John Cage und die Freilegung theatraler Potentiale.

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ESSAY
Andreas Karl
Studium Musikwissenschaft, Publizistik, u.a.,
Labelmanager bei KAIROS, Referent des
Intendanten beim "Arcana Festival für Neue
Musik 2010", diverse Assistenztätigkeiten in
bildender Kunst, Performance, Konzert und
Musiktheater. Texte zu Neuer Musik.
John Cage und die Freilegung theatraler Potentiale.
Von 4‘33‘‘ zum szenischen Konzert von heute.
"Where do we go from here? Towards theatre. That art more than music resembles nature. We
have eyes as well as ears, and it is our business while we are alive to use them." (John Cage)1
Es scheint als würde kaum eine Figur so viele AutorInnen angeregt haben, sich ‚Gedanken zu
machen‘, wie John Cage. Und ‚AutorInnen‘ inkludiert hier mehr als nur die Musikwissenschaft und
den Musikjournalismus. Es meint KuratorInnen, KomponistInnen, IntendantInnen und vor allem
InterpretInnen, die von Cage in einem kaum vergleichbaren Ausmaß gefordert sind, das Stück
‚neu zu schreiben‘ und sich ‚Gedanken zu machen‘. Wohl einer der meistbedienten Gedanken ist
der des Einflusses, den Cage auf die Kunst des 20. Jahrhunderts haben soll und auch ganz klar hat.
So wurde er bereits wiederholt mit dem Titel ‚einflussreichster Künstler des 20. Jahrhunderts‘
geadelt und gerade in Jubiläumsjahren widmen sich schließlich unzählige Publikationen und
Ausstellung (scheinbar mehr als Konzerte) eben besonders seiner Rezeption durch Andere.
Wenngleich das Thema ‚Einfluss auf …‘ bei John Cage mittlerweile scheinbar mehr Beschäftigung
erfährt, als sein eigenes Werk, so verweist diese Tatsache doch auch auf die immer noch nicht
gestillte Faszination für seine Ideen. Auch hat seine Welt, vor allem für die Kunst und
Musikvermittlungspraxis, noch viel Entdeckungspotential zu bieten. Er wird also weiterhin
präsent und aktuell bleiben. Und damit auch das Bedürfnis weitere spannende Verbindungen und
‚Einflüsse‘ aufzudecken. Im Sinne Christian Wolffs soll sich nun auch dieser kurze Essay
spezifischen Einflussnahmen von John Cage widmen:
"It seems to me that no one (except a complete idiot) who had met Cage or encountered his work
could fail to be affected by him in some way. It’s just unthinkable. So his influence is there and it
will be, no matter what." (Wolff)2
Schon wieder 4‘33‘‘.
Weil selbst bereits exemplarisch zu einer Versinnbildlichung für das Denken über Cage geworden,
soll auch hier sein meist diskutiertes und wohl berühmtestes Werk - 4‘33‘‘ (1952) - Ausgangspunkt
für das Aufsuchen neuer Einflüsse und Verbindungen sein. Frank Hilbergs Äußerung – "Zu diesem
Stück gibt es (…) so viele Deutungen, wie es Personen gibt"(Hilberg)3 – kann dabei durchaus als
Motto gesehen werden. Im Titel schon angedeutet beschäftigt sich der Text mit dem Unterfangen,
John Cage als Anstoßgeber für eine Tendenz zur Freilegung von theatralem bzw. szenischem
Potential in der Musik zu etablieren. Für eine solche These könnten neben 4‘33‘‘
selbstverständlich auch eine ganze Reihe anderer Werke herangezogen werden. So etwa seine
Fluxus-nahen Stücke, wie Musicirus (1967), sein Water Walk (1960), die Water Music (1952),
seine Songbooks (1970), das nahezu klassisch theatrale An Alphabet (1982) oder das theatre piece
(1960), doch ist es gerade die Radikalität und die Direktheit der Ikone 4‘33‘‘, die es zum idealen
Vergleichsobjekt macht - als Ursprung und Kulminationspunkt in einem. Es zeigt pointiert die
Möglichkeiten des theatralen Potentials von Musik und formuliert gleichzeitig seine
konsequenteste und einfachste Umsetzung – dabei nicht ganz ohne Humor. Schon in der
Virtuosenverehrung – sei es von Paganini, dem frühen Liszt oder, um aktuell zu bleiben, David
Garrett – verlagert sich die Aufmerksamkeit immer mehr von der Musik zum Interpretierenden als
Person bzw. Figur auf der Bühne. Die Bühne selbst wird immer wichtiger und so auch die
‚Inszenierung‘ der Aufführung. Mit ihren aufwendigen, die ganze Aufmerksamkeit einnehmenden
Bühnenshows (und Musikvideos) auf der anderen Seite und den nahezu beliebig austauschbaren
Songs auf der anderen (ProduzentInnen bieten denselben Song oft mehreren KünstlerInnen an),
sind Verkaufserfolge wie Justin Bieber oder Rihanna (uvm.) ein weiterer Höhepunkt dieses
Phänomens. 4‘33‘‘ besteht schließlich, gleich einem Extrakt, nur mehr aus Inszenierung,
vollkommen frei von Musik (im traditionellen Sinn). Das Publikum starrt gebannt auf eine/n
PianistIn (oder ein Orchester, eine Gitarristin oder einen Death Metal-Schlagzeuger – Youtube ist
voll von 4‘33‘‘ Interpretationen) und verfolgt jede noch so kleine Regung. Kennt man nun
Ausgangspunkt und Endpunkt einer Entwicklung - hier fallen sie in einem Stück zusammen - so
soll es leicht möglich sein, Zwischenstufen aufzudecken.
‚Analogisierung zweier Künste‘ und das instrumentale Theater von Mauricio Kagel.
Dass Musik, ob absolut, Lied oder Sinfonik, immer auch eine Performance ist, also eine
dramatische und theatrale Komponente aufweist, wurde schon vor Cage diskutiert. Hierzu gibt es
Publikationen, die vom "Madrigale rappresentativo", über französische Motetten, Bach-Kantaten,
Oratorien bis zur romantische Sinfonik und ihren Tondichtungen reichen. Es ist jedoch eine
besondere Verstärkung in der Ausprägung dieser lange latent vorhandenen Tendenz in der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts festzustellen, die der Theatertheoretiker David Roesner
"Analogisierung zweier Künste"4 nennt. Es gibt eine Reihe weiterer Zugänge und
Begriffsbildungen, aus der Theater- wie aus der Musikperspektive, allen gemein ist jedoch das
Erkennen einer Annäherung von Theater an Musik und umgekehrt. Der Theaterwissenschaftler
Patrick Primavesi, der sich ebenfalls mit dieser Annäherung beschäftigt, schreibt:
"Tendenzen der Neuen Musik und des gegenwärtigen Theaters lassen etwa die kategorische
Unterscheidung zwischen einer rein gesanglichen oder instrumentalen Aufführung von Musik und
andererseits einer auf die Schauspielkunst beschränkten Theatralität zweifelhaft erscheinen.
Konzerte spielen immer wieder mit performativen Elementen, Theateraufführungen verweisen
häufig auf ihren Konzertcharakter, als Zusammenklang von Stimmen, Musik und Geräuschen."
(Primavesi)5
Da in Mauricio Kagels ‚instrumentalem Theater‘ (Bezeichnung von Kagel) diese Annäherung als
Prozess nahezu mustergültig beobachtet werden kann, soll eben jenes kurz vorgestellt werden.
Kagel sieht sich selbst als Komponist, der das Wort ‚componere‘, also ‚zusammensetzen‘ wörtlich
nimmt. So komponiert Kagel mit musikalischem (also klingendem) und nicht musikalischem
Material (also nicht klingendem): "Sie können mit Schauspielern, mit Tassen, Tischen,
Omnibussen und Oboen komponieren (...)" (Kagel)6. Ein Kompositionsbegriff, der in den Werken
Kagels die unterschiedlichsten Realisierungen erfährt, am konsequentesten aber wohl in einem
dreiteiligen Zyklus aus dem Jahr 1965: Pas de cinq – Wandelszene für 5 Schauspieler, Camera
obscura – Chromatisches Spiel für Lichtquellen mit Darstellern und Die Himmelsmechanik –
Komposition mit Bühnenbildern. In dieser Werkreihe erarbeitet Kagel eine Musikalisierung von
Theaterelementen, das heißt theatertypische Elemente oder Aktionen werden aufgrund
musikalischer Prinzipien gestaltet. So stellte er schon früh fest, die Grenzen zwischen Musik und
Theater seien fließend, die Trennung sei nur künstlich durch personelle Zuordnung geschehen7
(und wird so aufrecht erhalten). Ein Ansatz, der direkt zur Entstehung seines Konzepts des
‚instrumentalen Theater‘ geführt hat. Instrumentales Theater bedeutet für Kagel ein bewusstes
Arbeiten mit dem szenischen Aktionspotential der MusikerInnen und dem Produzieren von
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Klängen, aber auch die Möglichkeiten darüber hinaus auf einer (Konzert-)Bühne zu agieren. Kagel
macht den Akt des Musikmachens explizit sichtbar, indem er Irritationen für das Publikum einbaut,
ein ‚Sichtbarmachen‘, das sich durch sein ganzes Schaffen zieht und auch für Cage beobachtbar
ist. Er erweitert also den funktional-konventionellen Handlungsablauf eines Konzertes durch
szenische Anweisungen für die MusikerInnen8. Es entsteht ein neues verändertes Rollenbild für
die Personen auf der Bühne – sie sind nicht ‚nur‘ mehr MusikerInnen, sondern auch
SchauspielerInnen bzw. PerformerInnen. Oftmals finden sich nur kleine, unscheinbare
Anweisungen, wie ‚nach oben schauen‘, ‚abrupt aufhören‘ wie in Sonant (1960), oder vokal
erzeugte Geräusche oder Worte in einem ursprünglich rein instrumental konzipierten Setting.
Eine subtile Skurrilität entsteht, wenn die szenischen Anweisungen für die MusikerInnen
wiederum selbst ein Agieren mit dem Instrument, allerdings in übersteigerter oder leicht
entrückter Form, verlangen. Auch hier finden sich Gemeinsamkeiten mit Arbeiten von Cage, der
beispielsweise durch die Präparierung eines Flügels die Aufmerksamkeit stärker auf den
Spielprozess bzw. die Art der Klangerzeugung selbst lenkt. Ungewohntes, sei es im Konzertsaal
oder auf einer Theaterbühne, erzeugt stets theatrales Potential, da eine unabsehbare Auflösung
von vormals klaren Rollenbildern initiiert wird und die Aufmerksamkeit sich von Klang auf Aktion
verlagert.
In einem Kommentar Kagels zu seinem Streichquartett (1965/67) liest man, dass die Szene die
Musik "sabotieren" soll.9 Die Szene ist also gleichzeitig Teil des Stücks, hat aber den Charakter
eines von außen hinzukommenden Elements. Hört man etwa nur die Musik von
Zwei-Mann-Orchester (1973) auf einem Tonträger, so wird man mit sehr kargen, oft spröden
Klängen konfrontiert, ist man jedoch im Konzertsaal so wird der Eindruck der Musik durch das
teilweise sehr witzige Treiben und die absurd wirkenden Aktionen stark verändert. Ganz ähnliches
kann man auch bei Cage’s Water Walk (1960) feststellen. Beide Komponisten, Cage und Kagel,
scheinen Adornos bekannte Formulierung: "Kunstwerke synthetisieren unvereinbare, unidentische,
aneinander sich reibende Momente" (Adorno)10 nahezu wörtlich umgesetzt zu haben, als hätten sie
darin eine Aufforderung gesehen.
Ein Schritt weiter in Richtung Theater. Das ‚szenische Konzert‘ von Heiner Goebbels.
Schreitet man historisch etwas fort und versucht den konsequent genutzten theatralen Potentialen
in der Musik zu folgen, so kann man nicht umhin, sich mit Heiner Goebbels zu beschäftigten. Die
theoretischen Konzepte und Arbeiten Goebbels zeigen eine vielschichtige Verwandtschaft zu
Kagels instrumentalem Theater aber auch zu Werk und Arbeitsweise von John Cage. Goebbels
nennt viele seiner Theaterarbeiten ‚szenische Konzerte‘. Wie Kagel, und im übertragenen Sinn
auch Cage, tritt Goebbels als Komponist, Regisseur, Bühnenbildner und Lichtgestalter auf und
komponiert klingendes Material wie nicht klingendes Material, allerdings in einem meist sehr
offenem Prozess. Nicht unbedingt immer demokratisch, aber doch seiner politischen Sozialisation
entsprechend. Kagel hingegen komponierte jedes Element akribisch aus.
Goebbels versucht bei der Erarbeitung neuer Ideen nicht in alten, traditionellen Systemen zu
denken, sondern ist an den Schnittmengen zu anderen Bereichen interessiert. Neues entsteht
"nicht mehr innerhalb von Systemen, sondern zwischen den Systemen" (Goebbels)11 (wie etwa der
erweiterte Serialismus von Karlheinz Stockhausen). Eine Tendenz, sich in den Grenzbereichen zu
bewegen, die frappant an Cage erinnert. So versucht er auch gar nicht erst Neue Formen zu
schaffen, sondern Bestehendes neu zu kombinieren und auch nebeneinander für sich bestehen zu
lassen. Eine Kombination von heterogenem Material, ähnlich dem aktuellen Tanztheater oder dem
postdramatischen Theater, in der die einzelnen Elemente sich eben nicht im Ganzen auflösen. So
spricht er sich in seiner Schrift Gegen das Gesamtkunstwerk12 für eine produktive "Kollision der
Künste", entgegen der wagnerischen Vernichtung der Einzelkünste in einem Gesamtkunstwerk,
aus. Die Einzelkünste sollen in seinem Musiktheaterwerk in einem "wechselseitig sich ablösenden,
in einem kontinuierlichen Schwebezustand"(Goebbels)13 präsent gehalten werden und diese
‚Polyphonie‘ der Künste wird für ihn schließlich zum kompositionsleitenden Diktum. Dem
Bühnenensemble werden Aufgaben gestellt, die sie auf der Bühne ausführen sollen. Aufgaben, die
nicht innerhalb einer klassischen Rollenverteilung (MusikerIn einerseits, SchaupielerIn
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andererseits) durchführbar sind und Ungewohntes erfordern. So werden auch hier die
‚unsichtbaren‘ MusikerInnen sichtbar gemacht, indem sie aus dem Orchestergraben auf die Bühne
geholt werden und zu PerformerInnen werden, die mit den SchauspielerInnen (oder auch ganz
ohne) auf der Bühne agieren. Bezeichnend für diese Arbeitsweise ist auch die intensive
Zusammenarbeit mit den Aufführenden und die Anpassung des Stücks an deren individuelle
Fähigkeiten.
Ähnlich der Öffnung des Entstehungsprozesses gegenüber den InterpretInnen ist Goebbels sehr
freier Umgang mit Texten, neuen Klangkörpern und Elementen aus anderen Kulturen. Helga
Finter nennt das Musiktheater von Goebbels "eine spezifisch europäische Antwort auf die
Globalisierung" (Finter)14, ohne jedoch dabei einen kolonialen Exotismus zu bedienen. Sie sieht
eine Offenheit gegenüber Anderem und nicht Gewohntem in seinen Werken, die sie als "Moral der
Form" bezeichnet. Von ähnlicher Natur ist die Aneignung asiatischer Philosophie und deren
Transformation in musikalische Konzepte bei Cage. Nicht die Lust an der Inspiration durch
Exotisches, sondern die konsequente Integration von Neuem zeichnet ihn aus. Dies gilt auch für
die Interpretierenden, die durch ungewohnte Aufgaben hin zu einer Entdeckung des jeweils
anderen Metiers geführt werden. Dies spiegelt sich auch stark in der musikalischen Konzeption
seiner Werke wieder. ‚Fremdes‘ Material steht gleichwertig neben selbst komponiertem Material,
Bandeinspielungen und Improvisation. Ein Konzept, das an Cages Verständnis von ‚Sound‘ als
Musik erinnert (Jeder Klang ist Musik).
Wieder ein Schritt zurück. Die ‚Drammaturgie‘ von Lucia Ronchetti und die
‚Bühnenmusiken‘ von Enno Poppe.
Lucia Ronchetti geht wieder einen Schritt zurück und entfernt sich scheinbar von den szenischen
Elementen des Theaters. Das Theatrale, das ihren ‚Dramaturgia‘-Stücken (sie übersetzt es auch
mit ‚szenisches Konzert‘ bzw. ‚staged concert‘) zugrunde liegt, wird zurücktransformiert in Musik.
Hombre de mucha gravedad (2002) etwa ist eine szenische Musikalisierung von Velázquez‘ Las
Meninas (1656), in der die Figuren des Gemäldes durch ein Doppelquartett aus Streichern und
Stimmen zu neuem Leben erwachen. Dabei gibt es kein klassisch ablaufendes Narrativ, vielmehr
frei, assoziative Schilderungen der Welt des Hofes von Philipp IV, basierend auf Zeilen aus
spanischer Renaissance Literatur. Konkrete szenische Anweisungen finden sich im Stück kaum –
alles Szenische ist in die Musik gewandert, die voller Gesten ist. Mit ‚Gesten‘ sind zum einen die
Kommentare gemeint, die durch die Verschränkung von Texten und Musik und Text entstehen. So
ist einzelnen Figuren, neben der Vokalstimme, auch eine Instrumentalstimme zugeordnet, die
manchmal nur begleitet oder verstärkt, manchmal aber auch eine eigene Meinung vertritt. Dabei
entstehen zynische, tragische, spielerische Momente, oftmals begleitet von groteskem Humor.
Zum Anderen ist ihre Musiksprache voller bildhafter Anklänge, voller Imitationen von
Bewegungen und überzeichneter Charaktere. Ihre Musik ist manchmal hoch beweglich und
dynamisch, hinkt rhythmisch manchmal hinten nach oder ist schelmisch und hysterisch – so wie
ihre Figuren. Die Musik selbst wird durch eben jene Gestik zur Bühne und zu ihrer szenischen
Umsetzung zugleich - "Theater aus dem Geist der Musik"15. Wirkt dieses zwar auf den ersten Blick
wie eine Reduktion bzw. ein Rückzug der musiktheatralen Mittel in die Musik, so sind die
ästhetischen und konzeptionellen Erweiterungen unverkennbar. Reduktion und Erweiterung in
einem. In diesem Punkt treffen sich Lucia Ronchettis ‚Drammaturgie‘ wieder mit unserem
Ausgangspunkt - 4‘33‘‘.
Weniger radikal, doch derselben Idee folgenden, sind die Bühnenwerke von Enno Poppe. So nennt
er Arbeit Nahrung Wohnung (2008) im Untertitel ‚Bühnenmusik‘ (für 14 Herren). Ein bewusst
offener, aber dennoch bildhafter Begriff, der auch für Stücke von John Cage passend erscheint.
Eine Bühnenmusik ist dieses Stück auch insofern, als die Bühne, Cage‘s Water Walk (1960)
ähnlich, zu einer klingenden Umgebung wird. MusikerInnen und SängerInnen agieren
gleichberechtigt szenisch nebeneinander. Es gibt keine klare Trennung zwischen Klangerzeugung
und szenischem Handeln. Klang wird so Teil der Handlung. Gemeinsam mit gewöhnlichen
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Instrumenten (vor allem Keyboards) nutzt das (SchauspielerInnen/SängerInnen-)Ensemble die
unterschiedlichsten Requisiten zur perkussiven Klangerzeugung: Ölkanister, Küchenreiben oder
den Klang von Kreide an der Tafel. Komposition und Inszenierung sind untrennbar ineinander
verkettet.
Für die hier beschriebenen musiktheatralischen Formen setzt sich in den letzten Jahren immer
mehr der Begriff des ‚imaginären Theaters‘ durch16. Gemeint ist dabei die Rücknahme der
szenischen Handlung in die Musik (im Gegensatz zur Annäherung), also etwa den ‚Schritt zurück‘,
den Poppe und vor allem Ronchetti konsequent verfolgen. Als ein mögliches, sehr bildhaft
konkretes, Beispiel führt Matthias Rebstock Kagels Sonant (1960) an, bei dem die theatrale
Handlung durch die komplexe Partitur und dem Aufwand zu deren Realisierung entsteht. So
finden sich in Pièce touchée, pièce jouée aus Sonant imaginäre Instrumentalparts, also notierter
Notentext, der quasi pantomimisch gemimt werden soll. Die MusikerInnen sollen die nötigen
Bewegungen durchführen, die zur Realisierung des Notentextes notwendig wären, ohne jedoch
ihre Instrumente dafür zu benutzen. Die sehr komplexen, körperlich sehr fordernden
Spielanweisungen führen zu einer sichtlich hohen Geschäftigkeit und zu komplexer Koordination
untereinander. Wie bei Ronchetti sind es auch hier ‚Gesten‘, die das immanente Theater in der
Musik freilegen.
… und so wurde es zum selbstverständlichen Bestandteil der Sprache.
"I love the theater. In fact, I used to think when we were so close together - Earle Brown, Morton
Feldman, Christian Wolff, David Tudor, myself - I used to think that the thing that distinguished
my work from theirs was that mine was theatrical. I didn’t think of Morty’s work as being
theatrical. It seemed to me to be more, oh, you might say, lyrical. . . .And Christian’s work seemed
to me more musical. . . . whereas I seemed to be involved in theater. What could be more
theatrical than the silent pieces - somebody comes on the stage and does absolutely nothing."
(John Cage)17
Theater oder besser Theatrales ist in beinahe allen Werken von Cage zu finden. Und sei es nur in
sehr subtilem Ausmaß. Der Einfluss, den Cage auf die KomponistInnen nach ihm hinterlassen hat,
hat sich längst verselbständigt und ist nicht mehr an ihn selbst gebunden, noch an konkrete
Werke. Die von ihm nutzbar und sichtbar gemachten szenischen Potentiale der lange unsichtbar
gehaltenen MusikerInnen sind zu einem fixen Bestandteil der Möglichkeiten geworden, auf die
Musiktheater-KomponistInnen heute zurückgreifen können. Cage hat die Musiktheater-Sprache
substantiell erweitert und uns neue Möglichkeiten hinterlassen. So sind die hier kurz vorgestellten
Werke, Konzepte und Ästhetiken voller Gemeinsamkeiten mit Cage, die über einen spezifischen,
bewussten oder epigonenhaften Bezug hinausgehen. Der Topos, dass nach Cage alles anders war,
und man sich seinem Einfluss nicht entziehen kann, wurde in den letzten Jahrzehnten schon
ausführlich bedient und soll hier keinesfalls noch weiter ausgeführt werden, dennoch ist es
überraschend, wie viel ‚Cage‘ man in der heute aktuellen Musik immer noch finden kann. Cage
hinterlässt seine Spuren - auch abseits von Aleatorik und der Affinität zu Stille - insbesondere in
der theaternahen Musik. Wobei sich Cage übrigens vom klassischen Theater selbst, wie er es
damals erlebt hatte, enttäuscht zeigte. Wie nicht anders zu erwarten, entziehen sich auch seine
Werke für die Opernbühne – die Europeras 1 und 2 (1985/87), einem klassischen Theater bzw.
Operngestus. In einer Podiumsdiskussion (2001) sagte James Tenney, Schüler und Begleiter von
Cage, dass dieser mit den Europeras einer 400-jährigen Operntradition ein Ende gesetzt habe.18
Der Einfluss von Cage auf das heutige Musikgeschehen ist zweifelslos ein tiefgreifender, der auch
bis in das ‚klassische‘ Musiktheater reicht. Doch zeigt sich das kaum im Musiktheaterbetrieb, wie
er an den mitteleuropäischen Opernhäusern zelebriert wird (die machen munter weiter mit der
Tradition), sondern vielmehr in den vielen neuen Zwischenformen, die zwischen Konzert und
Theater entstanden sind und abseits der großen Opernbühnen ihre Realisierung finden. Einige
sind hier beschrieben worden.
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1. Cage, John (1957): Experimental Music. In: Ders. (1961): Silence. Wesleyan University Press, Hanover und London. S.
12.
2. Wolff, Christian (2001) Beitrag zu einer Diskussionsrunde. In: Mumma, Gordon (2001): Cage’s Influence: A Panel
Discussion (Transskript). In: Bernstein, David W.; Hatch, Christopher [Hrsg.] (2001): Writings through John Cage’s
Music, Poetry + Art. The University of Chicago Press, Chicago+London. S. 175.
3. Hilberg, Frank (2012): Jedermanns Cage. In: MusikTexte. Zeitschrift für Neue Musik. Heft 132, Februar 2012, S. 3.
4. Roesner, David (2002): Theater als Musik. Verfahren der Musikalisierung in chorischen Theaterformen bei Christoph
Marthaler, Einar Schleef und Robert Wilson. Dissertation, Universität Hildesheim. S. 55.
5. Primavesi, Patrick (1999): „Geräusch, Apparat, Landschaft: Die Stimme auf der Bühne als theatraler Prozeß“, in:
Forum Modernes Theater Bd. 14, 2/1999, S. 145.
6. Kagel, Mauricio in: Prox, Lothar (1982): Abläufe, Schnittpunkte – montierte Zeit. Mauricio Kagel im Gespräch mit
Lothar Prox. In: Alte Oper Frankfurt (Hrsg.) (1982): Grenzgänge, Grenzspiele, Ein Programmbuch zu den Frankfurt
Festen '82. S. 121.
7. Kagel, Mauricio in Roesner, David (2002): Theater als Musik. Verfahren der Musikalisierung in chorischen
Theaterformen bei Christoph Marthaler, Einar Schleef und Robert Wilson. Dissertation, Universität Hildesheim. S. 37.
8. Vgl. Knüppelholz, Werner (1999): Von Monteverdi zu Eisenstein – Die Filme des Komponisten Mauricio Kagel. In:
Peter Csobádi u.a. [Hrsg.] (1999): Das Musiktheater in den audiovisuellen Medien – „...ersichtlich gewordene Taten
der Musik“. Vorträge und Gespräche des Salzburger Symposiums 1999. S. 396.
9. Zarius, Karl-Heinz (2008): Ein akustischer Stummfilm. In: Knüppelholz, Werner [Hrsg.] (2008): Vom instrumentalen
zum imaginären Theater: Musikästhetische Wandlungen im Werk von Mauricio Kagel. 1. internationales
Kagel-Symposium an der Universität Siegen. Wolke Verlag, Hofheim 2008. S. 88.
10. Adorno, Theodor W. (1977): Ästhetische Theorie, Gesammelte Schriften, Bd. 7, Frankfurt/M. 1977, S. 263.
11. Goebbels, Heiner (1997): Gegen das Gesamtkunstwerk: Zur Differenz der Künste. In: Sandner, Wolfgang: [Hrsg.]
(2002): Heiner Goebbels – Komposition als Inszenierung. Henschel Verlag, Berlin. S. 135.
12. Ebenda.
13. Ebenda. S. 136.
14. Finter, Helga (2002): Der imaginäre Körper - Text, Klang und Stimme in Heiner Goebbels' Theater. In: Sandner,
Wolfgang [Hrsg.] (2002): Heiner Goebbels – Komposition als Inszenierung. Henschel Verlag, Berlin. S. 112.
15. Pöllmann, Rainer (2012): Theater aus dem Geist der Musik. Vier ‚Drammaturgie‘ von Lucia Ronchetti. In: Booklet der
CD: Lucia Ronchetti – Drammaturgie. KAIROS, 0013232KAI, 2012. S. 4.
16. Z.B: Rebstock, Matthias (2008): Zur Präsenz des Abwesenden im instrumentalen Theater von Mauricio Kagel. In:
Knüppelholz, Werner (2008): Vom instrumentalen zum imaginären Theater: Musikästhetische Wandlungen im Werk
von Mauricio Kagel. 1. internationales Kagel-Symposium an der Universität Siegen. Wolke Verlag, Hofheim. S. 69.
17. Und: Fußnote xv., S. 5.
18. Cage, John in Shapiro, David (1985): John Cage conversing with David Shapiro. In: Kostelanetz, Richard (1988):
Conversing with Cage. Limelight, New York. S. 105.
19. Tenney, James (2001) In: Mumma, Gordon (2001): Cage’s Influence: A Panel Discussion (Transskript). In: Bernstein,
David W.; Hatch, Christopher [Hrsg.] (2001): Writings through John Cage’s Music, Poetry + Art. The University of
Chicago Press, Chicago+London. S. 174.
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