Mensch und Menschlichkeit bei Calvin, in: Matthias Freudenberg/J. Marius J. Lange van Ravenswaay (Hg.), Calvin und seine Wirkungen. Vorträge der 7. Emder Tagung zur Geschichte des Reformierten Protestantismus, Neukirchen-Vluyn 2009, 15‒31, der stark biographisch vorgeht.
15
und die Aufgabe der Organe des menschlichen Körpers mit der Genauigkeit eines Galenus
festzustellen. Aber es stimmen alle Betrachter in dem Bekenntnis überein, dass der menschliche Körper einen so sinnreichen Aufbau zeigt, dass der Schöpfer deswegen mit Recht wunderbar genannt wird.»60 Oder: «Es besteht nicht nur sonst im Menschengeschlecht ein klarer
Spiegel der Werke Gottes, sondern selbst im Kindlein, die an der Mutter Brust hängen, haben
geschickte Zungen, seinen Ruhm zu verkünden, so dass es anderer Redner nicht bedarf! […]
Daher auch jenes Wort, das Paulus aus Aratus zitiert: ‹Wir sind seines Geschlechts› (Apg.
17,28); denn wenn Gott uns mit solchen Vorzügen ziert, so hat er sich damit als unser Vater
bezeugt.»61
Zu Röm 8,3 notiert Calvin: «So hat Christus an sich gezogen, was unser war, um uns zu übereignen, was sein war. Er hat unseren Fluch auf sich genommen und uns mit seinem Segen
beschenkt. Paulus fügt hinzu im Fleische, um unsere Zuversicht zu stärken, da wir die Sünde
nun ja in unserer eigenen Natur aus dem Felde schlagen und überwunden sehen. Das nämlich
hat zur Folge, dass unsere Natur tatsächlich an dem Sieg Christi Anteil bekommt».62 Das Zitat
widerspricht der verbreiteten These von Calvins Fixierung auf die Unterscheidung zwischen
innerem und äusserem Menschen. Dem korrespondieren Ausführungen im Eschatologie-Kapitel der «Institutio» (III,25). Die manichäische Position von der Überflüssigkeit der Auferstehung des Fleisches kontert der Genfer Reformator mit dem Hinweis, «dass alles, was jetzt an
uns des Himmels unwürdig ist, der Auferstehung nicht entgegensteht».63 Deshalb würde Paulus auch um die unversehrte Erhaltung der Leiber beten und Calvin präzisiert: «dieses Gebet
betrifft den Leib genauso wie ‹Seele› und ‹Geist› (1. Thess 5,23). Das ist kein Wunder; denn
es wäre höchst widersinnig, wenn unsere Leiber, die sich doch Gott zu Tempeln geweiht hat
(1. Kor 3,16), ohne Hoffnung auf Auferstehung in Verwesung verfielen! […] Ebenso ermahnt
uns Paulus, Gott mit unserem Leibe wie mit unserer Seele zu preisen, weil beide ihm gehören!
(1. Kor. 6,20).»64
Calvin geht noch einen Schritt weiter. Der Leib wird nicht nur so selbstverständlich wiedergeboren wie der Geist, sondern die Wiedergeburt impliziert zugleich die Kontinuität des Leibes.65
Mit Bezug auf 1Kor 15,53 ‒ «Denn was jetzt vergänglich ist, muss mit Unvergänglichkeit bekleidet werden, und was jetzt sterblich ist, muss mit Unsterblichkeit bekleidet werden» ‒ wendet sich der Reformator ausdrücklich gegen die Vorstellung, dass «Gott neue Leiber bilde[n
würde. …] Wenn es hiesse, wir müssten erneuert werden, so wäre das eine doppeldeutige
Redeweise […]. Nun weist aber der Apostel mit dem Finger eben auf die Leiber, mit denen wir
jetzt angetan sind, und verheisst ihnen die Unverweslichkeit; damit bestreitet er offen, dass
etwa neue Leiber gebildet würden.»66 Das Gleiche gilt für den auferstandenen Christus. Er
baut nicht einen neuen Tempel, vielmehr verheisst Jesus in Joh 2,19: «Brecht diesen Tempel
60
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65
66
Calvin, Inst. (1559), I,5,2.
Calvin, Inst. (1559), I,5,3.
Johannes Calvin, Der Brief an die Römer. Ein Kommentar: ders., CStA 5,2, Neukirchen-Vluyn 2007, 386f.
Calvin, Inst. (1559), III,25,7.
Ebd.
Vgl. Dielemann, Body (Anm. 5), 162f.
Ebd.
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ab, und in drei Tagen werde ich ihn aufrichten.» Calvin kommentiert: «Eben den sterblichen
Leib, den er zuvor an sich getragen hatte, den bekam er wieder».67
Diese andere Perspektive Calvins auf den menschlichen Körper wirft natürlich die Frage nach
der Einheit seines Leibverständnisses auf. Die einfachste Antwort wäre, ihm eine ambivalente
Haltung zu unterstellen.68 Gewiss präsentiert der Genfer Reformator ‒ vor allem im Blick auf
sein theologisches Gesamtwerk und seine Biographie ‒ keine kohärente Position. Eine psychoanalytische Deutung ‒ wie sie etwa Erik Erikson und Lyndal Roper bei Luther versucht
haben ‒ würde die Bedeutung und den Einfluss von Calvins prekärer Migrationssituation und
seinem sich zusehend verschlechternden Gesundheitszustand herausarbeiten.69 Wichtiger erscheint mir aber die Perspektive, aus der Calvin gelesen und befragt werden muss. Ich spitze
zu: Luther schaut von Adam aus auf den Leib, während sein Genfer Kollege aus entgegengesetzter Richtung, vom auferstandenen Christus her, Körper und Fleisch betrachtet. Nach meinem Leseeindruck, der freilich genauer geprüft werden müsste, erscheint der Auferstandene
bei Calvin eher prototypisch, bei dem Wittenberger Reformator stärker exemplarisch.70 Anders
formuliert: Bei Luther wächst das Rettende aus der Gefahr, bei Calvin wird die Gefahr im Lichtkegel der Erwählungshoffnung voll ausgeleuchtet. Der Genfer Reformator konturiert den alten
Adam schärfer, weil er den neuen Menschen radikaler, leibhaftiger und ‒ vor dem Hintergrund
seiner Heiligungstheologie ‒ unmittelbarer denkt. Das leibliche Pathos ist ihm sozusagen eingefleischter, als dem Wittenberger. Der neue Leib dokumentiert nicht nur das Rechtfertigungsgeschehen, vielmehr ereignet und realisiert sich das Rechtfertigungsgeschehen im Auferstehungsleib. Rechtfertigung ist bei Calvin leibhaftig. Eine solche Deutung wird nicht nur durch
die bekannten Schwierigkeiten des Genfers mit dem Zürcher Abendmahlsverständnis gestützt.71 Stärker noch kommt sie in der politisch-diasporischen Lebensform der perigrinatio,
des wandernden Gottesvolkes zum tragen ‒ gegenüber einem schiedlich und am Ende friedlichen Herrschaftsdeal in Gestalt der lutherischen Zwei-Regimenten-Lehre.72
2.3 Grenzen und Ambivalenzen eines reformatorischen Leibverständnisses
Natürlich bieten meine knappen Leseeindrücke weder eine Systematik noch die Basis für eine
Einordnung und Beurteilung der reformatorischen Verständnisse von Fleisch und Leib. Sie
zeigen allerdings Richtungen an, in die dem Thema vertiefend nachgegangen werden kann.
Gerade vor dem Hintergrund heutiger biologistisch geprägter Körper- und Menschenbilder ‒
das gilt gleichermassen für affirmative und kritische Sichtweisen ‒ liegt ein besonderer Reiz
darin, die Grenzziehungen im reformatorischen Denken kenntlich zu machen. Zweifellos
macht uns die Art und Weise, wie wir heute über unseren Leib nachdenken, zu Schülerinnen
und Schülern der Reformation und ihrer Rezeption. Der Blick ins 16. Jahrhundert kann die
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Ebd.
So etwa Miles, Theology (Anm. 53).
Zum Gesundheitszustand vgl. Charles L. Cooke, Calvin's Illnesses and Their Relation to Christian Vocation:
Timothy George (Hg.), John Calvin and the Church. A Prism of Reform, Louisville, Kentucky 1990, 59‒70.
Ein exemplarisches Verständnis findet sich bereits bei den Kirchenvätern; vgl. die Hinweise bei Johannes
Schelhas, Der Leib als Schöpfung: NZSTh 55/2013, 33‒53 (bes. 36‒39).
Vgl. dazu Peter Opitz, Calvins und Bullingers Exegesen der neutestamentlichen Abendmahlstexte: Emidio
Campi/Ruedi Reich (Hg.), Consensus Tigurinus (1549). Die Einigung zwischen Heinrich Bullinger und Johannes Calvin über das Abendmahl. Werden ‒ Wertung ‒ Bedeutung, Zürich 2009, 43‒69.
Zur Aktualität der reformierten Perigrinatio-Figur vgl. Amélé Adamavi-Aho Ekué/Frank Mathwig/Matthias Zeindler, Heimat(en)? Beiträge zu einer Theologie der Migration, Zürich 2017.
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Entwicklungen und Brüche und damit die unsere Sichtweisen unsichtbar prägenden Voraussetzungen erhellen. Gerade die weitgehende Abwesenheit der Reformatoren in den gegenwärtigen theologischen Leibdiskursen gibt Anlass zu der Vermutung, dass dort einiges Kritisches und Irritierendes, vielleicht auch Subversives zu entdecken wäre. Auf einige mir wichtig
erscheinende Aspekte möchte ich stichwortartig hinweisen.
1. Bei den Reformatoren tauchen die Begriffe «Leib» und «Fleisch» durchaus an prominenter
Stelle auf, allerdings weniger in anthropologischen als christologischen, harmartiologischen,
soteriologischen, sakramentstheologischen und eschatologischen Zusammenhängen. Eine
dezidiert theologisch-anthropologische Debatte beginnt erst viel später, wobei sie als theologischer Diskurs ‒ das gilt es im Blick auf die Reformation einzuschärfen ‒ auf jene Bezüge
und Kontextualisierungen keinesfalls verzichten kann.
2. Die eingangs dieses Abschnitts erwähnte Diskussion über das angemessene Verständnis
der Einsetzungsworte beim Abendmahl ‒ Hoc est enim corpus meum, «das ist mein Leib» (Mk
14,22) ‒ führt die Tragweite theologischen Nachdenkens über den Leib vor Augen. Immerhin
ging die Kontroverse über die Frage, «auf welche Weise sich Christus uns mitteilt»,73 ‒ anders
als in den kirchlichen Streitereien zuvor, die allenfalls Häretiker, Irrlehren und manches Gemetzel produziert hatten ‒ derart ans Eingemachte, dass den Streitenden in der Folge ihre
verfasste Kirche um die Ohren flog und in konfessionelle Teile zerbarst.
3. Die incarnatione verbi im Johannesprolog ‒ «Und das Wort, der Logos, wurde Fleisch und
wohnte unter uns» (Joh 1,14) ‒ liefert das Begründungsfundament für das sogenannte reformatorische Schriftprinzip. Die Autorität der Schrift hängt nicht am Buchstaben und ihrem Autor,
sondern an ihrer Wirklichkeit der Fleischwerdung Gottes in Jesus Christus. Es ist «das Wort
[…], das Gott und Mensch verbindet»74 und zwar in der Radikalität, mit der Luther die allegorische Schrifthermeneutik der Tradition in die Tonne tritt: «ein lauter dreck».75 Allerdings
müsste das Schriftprinzip sprachlich und sachlich angemessen «Wortprinzip» heissen: «Am
Anfang war das Wort, der Logos, und der Logos war bei Gott, und von Gottes Wesen war der
Logos.» (Joh 1,1) Die Fleischwerdung des Wortes markiert eine Transformation, die die Menschen das Wort hören lässt und es ihnen in den Mund legt, ohne das damit ein Verzicht Gottes
auf das Copyright einherginge. Auch für die Schrift gilt, was Sokrates bereits über die Verschriftlichung bemerkte: «Ist [das gesprochene Wort] aber einmal geschrieben, so schweift
auch überall jede Rede gleichermassen unter denen umher, die sie verstehen, und unter denen, für die sie sich nicht gehört, und versteht nicht, zu wem sie reden soll und zu wem nicht.
Und wird sie beleidigt oder unverdienterweise beschimpft, so bedarf sie immer ihres Vaters
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74
75
Das Marginale zu Artikel 5 des Consensus Tigurinus: Campi/ Reich (Hg.), Consensus (Anm. 71), 230.
Gerhard Ebeling, Wort Gottes und Hermeneutik, ZThK 56/1959, 224–251 (245). Allerdings müsse hier, wie
Ebeling fortfährt, «die tiefe Verschiedenheit, Wahrheit und Wirklichkeit zur Erörterung kommen, nämlich dass
– der verschiedenen Etymologie entsprechend – auf der einen Seite Logos ‹Zusammenhang› meint und auf
der anderen Seite ‫ דבר‬dasjenige, worin sich etwas herausstellt; auf der einen Seite ein zeitloses, auf der
anderen Seite ein geschichtliches Wortverständnis. Und zweifellos ist im letzteren erst eigentlich erfasst, was
das Wort für die menschliche Existenz zwischen Gott und Welt bedeutet. Es genügt nicht die Frage nach
seinem Sinngehalt, sondern es muss sich damit die Frage nach seiner Zukunft verbinden, nach dem, was es
wirkt.» (ebd.)
Martin Luther, Tischreden, Nr. 5285: WA II/5, 45,13.
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Hilfe; denn selbst ist sie weder imstande sich zu schützen noch sich zu helfen.»76 Die Wirksamkeit des Wortes hängt ab von der Anwesenheit der Autorin bzw. des Autors.77 Wirkliche ‒
also wirksame ‒ Erkenntnis ist verkörpert und entbehrt jeder Objektivierung in Form eines
theoretischen Wissens oder blosser Information. Gleichzeitig ist ihre Rezeptivität an einen resonanzfähigen Leib gebunden.78
Die reformatorischen Kirchen und ihre Theologie müssen sich fragen, ob die Betonung der
Schrift nicht in der Konsequenz den eigenen theologischen Inkarnationsfokus torpediert und
eine bereits von Anfang an latent vorhandene «Exkarnation» im Sinne einer «Wortwerdung
des Fleisches» fördert. Dietmar Kamper resümiert: «Aber die Medien ihrer Aufnahme, die Väter-Theologie und die Mönchs-Askese, verdrehten geradezu den Sinn: Exkarnation statt Inkarnation. Von der ausgeführten Dogmatik des Kreuzestodes Christi, von der Aufforderung zur
Nachfolge über die asketischen Mönchsregeln bis in die protestantische Ethik mit ihren säkularisierten und säkularen Auslegern in der bürgerlichen Erziehung und Disziplinierung reicht
die Karriere dieser Vorschrift: Tod des Körpers – Leben der Sprache. Nach wie vor bietet sie
ein Programm mit der grössten Reichweite, da das Muster der Abstraktion, die Entmaterialisierung des Materiellen, die Substituierung des Körperlichen durch sprachliche Zeichen die
gesamte Technik, Interaktion und Kommunikation der inzwischen globalen Weltzivilisation
durchzieht und beherrscht.»79
4. Die ‒ wie gezeigt ‒ bei den Reformatoren dringende Frage nach dem Verhältnis von Leib
und Seele hat sich seltsam verflüchtigt. Wie lassen sich dann aber das Verhältnis zwischen
altem und neuem Menschen sowie das neue Sein im alten Menschen bestimmen? Christoph
Gestrich bemerkt kritisch: «Die Eschatologie unserer Theologen-Vorfahren war kunstvoll austariert. Diejenige der evangelischen Theologie im späteren 19. und vor allem im 20. Jahrhundert war und ist dies, aufs Ganze gesehen, nicht mehr. Ersatzlos wurde der Lehre von der
Seele, die auch nach dem Tode des ihr zugehörigen Menschen noch eine vom Schöpfer ermöglichte Existenz hat, der Abschied gegeben. Zurück blieb eine stark geschwächte kirchliche
Eschatologie, die eine Hoffnung über den Tod hinaus kaum mehr zu tragen vermag.»80 Die
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80
Platon, Phaidros 275d‒e; vgl. Gottfried Heinemann, Deduktion und Dialog. Überlegungen zu Platons Schriftkritik (Phdr. 274ff.): Heinz Eidam/Frank Hermenau/Draiton de Souza (Hg.), Metaphysik und Hermeneutik. FS
für Hans-Georg Flickinger, Kassel 2004, 155‒164.
Vgl. Ingolf U. Dalferth, Wirkendes Wort. Handeln durch Sprechen in der christlichen Verkündigung: HansGünter Heimbrock/Heinz Streib (Hg.), Magie. Katastrophenreligion und Kritik des Glaubens. Eine theologische
und religionstheoretische Kontroverse um die Kraft des Wortes, Kampen 1994, 105–143.
Das wäre weiter zu entfalten etwa im Gespräch mit Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016.
Dietmar Kamper, Tod des Körpers – Leben der Sprache. Über die Intervention des Imaginären im Zivilisationsprozess: Gunter Gebauer et al., Historische Anthropologie. Zum Problem der Humanwissenschaften heute
oder Versuche einer Neubegründung, Reinbek b. Hamburg 1989, 49–81 (49).
Gestrich, Luther (Anm. 31), 299; vgl. dazu Kirsten Huxel, Unsterblichkeit der Seele versus Ganztodthese? ‒
Ein Grundproblem christlicher Eschatologie in ökumenischer Perspektive: NZSTh 48/2006, 341‒366; dies.,
Das Hirntodkriterium und die theologischen Folgerungen: Frank Vogelsang/Christian Hoppe (Hg.), Die Seele
und der Tod. Was sagt die Hirnforschung?, Bonn 2008, 87‒102; Christian Henning, Wirklich ganz tot? Neue
Gedanken zur Unsterblichkeit vor dem Hintergrund der Ganztodtheorie, in: NZSTh 43/2001, 236–252; Wilhelm
Christe, ‹Unsterblichkeit der Seele›. Versuch einer evangelisch-theologischen Rehabilitierung: NZSTh
54/2012, 262‒284 und Frank Mathwig, Zwischen Leben und Tod. Die Suizidhilfediskussion in der Schweiz
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theologische Herausforderung der Leiblichkeit zwischen identitätsstabilisierender Kontinuität
und eschatologischer Diskontinuität begegnet in der gegenwärtigen Diskussion zwischen
«embodied cognition» und theologischer Anthropologie nur als Appendix.81 Eine Tendenz zur
Banalisierung des reformatorischen Streits zwischen einem trichotomischen und dichotomischen Leibverständnis ist unverkennbar. Sie zeigt sich in einer doppelten Subtraktion: die
Seele wird auf den Geist und der Geist auf Kognition zusammengekürzt. Wie Kognition und
Intellekt dann das Himmelreich erben (Jak 2,5) können, steht freilich in den Sternen.
5. Der reformiert-reformatorisch betonte Zusammenhang von Rechtfertigung und Heiligung
fokussiert in besonderer Weise auf das Menschliche im neuen Menschen. Es geht mit dem
Untertitel der Christologievorlesung von Hans Joachim Iwand um die «Umkehrung des Menschen zur Menschlichkeit».82 Als opera ad extra ist Heiligung für Calvin das Werk des Geistes
in den Ämtern Christi ‒ allen voran dem Königsamt. Sie ermöglicht den Menschen die geistgewirkte Rückkehr in den Gottesbund. «Die Pointe der Lehre von der Heiligung besteht darin,
dass die subjektive Seite der Heiligung, in dem Fall das in nobis, von ihrer objektiven Seite
umgriffen wird, sodass sie als Christusgemeinschaft ausgesagt werden kann.»83 Heiligung als
Umkehr und Nachfolge wäre als der reformiert-reformatorische Beitrag in der aktuellen leibtheologischen Diskussion ‒ die sich vor diesem Hintergrund nebenbei nur als Rehabilitierung
outet ‒ zu profilieren. Dann erhielte auch das vielzitierte Bonmot von Friedrich Christoph Oetinger aus seinem «Biblischen und Emblematischen Wörterbuch» von 1776 einen erkennbaren Sinn: «Dieser eigene Leib ist doch leiblich, und leiblich seyn aus dem Fleisch und Blut
Jesu ist die höchste Vollkommenheit, sonst wohnte die Fülle Gottes nicht leibhaft in Christo.
Leiblichkeit ist das Ende der Werke GOttes».84
6. Die von den Reformatoren zugespitzte Frage nach dem Verhältnis von Glauben und
menschlicher Erkenntnis ‒ die sich neuzeitlich vor allem als Postulierung naturwissenschaftlicher Gesetzmässigkeiten generiert (!) ‒ ist mit der historisch-kritischen Forschung in eine
Schieflage geraten. Nicht weil die Bibel historisch-wissenschaftlichen Kriterien nicht standhalten könnte, sondern weil sich eine positivistisch orientierte Erkenntnisstrategie notorisch blind
macht gegenüber den eigenen epistemischen Voraussetzungen. Die wissenschaftskritischen
Impulse der Reformation gegenüber den damals vorgegebenen Lehrtraditionen sind auch hier
vorbildhaft für die gegenwärtige Theologie. Otto Weber hat in seiner Dogmatik einige Punkte
81
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aus theologisch-ethischer Sicht, Zürich 2010, 102‒112 mit Hinweisen auf die instruktiven Überlegungen von
Wilfried Härle und Wolfgang Schoberth.
Vgl. Michael Welker, Was kann theologische Rede von Inkarnation und Auferstehung zur Anthropologie beitragen?: Etzelmüller/Weissenrieder (Hg.), Verkörperung (Anm. 26), 317‒325; ders., Was ist ein ‹geistlicher
Leib›?: Breyer et. al. (Hg.), Anthropologie (Anm. 26), 65‒83.
Hans Joachim Iwand, Christologie. Die Umkehrung des Menschen zur Menschlichkeit: ders., Nachgelassene
Werke. NF, Bd. 2, Gütersloh 1999.
Dennis Schönberger, Gemeinschaft mit Christus. Eine komparative Untersuchung der Heiligungskonzeption
Johannes Calvins, John Wessleys und Karl Barths, Neukirchen-Vluyn 2014, 406.
Friedrich Christoph Oetinger, Biblisches und Emblematisches Wörterbuch, dem Tellerischen Wörterbuch und
Anderer falschen Schrifterklärungen entgegen gesetzt (1776), 406; dazu Matthias Krieg, ‹Leiblichkeit ist das
Ende der Werke Gottes›. Gedanken zum Sinne dieses Oetingerzitates: Krieg/Weder, Leiblichkeit (Anm. 3),
51‒59; Moltmann, Gott (Anm. 2), 248‒250; vgl. auch Elisabeth Gräb-Schmidt, Leiblichkeit ‒ das Ende der
Werke Gottes? Materialität und Kommunikation als Dimensionen theologischer Anthropologie: Janowski/
Schwöbel (Hg.), Dimensionen (Anm. 3), 98‒117.
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aufgeführt, von denen ich lediglich einen erwähnen möchte: «[D]ie christliche Sicht des Menschen […] ist nicht die Analyse des ‹christlichen› Menschen, und die theologische Anthropologie ist nicht auf die ‹christliche› Erfahrung als ihre Quelle oder ihr Fundament gewiesen. […]
Das, was die ‹christliche› Erfahrung als christlich bestimmt, ist in ihr selbst nicht enthalten.»
Wenn wir alle Aspekte des Glaubens zusammendenken, wäre das «Wesentliche des Glaubens» noch nicht erfasst, «nämlich dies, dass er aus der Treue Gottes lebt (nur darum ist er
mit dem Heidelberger Katechismus [Frage/Antwort 21 …] ‹gewisse Erkenntnis, nur darum ist
er ein ‹herzliches Vertrauen›).»85 Der neue Mensch ist der auferstandene Christus, das extra
nos, das in der Taufe angezogen wird (Gal 3,27) und genauso ‒ nicht-metaphysisch ‒ leibhaftig real ist, wie es sich empirischer Beobachtung entzieht. Dieses Paradox wird nur aus der ‒
für die aktuelle Körpertheologie freilich schwerlich zu akzeptierenden ‒ Perspektive von
Frage/Antwort 1 des Heidelberger Katechismus verständlich: «Was ist dein einziger Trost im
Leben und im Sterben? Dass ich mit Leib und Seele im Leben und im Sterben nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre.»86 Um diese christozentrischen Perspektivität kommt theologische Anthropologie, sofern sie den Anspruch erhebt, eine theologische zu sein, nicht herum.
3. Der vergewaltigte und der barbarische Leib
In ihrer unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Barbarei im Exil in Los Angeles entstandenen Essaysammlung «Dialektik der Aufklärung» rücken Max Horkheimer und Theodor
W. Adorno den Körper in den Horizont seiner herrschaftspolitischen und ökonomischen Verdinglichung. «Die Arbeitsteilung, bei der die Nutzniessung auf die eine und die Arbeit auf die
andere Seite kam, belegte die rohe Kraft mit einem Bann. Je weniger die Herren die Arbeit der
anderen entbehren konnten, als desto niedriger wurde sie erklärt. Wie der Sklave so erhielt
die Arbeit ihr Stigma. [… Die Untertanen und Opfer politischer Herrschaft] ahnten dumpf, dass
die Erniedrigung des Fleisches durch die Macht nichts anderes war als das ideologische Spiegelbild der an ihnen selbst verübten Unterdrückung.»87 Bereits bei den Reformatoren kommt
die Rezeption der paulinischen Leibmetapher für die christliche Gemeinschaft – «Ihr seid der
Leib des Christus, als einzelne aber Glieder» (1Kor 12,27) – bald unter die kirchenpolitischen
Räder. Im Sog der ausgebrochenen Machtkämpfe zwischen den Religionsparteien und ihren
politischen Koalitionären war das reformatorische Modell der christlichen Leibgemeinschaft im
blutigen Morast eines von Leichen überzogenen «christlichen Europas» versunken. Wer aus
reformatorisch-theologischer Sicht über Körper und Fleisch nachdenkt, muss zu den Leichenbergen zurückkehren, auf denen die Wiege des Konfessionalismus steht.
Natürlich, die Zeiten haben sich ‒ zumindest bei uns ‒ drastisch verändert. Wir haben das
biblische Stellvertretungsmotiv kolonialistisch auf den Kopf gestellt. Längst lassen wir andere
für uns bluten und deren Haut und Fleisch für uns zu Markte tragen. Dieser Strategie galt stets
die erste Aufmerksamkeit für den Körper. Die Sorge um den eigenen Leib ist gegenüber der
85
86
87
Otto Weber, Grundlagen der Dogmatik, Bd. 1, Neukirchen, Moers 1955, 601f.
Der Heidelberger Katechismus, zit. n. Georg Plasger/Matthias Freudenberg (Hg.), Reformierte Bekenntnisschriften. Eine Auswahl von den Anfängen bis zur Gegenwart, Göttingen 2005, 154.
Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt/M. 2003, 265.
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Bemächtigung des Körpers der anderen sekundär, weil sie sich präzise in der Instrumentalisierung des anderen Körpers realisiert. Entgegen der aktuellen Körpertheologie, die selbstverständlich vom neuzeitlichen Leibbesitz ausgeht, gilt es, die andere Körpergeschichte zu erzählen, diejenige «der Mörder […], der Totschläger, der vertierten Kolosse, die von den Machthabern, legalen und illegalen, grossen und kleinen, als ihre Nachrichter im Verborgenen verwendet werden, die gewalttätigen Männer, die gleich da sind, wenn es einen zu erledigen gibt,
die Lyncher und Klanmitglieder, der starke Kamerad, der aufsteht, wenn sich eine mausig
macht, die furchtbaren Gestalten, denen immer jeder sogleich ausgeliefert ist, wenn die schützende Hand der Macht von ihm sich abzieht, wenn er Geld und Stellung verliert, alle die Werwölfe, die im Dunkel der Geschichte existieren und die Angst wachhalten, ohne die es keine
Herrschaft gäbe: in ihnen ist die Hassliebe gegen den Körper krass und unmittelbar, sie schänden, was sie anrühren, sie vernichten, was sie im Licht sehen, und die Vernichtung ist die
Ranküre für die Verdinglichung, sie wiederholen in blinder Wut am lebendigen Objekt, was sie
nicht mehr ungeschehen machen können: die Spaltung des Lebens in den Geist und seinen
Gegenstand.»88 An der Ungeheuerlichkeit eines jeden ihrer zahl-, namen- und gesichtslosen
Opfer philosophiert und theologisiert die gegenwärtige Körperdebatte so elegant wie ignorant
vorbei. Die Körpertheologie erliegt genau jenem falschen Schluss, den Horkheimer und Adorno Nietzsche, Gauguin, George und Klages attestierten: «Sie denunzierten nicht das Unrecht, wie es ist, sondern verklärten das Unrecht, wie es war.»89
Die westliche Theologie ist grosso modo der Ansicht vom Körper als Käfig der Seele gefolgt.
Der Befreiungskampf des Geistes mündete umgekehrt in die perfektionierte Diktatur des Geistes über den Körper. Das hat zwei Konsequenzen: Wenn wir erstens mit den Reformatoren
und dem Heidelberger Katechismus bekennen, dass wir nicht uns, sondern unserm getreuen
Heiland Jesus Christus gehören, dann dressieren und manipulieren wir Körper, über die wir
nicht verfügen ‒ das gilt auch für die neue Mode der Arbeit am «eigenen» Körper. Und wenn
uns unser Leib zweitens nicht als Eigentum oder Besitz gegeben ist, verschwindet die Differenz zum Leib der und des Anderen. Der Leib, der in diesem Moment von einer Granate zerfetzt, ohnmächtig ausgeliefert, misshandelt und vergewaltigt wird, ist uns dann ebenso fremd
und nah, wie unser «eigener» Leib. Dass wir dessen Schmerz, Angst und Verzweiflung nicht
spüren, ist kein Beleg für die Fremdheit des anderen Leibes, sondern vielmehr für die Verrohung des Leibes, den wir dressierend uns angeeignet haben.
[email protected]
88
Horkheimer/Adorno, Dialektik (Anm. 87), 268.
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