„Schließlich ist im Leben doch alles Tod?“

Werbung
Der folgende Artikel ist in Heft 5 des 83. Jahrgangs (2013) der Zeitschrift
Musik & Kirche erschienen (http://www.musikundkirche.de). Er wird hier
mit freundlicher Genehmigung des Verfassers veröffentlicht. Als
Mitherausgeber des „Verdi-Handbuches“ ist Uwe Schweikert eine der
renommiertesten Verdi-Experten.
Uwe Schweikert
„Schließlich ist im Leben doch alles Tod?“
Verdi, die Kirche und die Religion
Nach der Uraufführung des „Falstaff“ 1893 hatte Verdi mit dem Theater
abgeschlossen. Nur mit der im August 1894 nachkomponierten
Ballettmusik für die französische Premiere des „Otello“ ist er noch einmal
zur Bühne zurückgekehrt. Seine letzten Werke, die 1896/97
entstandenen und 1898 in Paris uraufgeführten „Pezzi sacri“ – „Stabat
mater“, „Lauda alla Vergine Maria“ und das machtvolle „Te Deum“ – sind
geistliche Kompositionen. Man hat über die Gründe dieser Rückkehr des
greisen Verdi zur Welt der Kirchenmusik seit jeher gerätselt, sollte
allerdings nicht vergessen, dass sie, wie schon die „Messa da Requiem“
und die ebenfalls in den 1870er Jahren entstandenen kleineren
Vertonungen des „Pater noster“ sowie des „Ave Maria“ nicht für den
Gottesdienst bestimmt waren. Vor allem die beiden rein vokal besetzten
Stücke („Pater noster“ und „Lauda alle Vergine Maria“) knüpfen trotz
vieler Freiheiten in der Stimmführung wie in der Harmonik deutlich an die
Polyphonie des Palestrina-Stils an, für dessen Bewahrung sich Verdi in
Abgrenzung zur deutschen sinfonischen Musik nach 1870 mehrfach
ausgesprochen hat. Mehr als fraglich jedoch ist, ob man dieses
Bekenntnis zur nationalen musikalischen Tradition Italiens auch als ein
Bekenntnis zur Religion werten darf.
Die Frage, ob Verdi im Sinne der katholischen Religion gläubig, ja ob er
überhaupt gläubig war, lässt sich nicht beantworten. Der in privaten
Dingen
notorisch
verschlossene
und
sich
hinter
einen
undurchdringlichen Schutzwall zurückziehende Verdi hat sich in seinen
zahllosen Briefen nie dazu geäußert. Aufgewachsen ist er, wie damals in
den ländlichen Regionen Italiens selbstverständlich, im katholischen
Glauben. Auch seine musikalische Sozialisation und Ausbildung, erst in
seinem Geburtsort Le Roncole bei dem Geistlichen Pietro Baistrocchi,
den er schon als Siebenjähriger bisweilen an der Orgel vertrat, ab 1825
in Busseto beim städtischen Musikdirektor und Organisten Ferdinando
Provesi, war von der Kirche und ihrem musikalischen Ritus geprägt. Von
den damals entstandenen, teils eigenen, teils in Zusammenarbeit mit
Provesi geschriebenen Gebrauchskompositionen ist wenig überliefert.
Noch 1835 bewarb Verdi sich, allerdings vergeblich, um das Amt des
1
Domkapellmeisters und Organisten an der Kathedrale der lombardischen
Stadt Monza. Später scheint er, wie viele liberale Intellektuelle der
städtischen Oberschicht, Agnostiker, Äußerungen seiner Frau
Giuseppina aus dem Jahre 1872 zufolge, zumindest zeitweise, sogar
Atheist gewesen zu sein: „Er ist kein Arzt, er ist Künstler, alle stimmen
darin überein, ihm die göttliche Gabe des Genies zuzuerkennen; er ist
das Prachtstück eines Gentleman, versteht und empfindet jedes feine
und erhabene Gefühl. Mit all dem erlaubt sich dieser Gauner, ich werde
nicht sagen ein Atheist, aber gewiss doch alles andere als ein gläubiger
Mensch zu sein, und das mit einem Starrsinn und einer Ruhe, für die
man ihn verprügeln möchte.“ Deutliche Worte der ihm am nächsten
stehenden Lebenspartnerin, bei denen Giuseppina sich bereits selbst
zensiert hatte, denn in ihrem Briefbuch lautet der entscheidende Satz im
Entwurf noch: „Dieser Gauner erlaubt es sich, ein Atheist zu sein, und
das mit einem Starrsinn und einer Ruhe, für die man ihn verprügeln
möchte.“
Am nächsten kommt der Wahrheit wohl Arrigo Boito, der seit 1880 zu
Verdis engstem Freundeskreis gehörte, wenn er rückblickend in einem
Brief an den französischen Verdi-Biographen Camille Bellaigue schreibt:
„Im idealen, moralischen und sozialen Sinn war er ein großer Christ,
aber man muss sich sehr wohl hüten, ihn in politischer und im strengen
Wortsinn theologischer Hinsicht als Katholik hinzustellen; nichts stünde
in größerem Widerspruch zur Wahrheit.“ Anders als der von ihm
hochverehrte Schriftsteller Alessandro Manzoni, zu dessen erstem
Todestag er 1874 sein bedeutendstes und monumentalstes geistliches
Werk, die „Messa da Requiem“ komponierte, dürfte Verdi auch im Alter
nicht zum katholischen Glauben zurückgefunden haben. Die Bibellektüre
hat ihn zeit seines Lebens begleitet. Zumindest in seinen letzten
Lebensjahren scheint er wieder die Messe besucht zu haben und sowohl
in dem von ihm gestifteten Krankenhaus von Villanova d’Arda als auch in
der Mailänder „Casa di Riposo“ wie auf seinem Gut Sant‘Agata ließ er
Kapellen errichten. Eine „verinnerlichte Religion“ (Martina Grempler)
spricht aus vielen der späten Kompositionen, nicht zuletzt aus der
Tatsache, dass er sich das Autograph des „Te Deum“ in den Sarg legen
ließ.
Der Institution der katholischen Kirche und ihren Würdenträgern stand
Verdi zumindest seit der niedergeschlagenen Revolution 1848/49 und
der antiliberalen Politik von Papst Pius IX. ablehnend gegenüber. So
vergeblich man in seinen Briefen nach einem religiösen Bekenntnis
sucht, so entschieden äußert sich dort seine Kirchenfeindlichkeit. Als
italienische Truppen im Gefolge des deutsch-französischen Kriegs im
September 1870 Rom besetzten und damit die bis dahin bestehende
2
weltliche Herrschaft des Papstes über den Kirchenstaat beendeten,
schrieb Verdi in einem Brief an Clara Maffei, dass er an keine
Versöhnung von Kirche und Demokratie, an keine Verbindung von
Papsttum und Nationalstaat glaube: „Deshalb kann ich Parlament und
Kardinalskollegium, Pressefreiheit und Inquisition, das Bürgerliche
Gesetzbuch und den Syllabus [den 1864 gegen alle Irrlehren des
Liberalismus veröffentlichten „Syllabus errorum“ von Papst Pius IX.] nicht
miteinander vereinbaren […]. Papst und König von Italien mag ich nicht
einmal in diesem Brief nebeneinander sehen.“ Dennoch hatte er 1878,
als Pius IX. nach 32jährigem Pontifikat starb, Nachsicht für den „armen
Kerl mit wenig Verstand“.
Es ist sicher nicht zufällig, dass sich Verdis Antiklerikalismus am
schärfsten in den beiden zu jener Zeit entstandenen Opern äußert. Der
greise, blinde katholische Großinquisitor in „Don Carlos“ (1867) wie der
machthungrige ägyptische Oberpriester Ramfis in „Aida“ vertreten ein
starres, lebensfeindliches Prinzip, das die bedingungslose Unterwerfung
des Individuums unter den religiös verbrämten Machtanspruch der
Kirche fordert und diesen selbst gegen die eigenen Herrscher, den
spanischen König Philipp wie gegen den namenlosen ägyptischen König
durchsetzt. Beide Male, in der Autodafé-Szene von „Don Carlos“ wie in
der Triumphszene von „Aida“, inszeniert Verdi das Machtkartell von
Staat und Kirche mit allem musikalischen Pomp und Schrecken. Nicht
weniger erschreckend ist der machtpolitische Diskurs, den der
Großinquisitor in „Don Carlos“ mit dem König führt. Bei Schiller treffen
die beiden erst ganz gegen Ende des Stücks aufeinander. Verdi verlegt
die Begegnung, bei der der Kirchenfürst – und nicht, wie bei Schiller, der
König – den Tod Posas fordert, ins Zentrum der Oper und gibt ihr damit
ein weit größeres Gewicht, umso mehr als es ihm gelingt, die Eiseskälte
und
Menschenverachtung
des
Großinquisitors
mit
größter
kompositorischer Phantasie und Kühnheit Klang werden zu lassen.
Ähnliches gilt für das von Ramfis vertretene Gesetz, das Verdi kaum
zufällig in die strengste musikalische Form, den Kanon, fasst und das im
transzendenten Terror der scena del giudizio, dem Todesurteil der
Priester an Radamès, kulminiert. Am Ende steht dann der kultische
verbrämte Tod des Liebespaars auf der zweigeteilten Szene – oben das
Innere des Vulkan-Tempels mit den rituellen Priestergesängen (die bei
aller exotischen Koloristik der Musik europäisch sind und der Praxis des
responsorialen Wechselgesangs des katholischen Ritus folgen), unten
ein unterirdisches Gewölbe, in das Aida und Radamès lebendig
eingemauert werden – unerbittlicher Vollzug eines Kults, der die
Menschen dem lebensverneinenden, ja Leben vernichtenden Ritual der
Religion unterwirft.
3
Verdis Opernkosmos schildert aber auch andere Facetten und Spielarten
von Religion, andere Priester, denen sogar Vorbildfunktion zukommt.
Das trifft vor allem auf Zaccaria, den Hohenpriester der Hebräer in
„Nabucco“ (1843), sowie auf Padre Guardiano, den Franziskanerpater in
„La forza del destino“ (1862) zu. Zaccaria ist zugleich der politische
Führer seines Volkes, das er in der babylonischen Gefangenschaft zum
Widerstand aufruft. Verdi zeigt ihn aber auch im Gebet. Tiefe Streicher –
sechs Celli, zu denen noch ein Kontrabass hinzutritt – fangen in der
Begleitung die nächtliche Stimmung dieses Zwiegesprächs ein, das
Zaccaria mit seinem Gott hält. Padre Guardiano wiederum – und damit
die von ihm vertretene Religion – ist es, der der vor der Rache ihres
Bruders fliehenden Leonora als Einsiedlerin in einer Höhle in der Nähe
des Klosters Schutz gewährt. In der Urfassung kann Guardiano den
Selbstmord des Gott verfluchenden Alvaro nicht verhindern – eine Tat,
die für den Verdiforscher Julian Budden die „Botschaft eines reinen
Atheismus“ erfüllt. Als Verdi die Oper 1869 für Mailand überarbeitet hat,
strich er dies fatalistische Ende und ersetzte es durch einen
versöhnlichen Schluss, der Alvaro zur Demut ermahnt, sodass dieser
über der sterbenden Leonora Frieden mit dem Himmel schließt und
damit dem blindwütigen Walten des Schicksals ein Ende setzt. Man hat
in dieser Milderung eine Reverenz Verdis gegenüber dem verehrten
Manzoni gesehen, an dessen Romangestalt des Paters Cristofero in den
„Promessi sposi“ Guardiano in der Tat erinnert. Heutige Inszenierungen
zeigen allerdings auch Guardiano oft als Vertreter eines starren, harten
Glaubens – eine Lesart, die das Libretto, aber auch Verdis strenge Musik
durchaus erlaubt.
Kann man, darf man vom Opernwerk des Komponisten Verdi
Rückschlüsse auf den Menschen Verdi ziehen? Verdis Theater ist eine
Welt der Schmerzen. Erst mit dem Tod ende „die Qual des Herzens“,
singt der Mönch am Beginn wie am Ende der vieraktigen Fassung von
„Don Carlos“. In Verdis Opern werden alle Hoffnungen als Wahn, alles
Glück als Trug entlarvt. Seine Figuren sind Scheiternde, ja Verlorene in
einem Theater des Todes, der nicht erst am Ende triumphiert, sondern
sich fast stets schon von Beginn an ankündigt. Im Gegensatz zu
Wagner, dessen Opern alle in erlösendem Dur schließen, kennt Verdi,
jedenfalls bis zur überarbeiteten Fassung von „La forza del destino“,
keine Verklärung. Seine Opern enden in erbarmungsloser Härte wie der
„Trovatore“, fahl auf der leeren Quinte wie „Simon Boccanegra", in
schaurig-brutalem Dur wie „Stiffelio“ und die Zweitfassung von „Macbeth“
oder in abrupten Moll-Schlüssen wie „Rigoletto“, „La traviata“ und „Un
ballo in maschera“.
4
Abgründige Melancholie, ja unüberhörbarer Pessimismus ist auch ein
bezeichnendes Charakteristikum seiner beiden großen geistlichen
Spätwerke, der „Messa da Requiem“ (1874) und des „Te Deum“ aus den
„Pezzi sacri“ (1898). Das Menschheitsdrama der „Messa da Requiem“
schließt mit der Vertonung des traditionellerweise nicht zur Liturgie des
Totengottesdienstes gehörigen „Responsorium ad absolutionem“ „Libera
me“, in dem das furchteinflößende „Dies irae“ erinnert wird, ehe der Satz
in einer schroff sich steigernden Chorfuge gipfelt und abbricht. Aus der
ersterbenden Musik löst sich ein letztes Mal der Solo-Sopran, um tonlos
seinen Erlösungswunsch zu stammeln. Kein Heilsversprechen, sondern
Unsicherheit, nicht Glaubensgewissheit, sondern kraftlose Verzweiflung
steht am Ende dieser Totenmesse. Verdis Musik spendet keinen
Lichtschein in die Finsternis, breitet kein verklärendes Amen über die
Trostlosigkeit des Todes. Gott schweigt in einer Welt der Ungewissheit
und der Finsternis.
Ähnliches wiederholt sich am Ende des „Te Deum“, der Vertonung des
ambrosianischen Lobgesangs, wenn sich aus dem emphatischen
Bekenntnis „In te speravi, Domine, non confundar in aeternum“ die
zaghafte Stimme einer einzelnen Chorsopranistin herauslöst. „Das ist die
[Stimme der] Menschheit, die Angst vor der Hölle hat“, soll Verdi gesagt
haben. Wie das „Libera me dominum“ der Totenmesse verklingt auch
das „Te Deum“ mit seinen plagalen Schlussakkorden in fahler
Kraftlosigkeit – als wollte der Agnostiker Verdi hinter die Hoffnung ein
großes Fragezeichen setzen, „das einem Angst machen kann“. So endet
auch Verdis musikalisches Vermächtnis nicht in triumphaler
Heilsgewissheit, sondern im Zweifel. „Man sagt" – so schließt Verdis
Brief vom 29. Januar 1853, in dem er seiner Freundin Clara Maffei von
der Premiere des „Trovatore“ berichtet –, "diese Oper sei zu traurig sei
und es gäbe zu viel Tote darin. Aber schließlich ist im Leben doch alles
Tod? Was lebt schon?“
Angeblich soll Verdi – so kolportierten es die Religiösen, die ihn zum
nationalen Heiligen stilisieren wollten – bei der letzten Ölung am 24.
Januar 1901 gelächelt und dem Priester kräftig die Hand gedrückt
haben. Boito, dem auch hier die größte Vertrauenswürdigkeit zukommt,
wusste jedoch zu berichten, dass Verdi an diesem Tag nur kurz das
Bewusstsein wiedererlangte, als der Doktor kam und seine goldene Uhr,
die die Stunden mit einer kleinen Melodie schlug, an das Ohr des
Sterbenden hielt. Verdi öffnete die Augen, lächelte und fiel wieder in
Bewusstlosigkeit.
5
6
Herunterladen