MAE1 Mathematik: Analysis für Ingenieure 1

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MAE1
Mathematik: Analysis für Ingenieure 1
Christoph Kirsch
23. Dezember 2013
Inhaltsverzeichnis
0 Überblick
2
1 Einführung in die mathematische Logik
1.1 Aussagenlogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.2 Mengenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2
2
7
2 Zahlen und Zahlensysteme
2.1 Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1.1 Zahlenmengen und Operationen
2.1.2 Ordnungsrelationen auf R . . . .
2.1.3 Intervalle auf R . . . . . . . . . .
2.1.4 Irrationale Zahlen . . . . . . . .
2.2 Zahlensysteme . . . . . . . . . . . . . .
2.2.1 Darstellung natürlicher Zahlen .
2.2.2 Darstellung ganzer Zahlen . . . .
2.2.3 Darstellung rationaler Zahlen . .
2.2.4 Darstellung reeller Zahlen . . . .
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12
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3 Funktionen
3.1 Definition und Darstellung einer Funktion . . . . . . . .
3.2 Allgemeine Funktionseigenschaften . . . . . . . . . . . .
3.3 Rationale Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.3.1 Ganzrationale Funktionen (Polynomfunktionen)
3.3.2 Interpolationspolynome . . . . . . . . . . . . . .
3.3.3 Gebrochenrationale Funktionen . . . . . . . . . .
3.4 Zahlenfolgen und Konvergenz . . . . . . . . . . . . . . .
3.4.1 Reelle Zahlenfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.5 Grenzwert und Stetigkeit einer Funktion . . . . . . . . .
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ÜBERBLICK
2
4 Einführung in die Differenzialrechnung
53
4.1 Differenzierbarkeit und Ableitungsfunktion . . . . . . . . . . . . 54
4.2 Ableitung von rationalen Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . 59
4.2.1 Ableitung von ganzrationalen Funktionen . . . . . . . . . 59
4.2.2 Ableitung von gebrochenrationalen Funktionen . . . . . . 60
4.3 Anwendungen der Differenzialrechnung . . . . . . . . . . . . . . . 61
4.3.1 Näherungspolynome einer Funktion . . . . . . . . . . . . 61
4.3.2 Bestimmung von Extremstellen differenzierbarer Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
4.3.3 Der Mittelwertsatz der Differenzialrechnung . . . . . . . . 66
4.3.4 Das Newton-Verfahren zur Bestimmung von Nullstellen
differenzierbarer Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
0
Überblick
Dies ist der erste Teil einer viersemestrigen Vorlesung über Analysis für Ingenieure. Wir behandeln in diesem Teil in erster Linie rationale Funktionen, zu
denen auch Polynome gehören. Anhand dieser Funktionen führen wir die Differenzialrechnung ein, um Ableitungen berechnen zu können.
1
Einführung in die mathematische Logik
In diesem Kapitel werden wir grundsätzliche Regeln der mathematischen “Sprache” und der Aussagenlogik festlegen. Wir benötigen dieses Werkzeug, um klar,
unmissverständlich und eindeutig Dinge mathematisch beschreiben und mathematische Aussagen treffen zu können.
1.1
Aussagenlogik
Definition 1 (nach Aristoteles, 384–322 v. Chr.) Eine Aussage ist ein sprachliches Gebilde, von dem es sinnvoll ist zu sagen, es sei wahr oder falsch.
Bemerkung: Der Wahrheitswert einer Aussage braucht nicht bekannt zu sein.
Beispiele:
1. “Äpfel und Quitten sind Apfelfrüchte” (wahr) und “Bananen sind Apfelfrüchte” (falsch) sind Aussagen.
2. “Die Erhu ist kein Musikinstrument” (falsch) und “Die Violine ist ein
Streichinstrument” (wahr) sind Aussagen.
3. “Der FC Basel ist Schweizer Fussballmeister 2013” (wahr), “Der FC Basel wird 2014 Schweizer Fussballmeister” (derzeit unbekannt) und “Am
10.10.2013 wird das Wetter sonnig” (derzeit unbekannt) sind Aussagen.
1
EINFÜHRUNG IN DIE MATHEMATISCHE LOGIK
3
4. Ausdrücke ohne Wahrheitswert sind keine Aussagen, so z. B. die Frage
“Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?”
oder Ausdrücke wie “Guten Morgen” oder “wassup”.
5. Unentscheidbare Ausdrücke sind keine Aussagen, so z. B. “Morgen wird
das Wetter sonnig”, “Der FC Basel wird nächstes Jahr Schweizer Fussballmeister” oder “Dieser Satz ist falsch”.
Für eine Aussage P sagen wir in der Mathematik an Stelle von “P ist wahr” oft
auch: “Es gilt P ”.
Definition 2 (logische Äquivalenz) Zwei Aussagen P und Q heissen logisch
äquivalent, wenn sie den gleichen Wahrheitswert besitzen.
Bemerkung: Sind die Aussagen P und Q logisch äquivalent, so schreiben wir
P ≡ Q.
Beispiel: Betrachten wir die Aussagen
P
:= Die Erhu ist kein Musikinstrument,
Q := Bananen sind Apfelfrüchte
(die Notation := bedeutet “ist definiert als”), so sind diese Aussagen logisch
äquivalent (beide sind falsch) und wir schreiben P ≡ Q, obwohl die beiden
Aussagen inhaltlich keinen Zusammenhang haben – für die logische Äquivalenz
zählt lediglich der Wahrheitswert!
Um zwei Aussagen zu einer neuen Aussage verknüpfen zu können, führen wir
die folgenden Operationen und Symbole mit Hilfe einer Wahrheitstabelle ein.
Definition 3 (Negation, Konjunktion, Disjunktion) Für zwei Aussagen P und
Q definieren wir die Negation, Konjunktion und Disjunktion über die folgenden
Wahrheitstabellen:
Aussage
P
w
f
Aussagen
P
w
w
f
f
Q
w
f
w
f
Negation
NICHT
¬P
f
w
Konjunktion
UND
P ∧Q
w
f
f
f
Disjunktion
ODER
P ∨Q
w
w
w
f
1
EINFÜHRUNG IN DIE MATHEMATISCHE LOGIK
4
Bemerkungen:
• Zwei verknüpfte Aussagen müssen nicht in einem inhaltlichen Zusammenhang stehen.
• Die hier definierte Disjunktion ist nicht ausschliessend, also nicht “entweder P oder Q”, sondern “P oder Q (oder beide)”.
• Der Wahrheitswert der Verknüpfungen ∧ und ∨ ist unabhängig von der
Reihenfolge der verknüpften Aussagen: Q ∧ P ≡ P ∧ Q, Q ∨ P ≡ P ∨ Q.
Wir sagen auch, Konjunktion und Disjunktion sind kommutativ.
Beispiel: Betrachten wir die zusammenhangslosen Aussagen
P
:=
Q :=
Die Violine ist ein Streichinstrument
Am 10.10.2013 wird das Wetter sonnig
P ist eine wahre Aussage, aber der Wahrheitswert von Q ist (derzeit) unbekannt.
Daher ist ¬P falsch und der Wahrheitswert von ¬Q unbekannt. Die Disjunktion
P ∨ Q ist wahr: obwohl wir den Wahrheitswert von Q nicht kennen, so wissen
wir doch bereits, dass P und damit mindestens eine der beiden Aussagen wahr
ist! Der Wahrheitswert der Konjunktion P ∧ Q ist hingegen unbekannt.
Satz 1 (Rechenregeln für Negation, Konjunktion, Disjunktion) Seien P und Q
Aussagen. Dann gilt
1. ¬ (¬P ) ≡ P ,
2. ¬ (P ∧ Q) ≡ ¬P ∨ ¬Q
(“die Negation der Konjunktion ist die Disjunktion der Negationen”),
3. ¬ (P ∨ Q) ≡ ¬P ∧ ¬Q
(“die Negation der Disjunktion ist die Konjunktion der Negationen”).
Beweis: Direkt mit Hilfe der Wahrheitstabelle (Serie 1, Aufgabe 1).
Bemerkungen:
• 2. und 3. heissen De Morgansche Gesetze (nach A. De Morgan, 1806–1871).
• Aus 1. und 2. folgt, dass die Konjunktion mit Hilfe der Negation und der
Disjunktion ausgedrückt werden kann:
1.
2.
P ∧ Q ≡ ¬ (¬ (P ∧ Q)) ≡ ¬ (¬P ∨ ¬Q) .
(1)
Aufgrund dieser logischen Äquivalenz bräuchte man streng genommen kein
eigenes Symbol für die Konjunktion; es ist aber praktisch!
Auch die Implikation definieren wir mit Hilfe der Negation und der Disjunktion:
1
EINFÜHRUNG IN DIE MATHEMATISCHE LOGIK
5
Definition 4 (Implikation, Konditional) Für zwei Aussagen P und Q ist die
Implikation (oder das Konditional) P ⇒ Q definiert durch
P ⇒ Q := ¬P ∨ Q.
(2)
Bemerkungen
• Für P ⇒ Q sagen wir “P impliziert Q”, “Aus P folgt Q”, oder “Wenn P ,
dann Q”.
• Weil in dieser Definition die erste Aussage negiert wird, ist die Reihenfolge
wesentlich: die Aussagen P ⇒ Q und Q ⇒ P sind logisch nicht äquivalent!
• Wir ermitteln die Wahrheitstabelle für die Implikation mit Hilfe der Definitionen 3 und 4:
Aussagen
P
Q
w
w
w
f
f
w
f
f
Negation
¬P
f
f
w
w
Implikation
P ⇒Q
w
f
w
w
• Es gilt die logische Äquivalenz P ⇒ Q ≡ ¬Q ⇒ ¬P wie man mit Hilfe
von Satz 1 beweisen kann:
¬Q ⇒ ¬P
1.
Def. 4
= ¬ (¬Q) ∨ ¬P ≡ Q ∨ ¬P
Komm.
≡
Def. 4
¬P ∨ Q = P ⇒ Q (3)
Der Ausdruck ¬Q ⇒ ¬P heisst Kontraposition oder Umkehrschluss der
Implikation P ⇒ Q.
Wir betrachten noch einmal die Wahrheitstabelle für die Implikation, wobei wir
die Zeilen nummerieren:
1
2
3
4
Aussagen
P
Q
w
w
w
f
f
w
f
f
Implikation
P ⇒Q
w
f
w
w
Die Wahrheitstabelle stellt einen Zusammenhang her zwischen den Wahrheitswerten der drei Aussagen P , Q und P ⇒ Q. Ist der Wahrheitswert von zwei
dieser drei Aussagen bekannt, so können wir in manchen Fällen Schlüsse über
den Wahrheitswert der dritten Aussage ziehen:
• Gelten sowohl die Aussage P als auch die Implikation P ⇒ Q (1. Zeile),
so muss auch die Aussage Q gelten. Wir sagen, P ist eine hinreichende
Bedingung für Q. Ist hingegen die Aussage Q falsch und die Implikation
P ⇒ Q wahr (4. Zeile), so muss auch die Aussage P falsch sein. Wir sagen,
Q ist eine notwendige Bedingung für P .
1
EINFÜHRUNG IN DIE MATHEMATISCHE LOGIK
6
• Ist die Aussage P falsch, so ist die Implikation P ⇒ Q wahr (3. und 4.
Zeile), und zwar unabhängig vom Wahrheitswert von Q (“aus Falschem
folgt Beliebiges”). Ist die Aussage Q wahr, so ist auch die Implikation
P ⇒ Q wahr (1. und 3. Zeile), und zwar unabhängig vom Wahrheitswert
von P (“Wahres folgt aus Beliebigem”).
Beispiele:
1. Ein häufig verwendetes Beispiel ist jenes mit der regennassen Strasse. Wir
betrachten die Aussagen
P
:= Es regnet,
Q := Die Strasse wird nass.
Diese Aussagen erfüllen P ⇒ Q, was wir auch sprachlich mittels “wenn
. . . dann” ausdrücken können: die Implikation P ⇒ Q lautet
“Wenn es regnet, dann wird die Strasse nass”,
und die Kontraposition ¬Q ⇒ ¬P lautet
“Wenn die Strasse nicht nass wird, dann regnet es nicht.”
Beides sind wahre Aussagen (wenn wir einmal annehmen, dass der betrachtete Strassenabschnitt nicht gerade unter einem Baum oder einer Brücke
durchführt und damit vor Regen geschützt ist).
Die Implikation Q ⇒ P ist hingegen falsch. Sie würde lauten:
“Wenn die Strasse nass wird, dann regnet es.”
Diese Aussage ist falsch, denn die Strasse kann ja auch nass werden, ohne dass es regnet (z. B. wenn gerade die Strassenreinigung vorbeifährt).
Genauso ist die Aussage ¬P ⇒ ¬Q falsch. Sie würde lauten:
“Wenn es nicht regnet, dann wird die Strasse nicht nass.”
2. Die Schwierigkeit mit der sprachlichen “wenn . . . dann”-Verknüpfung ist,
dass sie einen inhaltlichen Zusammenhang zwischen den beiden Aussagen
vortäuscht, der aber in unserer Def. 4 überhaupt nicht gefordert wird; in
der Logik ist lediglich der Wahrheitswert der Aussagen wichtig, nicht aber
ihr Inhalt! Betrachten wir die Aussagen:
P
:= London ist die Hauptstadt von Frankreich (falsch),
Q := Schnee ist weiss
(wahr).
Gemäss unserer Wahrheitstabelle für die Implikation gelten dann P ⇒
Q und ¬Q ⇒ ¬P , aber mit “wenn . . . dann” ausgedrückt ergeben sich
inhaltlich sinnlose Sätze:
“Wenn London die Hauptstadt von Frankreich ist, dann ist Schnee weiss”,
“Wenn Schnee nicht weiss ist, dann ist London nicht die Hauptstadt von Frankreich”.
1
EINFÜHRUNG IN DIE MATHEMATISCHE LOGIK
7
Dieses Beispiel zeigt, dass Sie in der Logik besser nicht versuchen sollten,
Aussagenverknüpfungen intuitiv zu verstehen oder sprachlich zu veranschaulichen. Betrachten Sie stattdessen einfach die Wahrheitswerte der
Teilaussagen und wenden Sie “stur” die Definitionen und Sätze an.
Definition 5 (Bikonditional) Das Bikonditional zweier Aussagen P und Q ist
definiert als
P ⇔ Q := (P ⇒ Q) ∧ (Q ⇒ P ) .
(4)
Bemerkungen:
• Wenn P ⇔ Q gilt, so sagen wir, dass P notwendige und hinreichende
Bedingung für Q ist (und umgekehrt). Die Reihenfolge der Teilaussagen
spielt beim Bikonditional keine Rolle.
• Wir berechnen die Wahrheitstabelle für das Bikonditional schrittweise aus
der Definition:
Aussagen
P
Q
w
w
w
f
f
w
f
f
Implikationen (Def. 4)
P ⇒Q
Q⇒P
w
w
f
w
w
f
w
w
Bikonditional
P ⇔Q
w
f
f
w
Aus der Wahrheitstabelle erkennen wir, dass das Bikonditional P ⇔ Q
genau dann gilt, wenn P und Q dieselben Wahrheitswerte besitzen, also
genau dann, wenn P und Q logisch äquivalent sind.
• Die sprachliche Verknüpfung der Aussagen mittels “genau dann, wenn”
(“P genau dann, wenn Q”) ist üblich, aber beachten Sie, dass dadurch wie
im vorherigen Beispiel inhaltlich sinnlose Sätze entstehen können:
“London ist die Hauptstadt von Frankreich genau dann, wenn Schnee schwarz ist”
(beide Teilaussagen sind falsch, und daher ist das Bikonditional wahr). Die
sprachliche Verknüpfung mittels “genau dann, wenn” suggeriert einen inhaltlichen Zusammenhang zwischen den beiden Teilaussagen, obwohl kein
solcher gegeben ist.
1.2
Mengenlehre
Definition 6 (nach Georg Cantor, 1895) Eine Menge ist eine Zusammenfassung von bestimmten wohlunterschiedenen Objekten unserer Anschauung oder
unseres Denkens zu einem Ganzen. Die Objekte einer Menge heissen Elemente.
1
EINFÜHRUNG IN DIE MATHEMATISCHE LOGIK
8
Bemerkungen:
• Für ein Element x einer Menge M schreiben wir x ∈ M und sagen “x ist
Element von M ” (das ist eine Aussage im Sinne von Def. 1).
• Weil die in einer Menge zusammengefassten Objekte gemäss Definition
“wohlunterschieden” sein müssen, kann eine Menge nicht zwei gleiche Elemente enthalten.
Definition 7 (Teilmenge) Eine Menge A heisst Teilmenge einer Menge B,
wenn jedes Element von A auch Element von B ist.
Bemerkungen:
• Wir schreiben A ⊆ B, wenn A eine Teilmenge von B ist.
• Wenn A ⊆ B, dann gilt die Implikation x ∈ A ⇒ x ∈ B für jedes Element
der Menge A (so steht es in Def. 7).
• Wir werden Mengen immer als Teilmengen einer Grundmenge G (eines
Universums) betrachten. G ist eine Menge aus allen in einem bestimmten Zusammenhang betrachteten Objekten. Alle in diesem Zusammenhang
betrachteten Mengen sind dann Teilmengen von G.
• Ist x kein Element von M , so schreiben wir x 6∈ M . Beachten Sie aber,
dass immer noch x ∈ G gelten muss (das Universum kann nicht verlassen
werden)!
Beispiele:
1. G: Menge aller Früchte, B : Menge aller Apfelfrüchte, dann gilt für A :=
{Apfel, Birne, Quitte}: A ⊆ B. Es gelten auch die Aussagen Apfel ∈ A,
Birne ∈ B, Vogelbeere ∈ B, Vogelbeere 6∈ A. Insbesondere gilt A 6= B,
denn wir haben ein Element von B gefunden, das kein Element von A ist.
2. G: Menge aller Musikinstrumente, Ω : Menge aller Streichinstrumente,
dann gilt M := {Violine, Viola, Violoncello, Kontrabass} ⊆ Ω. Es gilt
{Violine, Viola} ⊆ M , Erhu ∈ Ω, Erhu 6∈ M , Querflöte 6∈ Ω.
3. Im Beispiel 1 ist der Ausdruck “Violine 6∈ B” unzulässig, weil die Violine
kein Element der dort betrachteten Grundmenge aller Früchte ist. Die
Aussage “Banane 6∈ B” ist hingegen zulässig, denn die Banane ist eine
Frucht.
4. “{Violine, Violine, Kontrabass}” ist keine Menge, weil die beiden Objekte
Violine nicht unterscheidbar sind. Dagegen ist {Violine, {Violine} , Kontrabass}
eine Menge, denn das Element Violine ist verschieden von der Menge mit
dem Element Violine.
5. Die leere Menge, ∅ oder {}, ist eine Menge, die keine Elemente enthält.
1
EINFÜHRUNG IN DIE MATHEMATISCHE LOGIK
9
In diesen Beispielen haben wir bereits zwei Darstellungsformen von Mengen
kennen gelernt:
• die aufzählende Form, wie z. B. A = {Apfel, Birne, Quitte}. Hier werden
die Elemente einer Menge explizit aufgezählt, wobei die Reihenfolge keine
Rolle spielt.
• die beschreibende Form, wie z. B. “Ω ist die Menge aller Streichinstrumente”. Hier werden die Elemente einer Menge über ihre Eigenschaften
beschrieben. Formal schreiben wir auch
M = {x ∈ G | x hat die Eigenschaft E} ,
also z. B. Ω = {x ∈ G | x ist ein Streichinstrument}.
Für die Definition der folgenden Mengenoperationen verwenden wir Symbole
aus Kap. 1.1:
Definition 8 (Mengenoperationen) Seien A und B Mengen. Dann definieren
wir die folgenden Mengen über ihre Eigenschaften:
• Komplement von A: Ac := {x ∈ G | x 6∈ A},
• Schnittmenge (Durchschnitt) von A und B: A∩B := {x ∈ G | x ∈ A ∧ x ∈ B},
• Vereinigungsmenge (Vereinigung) von A und B: A∪B := {x ∈ G | x ∈ A ∨ x ∈ B},
• Differenz von A und B: A \ B := {x ∈ G | x ∈ A ∧ x 6∈ B} = A ∩ B c .
Bemerkungen:
• ∩ und ∪ sind kommutativ, \ ist nicht kommutativ.
• Weil in Def. 8 die Negation, Konjunktion und Disjunktion aus Def. 3 vorkommen, können wir aus den Rechenregeln für diese Operationen (Satz 1)
Rechenregeln für Mengen herleiten (für jedes x ∈ G, definiere die Aussagen
P := x ∈ A, Q := x ∈ B). Es gilt
c
1. (Ac ) = A,
c
2. (A ∩ B) = Ac ∪ B c ,
c
3. (A ∪ B) = Ac ∩ B c .
• Mengenoperationen lassen sich mit Hilfe von Venn-Diagrammen (nach
J. Venn, 1834–1923) grafisch darstellen (Serie 1, Aufg. 5).
Definition 9 (Mengenprodukt) Für zwei Mengen A und B ist das Mengenprodukt definiert durch
A × B := {(a, b) | a ∈ A, b ∈ B} .
(5)
2
ZAHLEN UND ZAHLENSYSTEME
10
Bemerkungen:
• (a, b) bezeichnet ein geordnetes Paar. Hier ist die Reihenfolge der Elemente
wesentlich, und es gilt das Paaraxiom (G. Peano, 1897)
(a, b) = (c, d)
⇔
a = c ∧ b = d.
• Die Definition des Mengenprodukts lässt sich auf eine beliebige Anzahl
von Mengen verallgemeinern: Seien M1 , M2 , . . . , Mn Mengen, dann ist das
Mengenprodukt gegeben durch
M1 ×M2 ×· · ·×Mn := {(x1 , x2 , . . . , xn ) | x1 ∈ M1 , x2 ∈ M2 , . . . , xn ∈ Mn } .
Hierbei bezeichnet (x1 , x2 , . . . , xn ) ein geordnetes n-Tupel.
• Für M1 = M2 = · · · = Mn = M schreiben wir auch
M n := M × M × · · · × M .
|
{z
}
n-mal
Beispiele:
1. Das Mengenprodukt der dreielementigen Mengen A := {1, 2, 3} und B :=
{x, y, z} ist gegeben durch die neunelementige Menge
A × B = {(1, x), (1, y), (1, z), (2, x), (2, y), (2, z), (3, x), (3, y), (3, z)} .
2. In der linearen Algebra (Vorlesung MLAE1) werden Sie den Vektorraum
Rn antreffen, ein n-faches Mengenprodukt der Menge der reellen Zahlen
(Kap. 2). Die Elemente von Rn werden (n-dimensionale) Vektoren genannt.
2
Zahlen und Zahlensysteme
In diesem Kapitel definieren wir zunächst einige wichtige Zahlenmengen und führen dann Strukturen ein, z. B. mittels Operationen wie Addition und Multiplikation, oder mittels einer Ordnungsrelation. Zahlensysteme dienen der Darstellung
von Zahlen, und wir werden einige wichtige Zahlensysteme kennen lernen, wie
das Binär-, das Dezimal- oder das Hexadezimalsystem.
2.1
Zahlen
Was sind und was sollen die Zahlen? [. . . ] die Zahlen sind freie Schöpfungen des menschlichen Geistes, sie dienen als ein Mittel, um die
Verschiedenheit der Dinge leichter und schärfer aufzufassen. Durch
den rein logischen Aufbau der Zahlen-Wissenschaft und durch das
in ihr gewonnene stetige Zahlen-Reich sind wir erst in den Stand
gesetzt, unsere Vorstellungen von Raum und Zeit genau zu untersuchen, indem wir dieselben auf dieses in unserem Geiste geschaffene
Zahlen-Reich beziehen.
(Richard Dedekind, 1893)
2
ZAHLEN UND ZAHLENSYSTEME
2.1.1
11
Zahlenmengen und Operationen
Die Menge R der reellen Zahlen entspricht der Menge aller Punkte auf der
Zahlengeraden. Wichtige Teilmengen von R sind:
• die natürlichen Zahlen N := {1, 2, 3, . . . }, N0 := {0, 1, 2, . . . },
• die ganzen Zahlen Z := {. . . , −2, −1, 0, 1, 2, . . . },
o
n • die rationalen Zahlen Q := pq p, q ∈ Z, q 6= 0 .
Es gibt auch Erweiterungen der reellen Zahlen, z. B. die komplexen Zahlen
C := {a + ib | a, b ∈ R} ,
mit der imaginären Einheit i ∈ C \ R, i2 = −1. Es gilt N ⊆ Z ⊆ Q ⊆ R ⊆ C.
Diese Zahlenmengen enthalten im Unterschied zu den in Kap. 1.2 betrachteten
Mengen unendlich viele Elemente.
Auf den Zahlen können wir die Operationen Addition und Multiplikation mit
den bekannten Rechenregeln einführen. Die rationalen und die reellen Zahlen
bilden zusammen mit diesen Operationen jeweils einen Körper (vgl. MLAE1).
2.1.2
Ordnungsrelationen auf R
Es gibt noch mehr Struktur in den rellen Zahlen, nämlich eine Totalordnung ≤
(“kleiner gleich”). Sie erfüllt, für alle a, b, c ∈ R:
• Antisymmetrie: (a ≤ b ∧ b ≤ a) ⇒ a = b,
• Transitivität: (a ≤ b ∧ b ≤ c) ⇒ a ≤ c,
• Totalität: a ≤ b ∨ b ≤ a.
Diese Totalordnung ist zudem verträglich mit den Körperoperationen (Addition
und Multiplikation):
• a ≤ b ⇒ a + c ≤ b + c,
• (0 ≤ a ∧ 0 ≤ b) ⇒ 0 ≤ a · b,
für alle a, b, c ∈ R. Die Paare (Q, ≤) und (R, ≤) sind geordnete Körper. Wir
verwenden ausserdem die strenge Totalordnung < (“(strikt) kleiner als”):
a < b :⇔ ¬ (b ≤ a) .
(6)
Definition 10 (Beschränktheit von Mengen) Sei M ⊆ R.
• a ∈ R heisst untere Schranke von M , wenn a ≤ x ∀ x ∈ M .
• b ∈ R heisst obere Schranke von M , wenn x ≤ b ∀ x ∈ M .
Wenn eine dieser Schranken existiert, so heisst M nach unten bzw. nach oben
beschränkt. Existieren beide Schranken, so heisst M beschränkt, ansonsten heisst
M unbeschränkt.
2
ZAHLEN UND ZAHLENSYSTEME
2.1.3
12
Intervalle auf R
Intervalle sind wichtige Teilmengen der reellen Zahlen, die mit Hilfe der Ordnungsrelationen definiert werden können.
Definition 11 (Intervalle) Für zwei Zahlen a, b ∈ R definieren wir folgende
Intervalle:
• [a, b] := {x ∈ R | a ≤ x ≤ b},
• [a, b) := {x ∈ R | a ≤ x < b},
• (a, b] := {x ∈ R | a < x ≤ b},
• (a, b) := {x ∈ R | a < x < b}.
• (−∞, b] := {x ∈ R | x ≤ b},
• (−∞, b) := {x ∈ R | x < b},
• [a, ∞) := {x ∈ R | a ≤ x},
• (a, ∞) := {x ∈ R | a < x},
Bemerkungen:
• [a, b] heisst abgeschlossenes Intervall, (a, b) heisst offenes Intervall, und
[a, b), (a, b] heissen halboffene Intervalle.
• Gilt a > b, so sind die Intervalle [a, b], [a, b), (a, b], (a, b) leere Mengen.
• Die Intervalle [a, b], [a, b), (a, b], (a, b) sind beschränkte Mengen, (−∞, b),
(−∞, b], (a, ∞), [a, ∞) sind unbeschränkte Mengen (Def. 10).
• ∞ (“Unendlich”) liegt jenseits der Zahlengeraden: −∞ < a < ∞ ∀ a ∈
R. ∞ ist keine reelle Zahl und kann nie zu einem Intervall gehören; die
Schreibweise [a, ∞] ist unzulässig!
2.1.4
Irrationale Zahlen
Wir haben bereits gesehen, dass C \ R 6= ∅, denn i ∈ C \ R. Die Aussagen
Z \ N 6= ∅ und Q \ Z 6= ∅ sind ebenfalls leicht zu beweisen, denn wir können
sofort ein Element aus der Differenzmenge angeben:
• −1 ∈ Z ∧ −1 6∈ N, also −1 ∈ Z \ N (Def. 8) und damit Z \ N 6= ∅,
•
2
3
∈Q∧
2
3
6∈ Z, also
2
3
∈ Q \ Z und damit Q \ Z 6= ∅.
Wie aber sieht es aus mit der Menge der irrationalen Zahlen, R\Q? Weil für zwei
2
2
rationale Zahlen r1 , r2 ∈ Q, auch r1 +r
∈ Q und für r1 < r2 auch r1 +r
∈ (r1 , r2 )
2
2
gilt, so scheint es doch, als ob wir mit Hilfe fortgeschrittener Intervallteilungen
jeden Punkt auf der Zahlengeraden erreichen könnten, was Q = R bedeuten
würde?
2
ZAHLEN UND ZAHLENSYSTEME
13
Wir werden hier zeigen, dass die Menge der irrationalen Zahlen tatsächlich
nicht leer ist (es gibt sogar unendlich viele irrationale Zahlen!). Bekannte irrationale Zahlen sind z. B.
√
• 2 ' 1.414 . . . (Irrationalität bewiesen von Euklid, 3. Jh. v. Chr.),
• e ' 2.718 . . . (Irrationalität bewiesen von L. Euler, 1737),
• π ' 3.141 . . . (Irrationalität bewiesen von J. H. Lambert, 1761).
√
Satz 2 2 ist eine irrationale Zahl.
Für den Beweis benötigen wir den folgenden Hilfssatz:
Lemma 1 Wenn für z ∈ Z die Zahl z 2 gerade ist, dann ist z gerade.
Beweis des Lemmas: Für die logischen Aussagen
P
:= z 2 ist gerade,
Q := z ist gerade,
behauptet der Hilfssatz, dass P ⇒ Q gilt. Wir wollen die nach Kap. 1.1 logisch
äquivalente Aussage ¬Q ⇒ ¬P (Kontraposition) beweisen. Weil eine ganze Zahl
entweder gerade oder ungerade ist, sind die Negationen von P und Q gegeben
durch
¬P
= z 2 ist ungerade,
¬Q = z ist ungerade.
Es gelte also ¬Q, dann existiert eine Zahl k ∈ Z, so dass z = 2k + 1. Dann gilt
2
z 2 = (2k + 1) = 4k 2 + 4k + 1 = 2 2k 2 + 2k +1.
| {z }
∈Z
2
Also ist z ungerade, d. h. es gilt ¬P , und die Kontraposition ist bewiesen. Für den Beweis des Satzes (nach Euklid) nehmen wir an, die Behauptung des
Satzes sei falsch und leiten aus dieser Annahme einen Widerspruch her. Daraus
folgt, dass die Behauptung des Satzes richtig sein muss. Man nennt dies einen
indirekten oder Widerspruchsbeweis.
√
Beweis von Satz 2: Sei also die Aussage
2 ∈ Q wahr, d. h. es existieren zwei
√
Zahlen p, q ∈ Z, q 6= 0, so dass 2 = pq . Wir dürfen ohne Beschränkung der
Allgemeinheit (o. B. d. A.) annehmen, dass ggT(p, q) = 1 (ggf. Kürzen). Durch
Quadrieren erhalten wir
2
p
p2
2=
= 2 ⇒ p2 = 2q 2 ,
q
q
also ist p2 gerade und daher, nach dem Lemma, auch p gerade. Es existiert also
eine ganze Zahl k ∈ Z, so dass p = 2k. Dann gilt
2
2q 2 = p2 = (2k) = 4k 2
⇒
q 2 = 2k 2 .
2
ZAHLEN UND ZAHLENSYSTEME
14
Also ist q 2 gerade und daher, nach dem Lemma, auch q gerade. Weil p und q gerade sind, ist 2 ein gemeinsamer Teiler von p und q. Damit gilt aber ggT(p, q) ≥ 2,
und dies ist ein Widerspruch zu unserer Annahme, dass ggT(p, q) = 1.
Bemerkung: Wir sagen “Q liegt dicht in R”, weil jede reelle Zahl beliebig genau
mit einer rationalen Zahl angenähert werden kann (Dirichletscher Approximationssatz; nach P. G. L. Dirichlet, 1805–1859; ohne Beweis).
2.2
Zahlensysteme
Zahlensysteme dienen der Darstellung von Zahlen. Wir werden hier die sogenannten Stellenwertsysteme vorstellen, bei denen die Wertigkeit einer Ziffer von
ihrer Position abhängt. Dazu gehören z. B. das Dezimal-, das Binär- oder das
Hexadezimalsystem.
2.2.1
Darstellung natürlicher Zahlen
Wird zur Darstellung einer Zahl ein Ziffernvorrat der Grösse b ∈ N verwendet,
so spricht man von einer b-adischen Darstellung der Zahl, und die Zahl b heisst
dann Basis des Stellenwertsystems. Der Ziffernvorrat ist typischerweise gegeben
durch die Menge Zb := {0, . . . , b − 1}, wobei für b ≤ 10 die bekannten Ziffern
0, 1, 2, . . . , 9 verwendet und für b > 10 noch die Grossbuchstaben A, B, C, . . . , Z
(entsprechend den “Ziffern” 10, 11, 12, . . . , 35) und wenn nötig weitere Zeichen
hinzugezogen werden. Eine natürliche Zahl wird nun dargestellt durch eine Ziffernfolge
an an−1 · · · a2 a1 a0 b , ai ∈ Zb , i = 0, . . . , n, an 6= 0
(das ist kein Produkt der Ziffern ai !), und dieser Ziffernfolge wird die Zahl
x := a0 + a1 · b + a2 · b2 + a3 · b3 + · · · + an · bn ∈ N
(7)
zugeordnet. Man kann zeigen, dass diese Zuordnung eineindeutig ist, d. h. zu
jeder Zahl x ∈ N existiert genau eine Ziffernfolge, deren zugeordneter Wert x
ist.
Beispiele:
1. Wir stellen die Zahl 143 ∈ N in verschiedenen Basen dar:
14310 = 100011112 = 2178 = 8F 16 .
Es gilt in der Tat:
• 14310 = 3 + 4 · 10 + 1 · 102 = 3 + 40 + 100 = 143
• 100011112 = 1 + 1 · 2 + 1 · 22 + 1 · 23 + 0 · 24 + 0 · 25 + 0 · 26 + 1 · 27 =
1 + 2 + 4 + 8 + 128 = 143,
• 2178 = 7 + 1 · 8 + 2 · 82 = 7 + 8 + 128 = 143,
• 8F 16 = 15 + 8 · 16 = 15 + 128 = 143.
2
ZAHLEN UND ZAHLENSYSTEME
15
2. Grosse Werte für b eignen sich für die Darstellung von sehr grossen Zahlen,
weil die Anzahl benötigter Ziffern n zur Darstellung einer bestimmten Zahl
x mit zunehmender Grösse des Ziffernvorrats b abnimmt:
2923465210 = 11011111000010101110111002 = 1BE15DC 16 = HELLO36 .
Es gilt HELLO36 = 24 + 21 · 36 + 21 · 362 + 14 · 363 + 17 · 364 = 24 + 756 +
27216 + 653184 + 28553472 = 29234652.
Bemerkungen:
• Die Berechnung der Zahl x aus der Ziffernfolge an an−1 · · · a2 a1 a0 b ist recht
einfach mit Formel (7) (s. Beispiele). Die umgekehrte Richtung, d. h. die
Berechnung der Ziffernfolge in einem bestimmten Zahlensystem für eine
gegebene Zahl, ist schwieriger und erfordert die Division mit Rest. Dafür
sollten Sie ein Computerprogramm verwenden.
• In MATLAB können Sie mit den Befehlen dec2base und base2dec natürliche Zahlen zwischen dem Dezimalsystem und einem beliebigen b-adischen
System mit 2 ≤ b ≤ 36 umrechnen. Ausserdem gibt es die MATLABBefehle dec2bin, bin2dec, dec2hex und hex2dec für Umrechnungen zwischen Dezimal- und Binär- bzw. Hexadezimalsystem.
• Für noch grössere Basen werden weitere ASCII-Zeichen zur Kodierung
hinzugenommen, z. B. im Zahlensystem Base62.
2.2.2
Darstellung ganzer Zahlen
Weil für x ∈ Z \ {0} entweder x ∈ N oder −x ∈ N gilt, so benötigen wir zur
Darstellung von ganzen Zahlen lediglich noch ein Vorzeichen, + oder −, wobei
+ meistens weggelassen wird; es gilt also z. B.
−23710 = −111011012 = −3558 = −ED16 .
Damit gibt es für die Zahl 0 ∈ Z mehrere Darstellungen: 0 = −0 = +0. Für alle
anderen ganzen Zahlen ist die Darstellung mittels Vorzeichen aber eindeutig.
2.2.3
Darstellung rationaler Zahlen
Für x ∈ Q benötigen wir ebenfalls ein Vorzeichen, und wir erlauben in (7)
zusätzlich negative Exponenten der Basis, wobei eine solche Darstellung auch
unendlich lang sein kann:
x := · · · + a−2 · b−2 + a−1 · b−1 + a0 + a1 · b + a2 · b2 + a3 · b3 + · · · + an · bn ∈ Q. (8)
Den Wechsel zwischen negativen und nichtnegativen Exponenten bezeichnen wir
mit einem “.”, so dass die Ziffernfolge für x so aussieht:
an an−1 · · · a2 a1 a0 .a−1 a−2 · · ·b ,
ai ∈ Zb , i = . . . , −2, −1, 0, . . . , n, an 6= 0.
3
FUNKTIONEN
16
Beispiele:
1. 12.93510 = 5 · 10−3 + 3 · 10−2 + 9 · 10−1 + 2 + 1 · 10 =
2587
200 .
2. 110100.10112 = 1 · 2−4 + 1 · 2−3 + 0 · 2−2 + 1 · 2−1 + 0 + 0 · 2 + 1 · 22 + 0 ·
23 + 1 · 24 + 1 · 25 = 843
16 = 52.687510 .
3. Für rationale Zahlen ist jede b-adische Darstellung entweder endlich oder
unendlich periodisch. Welcher Fall eintritt, hängt von der Basis ab:
1
= 0.210 = 0.15 = 0.00112 ,
5
1
= 0.310 = 0.13 .
3
4. Weil wir für rationale Zahlen unendliche Darstellungen zulassen müssen,
ist die Darstellung nicht mehr eindeutig:
1 = 110 = 1.00010 = 1.010 = 0.910 .
2.2.4
Darstellung reeller Zahlen
Reelle Zahlen können wir in derselben Weise darstellen wie rationale Zahlen,
nur wird für irrationale Zahlen x ∈ R \ Q die Darstellung immer unendlich und
nicht periodisch sein:
e = 2.718281828459046 . . . ,
π = 3.141592653589793 . . .
Mit Hilfe von Computern wurden mittlerweile bereits mehr als 1012 Nachkommastellen in den Dezimaldarstellungen von e und π berechnet.
3
Funktionen
Wir werden hier zunächst allgemeine Funktionen einführen und uns dann auf
rationale Funktionen konzentrieren, zu denen insbesondere die Polynomfunktionen gehören.
3.1
Definition und Darstellung einer Funktion
Definition 12 (Funktion, Abbildung) Eine Funktion (oder Abbildung) ordnet
jedem Element x aus einer Menge D genau ein Element y aus einer Menge W
zu:
f : D → W, x 7→ y = f (x).
Bemerkungen:
• Wir nennen D den Definitionsbereich und W den Wertebereich der Funktion f (manchmal schreibt man auch Df und Wf ). Das Element x ∈ D
heisst Argument der Funktion oder unabhängige Variable, das Element
y = f (x) ∈ W heisst Funktionswert oder abhängige Variable. Wir sagen
auch, x werde durch f auf y abgebildet.
3
FUNKTIONEN
17
• Die Menge Gf := {(x, f (x)) | x ∈ D} ⊆ D × W heisst der Graph der
Funktion f .
Beispiele:
1. D := {1, 2, 3}, W := {a, b, c}, f : D → W definiert durch
f (1) := b,
f (2) := c,
f (3) := b,
ist eine Funktion. Beachten Sie, dass a ∈ W kein Funktionswert von f
ist und dass b ∈ W der Funktionswert von mehreren Elementen aus
D ist: f (1) = f (3) = b. Der Graph von f ist gegeben durch Gf =
{(1, b), (2, c), (3, b)}.
2. D := {1, 2, 3}, W := {a, b, c}, f : D → W definiert durch
f (1) := b,
f (1) := c,
f (2) := a
ist keine Funktion, weil dem Element 3 ∈ D kein Element in W zugewiesen
wird, und weil das Element 1 ∈ D mehreren Elementen in W zugewiesen
wird.
3. Durch die Abbildungsvorschrift x 7→ y = x2 wird eine Funktion f : R → R
definiert, deren Graph eine Parabel ist. Einige Funktionswerte von f sind
x
f (x)
−3
9
0
0
4
7
16
49
1
1
√
2
2
2
4
3
9
π
π2
(Wertetabelle). f hat bei x = 0 eine sog. Nullstelle: f (0) = 0.
4. Eine Funktion kann abschnittsweise (oder stückweise) definiert werden,
wie z. B. die Funktion
x − 1, x ≤ 0
g(x) :=
, x ∈ R.
x + 1, x > 0
Diese Funktion hat bei x = 0 eine sog. Sprungstelle.
5. Die Funktion h(x) = x1 ist definiert auf R \ {0}. h hat bei x = 0 eine
sog. Polstelle. Der Graph von h ist eine Hyperbel.
6. Die Temperaturabhängigkeit des elektrischen Widerstands in einem Leiter
kann näherungsweise durch eine quadratische Funktion der Form
2
R(T ) = R0 1 + a (T − T0 ) + b (T − T0 )
beschrieben werden (vgl. Vorlesung MESO). Hier ist die Temperatur T
die unabhängige Variable und der Widerstand R die abhängige Variable.
3
FUNKTIONEN
18
Die Zahlen R0 , T0 , a, b sind Parameter der Funktion. Durch quadratische
Ergänzung bringen wir diese Funktion in die sog. Scheitelpunktform:
a2
a 2
+ R0 1 −
R(T ) = bR0 T − T0 −
.
2b
4b
Daraus lässt sich der Scheitelpunkt des Graphen der Funktion ablesen, und
mit dem weiteren bekannten Punkt (T0 , R0 ) ∈ GR können wir schliesslich
die Parabel skizzieren.
7. Eine Funktion f braucht nicht explizit in der Form y = f (x) dargestellt
zu sein. Funktionen können auch implizit über eine Gleichung mit Unbekannten x und y definiert werden. Beispiele sind die Gleichungen
2x − y = 3,
log y + x2 = 0,
xy = 2,
mit Lösungen
y = 2x − 3,
2
y = e−x ,
y=
2
.
x
Bemerkung: Nicht jede Gleichung mit Variablen x und y definiert implizit
eine Funktion! Z. B. definiert die Gleichung x2 + y 2 = 1 keine Funktion
y = f (x),
√ denn diese Gleichung hat für jedes x ∈ (−1, 1) zwei Lösungen,
y = ± 1 − x2 .
In diesen Beispielen haben Sie auch die wichtigsten Darstellungsformen für
Funktionen gesehen:
• analytisch (explizit, implizit),
• als Wertetabelle,
• grafisch.
Definition 13 (Bild, Urbild) Sei f : D → W eine Funktion.
1. Für eine Menge A ⊆ D heisst die Menge
f (A) := {f (x) ∈ W | x ∈ A} ⊆ W
das Bild von A unter f .
2. Die Menge
im(f ) := f (D) ⊆ W
heisst Bild von f (englisch: image).
3. Für eine Menge B ⊆ W heisst die Menge
f −1 (B) := {x ∈ D | f (x) ∈ B} ⊆ D
das Urbild von B unter f .
3
FUNKTIONEN
19
Beispiele (Forts.):
3. Für die Funktion f : R → R, f (x) := x2 , gelten
4
16 2
f
2, , π
= 4, , π , f ((1, 2]) = (1, 4] , im(f ) = [0, ∞) ,
7
49
n
√
√ o
f −1 ({3, 4}) = −2, − 3, 3, 2 , f −1 ({−1}) = ∅.
4. Für die Funktion g : R → R, g(x) :=
x − 1, x ≤ 0
, gelten
x + 1, x > 0
3
7
−1, , e
= −2, , e + 1 , g ([1, 2]) = [2, 3],
4
4
1 1
g −1 ({−1, 2}) = {0, 1} , g −1 − ,
= ∅.
2 2
g
im(g) = R \ (−1, 1],
5. Für die Funktion h : R \ {0} → R, h(x) := x1 , gelten
1 1
1
= −3, ,
h
− , π, 5
, h ((0, 1]) = [1, ∞), im(h) = R \ {0} ,
3
π 5
1
5
3
1
−1
−1
= −3,
,1 .
, h
1,
=
h
− ,3
3
3
3
5
Definition 14 (Einschränkung, Fortsetzung) Sei f : D → W eine Funktion
und A ⊆ D, dann heisst die Funktion
f |A : A → W,
x 7→ y = f |A (x) := f (x),
die Einschränkung von f auf A. Kann eine Funktion g : A → W als Einschränkung einer Funktion f : D → W geschrieben werden, g = f |A , so heisst f die
Fortsetzung von g auf D.
Beispiel: Sei D = R und f (x) = x2 . Sei A := [0, ∞) ⊆ D, dann ist die Funktion
f |A : A → R, f |A (x) = x2 , die Einschränkung von f auf A.
Definition 15 (Komposition) Für Mengen A, B, C und Funktionen f : A → B,
g : B → C ist die Komposition (oder Hintereinanderausführung) g ◦ f : A → C
definiert durch
x 7→ (g ◦ f ) (x) := g (f (x)) , x ∈ A.
(9)
Bemerkung: Für den Ausdruck g ◦ f sagen wir “g nach f ” oder etwas salopp
einfach “g Kringel f ”. Beachten Sie die Reihenfolge der Funktionsauswertungen
von innen nach aussen (erst f , dann g).
3
FUNKTIONEN
20
Beispiele:
q
1. Aus Serie 3, Aufgabe 2b, kennen Sie die Funktion f (x) = x2 − 21 x − 3.
√
Mit g(x) := x2 − 21 x − 3 und h(y) := y schreiben wir diese als Komposition, f = h ◦ g. In der Aufgabe haben Sie gesehen, dass der Definitionsbereich von g so eingeschränkt werden muss, dass das Bild von g im
Definitionsbereich von h enthalten ist.
2. Wir betrachten die linearen Abbildungen f : Rp → Rn , f (x) := Bx und
g : Rn → Rm , g(y) := Ay, mit Matrizen A ∈ Rm×n und B ∈ Rn×p . Die
Komposition g ◦ f : Rp → Rm ist wieder eine lineare Abbildung, gegeben
durch
(g ◦ f ) (x) = ABx,
mit dem Matrixprodukt AB ∈ Rm×p (vgl. Vorlesung MLAE).
3.2
Allgemeine Funktionseigenschaften
In diesem Kapitel werden wir einige Eigenschaften von Funktionen definieren,
und diese später für die rationalen Funktionen überprüfen.
Definition 16 (Injektivität, Surjektivität, Bijektivität) Eine Funktion f : D →
W heisst
injektiv genau dann, wenn
surjektiv
genau dann, wenn
bijektiv genau dann, wenn
∀ x1 , x2 ∈ D :
x1 6= x2 ⇒ f (x1 ) 6= f (x2 ),
∀y ∈ W ∃x ∈ D :
y = f (x),
f injektiv und surjektiv ist.
Bemerkungen:
• Ist f injektiv, so existiert für jedes Element y ∈ W höchstens ein Element
x ∈ D, das durch f auf y abgebildet wird.
• f ist surjektiv genau dann, wenn im(f ) = W , d. h. alle Werte in W werden
auch tatsächlich angenommen. Jede Funktion f : D → W wird surjektiv,
wenn ihr Wertebereich auf im(f ) ⊆ W verkleinert wird.
• Ist f bijektiv, so existiert für jedes Element y ∈ W genau ein Element
x ∈ D, das durch f auf y abgebildet wird. Daher ist eine bijektive Funktion
umkehrbar, d. h. es existiert die Umkehrfunktion f −1 : W → D, y 7→
x = f −1 (y). Verwechseln Sie die Umkehrfunktion nicht mit dem Urbild!
Das Urbild einer Menge kann für jede Funktion berechnet werden, die
Umkehrfunktion dagegen existiert nur für bijektive Funktionen.
Beispiel: Sei f (x) = x2 . Dann ist f nicht injektiv auf R, denn wir erhalten
z. B. für x ∈ {−3, 3} denselben Funktionswert: f (−3) = f (3) = 9. f ist auch
nicht surjektiv auf R, denn es existiert z. B. kein x ∈ R, so dass x2 = −1. f ist
jedoch surjektiv auf [0, ∞). Die Einschränkung g := f |[0,∞) ist bijektiv, und die
√
Umkehrfunktion ist gegeben durch g −1 (y) = y.
3
FUNKTIONEN
21
Definition 17 (Nullstelle) Sei W = R. Eine Funktion f : D → W besitzt in
x0 ∈ D eine Nullstelle, falls f (x0 ) = 0.
Bemerkungen:
• In einer Nullstelle von f schneidet oder berührt der Graph von f die xAchse. Das Urbild f −1 ({0}) enthält genau die Nullstellen von f .
• Jede Gleichung in einer Variablen kann nach einer geeigneten Wahl der
Funktion f in die Form f (x) = 0 gebracht werden. Jede Nullstelle der
Funktion f ist dann eine Lösung der Gleichung. Hat die Funktion keine
Nullstelle, so hat die Gleichung auch keine Lösung.
Beispiel: Wir wollen die Gleichung e−x = x2 − 4 lösen. Dieses Problem ist
äquivalent dazu, eine Nullstelle der Funktion f : R → R, f (x) := e−x − x2 + 4,
zu finden.
y = e−x − x2 + 4
10
8
y
6
4
2
0
−2
−3
−2
−1
0
x
1
2
3
Eine Näherung für die Nullstelle, x0 ' 2.032488, kann numerisch bestimmt
werden.
Definition 18 (Monotonie) Seien D, W ⊆ R. Eine Funktion f : D → W heisst
monoton wachsend genau dann, wenn
∀ x1 , x2 ∈ D, x1 < x2 : f (x1 ) ≤ f (x2 ),
streng monoton wachsend
genau dann, wenn
∀ x1 , x2 ∈ D, x1 < x2 : f (x1 ) < f (x2 ),
monoton fallend
genau dann, wenn
∀ x1 , x2 ∈ D, x1 < x2 : f (x1 ) ≥ f (x2 ),
streng monoton fallend genau dann, wenn
∀ x1 , x2 ∈ D, x1 < x2 : f (x1 ) > f (x2 ).
Bemerkung: Streng monotone Funktionen sind injektiv. Dies folgt direkt aus
einem Vergleich der Definitionen 16 und 18.
Beispiel: Die Funktion f : R → R, f (x) = x2 , ist nicht monoton. Die Einschränkung g := f |[0,∞) : [0, ∞) → [0, ∞) ist hingegen streng monoton wachsend:
Seien 0 ≤ x1 < x2 . Dann gilt
g(x2 ) − g(x1 ) = x22 − x21 = (x2 − x1 )(x1 + x2 ) > 0,
3
FUNKTIONEN
22
weil beide Klammerausdrücke positive Werte haben. Also gilt g(x1 ) < g(x2 ).
Definition 19 (Symmetrie) Seien D, W ⊆ R. Eine Funktion f : D → W heisst
gerade
genau dann, wenn
f (−x) = f (x)
ungerade
genau dann, wenn
f (−x) = −f (x)
∀ x ∈ D,
∀ x ∈ D.
Bemerkung: Eine Funktion ist genau dann gerade, wenn ihr Graph achsensymmetrisch zur y-Achse ist. Eine Funktion ist genau dann ungerade, wenn ihr
Graph punktsymmetrisch zum Koordinatenursprung ist.
Beispiel: Die Funktion f : R → R, f (x) = x3 , ist ungerade: Für x ∈ R gilt
f (−x) = (−x)3 = −x3 = −f (x).
Definition 20 (Periodizität) Seien D, W ⊆ R. Eine Funktion f : D → W
heisst periodisch, falls
∃ P 6= 0 :
x + P ∈ D ∧ f (x + P ) = f (x)
∀ x ∈ D.
Die Zahl P heisst dann eine Periode der Funktion.
Bemerkung: Für eine Funktion mit Periode P gilt
f (x + kP ) = f (x + (k − 1)P + P ) = f (x) x ∈ D, k ∈ Z.
Eine P -periodische Funktion ist daher auch kP -periodisch für k ∈ Z \ {0}. In
der Regel sind wir an der kleinsten positiven Periode interessiert.
Beispiel: Die Sinusfunktion sin : R → [−1, 1], y = sin x, ist periodisch mit
(kleinster positiver) Periode 2π.
Definition 21 (Extrempunkte) Seien D, W ⊆ R. Eine Funktion f : D → W
hat in x0 ∈ D ein
• lokales Minimum, wenn ein Intervall I mit x0 ∈ I existiert, so dass
f (x0 ) ≤ f (x) ∀ x ∈ D ∩ I,
• globales Minimum, wenn f (x0 ) ≤ f (x) ∀ x ∈ D,
• lokales Maximum, wenn ein Intervall I mit x0 ∈ I existiert, so dass
f (x0 ) ≥ f (x) ∀ x ∈ D ∩ I,
• globales Maximum, wenn f (x0 ) ≥ f (x) ∀ x ∈ D.
Hat f in x0 ∈ D einen Extremwert (Minimum oder Maximum), so heisst der
Punkt (x0 , f (x0 )) ∈ Gf ein Extrempunkt des Graphen von f .
Bemerkung: Ein globales Extremum (Minimum oder Maximum) ist auch ein
lokales Extremum (wähle ein beliebiges Intervall I mit x0 ∈ I).
3.3
Rationale Funktionen
Wir beschränken uns im Folgenden auf reellwertige Funktionen einer reellen
Variablen, d. h. D, W ⊆ R.
3
FUNKTIONEN
3.3.1
23
Ganzrationale Funktionen (Polynomfunktionen)
Definition 22 (Potenzfunktion) Eine Potenzfunktion ist eine Funktion f von
der Form
f (x) = axr , a, r ∈ R.
Definition 23 (ganzrationale Funktion, Polynomfunktion) Eine ganzrationale
Funktion oder Polynomfunktion (oder kurz ein Polynom) ist eine Summe von
Potenzfunktionen mit natürlichen Exponenten:
p(x) =
n
X
ai xi := a0 + a1 x + a2 x2 + · · · + an xn ,
(10)
i=0
mit n ∈ N0 , ai ∈ R, i = 0, 1, . . . , n, und an 6= 0 falls n ≥ 1.
Bemerkungen:
• Die Zahl n ∈ N heisst der Grad des Polynoms, die n+1 Zahlen a0 , a1 , . . . , an ∈
R seine Koeffizienten. Der Koeffizient an wird als Leitkoeffizient bezeichnet.
• Eine Polynomfunktion ist vollständig bestimmt durch ihren Koeffizienten>
vektor (a0 , a1 , . . . , an ) ∈ Rn+1 .
• Gilt a0 = a1 = · · · = an−1 = 0, so erhalten wir eine Potenzfunktion:
y = an xn .
• Polynomfunktionen können auf allen reellen Zahlen x ∈ R definiert werden.
Beispiele:
1. Eine konstante Funktion hat Grad n = 0 und ist daher von der Form
p(x) = a0 ∈ R. Ein Spezialfall ist die Nullfunktion: p(x) = 0 ∀ x ∈ R.
2. Eine lineare Funktion hat Grad n = 1. Lineare Funktionen werden typischerweise in der Form y = mx + q, m, q ∈ R, m 6= 0, geschrieben.
3. Eine quadratische Funktion hat Grad n = 2. Quadratische Funktion werden typischerweise in der Form y = ax2 + bx + c, a, b, c ∈ R, a 6= 0,
geschrieben.
4. Eine kubische Funktion hat Grad n = 3. Kubische Funktionen werden
typischerweise in der Form y = ax3 + bx2 + cx + d, a, b, c, d ∈ R, a 6= 0,
geschrieben.
Im Folgenden werden wir die Eigenschaften von Polynomfunktionen mit
Grad n = 0, 1, 2, 3 diskutieren. Wir betrachten hier immer D = W = R.
Beachten Sie, dass durch Einschränkung des Definitions- oder Wertebereichs
zusätzliche Eigenschaften erhalten werden können!
3
FUNKTIONEN
24
Konstante Funktionen
Satz 3 (Eigenschaften konstanter Funktionen) Sei p : R → R, x 7→ p(x) =
a0 ∈ R, eine konstante Funktion. Dann gelten
1. p ist weder injektiv noch surjektiv (und damit auch nicht bijektiv),
2. p ist sowohl monoton wachsend als auch monoton fallend,
3. p ist gerade und im Fall a0 = 0 (Nullfunktion) auch ungerade,
4. p ist periodisch mit beliebiger Periode P ∈ R \ {0}. Insbesondere hat p
keine kleinste positive Periode,
5. p hat in jedem Punkt x ∈ R ein globales Minimum und ein globales Maximum.
Der Graph einer konstanten Funktion ist eine zur x-Achse parallele Gerade. Daher hat eine konstante Funktion, abgesehen von der Nullfunktion, keine Nullstelle.
Eine konstante Funktion p ist bereits durch einen Punkt (x, y) ∈ Gp eindeutig bestimmt.
Lineare Funktionen
Satz 4 (Eigenschaften linearer Funktionen) Sei p : R → R, x 7→ p(x) = mx+q,
m, q ∈ R, m 6= 0, eine lineare Funktion. Dann gelten
1. p ist bijektiv mit Umkehrfunktion p−1 (y) = (y − q)/m, y ∈ R,
2. p ist streng monoton wachsend genau dann, wenn m > 0 und streng monoton fallend genau dann, wenn m < 0,
3. p ist ungerade genau dann, wenn q = 0,
4. p ist nicht periodisch,
5. der Graph von p hat keine Extrempunkte.
Der Graph einer linearen Funktion ist eine Gerade mit Steigung m:
p(x2 ) − p(x1 )
mx2 + q − (mx1 + q)
mx2 − mx1
=
=
= m.
x2 − x1
x2 − x1
x2 − x1
Die Schnittpunkte mit den Koordinatenachsen sind gegeben durch
q − ,0
und (0, q) .
m
Daher heisst q ∈ R auch der y-Achsenabschnitt. Eine lineare Funktion hat eine
Nullstelle bei x = −q/m.
3
FUNKTIONEN
25
Eine lineare Funktion p ist durch zwei Punkte auf dem Graphen eindeutig
bestimmt: Seien (x1 , y1 ), (x2 , y2 ) ∈ Gp mit x1 6= x2 gegeben. Dann gelten die
Gleichungen
p(x1 ) = mx1 + q = y1 ,
p(x2 ) = mx2 + q = y2 .
(11)
Wir schreiben (11) als lineares Gleichungssystem für die unbekannten Koeffizienten m und q:
x1 1
m
y1
=
.
x2 1
q
y2
Die Determinante der Matrix ist gegeben durch x1 − x2 6= 0, und daher hat
dieses lineare Gleichungssystem eine eindeutige Lösung:
y1 −y2
1
1
−1
y1
m
x1 −x2
.
=
=
x1 y2 −x2 y1
−x2 x1
y2
q
x1 − x2
x1 −x2
Quadratische Funktionen
Satz 5 (Eigenschaften quadratischer Funktionen) Sei p : R → R, x 7→ p(x) =
ax2 + bx + c, a, b, c ∈ R, a 6= 0, eine quadratische Funktion. Dann gelten
1. p ist weder injektiv noch surjektiv (und damit auch nicht bijektiv),
2. p ist nicht monoton,
3. p ist gerade genau dann, wenn b = 0,
4. p ist nicht periodisch,
b
5. p hat in x = − 2a
ein globales Minimum, falls a > 0 und ein globales
Maximum, falls a < 0.
Der Graph einer quadratischen Funktion ist eine Parabel. Diese ist
• nach oben geöffnet genau dann, wenn a > 0,
• nach unten geöffnet genau dann, wenn a < 0.
Der Schnittpunkt des Graphen mit der y-Achse ist (0, c). Für die Schnittpunkte
des Graphen mit der x-Achse müssen wir die quadratische Gleichung
ax2 + bx + c = 0
(12)
3
FUNKTIONEN
26
lösen. Diese erhält man durch quadratische Ergänzung:
ax2 + bx + c = 0
| · 4a
(13)
2 2
4a x + 4abx + 4ac = 0
2 2
2
2
4a x + 4abx + b − b + 4ac = 0
2
(2ax + b) − D = 0
2
(2ax + b) = D
√
2ax + b = ± D
√
2ax = −b ± D
√
−b ± D
x=
.
2a
(14)
2
|D := b − 4ac
(15)
|+D
√
| ·
(16)
(17)
|−b
(18)
| : 2a
(19)
(20)
Die quadratische Gleichung hat also zwei Lösungen
√
−b ± b2 − 4ac
∈ C.
x1,2 =
2a
(21)
Die Diskriminante D = b2 − 4ac ∈ R erlaubt die folgende Fallunterscheidung
für die reellen Nullstellen einer quadratischen Funktion:
D > 0: zwei reelle Nullstellen,
b
D = 0: eine (doppelte) reelle Nullstelle, x1 = x2 = − 2a
,
D < 0: keine reelle Nullstelle.
Beispiel: Finde die Nullstellen der quadratischen Funktion p(x) = −2x2 +4x+6.
Die Koeffizienten sind gegeben durch a = −2, b = 4 und c = 6. Wir erhalten
die Diskriminante D = b2 − 4ac = 64 > 0, also hat die Funktion zwei reelle
Nullstellen:
√
√
−b ± b2 − 4ac
−4 ± 64
−4 ± 8
x1,2 =
=
=
= 1 ∓ 2 ∈ {−1, 3}.
2a
−4
−4
Die beiden Nullstellen x1 , x2 erlauben die Zerlegung der quadratischen Funktion
in Linearfaktoren:
p(x) = a (x − x1 ) (x − x2 ) = ax2 − a (x1 + x2 ) x + ax1 x2 .
Durch Vergleich mit der allgemeinen Form erhalten wir die Gleichungen (F. Vieta, 1540–1603)
c
b
(22)
x1 + x2 = − , x 1 x2 = .
a
a
Diese Gleichungen sind nützlich, um Polynomfunktionen mit vorgegebenen Nullstellen zu finden.
Beispiel: Finde eine quadratische Funktion mit Nullstellen x1,2 ∈ {2, 3}. Mit
(22) erhalten wir die Gleichungen
b
c
2+3=5=− , 2·3=6=
a
a
⇔
b = −5a, c = 6a.
3
FUNKTIONEN
27
Also sind die quadratischen Funktionen mit den vorgegebenen Nullstellen von
der Form
p(x) = ax2 − 5ax + 6a,
wobei a ∈ R \ {0} beliebig ist.
Die Scheitelpunktform einer quadratischen Funktion ist gegeben durch
2
p(x) = a (x − xs ) + ys ,
(23)
wobei der Punkt (xs , ys ) den Scheitelpunkt des Graphen bezeichnet. Durch
Ausmultiplizieren und Vergleich mit der allgemeinen Form einer quadratischen
Funktion finden wir
b2
b
(24)
xs = − , y s = c − .
2a
4a
Der Graph der quadratischen Funktion ist achsensymmetrisch zur Geraden x =
xs . Der Scheitelpunkt (xs , ys ) ist auch der einzige Extrempunkt des Graphen
von p.
Beispiel: Für die quadratische Funktion p(x) = −2x2 + 4x + 6 (a = −2, b = 4,
c = 6) erhalten wir die Scheitelpunktkoordinaten
xs = −
b
4
=−
= 1,
2a
2 (−2)
ys = c −
b2
42
=6−
= 8.
4a
4 (−2)
Weil a < 0 hat die Funktion p bei x = 1 ein globales Maximum.
Eine quadratische Funktion p(x) = ax2 +bx+c ist durch drei Punkte auf dem
Graphen eindeutig bestimmt: Seien (x1 , y1 ), (x2 , y2 ), (x3 , y3 ) ∈ Gp , x1 , x2 , x3
paarweise verschieden, gegeben, dann erhalten wir das folgende lineare Gleichungssystem für die unbekannten Koeffizienten a, b, c:
 

 2

y1
x1 x1 1
a
 x22 x2 1   b  =  y2  .
y3
x23 x3 1
c
Die Lösung ist gegeben durch
a =
b =
c =
x1 (y2 − y3 ) − x2 (y1 − y3 ) + x3 (y1 − y2 )
,
(x1 − x2 )(x1 − x3 )(x2 − x3 )
x21 (y2 − y3 ) − x22 (y1 − y3 ) + x23 (y1 − y2 )
,
(x1 − x2 )(x1 − x3 )(x2 − x3 )
x2 x3 y1
x1 x3 y2
x1 x2 y3
−
+
.
(x1 − x2 )(x1 − x3 ) (x1 − x2 )(x2 − x3 ) (x1 − x3 )(x2 − x3 )
−
Weil das Gleichungssystem mit zunehmendem Polynomgrad immer grösser wird,
bestimmt man die Koeffizienten im Allgemeinen numerisch. Wir werden bei der
Interpolation noch einmal darauf zurück kommen.
3
FUNKTIONEN
28
Kubische Funktionen
Satz 6 (Eigenschaften kubischer Funktionen) Sei p : R → R, x 7→ p(x) =
ax3 + bx2 + cx + d, a, b, c, d ∈ R, a 6= 0, eine kubische Funktion. Dann gelten
1. p ist surjektiv und im Falle von b2 ≤ 3ac auch injektiv,
2. p ist streng monoton, falls b2 ≤ 3ac: die Funktion ist in diesem Fall streng
monoton steigend, wenn a > 0 und streng monoton fallend, wenn a < 0,
3. p ist ungerade genau dann, wenn b = d = 0,
4. p ist nicht periodisch,
5. p hat zwei lokale Extrema bei x =
√
−b± b2 −3ac
,
3a
falls b2 > 3ac.
Der Schnittpunkt des Graphen einer kubischen Funktion mit der y-Achse ist
(0, d). Für die Schnittpunkte des Graphen mit der x-Achse müssen wir die kubische Gleichung
ax3 + bx2 + cx + d = 0
(25)
lösen. Diese Gleichung hat drei Lösungen in C. Mit der Variablentransformation
b
x = z − 3a
wird die allgemeine kubische Gleichung reduziert zu
z 3 + 3pz + 2q = 0,
3p =
c
b2
− 2,
a 3a
2q =
2b3
bc
d
− 2+ .
27a3
3a
a
(26)
Diese reduzierte Gleichung kann nun mit den Cardanischen Formeln (G. Cardano, 1545) gelöst werden. Wir zeigen hier nur die Fallunterscheidung anhand
der Diskriminante D := q 2 + p3 :
D > 0: eine (einfache) reelle Nullstelle,
D = 0: entweder eine doppelte und eine einfache relle Nullstelle oder eine dreifache
reelle Nullstelle,
D < 0: drei verschiedene reelle Nullstellen.
Bemerkung: Aus dieser Fallunterscheidung folgt, dass jede kubische Funktion
mindestens eine reelle Nullstelle hat!
Beispiel: Wir betrachten die kubische Funktion y = −2x3 + x + 4 mit Koeffizienten a = −2, b = 0, c = 1, d = 4. Wir erhalten
3p =
1
4
, 2q =
−2
−2
⇒
1
p = − , q = −1.
6
1
Damit erhalten wir für die Diskriminante q 2 + p3 = 1 − 216
= 215
216 > 0, also hat
die Funktion eine einfache reelle Nullstelle (bei x ' 1.392).
Die Formeln von Vieta für die drei Nullstellen x1 , x2 , x3 lauten
b
x1 + x2 + x3 = − ,
a
x 1 x2 + x1 x3 + x2 x3 =
c
,
a
d
x 1 x2 x3 = − .
a
(27)
3
FUNKTIONEN
29
Beispiel: Finde eine kubische Funktion mit Nullstellen x1 , x2 , x3 ∈ −1, 34 , 3 .
Mit (27) erhalten wir
4
10
b
+3=
=−
3
3
a
4
4
1
c
(−1) · + (−1) · 3 + · 3 = − =
3
3
3
a
d
4
(−1) · · 3 = −4 = −
3
a
−1 +
10
a,
3
1
⇔ c = − a,
3
⇔ b=−
⇔ d = 4a.
Die gesuchte Funktion ist also von der Form
p(x) = ax3 −
10 2 1
ax − ax + 4a,
3
3
a ∈ R \ {0} .
4900
Die Diskriminante der zugehörigen kubischen Gleichung ist D = − 2187
< 0, wie
erwartet.
Allgemeine Polynomfunktionen
Satz 7 (Abspaltung eines Linearfaktors) Besitzt eine Polynomfunktion p vom
Grad n ∈ N an der Stelle x1 ∈ R eine Nullstelle, gilt also p(x1 ) = 0, so ist p
auch in der Form
p(x) = (x − x1 )p1 (x)
darstellbar. Der Faktor (x − x1 ) heisst ein Linearfaktor, und p1 ist ein Polynom
vom Grad n − 1.
Bemerkung: Die Funktion p1 kann mittels Polynomdivision bestimmt werden.
Hat p1 eine relle Nullstelle, so kann der Satz 7 auf p1 angewendet werden.
Beispiele:
1. Die kubische Funktion p(x) = x3 − 2x2 − 5x + 6 hat eine Nullstelle bei
x1 = 1: p(1) = 1 − 2 − 5 + 6 = 0. Also können wir den Linearfaktor x − 1
abspalten:
x3
x3
− 2x2
− x2
− x2
− x2
− 5x
+
6
− 5x
+ x
− 6x
− 6x
+
6
+
+
6
6
0
: x−1
= x2 − x − 6
Also ist die quadratische Funktion p1 gegeben durch p1 (x) = x2 − x − 6.
Für p1 finden wir die zwei Nullstellen
√
1 ± 1 + 24
1±5
1 5
x2,3 =
=
= ± ∈ {−2, 3} .
2
2
2 2
3
FUNKTIONEN
30
Es gilt also p1 (x) = (x + 2)(x − 3) und damit ist die kubische Funktion p
vollständig in Linearfaktoren zerlegt:
p(x) = (x − 1)(x + 2)(x − 3).
2. Die kubische Funktion p(x) = 3x3 + 4x2 + x + 10 hat eine Nullstelle bei
x1 = −2: p(−2) = 3 · (−8) + 4 · 4 + (−2) + 10 = 0. Also können wir
den Linearfaktor x + 2 abspalten.
Wir klammern zunächst eine 3 aus:
p(x) = 3 x3 + 34 x2 + 13 x + 10
und
dividieren
dann:
3
x3
x3
+
+
−
−
4 2
3x
2
2x
2 2
3x
2 2
3x
+
1
3x
+
10
3
+
−
1
3x
4
3x
5
3x
5
3x
+
10
3
+
+
10
3
10
3
: x+2
= x2 − 23 x +
5
3
0
Also ist die Funktion p1 gegeben durch p1 (x) = x2 − 23 x + 35 . Mit Hilfe der
Diskriminante
4
5
56
D = −4· =−
<0
9
3
3
erkennen wir, dass p1 keine reellen Nullstellen hat – die quadratische Funktion ist irreduzibel über R. Die Funktion p kann also in einen linearen und
einen irreduziblen quadratischen Faktor zerlegt werden:
2
5
2
p(x) = 3(x + 2) x − x +
3
3
3. Die kubische Funktion p(x) = 2x3 +2x2 −10x+6 hat eine Nullstelle bei x =
−3: p(−3) = −54+18+30+6 = 0. Also können wir den Linearfaktor x+3
abspalten. Wir klammern zunächst eine 2 aus: p(x) = 2 x3 + x2 − 5x + 3
und dividieren dann:
x3
x3
+
+
−
−
x2
3x2
2x2
2x2
− 5x +
3
:
x+3
=
x2 − 2x + 1
− 5x + 3
− 6x
x + 3
x + 3
0
Also ist die Funktion p1 gegeben durch p1 (x) = x2 − 2x + 1. Mit Hilfe der
Diskriminante
D =4−4=0
erkennen wir, dass p1 eine doppelte reelle Nullstelle hat:
x2,3 =
2
= 1.
2
3
FUNKTIONEN
31
Damit gilt p1 (x) = (x − 1)2 , und die kubische Funktion ist vollständig in
Linearfaktoren zerlegt:
2
p(x) = 2 (x + 3) (x − 1) .
Im Allgemeinen gilt der
Satz 8 (C. F. Gauss, 1799) Jede Polynomfunktion vom Grad n ∈ N0 mit reellen
Koeffizienten lässt sich in Linearfaktoren und über R irreduzible quadratische
Faktoren zerlegen, d. h.
j
p(x) = an (x − x1 ) 1 · · · (x − x` )
j`
mit x1 , . . . , x` , b1 , . . . , bm , c1 , . . . , cm
j1 , . . . , j` , k1 , . . . , km ∈ N.
x 2 + b1 x + c 1
k 1
· · · x2 + bm x + cm
km
,
(28)
∈ R, b2i − 4ci < 0, i = 1, . . . , m, und mit
Bemerkungen:
• Dies ist eine Form des Fundamentalsatzes der Algebra. In der Vorlesung
MLAE werden Sie noch eine andere Formulierung dieses Satzes kennen
lernen.
• Die Zahlen x1 , . . . , x` ∈ R sind genau die (verschiedenen) reellen Nullstellen der Polynomfunktion p. Die Exponenten j1 , . . . , j` sind die Vielfachheiten dieser Nullstellen (in Beispiel 3 oben haben wir gesehen, dass
Nullstellen mehrfach auftreten können).
• Die quadratischen Faktoren von der Form x2 + bi x + ci sind genau dann
irreduzibel über R (keine reelle Nullstelle), wenn b2i − 4ci < 0. Diese Faktoren haben je zwei Nullstellen in C \ R.
Beispiele (Forts.):
1. Die kubische Funktion p(x) = x3 − 2x2 − 5x + 6 hat die Zerlegung (28)
mit
` = 3, m = 0, n = 3,
a3 = 1,
x1 = 1, x2 = −2, x3 = 3,
j1 = j2 = j3 = 1.
2. Die kubische Funktion p(x) = 3x3 + 4x2 + x + 10 hat die Zerlegung (28)
mit
` = 1, m = 1, n = 3,
a3 = 3,
x1 = −2,
2
5
b1 = − , c1 = ,
3
3
j1 = k1 = 1.
3. Die kubische Funktion p(x) = 2x3 + 2x2 − 10x + 6 hat die Zerlegung (28)
mit
` = 2, m = 0, n = 3,
a3 = 2,
x1 = −3, x2 = 1,
j1 = 1, j2 = 2.
3
FUNKTIONEN
32
Für ein Polynom vom Grad n ∈ N0 mit Zerlegung (28) muss gelten:
n = j1 + · · · + j` + 2 (k1 + · · · + km ) .
Daraus folgen
Korollar 1 (Reelle Nullstellen von Polynomfunktionen mit reellen Koeffizienten)
1. Jede Polynomfunktion vom Grad n ∈ N mit reellen Koeffizienten hat
höchstens n reelle Nullstellen.
2. Jede Polynomfunktion von ungeradem Grad mit reellen Koeffizienten hat
mindestens eine reelle Nullstelle.
Bemerkungen:
• Zur Berechnung der Nullstellen von Polynomfunktionen gibt es allgemeine
Lösungsformeln mit Wurzelausdrücken bis zum Grad 4:
n = 1: x = −q/m
n = 2: x1,2 =
√
−b± b2 −4ac
2a
n = 3: Cardanische Formeln (G. Cardano, 1545)
n = 4: L. Ferrari, 1522–1565 (veröffentlicht ebenfalls von Cardano, 1545)
n ≥ 5: Es gibt keine allgemeine Lösungsformel mit Wurzelausdrücken (Satz
von Abel-Ruffini; nach N. H. Abel, 1823 und P. Ruffini, 1799)
• Für Nullstellen spezieller Polynomfunktionen
können natürlich Wurzel√
ausdrücke existieren! So ist z. B. 5 2 eine Nullstelle des Polynoms x5 − 2.
3.3.2
Interpolationspolynome
Wenn zu gegebenen, diskreten Daten (z. B. Messwerten) eine Funktion gesucht
ist, die diese Daten abbildet, dann sprechen wir von einem Interpolationsproblem. Die gesuchte Funktion interpoliert die gegebenen Daten. Wenn wir anstatt
beliebigen Funktionen nur Polynomfunktionen zulassen, so erhalten wir die Interpolationspolynome.
Vektorraum der Polynomfunktionen vom Grad ≤ n Sei n ∈ N0 , dann
definieren wir die Menge
Pn := {p : R → R | p Polynomfunktion, deg p ≤ n} ,
wobei deg p den Grad einer Polynomfunktion p bezeichnet (vgl. Bemerkung nach
Def. 23). Pn ist also die Menge aller Polynomfunktionen vom Grad ≤ n.
Im Kap. 3.3.1 hatten wir bemerkt, dass eine Polynomfunktion vom Grad
n eindeutig durch ihren Koeffizientenvektor in Rn+1 bestimmt ist. Indem wir
ggf. diesen Koeffizientenvektor mit Nullen ergänzen, können wir jede Funktion
3
FUNKTIONEN
33
p ∈ Pn mit einem Vektor in Rn+1 darstellen: seien p, q ∈ Pn mit deg p = n und
deg q = m < n, so schreiben wir die Funktionen p, q in der Form
p(x)
= a0 + a1 x + a2 x2 + · · · + an xn ,
q(x)
= b0 + b1 x + b2 x2 + · · · + bm xm + 0 · xm+1 + · · · + 0 · xn ,
mit (ergänzten) Koeffizientenvektoren








a0
a1
a2
..
.
an
 


 
 
 
,
 
 




b0
b1
b2
..
.
bm
0
..
.







 ∈ Rn+1 .






0
Beispiel: Für die Polynomfunktionen p(x) = 2x2 + 4x + 1, q(x) = x − 3 gilt
deg p = 2, deg q = 1, und daher p, q ∈ P2 . Die (ergänzten) Koeffizientenvektoren
sind gegeben durch


 
−3
1
a =  4  ∈ R3 , b =  1  ∈ R3 .
0
2
Mit Hilfe der Darstellung von Polynomfunktionen über (ergänzte) Koeffizientenvektoren kann die Addition von Polynomfunktionen über eine Vektoraddition beschrieben werden: seien p, q ∈ Pn mit (ergänzten) Koeffizientenvektoren
a, b ∈ Rn+1 , dann ist die Summe wieder eine Polynomfunktion vom Grad ≤ n,
p + q ∈ Pn , mit
(p + q) (x) := p(x) + q(x)
=
a0 + a1 x + a2 x2 + · · · + an xn +
+b0 + b1 x + b2 x2 + · · · + bn xn
=
a0 + b0 + (a1 + b1 ) x + (a2 + b2 ) x2 + (an + bn ) xn ,
und der (ergänzte) Koeffizientenvektor c ∈ Rn+1 von p + q ist gegeben durch
die Summe der (ergänzten) Koeffizientenvektoren von p und q:


a0 + b0
 a1 + b1 




c = a + b =  a2 + b2  ∈ Rn+1 .


..


.
an + bn
Auch die Multiplikation einer Polynomfunktion p ∈ Pn mit einer reellen Zahl
λ ∈ R kann mit Hilfe des (ergänzten) Koeffizientenvektors a ∈ Rn+1 von p
3
FUNKTIONEN
34
dargestellt werden: es gilt
(λp) (x) := λp(x)
= λ a0 + a1 x + a2 x2 + · · · + an xn
= λa0 + λa1 x + λa2 x2 + · · · + λan xn ,
und damit λp ∈ Pn mit (ergänztem) Koeffizientenvektor


λa0
 λa1 




λa =  λa2  ∈ Rn+1 .
 .. 
 . 
λan
Zusammen mit den oben dargestellten Operationen Addition und Skalarmultiplikation wird Pn zu einem (n + 1)-dimensionalen Vektorraum über R. Das
neutrale Element ist die Nullfunktion 0 ∈ Pn mit (ergänztem) Koeffizientenvektor 0 ∈ Rn+1 . Die Standardbasis von Pn ist gegeben durch
1, x, x2 , . . . , xn ⊆ Pn ,
entsprechend der Standardbasis des
zientenvektoren:
  
 
0
1



 0   1  


 
  


 
  


 0   0  
 0   0  
,
 ,
 ..   ..  



 




 .   .  






0  
0



0
0
Vektorraums Rn+1 der (ergänzten) Koeffi0
0
1
0
..
.












,...,








0
0












 ⊆ Rn+1 .







0 



1
0
0
0
0
..
.
Interpolationsproblem Für n ∈ N0 seien n + 1 Stützpunkte
(x0 , y0 ) , (x1 , y1 ) , (x2 , y2 ) , . . . , (xn , yn ) ∈ R2 ,
mit Stützstellen x0 < x1 < x2 < · · · < xn und Stützwerten y0 , y1 , y2 , . . . , yn ∈
R gegeben. Die Stützpunkte können z. B. durch Messungen einer unbekannten Funktion gewonnen werden. Gesucht ist eine Polynomfunktion p ∈ Pn
(i. d. R. von möglichst niedrigem Grad), die mit der unbekannten Funktion
in den n + 1 Stützstellen übereinstimmt:
p(xi ) = yi ,
i = 0, . . . , n.
(29)
Jede Lösung p ∈ Pn dieses Interpolationsproblems ist dann eine Näherungsfunktion für die unbekannte Funktion.
3
FUNKTIONEN
35
Lineares Gleichungssystem Seien n + 1 Basisfunktionen fj ∈ Pn , j =
0, . . . , n, gegeben, dann hat die gesuchte Polynomfunktion p ∈ Pn in dieser
Basis die Darstellung
p(x) = c0 f0 (x) + c1 f1 (x) + · · · + cn fn (x),
(30)
mit unbekanntem Koeffizientenvektor c ∈ Rn+1 . Durch Einsetzen von (30) in
(29) erhalten wir ein lineares Gleichungssystem für c:


 

y0
f0 (x0 ) f1 (x0 ) · · · fn (x0 )
c0
 f0 (x1 ) f1 (x1 ) · · · fn (x1 )   c1   y1 


 

(31)

  ..  =  ..  .
..
..
..
..

 .   . 
.
.
.
.
f0 (xn ) f1 (xn ) · · ·
yn
cn
fn (xn )
Die j-te Spalte der (n + 1) × (n + 1)-Matrix in (31) ist also gegeben durch die
Werte der Basisfunktion fj an den Stützstellen x0 , . . . , xn , j = 0, . . . , n. Die
Wahl der Basisfunktionen bestimmt die Form der Matrix:
• In der Standardbasis der Monome,
fj (x) := xj ,
j = 0, . . . , n,
gilt fj (xi ) = xji , i, j = 0, . . . , n, und daher ist die Matrix in (31) von der
Form


1 x0 · · · xn0
 1 x1 · · · xn1 


 ..
..
..  ,
..
 .
.
. 
.
1
xn
xnn
···
eine sog. Vandermonde-Matrix (A.-T. Vandermonde, 1735–1796).
• Die Lagrange-Basis (J.-L. Lagrange, 1736–1813)
fj (x) :=
n
Y
x − xk
,
xj − xk
k=0
j = 0, . . . , n,
k6=j
erfüllt
n
Y
xi − xk
1,
=
fj (xi ) =
0,
x
−
x
j
k
k=0
i = j,
,
i 6= j
k6=j
und daher ist die Matrix in (31) von der Form


1
0


1



,
..


.
0
1
also die Einheitsmatrix in R(n+1)×(n+1) .
i, j = 0, . . . , n,
3
FUNKTIONEN
36
• Die Newton-Basis (I. Newton, 1642–1727)
f0 (x) = 1,
fj (x) =
j−1
Y
(x − xk ) , j = 1, . . . , n,
k=0
erfüllt
f0 (xi ) = 1,
fj (xi ) =
j−1
Y
(xi − xk ) =
k=0
Qj−1
k=0
(xi − xk ) ,
0,
und daher ist die Matrix in (31) von der Form

1
0
 1 x1 − x0

 ..
..
..
 .
.
.
Qn−1
1 xn − x0 · · ·
k=0 (xn − xk )
j≤i
,
j>i



,

eine sog. untere Dreiecksmatrix.
Beispiel: In Serie 7, Aufgabe 1, hatten wir die Stützpunkte (−2, 13),
(3, 18) gegeben, d. h. n = 2 und
x0 = −2, x1 =
5
, x2 = 3,
4
y0 = 13, y1 =
5 39
4, 8
und
39
, y2 = 18.
8
• Die Standardbasisfunktionen sind gegeben durch
f0 (x) = 1,
f1 (x) = x,
f2 (x) = x2 .
Das lineare Gleichungssystem ist dann von der Form


 

1 −2 4
13
c0
25  
 1 5
.
c1  =  39
4
16
8
c2
1 3
9
18
Mit dem Gauss-Algorithmus finden wir die Lösung (c0 , c1 , c2 ) = (3, −1, 2)
und damit das Interpolationspolynom
p(x) = 3 − x + 2x2 .
3
FUNKTIONEN
37
• Für die Lagrange-Basisfunktionen berechnen wir
f0 (x)
=
=
f1 (x)
=
=
f2 (x)
=
=
x − 45 x − 3
x − 54 x − 3
x − x1 x − x2
4
5
=
=
=
x−
(x − 3)
x0 − x1 x0 − x2
−5
65
4
−2 − 54 −2 − 3
− 13
4
4
15
4 2 17
3
17
x2 − x +
=
x − x+ ,
65
4
4
65
65
13
x+2x−3
16
x − x0 x − x2
x+2 x−3
= 13
= 5
7 = − 91 (x + 2) (x − 3)
5
x1 − x0 x1 − x2
+
2
−
3
−
4
4
4
4
16 2 16
96
16 2
x −x−6 =− x + x+ ,
−
91
91
91
91
x − x0 x − x1
x + 2 x − 54
4
x + 2 x − 45
5
=
=
=
(x
+
2)
x
−
7
x2 − x0 x2 − x1
3 + 2 3 − 54
5
35
4
4
3
5
4 2
3
2
4
x2 + x −
=
x + x− .
35
4
2
35
35
7
Das lineare Gleichungssystem ist in diesem Fall gegeben durch

 


13
c0
1 0 0
 0 1 0   c1  =  39  ,
8
0 0 1
c2
18
mit Lösung (c0 , c1 , c2 ) = 13, 39
8 , 18 . Das Interpolationspolynom ist daher
gegeben durch
p(x)
39
f1 (x) + 18f2 (x)
8
4 2 17
6
6
36 72 2 54
36
=
x − x + 3 − x2 + x +
+ x + x−
5
5
7
7
7
35
35
7
2
= 2x − x + 3.
=
13f0 (x) +
• Für die Newton-Basisfunktionen berechnen wir
f0 (x)
=
1,
f1 (x)
=
x + 2,
=
3
5
5
= x2 + x − .
(x + 2) x −
4
4
2
f2 (x)
Das lineare Gleichungssystem ist in diesem Fall gegeben durch


 

1 0
0
13
c0
 1 13 0   c1  =  39  .
4
8
c2
18
1 5 35
4
Mit dem Gauss-Algorithmus finden wir die Lösung (c0 , c1 , c2 ) = 13, − 25 , 2 .
Das Interpolationsproblem ist daher gegeben durch
5
3
5
p(x) = 13 − (x + 2) + 2 x2 + x −
= 2x2 − x + 3.
2
4
2
3
FUNKTIONEN
38
Effiziente Lösung des Interpolationsproblems Die Verwendung der Standardoder der Lagrange-Basis zur Lösung des Interpolationsproblems hat einige Nachteile:
• Der Gauss-Algorithmus für die Vandermonde-Matrix ist relativ aufwändig
(O(n3 ) Operationen). Ausserdem ist für grosse Werte von n die Matrix
schlecht konditioniert, so dass kleine Rundungsfehler während der Rechnung einen grossen Einfluss auf die Lösung haben.
• Die Lagrange-Basisfunktion sind relativ aufwändig zu berechnen, und insbesondere die Hinzunahme eines zusätzlichen Stützpunktes ist teuer, weil
dann alle Basisfunktionen neu berechnet werden müssen.
Die Newton-Basis hat diese Nachteile nicht: das lineare Gleichungssystem kann
effizient mit sog. dividierten Differenzen (A. C. Aitken, 1895–1967, und E. H. Neville, 1889–1961) gelöst werden (O(n2 ) Operationen) und die Hinzunahme eines
Stützpunktes erfordert lediglich die Berechnung eines neuen Koeffizienten:
xi
1
2
3
4
yi
−10
4
14
0
−4
−3 −3
−9
1
2
19
16
Ausserdem kann das Newton-Interpolationspolynom mit dem Horner-Schema
(W. G. Horner, 1786–1837) effizient ausgewertet werden (O(n) Operationen):
p(x)
=
=
19
−10 + 14(x − 1) − 9(x − 1)(x − 2) + (x − 1)(x − 2)(x − 3)
16
19
−10 + (x − 1) 14 + (x − 2) −9 + (x − 3)
.
16
Stückweise Interpolation Für grosses n, also bei vielen Stützpunkten, beginnt das Interpolationspolynom in der Regel stark zu oszillieren, wie im folgenden Beispiel mit 10 zufällig generierten Stützpunkten (xi , yi ) ∈ (0, 1)2 :
4
3
2
1
0
−1
−2
−3
−4
−5
−6
−7
0.1
0.2
0.3
0.4
0.5
0.6
0.7
0.8
3
FUNKTIONEN
39
Die Werte des Interpolationspolynoms gehen z. T. weit über das Intervall (0, 1)
hinaus.
Daher wählt man im Fall von vielen Stützpunkten lieber eine stückweise
Interpolation: die interpolierende Funktion ist dann stückweise definiert und
auf jedem Stück eine Polynomfunktion. Zur Bestimmung der einzelnen Stücke
wird jeweils eine Teilmenge der Stützpunkte verwendet. Wichtige Beispiele sind
• die stückweise lineare Interpolation,
• der kubische Spline,
• der kubisch Hermitesche Spline (nach C. Hermite, 1822–1901).
2
1.5
1
0.5
0
−0.5
stueckweise linear
kubischer Spline
kubisch Hermitescher Spline
−1
0.1
0.2
0.3
0.4
0.5
0.6
0.7
In der Vorlesung MNEU (3. Semester) werden Sie noch mehr über die Interpolation hören.
3.3.3
Gebrochenrationale Funktionen
Definition 24 (rationale Funktion, Definitionslücke) Eine rationale Funktion
ist eine Funktion f von der Form
f (x) =
Z(x)
,
N (x)
(32)
wobei Z und N Polynomfunktionen sind (und N nicht die Nullfunktion). Bezeichnen wir die Grade der Zähler- und Nennerpolynome Z, N mit deg Z, deg N ∈
3
FUNKTIONEN
40
N0 , so heisst f
ganzrational
:⇔ deg N = 0,
echt gebrochenrational :⇔ 0 ≤ deg Z < deg N,
unecht gebrochenrational :⇔ 0 < deg N ≤ deg Z.
Eine rationale Funktion ist nicht definiert an den Nullstellen des Nennerpolynoms N ; dies sind die Definitionslücken der rationalen Funktion f .
Bemerkungen:
• Im ganzrationalen Fall ist das Nennerpolynom N eine konstante Funktion
ungleich Null und daher f eine Polynomfunktion (s. Kap. 3.3.1).
• Jede unecht gebrochenrationale Funktion kann durch Polynomdivision
(mit Rest) in einen ganzrationalen und in einen echt gebrochenrationalen Anteil zerlegt werden.
Beispiele:
1. Seien Z(x) = 2x2 + 6x − 4 und N (x) = 2 mit deg Z = 2, deg N = 0. Dann
ist f ganzrational, und es gilt
f (x) =
Z(x)
2x2 + 6x − 4
=
= x2 + 3x − 2,
N (x)
2
d. h. f ist eine Polynomfunktion vom Grad 2 (quadratische Funktion).
2. Seien Z(x) = 1 und N (x) = x2 mit deg Z = 0, deg N = 2. Dann ist f echt
gebrochenrational, und es gilt
f (x) =
1
.
x2
3. Sei Z(x) = x3 − 6x2 + 8x und N (x) = x + 1 mit deg Z = 3, deg N = 1.
Dann ist f unecht gebrochenrational. Durch Polynomdivision finden wir
x3
x3
− 6x2
+ x2
− 7x2
− 7x2
+
8x
+
−
8x
7x
15x
15x +
−
: x+1
=
x2 − 7x + 15 −
15
x+1
15
15
Der ganzrationale Anteil der Funktion
f (x) =
x3 − 6x2 + 8x
15
= x2 − 7x + 15 −
x+1
x+1
ist also die quadratische Funktion x2 − 7x + 15, und der echt gebrochenrationale Anteil ist −15/(x + 1).
3
FUNKTIONEN
41
Sei x0 ∈ R eine Nullstelle des Nennerpolynoms N , N (x0 ) = 0, also eine Definitionslücke der rationalen Funktion f . Nach Satz 7 können wir den Linearfaktor
x − x0 von N abspalten – möglicherweise auch mehrfach – so dass gilt:
N (x) = (x − x0 )
jN
N1 (x),
N1 (x0 ) 6= 0,
mit jN ∈ N (Vielfachheit der Nullstelle x0 von N ). Wenn wir denselben Linearfaktor auch im Zählerpolynom abspalten, so erhalten wir
jZ
Z(x) = (x − x0 )
Z1 (x),
Z1 (x0 ) 6= 0,
mit jZ ∈ N0 . Besitzt Z in x0 keine Nullstelle, so gilt jZ = 0.
Definition 25 (Arten von Definitionslücken) Sei f eine rationale Funktion und
x0 eine Definitionslücke von f . Der Linearfaktor x − x0 sei sowohl aus dem
Nenner- als auch aus dem Zählerpolynom komplett abgespalten, so dass gilt:
f (x) =
(x − x0 )jZ Z1 (x)
,
(x − x0 )jN N1 (x)
Z1 (x0 ) 6= 0, N1 (x0 ) 6= 0,
(33)
mit jN , jZ ∈ N0 und jN > 0. Dann heisst die Definitionslücke x0
• stetig hebbar, falls jZ ≥ jN ,
• eine Polstelle von f , falls jZ < jN .
Bemerkungen:
• Im Falle einer stetig hebbaren Definitionslücke x0 von f können wir den
Faktor x − x0 jN -mal kürzen, es gilt also
f (x) =
(x − x0 )jZ −jN Z1 (x)
,
N1 (x)
jZ − jN ≥ 0.
Weil N1 (x0 ) 6= 0 ist die Definitionslücke damit behoben und f kann stetig
fortgesetzt werden auf x0 mit dem Funktionswert
(
Z1 (x0 )
N1 (x0 ) , jZ = jN .
f (x0 ) =
0,
jZ > jN
Im Falle von jZ > jN hat also die (erweiterte) Funktion f in x0 eine
Nullstelle.
• Im Falle einer Polstelle x0 von f können wir den Faktor x − x0 jZ -mal
kürzen, es gilt also
f (x) =
Z1 (x)
,
(x − x0 )jN −jZ N1 (x)
jN − jZ > 0,
mit Z1 (x0 ) 6= 0, N1 (x0 ) 6= 0. Die Zahl jN − jZ ∈ N heisst die Ordnung
der Polstelle x0 . f wechselt bei einer Polstelle das Vorzeichen genau dann,
wenn die Ordnung der Polstelle ungerade ist.
3
FUNKTIONEN
42
• Sind die Zerlegungen der Zähler- und Nennerpolynome nach Satz 8 bekannt, so können durch Kürzen der gemeinsamen Linearfaktoren sämtliche stetig hebbaren Definitionlücken behoben werden. Alle verbleibenden
Definitionslücken sind dann Polstellen der rationalen Funktion, wobei der
Exponent jedes Linearfaktors die Ordnung der jeweiligen Polstelle angibt.
Beispiele:
1. Sei
x3 − 3x − 2
x2 − 1
(unecht gebrochenrational) mit Z(x) = (x − 2)(x + 1)2 und N (x) = (x −
1)(x + 1). f hat Definitionslücken bei x = ±1: N (±1) = 0.
f (x) :=
• Für die Definitionslücke x0 = 1 erhalten wir nach Abspaltung des
Linearfaktors x − 1 im Zähler- und im Nennerpolynom:
f (x) =
Z(x)
,
(x − 1)(x + 1)
also jZ = 0, Z1 (x) = x3 − 3x − 2 und jN = 1, N1 (x) = x + 1. Es
gilt jZ < jN , also ist 1 eine Polstelle von f , und zwar mit Ordnung
jN − jZ = 1.
• Für die Definitionslücke x0 = −1 erhalten wir nach Abspaltung des
Linearfaktors x + 1 im Zähler- und im Nennerpolynom:
f (x) =
(x + 1)2 (x − 2)
,
(x + 1)(x − 1)
also jZ = 2, Z1 (x) = x − 2 und jN = 1, N1 (x) = x − 1. Es gilt
jZ > jN , also ist −1 eine stetig hebbare Definitionslücke von f , und
die erweiterte Funktion f hat bei −1 eine Nullstelle:
f (x) =
(x + 1)(x − 2)
,
x−1
3
f (−1) = 0.
2
y = (x −3x−2)/(x −1)
25
20
15
10
y
5
0
−5
−10
−15
−20
−25
−1
−0.5
0
0.5
x
1
1.5
3
FUNKTIONEN
43
2. Sei
f (x)
=
=
x5 − 6x4 + 11x3 − 2x2 − 12x + 8
x7 − 2x6 − 12x5 + 42x4 − 33x3 − 24x2 + 44x − 16
(x − 1)(x + 1)(x − 2)3
(x + 4)(x + 1)(x − 2)2 (x − 1)3
(echt gebrochenrational). Durch Kürzen der gemeinsamen Linearfaktoren
beheben wir sämtliche hebbaren Definitionslücken (bei −1 und 2). Die
erweiterte Funktion f ist dann gegeben durch
x−2
x−2
= 3
.
f (x) =
(x + 4)(x − 1)2
x + 2x2 − 7x + 4
f hat eine Polstelle erster Ordnung bei x = −4 und eine Polstelle zweiter
Ordnung bei x = 1. Bei den stetig hebbaren Definitionslücken erhalten
wir
−1 − 2
1
2−2
f (−1) =
= − , f (2) =
= 0.
2
(−1 + 4)(−1 − 1)
4
(2 + 4)(2 − 1)2
y = (x5−6x4+11x3−2x2−12x+8)/(x7−2x6−12x5+42x4−33x3−24x2+44x−16)
2
1.5
1
y
0.5
0
−0.5
−1
−1.5
−2
−5
3.4
3.4.1
−4
−3
−2
−1
x
0
1
2
3
Zahlenfolgen und Konvergenz
Reelle Zahlenfolgen
Definition 26 (reelle Zahlenfolge) Eine reelle Zahlenfolge (kurz: Folge) ist eine
Funktion a : N → R, n 7→ an .
3
FUNKTIONEN
44
Bemerkungen:
• Die Zahlen a1 , a2 , a3 , · · · ∈ R heissen Glieder der Folge. Die Zahl an ∈ R,
n ∈ N, ist das n-te Folgenglied.
• Für die reelle Zahlenfolge mit den Gliedern a1 , a2 , a3 , · · · ∈ R schreiben wir
symbolisch han i = a1 , a2 , a3 , . . . Wir schreiben die Glieder nicht einfach in
eine Menge, {a1 , a2 , a3 , . . . }, weil bei einer reellen Zahlenfolge die Reihenfolge der Glieder wesentlich ist, während bei einer Menge die Reihenfolge
der Elemente keine Rolle spielt.
• Sind die Glieder an explizit gegeben als Funktion von n, so nennt man
dies das Bildungsgesetz der Folge.
Beispiele:
1
1. an = − 2n
, han i = − 12 , − 41 , − 16 , . . .
2. an = n3 , han i = 13 , 23 , 33 , . . .
3. an =
n−1
n ,
han i = 0, 12 , 23 , 34 , . . .
Der Abstand zweier reeller Zahlen x, y ∈ R ist definiert als
x − y, x ≥ y
|x − y| =
∈ R.
y − x, x < y
Dies definiert eine sog. Metrik auf R. Es gelten, für alle x, y, z ∈ R:
• Definitheit: |x − y| ≥ 0 und |x − y| = 0 ⇔ x = y
• Symmetrie: |x − y| = |y − x|
• Dreiecksungleichung: |x − y| ≤ |x − z| + |z − y|
Definition 27 (Grenzwert einer Zahlenfolge) Die Zahl g ∈ R heisst Grenzwert
oder Limes der Zahlenfolge han i, wenn
∀ε > 0
∃N ∈ N :
|an − g| < ε
∀ n ≥ N.
Bemerkungen:
• Dies bedeutet, dass der Abstand zwischen den Folgengliedern an und dem
Grenzwert g für genügend grosse n beliebig klein wird.
• Beachten Sie, dass die Zahl N ∈ N im Allgemeinen von ε abhängt.
• Eine Folge kann höchstens einen Grenzwert besitzen.
Beweis: Nehme an, die Folge han i hätte zwei Grenzwerte g1 , g2 ∈ R. Dann
gilt nach der Dreiecksungleichung:
|g1 −g2 | = |g1 −an +an −g2 | ≤ |g1 −an |+|an −g2 | = |an −g1 |+|an −g2 |,
∀ n ∈ N.
Beide Terme auf der rechten Seite werden beliebig klein für genügend
grosse n, also gilt |g1 − g2 | = 0 und daher g1 = g2 .
3
FUNKTIONEN
45
Definition 28 (Konvergenz, Divergenz) Eine Folge han i heisst konvergent, wenn
sie einen Grenzwert g ∈ R besitzt. Andernfalls heisst die Folge divergent.
Bemerkung: Falls han i konvergent ist mit Grenzwert g, so schreiben wir symbolisch: limn→∞ an = g.
Beispiele:
1. Die Folge h n1 i = 1, 12 , 13 , 14 , . . . ist konvergent mit Grenzwert
limn→∞ n1 = 0.
Beweis: Sei ε > 0 gegeben. Wähle N ∈ N mit N > 1/ε > 0, dann gilt
1
− 0 = 1 ≤ 1 < 1 ∀ n ≥ N,
n
n
N
ε
und nach Def. 27 ist 0 ∈ R der Grenzwert der Folge h n1 i.
2. Die Folge h1 − n1 i = 0, 12 , 23 , 34 , . . . ist konvergent mit Grenzwert
limn→∞ h1 − n1 i = 1.
Beweis: Sei ε > 0 gegeben. Wähle N ∈ N mit N > 1/ε > 0, dann gilt
1 − 1 − 1 = − 1 = 1 ≤ 1 < 1 ∀ n ≥ N,
n
n n
N
ε
also ist nach Def. 27 1 ∈ R der Grenzwert der Folge h1 − n1 i.
Bemerkung: In diesen Beispielen war der Grenzwert jeweils angegeben und konnte mit Hilfe von Def. 27 nachgeprüft werden. Wir wollen aber die Konvergenz
einer Folge auch beweisen können, ohne dass ihr Grenzwert bekannt sein muss.
Definition 29 (Beschränktheit von Folgen) Sei han i eine reelle Zahlenfolge.
• a ∈ R heisst untere Schranke von han i, wenn a ≤ an ∀ n ∈ N.
• b ∈ R heisst obere Schranke von han i, wenn an ≤ b ∀ n ∈ N.
Wenn eine dieser Schranken existiert, so heisst han i nach unten bzw. nach oben
beschränkt. Existieren beide Schranken, so heisst han i beschränkt, ansonsten
heisst han i unbeschränkt.
Bemerkung: Vgl. mit Def. 10 (Beschränktheit von Mengen).
Satz 9 Jede konvergente reelle Zahlenfolge ist beschränkt.
Bemerkung: Beschränktheit der Folge ist also eine notwendige Bedingung für
Konvergenz. Sie ist jedoch nicht hinreichend! Beschränkte Folgen können auch
divergent sein.
Beispiele:
1. Die Folge hn3 i = 13 , 23 , 33 , 43 , . . . ist unbeschränkt, also divergent.
3
FUNKTIONEN
46
2. Die Folge h(−1)n ni = −1, 2, −3, 4, . . . ist unbeschränkt, also divergent.
3. Die Folge h(−1)n i = −1, 1, −1, 1, . . . ist beschränkt und divergent.
Beweis: Nehme an, die Folge h(−1)n i sei konvergent mit Grenzwert g ∈ R.
Wähle ε := 1, dann existiert ein N ∈ N, so dass
2 = |(−1)n+1 −(−1)n | ≤ |(−1)n+1 −g|+|(−1)n −g| < 1+1 = 2 ∀ n ≥ N.
Die Ungleichung 2 < 2 ist aber ein Widerspruch, also ist die Folge h(−1)n i
divergent.
Wir suchen jetzt nach sog. Konvergenzkriterien, also hinreichenden Bedingungen
für die Konvergenz einer Folge. Damit können wir die Existenz eines Grenzwerts
nachweisen, ohne dass dieser genau bekannt sein muss.
Definition 30 (Monotonie von Zahlenfolgen) Eine reelle Zahlenfolge han i heisst
monoton wachsend genau dann, wenn
monoton fallend
genau dann, wenn
an ≤ an+1
∀ n ∈ N,
an ≥ an+1
∀ n ∈ N.
Bemerkung: Nach Def. 26 ist eine reelle Zahlenfolge eine Funktion. Daher ist
Def. 30 nur ein Spezialfall von Def. 18 (Monotonie von Funktionen).
Satz 10 (Monotoniekriterium)
• Eine monoton wachsende reelle Zahlenfolge han i ist genau dann konvergent, wenn sie nach oben beschränkt ist. Ist b ∈ R eine obere Schranke von
han i, so gilt limn→∞ an ≤ b.
• Eine monoton fallende reelle Zahlenfolge han i ist genau dann konvergent,
wenn sie nach unten beschränkt ist. Ist a ∈ R eine untere Schranke von
han i, so gilt limn→∞ an ≥ a.
Beispiele:
1
i ist monoton
1. Die Folge h− 2n
wachsend und nach oben beschränkt, also
1
konvergent (limn→∞ − 2n
= 0).
2. Die Folge hn3 i ist monoton wachsend aber nicht nach oben beschränkt,
also divergent.
3. Die Folge h1 − n1 i ist monoton
wachsend und nach oben beschränkt, also
konvergent (limn→∞ 1 − n1 = 1).
4. Die Folge h n1 i ist monoton fallend und nach unten beschränkt, also konvergent (limn→∞ n1 = 0).
5. Die Folgen h(−1)n i und h(−1)n ni sind nicht monoton, und daher ist das
Monotoniekriterium nicht anwendbar.
3
FUNKTIONEN
47
Definition 31 (Cauchy-Folge; nach A. L. Cauchy, 1789–1857) Eine reelle Zahlenfolge han i heisst Cauchy-Folge, wenn
∀ε > 0
∃N ∈ N :
|am − an | < ε
∀ m, n ≥ N.
Bemerkung: In einer Cauchy-Folge wird der Abstand zweier Folgenglieder am
und an für genügend grosse m, n beliebig klein.
Satz 11 (Cauchy-Kriterium) Eine reelle Zahlenfolge ist genau dann konvergent, wenn sie eine Cauchy-Folge ist.
Beispiele: Mit dem Cauchy-Kriterium können wir auch nicht-monotone Folgen
behandeln.
1. Die Folge h(−1)n i ist keine Cauchy-Folge, denn es gilt
|(−1)n+1 − (−1)n | = 2 ∀ n ∈ N.
Daher ist die Folge divergent.
2. Die Folge h(−1)n ni ist keine Cauchy-Folge, denn es gilt
|(−1)n+1 (n + 1) − (−1)n n| = |2n + 1| ≥ 3 ∀ n ∈ N.
Daher ist die Folge divergent.
E
D
n
= −1, 12 , − 13 , 14 , . . . ist eine Cauchy-Folge. Sei ε > 0
3. Die Folge (−1)
n
gegeben. Wähle N ∈ N mit N > 2ε . Dann gilt
(−1)m
(−1)n (−1)m (−1)n 1 1
2
m − n ≤ m + n = m + n ≤ N < ε ∀ m, n ≥ N.
E
D
n
n
= 0).
konvergent (limn→∞ (−1)
Also ist die Folge (−1)
n
n
Satz 12 (Rechenregeln für Grenzwerte von Zahlenfolgen) Sei han i eine konvergente reelle Zahlenfolge mit limn→∞ an = a ∈ R und c ∈ R. Dann gelten
1. lim (can ) = c lim an = ca,
n→∞
n→∞
2. lim (c + an ) = c + lim an = c + a,
n→∞
n→∞
3. lim (c − an ) = c − lim an = c − a.
n→∞
n→∞
Falls a 6= 0, so gilt auch
c
c
c
4. lim
=
= .
n→∞ an
lim an
a
n→∞
Sie hbn i eine weitere konvergente Zahlenfolge mit limn→∞ bn = b ∈ R. Dann
gelten
3
FUNKTIONEN
48
5. lim (an + bn ) = lim an + lim bn = a + b,
n→∞
n→∞
n→∞
6. lim (an − bn ) = lim an − lim bn = a − b,
n→∞
n→∞
7. lim (an bn ) =
n→∞
lim an
n→∞
n→∞
lim bn = ab.
n→∞
Falls b 6= 0, so gilt auch
lim an
an
a
= n→∞
= .
n→∞ bn
lim bn
b
8. lim
n→∞
Beispiel: Mit Hilfe dieses Satzes können wir auch kompliziertere Grenzwerte
2
leicht berechnen. Für die Folge mit Bildungsgesetz an := 2n n+3n+2
erhalten
2 +1
wir:
2
3
+
lim
2
+
2 + n3 + n22 8. n→∞
2n2 + 3n + 2
n n2
lim
=
lim
=
1
2
n→∞
n→∞
1
n +1
1 + n2
lim 1 + 2
n→∞
n
3
2
2 + lim
+ lim 2 1.,7. 2 + 0 + 0
2.,5.
n→∞ n
n→∞ n
=
=
= 2.
1
1+0
1 + lim 2
n→∞ n
Die Zahlenfolge han i ist also konvergent mit Grenzwert limn→∞ an = 2. Deswegen müssen gemäss Def. 27 die Zahlen |an − 2| beliebig klein werden für genügend grosse n ∈ N. Ausserdem muss die Folge nach dem Cauchy-Kriterium
(Satz 11) eine Cauchy-Folge sein, so dass gemäss Def. 31 auch die Zahlen
|an+1 − an | beliebig klein werden müssen für genügend grosse n ∈ N. Wir überprüfen dies in der folgenden Grafik anhand der ersten 100000 Glieder der Folge
han i:
an = (2n2 + 3n + 2)/(n2 + 1)
5
10
0
10
−5
|an − 2|
10
|an+1 − an|
−10
10
0
10
1
10
2
3
10
10
n
4
10
5
10
3
FUNKTIONEN
49
Beachten Sie, dass wir mit einer solchen Grafik nicht beweisen können, dass die
Folge konvergent ist mit Grenzwert 2, oder dass sie eine Cauchy-Folge ist, denn
wir können ja nur endlich viele Folgenglieder zeichnen.
3.5
Grenzwert und Stetigkeit einer Funktion
Wir betrachten Funktionen f : D → R, D ⊆ R, und wollen deren Verhalten
in der Nähe einer Stelle x0 ∈ R untersuchen, an der f möglicherweise nicht
definiert ist.
Definition 32 (Umgebung) Die Menge U ⊆ R ist eine Umgebung von x0 ∈ R,
wenn
∃ ε > 0 : (x0 − ε, x0 + ε) ⊆ U.
Beispiele:
1. Das Intervall U := [0, 2] ist eine Umgebung von 1: wähle z. B. ε = 1/2,
dann gilt 21 , 32 ⊆ U .
2. Das Intervall V := [1, 2) ist keine Umgebung von 1: für jedes ε > 0 enthält
das offene Intervall (1 − ε, 1 + ε) auch Zahlen kleiner als 1, und diese liegen
nicht in V .
Bemerkung: Für eine Umgebung U von x0 ∈ R nennen wir die Menge U̇ :=
U \ {x0 } eine punktierte Umgebung von x0 . U̇ enthält Punkte beliebig nahe an
x0 , aber nicht x0 selbst.
Für eine Funktion f : D → R und Zahlenfolgen hxn i mit xn ∈ D, n ∈ N,
betrachten wir nun die Zahlenfolgen der Funktionswerte hf (xn )i:
Definition 33 (Grenzwert einer Funktion) Sei f : D → R eine Funktion, und
D ⊆ R enthalte eine punktierte Umgebung von x0 ∈ R. Die Zahl g ∈ R heisst
der Grenzwert der Funktion f an der Stelle x0 genau dann, wenn für jede
reelle Zahlenfolge hxn i mit xn ∈ D \ {x0 }, n ∈ N, und limn→∞ xn = x0 gilt:
limn→∞ f (xn ) = g.
Bemerkungen:
• Ist g ∈ R der Grenzwert der Funktion f an der Stelle x0 , so schreiben wir
symbolisch: limx→x0 f (x) = g.
• Wenn D eine punktierte Umgebung von x0 enthält, so kann x0 nicht auf
dem Rand von D liegen, sondern die Funktion muss auf beiden Seiten von
x0 noch definiert sein. An der Stelle x0 kann die Funktion f definiert sein,
muss aber nicht.
Beispiele:
1. Der Grenzwert der Funktion f (x) := 2x2 + 1 an der Stelle x0 = 1 ist
limx→1 f (x) = 3: Sei hxn i eine reelle Zahlenfolge mit xn 6= 1, n ∈ N und
limn→∞ xn = 1. Dann gilt
2
Satz 12 lim f (xn ) = lim 2x2n + 1
= 2 lim xn + 1 = 2 · 12 + 1 = 3.
n→∞
n→∞
n→∞
3
FUNKTIONEN
50
2. Die unecht gebrochenrationale Funktion
f (x) =
3x2 − 6x
x−2
ist an der Stelle x0 = 2 nicht definiert, besitzt dort aber einen Grenzwert:
Sei hxn i eine reelle Zahlenfolge mit xn 6= 2, n ∈ N und limn→∞ xn = 2.
Dann gilt
lim f (xn )
n→∞
3x2n − 6xn
3xn (xn − 2)
= lim
n→∞
n→∞
xn − 2
xn − 2
=
lim
Satz 12
=
3 lim xn = 3 · 2 = 6.
n→∞
3. Die Sprungfunktion
σ(x) :=
0,
1,
x<0
x≥0
ist an der Stelle x0 = 0 definiert (σ(0) = 1), besitzt dort aber keinen
Grenzwert: betrachte die beiden Zahlenfolgen hxn i und hyn i mit Bildungsgesetzen
1
1
xn := − , yn := , n ∈ N.
n
n
Diese Folgen sind konvergent (Monotoniekriterium) mit xn 6= 0, yn 6= 0,
n ∈ N, und mit Grenzwerten
lim xn = lim yn = 0,
n→∞
n→∞
aber die Grenzwerte der Folgen der Funktionswerte sind nicht gleich:
1 − n1 <0, n∈N
=
lim 0 = 0,
lim σ(xn ) = lim σ −
n→∞
n→∞
n→∞
n
1
1 n >0, n∈N
lim σ(yn ) = lim σ
=
lim 1 = 1.
n→∞
n→∞
n→∞
n
Also besitzt die Sprungfunktion σ an der Stelle 0 keinen Grenzwert.
n
betrachAlternativ können wir auch die Zahlenfolge hxn i mit xn := (−1)
n
ten. Diese Folge erfüllt xn 6= 0, n ∈ N, und limn→∞ xn = 0. Die Folge der
Funktionswerte ist gegeben durch
0, n ungerade
σ(xn ) =
.
1, n gerade
Die Folge hσ(xn )i ist keine Cauchy-Folge, weil |σ(xn+1 ) − σ(xn )| = 1,
n ∈ N, also ist sie divergent nach dem Cauchy-Kriterium und besitzt
daher keinen Grenzwert.
3
FUNKTIONEN
51
4. Die echt gebrochenrationale Funktion
f (x) =
1
x−1
ist an der Stelle x0 = 1 (Polstelle der Ordnung 1) nicht definiert und besitzt dort auch keinen Grenzwert: Wir betrachten die Zahlenfolge hxn i mit
xn := n−1
n < 1, n ∈ N, und Grenzwert limn→∞ xn = 1. Die Funktionswerte der Glieder dieser Zahlenfolge erfüllen
f (xn ) =
1
=
xn − 1
1
= −n
−1
n−1
n
Die Folge hf (xn )i = h−ni ist unbeschränkt und daher nach Satz 9 divergent.
Satz 13 (Rechenregeln für Grenzwerte von Funktionen) Seien f, g : D → R
zwei Funktionen, die an der Stelle x0 ∈ R einen Grenzwert besitzen, und sei
c ∈ R. Dann gelten
1. lim (cf (x)) = c lim f (x),
x→x0
x→x0
2. lim (f (x) ± g(x)) = lim f (x) ± lim g(x),
x→x0
x→x0
3. lim (f (x) · g(x)) =
x→x0
x→x0
lim f (x) · lim g(x) .
x→x0
x→x0
Falls limx→x0 g(x) 6= 0, so gilt auch
4. lim
x→x0
lim f (x)
f (x)
x→x0
=
.
g(x)
lim g(x)
x→x0
Definition 34 (Stetigkeit von Funktionen) Sei f : D → R eine Funktion, und
D enthalte eine Umgebung von x0 ∈ R. Die Funktion f ist stetig an der Stelle
x0 , falls der Grenzwert von f an der Stelle x0 existiert und mit dem dortigen
Funktionswert übereinstimmt: limx→x0 f (x) = f (x0 ).
Bemerkungen:
• Eine Funktion f : D → R, die an jeder Stelle x0 ∈ D stetig ist, heisst
stetige Funktion.
• Eine Funktion f : D → R ist nicht stetig (unstetig) bei x0 ∈ R in den
folgenden drei Fällen:
– f ist bei x0 nicht definiert, hat dort also eine Definitionslücke,
– f besitzt bei x0 keinen Grenzwert,
– f ist bei x0 definiert und besitzt dort einen Grenzwert, aber dieser
stimmt nicht mit dem Funktionswert überein: limx→x0 f (x) 6= f (x0 ).
3
FUNKTIONEN
52
Beispiele:
1. Polynomfunktionen (ganzrationale Funktionen) sind stetig.
2. Gebrochenrationale Funktionen sind an jeder Stelle ihres Definitionsbereichs stetig. Für die Definitionslücken gilt:
• Bei einer stetig hebbaren Definitionslücke ist die Funktion nicht definiert, besitzt dort aber einen Grenzwert. Die Unstetigkeit an dieser
Stelle kann behoben werden (vgl. Kap. 3.3.3), indem der Wert der
(erweiterten) Funktion gleich diesem Grenzwert gesetzt wird.
• Bei einer Polstelle ist die Funktion nicht definiert und sie besitzt
dort auch keinen Grenzwert, also lässt sich die Unstetigkeit an einer
Polstelle nicht beheben.
3. Endliche Sprünge treten bei rationalen Funktionen nicht auf, wohl aber
bei stückweise rationalen Funktionen, wie z. B. bei der Sprungfunktion σ.
Eine Funktion kann auch unendlich viele Sprungstellen besitzen.
4. Die Dirichlet-Funktion (P. G. L. Dirichlet, 1805–1859)
1, x ∈ Q
f (x) =
, x ∈ R,
0, x 6∈ Q
ist eine nirgends stetige Funktion, d. h. sie ist an keiner Stelle x0 ∈ R stetig.
Die Dirichlet-Funktion hat überabzählbar unendlich viele Sprungstellen.
5. Die Funktion
f (x) =
x2 , x 6= 1
,
0,
x=1
x ∈ R,
ist an der Stelle x0 = 1 unstetig: f ist bei x0 = 1 definiert, f (1) = 0, und
f besitzt an der Stelle x0 = 1 einen Grenzwert, limx→1 f (x) = 1. Es gilt
aber limx→1 f (x) 6= f (1).
Satz 14 (Zwischenwertsatz) Sei f : D → R eine stetige Funktion und [a, b] ⊆ D
ein abgeschlossenes Intervall. Dann ist das Bild von [a, b] unter f ein abgeschlossenes Intervall und es gilt
[f (a), f (b)] ⊆ f ([a, b])
∨
[f (b), f (a)] ⊆ f ([a, b]).
Bemerkung: Dies bedeutet, dass eine stetige Funktion auf dem Intervall [a, b]
jeden Wert zwischen f (a) und f (b) annimmt. Falls f (a) und f (b) unterschiedliche Vorzeichen haben, so folgt daraus, dass f eine Nullstelle in [a, b] besitzen
muss (B. P. J. N. Bolzano, 1781–1848).
Beispiel/Anwendung: Die Polynomfunktion f (x) = x5 − 3x2 − 2x + 1 ist stetig,
und sie erfüllt f (0) = 1 > 0 und f (1) = 1 − 3 − 2 + 1 = −3 < 0. Nach dem
Zwischenwertsatz muss f im Intervall [0, 1] eine Nullstelle haben. Die Nullstelle
kann jetzt z. B. durch Bisektion weiter eingegrenzt werden:
4
EINFÜHRUNG IN DIE DIFFERENZIALRECHNUNG
53
1. Wir halbieren das Intervall [0, 1] und werten f an der Stelle 21 aus: f 21 =
1
− 23
32 < 0. Weil f (0) > 0, muss die Nullstelle von f im Intervall 0, 2 liegen.
321
> 0.
2. Wir halbieren
weiter und werten f an der Stelle 14 aus: f 14 = 1024
1
1 1
Weil f 2 < 0, muss die Nullstelle von f im Intervall 4 , 2 liegen.
5389
3. Wir halbieren
weiter und werten f an der Stelle 83 aus: f 83 =
− 32768 < 0.
1
1 3
Weil f 4 > 0, muss die Nullstelle von f im Intervall 4 , 8 liegen.
Dieses Verfahren können wir fortsetzen, und wir erhalten eine Folge von Intervallen
1
1 1
1 3
[0, 1] , 0,
, ,
, ,
,...,
2
4 2
4 8
deren Länge sich in jedem Schritt halbiert: 1, 21 , 14 , 18 , . . . . Damit können wir die
Nullstelle von f bei x ' 0.3344 beliebig genau eingrenzen.
y = x5 − 3 x2 − 2 x + 1
2
1
y
0
−1
−2
−3
−4
−0.5
4
0
0.5
x
1
1.5
Einführung in die Differenzialrechnung
Aus Kap. 3.3.1 wissen wir, dass die Steigung des Graphen einer linearen Funktion p(x) = mx + q, m, q ∈ R, m 6= 0, gegeben ist durch m:
p(x2 ) − p(x1 )
= m,
x2 − x1
x1 , x2 ∈ R, x1 6= x2 .
Wir wollen jetzt für eine beliebige Funktion f : D → R, D ⊆ R, die “Steigung”
des Graphen an einer Stelle x0 ∈ R bestimmen. Dazu nehmen wir an, dass D
eine Umgebung von x0 enthält und betrachten eine reelle Zahlenfolge hxn i mit
xn ∈ D \ {x0 }, n ∈ N, und mit limn→∞ xn = x0 . Für n ∈ N ist die Sekante des
4
EINFÜHRUNG IN DIE DIFFERENZIALRECHNUNG
54
Graphen von f durch die Punkte (x0 , f (x0 )) , (xn , f (xn )) ∈ Gf gegeben durch
die lineare Funktion
sn (x)
f (xn ) − f (x0 )
(x − x0 )
xn − x0
f (xn ) − f (x0 )
f (xn ) − f (x0 )
=
x + f (x0 ) −
x0
xn − x0
x − x0
|
{z
}
{zn
}
|
= f (x0 ) +
=:mn
=:qn
x∈R
= mn x + qn ,
(x0 )
(Interpolationspolynom, Kap. 3.3.2), mit Steigung mn = f (xxnn)−f
. Die Zahl
−x0
mn ∈ R wird auch als Differenzenquotient von f im Intervall [x0 , xn ] bezeichnet. Falls die reelle Zahlenfolge hmn i konvergent ist, so ist der Grenzwert
limn→∞ mn ∈ R ein Kandidat für die Steigung des Graphen von f an der Stelle
x0 . Weil diese Steigung aber nicht von der Wahl der Zahlenfolge hxn i abhängen
darf, muss sie als Grenzwert einer Funktion definiert werden:
4.1
Differenzierbarkeit und Ableitungsfunktion
Definition 35 (Differenzierbarkeit) Sei f : D → R eine Funktion, und D enthalte eine Umgebung von x0 ∈ R. Die Funktion f ist differenzierbar an der
Stelle x0 ∈ D, falls der Grenzwert der Differenzenquotienten,
lim
x→x0
f (x) − f (x0 )
,
x − x0
existiert. In diesem Fall bezeichnet man den Grenzwert als die Ableitung von f
an der Stelle x0 oder als den Differenzialquotienten von f an der Stelle x0 .
Bemerkungen:
• Symbolische Schreibweisen für die Ableitung von f an der Stelle x0 : f 0 (x0 )
df
(J.-L. Lagrange, 1797), dx
(x0 ) (G. W. Leibniz, 1675). Für zeitabhängige
Funktionen wird für Ableitung oft mit einem Punkt über der Funktion
dargestellt. So ist z. B. ṡ(t0 ) die Ableitung der zeitabhängigen Funktion s
an der Stelle t0 (I. Newton, 1666).
• Der Vorgang zur Bestimmung der Ableitung heisst “Differenzieren” oder
“Differenziation”
• Der Differenzialquotient kann mit Hilfe von Variablentransformation auch
auf die folgenden gebräuchlichen Arten geschrieben werden:
lim
x→x0
f (x) − f (x0 )
x − x0
h:=x−x0
=
∆x:=h
=
f (x0 + h) − f (x0 )
h
f (x0 + ∆x) − f (x0 )
lim
.
∆x→0
∆x
lim
h→0
4
EINFÜHRUNG IN DIE DIFFERENZIALRECHNUNG
55
• Ist f an der Stelle x0 differenzierbar, so ist der Graph der linearen Funktion
t(x) := f (x0 ) + f 0 (x0 )(x − x0 )
(34)
die Tangente an den Graphen von f im Punkt (x0 , f (x0 )): Es gilt t(x0 ) =
f (x0 ) und die Steigung des Graphen von t ist gleich der Ableitung von f
an der Stelle x0 :
t(x2 ) − t(x1 )
x2 − x1
=
=
f (x0 ) + f 0 (x0 )(x2 − x0 ) − (f (x0 ) + f 0 (x0 )(x1 − x0 ))
x2 − x1
f 0 (x0 ) (x2 − x0 − x1 + x0 )
= f 0 (x0 ),
x2 − x1
für x1 , x2 ∈ R, x1 6= x2 . Daher kann die Ableitung von f an der Stelle x0
als die Steigung der Tangente an den Graphen von f im Punkt (x0 , f (x0 ))
interpretiert werden.
• f differenzierbar an der Stelle x0 ⇒ f stetig an der Stelle x0 :
lim f (x)
x→x0
=
Satz 13
=
=
(f (x) − f (x0 ) + f (x0 )) (x − x0 )
lim
x − x0
f (x) − f (x0 )
lim
lim (x − x0 ) + f (x0 )
x→x0
x→x0
x − x0
f 0 (x0 ) · 0 + f (x0 ) = f (x0 ).
x→x0
• Ist die Funktion f an jeder Stelle x0 ∈ D differenzierbar, so ist f eine
differenzierbare Funktion. Die Funktion f 0 : D → R, x 7→ f 0 (x), heisst
dann die Ableitungsfunktion (oder Ableitung) von f .
• Ist die Ableitungsfunktion f 0 stetig, so heisst f stetig differenzierbar.
• Ist die Ableitungsfunktion f 0 differenzierbar, so ist die zweite Ableitung
von f gegeben durch die Ableitung von f 0 usw. für
höhere Ableitungen.
n
Symbolische Schreibweisen: f 00 , s̈, f 000 , f (5) , f (n) , ddxnf .
Beispiele:
1. Sei f (x) = mx + q, m, q ∈ R, m 6= 0, eine lineare Funktion. Sei x0 ∈ R,
dann gilt für x 6= x0 :
f (x) − f (x0 )
mx + q − (mx0 + q)
m (x − x0 )
=
=
= m.
x − x0
x − x0
x − x0
Für den Grenzwert erhalten wir daher
lim
x→x0
f (x) − f (x0 )
=m
x − x0
⇒
f 0 (x0 ) = m.
4
EINFÜHRUNG IN DIE DIFFERENZIALRECHNUNG
56
Dies gilt für jedes x0 ∈ R, also ist f differenzierbar, und die Ableitung von
f ist gegeben durch die konstante Funktion f 0 (x) = m. Die Tangente an
den Graphen der linearen Funktion im Punkt x0 ∈ R ist gegeben durch
t(x) = f (x0 ) + f 0 (x0 )(x − x0 ) = mx0 + q + m(x − x0 ) = mx + q = f (x).
Die zweite und alle höheren Ableitungen einer linearen Funktion sind
gleich der Nullfunktion: f (n) (x) = 0, n ∈ N, n ≥ 2.
2. Sei f (x) = x2 und x0 ∈ R. Dann gilt für x, x0 ∈ R, x 6= x0 :
f (x) − f (x0 )
x2 − x20
(x + x0 ) (x − x0 )
=
=
= x + x0 .
x − x0
x − x0
x − x0
Für den Differenzialquotienten (Grenzwert) erhalten wir daher
lim
x→x0
f (x) − f (x0 )
= lim (x + x0 ) = 2x0
x→x0
x − x0
⇒
f 0 (x0 ) = 2x0 .
Dies gilt für jedes x0 ∈ R, daher ist f differenzierbar, und die Ableitung
von f ist gegeben durch die lineare Funktion f 0 (x) = 2x. DieTangente an
den Graphen der quadratischen Funktion im Punkt x0 , x20 ist gegeben
durch
t(x) = f (x0 ) + f 0 (x0 )(x − x0 ) = x20 + 2x0 (x − x0 ) = 2x0 x − x20 .
Im globalen Minimum der Funktion f bei x0 = 0 (Satz 5) ist die Tangente
waagrecht: f 0 (0) = 2 · 0 = 0. Die zweite Ableitung der quadratischen
Funktion ist eine konstante Funktion, f 00 (x) = 2, und alle Ableitungen ab
der dritten sind gleich der Nullfunktion: f (n) (x) = 0, n ∈ N, n ≥ 3.
3. Die Betragsfunktion f (x) := |x| ist stetig (Serie 12, Aufg. 2), aber an der
Stelle x0 = 0 nicht differenzierbar. Wir betrachten die Zahlenfolge hxn i
n
mit Bildungsgesetz xn := (−1)
n , n ∈ N. Sie erfüllt xn 6= 0, n ∈ N, und
limn→∞ = 0. Für die Differenzenquotienten im Intervall [0, xn ] gilt
(−1)n 1
n − |0|
f (xn ) − f (x0 )
1
n
= (−1)n
= (−1)
= (−1)n , n ∈ N.
n =
n
xn − x0
(−1)
−
0
n
n
(x0 )
Die Folge h f (xxnn)−f
i = h(−1)n i ist keine Cauchy-Folge, also divergent
−x0
nach dem Cauchy-Kriterium (Satz 11). Daher existiert der Differenzialquotient an der Stelle x0 = 0 nicht. An jeder Stelle x0 ∈ R \ {0} ist die
Betragsfunktion jedoch differenzierbar, und es gilt
−1, x0 < 0
f 0 (x0 ) =
.
1, x0 > 0
Im Allgemeinen ist eine Funktion an einer “Knickstelle” nicht differenzierbar.
4
EINFÜHRUNG IN DIE DIFFERENZIALRECHNUNG
57
4. Es gibt stetige Funktionen, die nirgends differenzierbar sind, weil sie überabzählbar unendlich viele Knickstellen haben. Viele dieser Funktionen sind
Fraktale, so z. B. die Koch-Kurve (N. F. H. von Koch, 1870–1924).
Satz 15 (Ableitungsregeln) Die Funktionen f, g : D → R seien an der Stelle
x0 ∈ D differenzierbar und c ∈ R. Dann gelten die folgenden Regeln:
1. Faktorregel: Die Funktion h(x) := cf (x) ist differenzierbar an der Stelle
x0 und es gilt h0 (x0 ) = cf 0 (x0 ),
2. Summenregel: Die Funktion h(x) := f (x) + g(x) ist differenzierbar an
der Stelle x0 und es gilt h0 (x0 ) = f 0 (x0 ) + g 0 (x0 ),
3. Produktregel: Die Funktion h(x) := f (x)g(x) ist differenzierbar an der
Stelle x0 und es gilt h0 (x0 ) = f 0 (x0 )g(x0 ) + f (x0 )g 0 (x0 ).
4
EINFÜHRUNG IN DIE DIFFERENZIALRECHNUNG
58
Falls g(x0 ) 6= 0, so gilt auch die
(x)
4. Quotientenregel: Die Funktion h(x) := fg(x)
ist differenzierbar an der
0
0
f
(x
)g(x
)
−
f
(x
0
0
0 )g (x0 )
.
Stelle x0 und es gilt h0 (x0 ) =
2
g(x0 )
Seien f : Df → R und g : Dg → R zwei Funktionen. Die Funktion g sei an der
Stelle x0 ∈ Dg differenzierbar und die Funktion f sei an der Stelle g(x0 ) ∈ Df
differenzierbar. Dann gilt die
5. Kettenregel: Die Funktion h(x) := (f ◦ g) (x) = f (g(x)) ist differenzierbar an der Stelle x0 und es gilt h0 (x0 ) = f 0 (g(x0 ))g 0 (x0 ).
Sei f : D → R eine umkehrbare Funktion und x0 ∈ R.
Die Funktion f sei an
der Stelle f −1 (x0 ) ∈ D differenzierbar mit f 0 f −1 (x0 ) 6= 0. Dann gilt die
6. Umkehrregel: Die Funktion f −1 ist differenzierbar an der Stelle x0 und
0
1
es gilt f −1 (x0 ) = 0 −1
f (f (x0 ))
Bemerkung: In der folgenden Kurzschreibweise lassen sich die Ableitungsregeln
einfacher merken:
0
1. Faktorregel: (cf ) = cf 0 ,
0
2. Summenregel: (f + g) = f 0 + g 0 ,
0
3. Produktregel: (f g) = f 0 g + f g 0 ,
0
f
f 0 g − f g0
4. Quotientenregel:
=
,
g
g2
0
5. Kettenregel: (f ◦ g) = (f 0 ◦ g) g 0 ,
6. Umkehrregel: f −1
0
=
f0
1
.
◦ f −1
Beispiele: Die Ableitungsregeln 1.–4. werden für rationale Funktionen nützlich
sein (nächstes Kapitel). Hier bringen wir zwei Beispiele zu den Regeln 5. und 6.
2
1. Die Funktion h(x) := (2x − 3) ist von der Form f ◦ g mit g(x) := 2x − 3
und f (x) := x2 . Es gilt f 0 (x) = 2x und g 0 (x) = 2, also ist die Ableitung
der Funktion h gegeben durch
h0 (x)
0
= (f ◦ g) (x) = (f 0 ◦ g) (x)g 0 (x) = f 0 (g(x)) g 0 (x) = 2g(x)g 0 (x)
= 2 (2x − 3) · 2 = 4 (2x − 3) = 8x − 12.
2. Sei D := [0, ∞) und√f (x) := x2 . Die Funktion f ist bijektiv mit Umkehrfunktion f −1 (x) = x. Für die Ableitung von f gilt f 0 (x) = 2x. Nach der
Umkehrregel ist also die Ableitung der Wurzelfunktion gegeben durch
0
f −1 (x) =
1
1
1
1
= 0 −1
= −1
= √ .
(f 0 ◦ f −1 ) (x)
f (f (x))
2f (x)
2 x
4
EINFÜHRUNG IN DIE DIFFERENZIALRECHNUNG
4.2
59
Ableitung von rationalen Funktionen
4.2.1
Ableitung von ganzrationalen Funktionen
Sei n ∈ N und p eine Polynomfunktion vom Grad n, d. h.
p(x) = a0 + a1 x + a2 x2 + a3 x3 + · · · + an xn =
n
X
ai xi ,
i=1
mit Koeffizienten a0 , a1 , . . . , an ∈ R, an 6= 0. Nach der Faktor- und nach der
Summenregel (Satz 15, 1. und 2.) erhalten wir für p die Ableitung
0
0
p0 (x) = a0 (1) + a1 (x) + a2 x2
0
+ a3 x3
0
0
+ · · · + an (xn ) =
n
X
0
ai xi ,
i=0
i 0
wobei x die Ableitungsfunktion der i-ten Standardbasisfunktion von Pn (also
von xi , i = 0, . . . , n) bezeichnet. Aus Bsp. 1 im letzten Kapitel wissen wir bereits,
0
0
dass (1)0 = 0 und (x) = (1 · x + 0) = 1. Durch wiederholte Anwendung der
Produktregel (Satz 15, 3.) erhalten wir für i ≥ 2:
xi
0
=
xxi−1
=
i−1
0
Satz 15
=
0
(x) xi−1 + x xi−1
|{z}
0
=1
Satz 15
=
=
=
..
.
=
i−1 0
= xi−1 + x xxi−2

0
0
xi−1 + x  (x) xi−2 + x xi−2 
|{z}
=1
0 i−1
i−2
x
+x x
+ x xi−2
0
2xi−1 + x2 xi−2
x
+x x

0
0
0
(i − 1)xi−1 + xi−1 xi−(i−1) = (i − 1)xi−1 + xi−1 (x)
|{z}
=1
=
(i − 1) x
i−1
+x
i−1
= ix
i−1
.
Damit haben wir die Potenzregel bewiesen:
0
Satz 16 (Potenzregel) Für n ∈ N gilt (xn ) = nxn−1 .
0
Beispiel: n = 5: x5 = 5x4 .
Also gilt für die Ableitung der Polynomfunktion p:
p0 (x) = a1 + 2a2 x + 3a3 x2 + · · · + nan xn−1 =
n−1
X
(i + 1)ai+1 xi ,
i=0
4
EINFÜHRUNG IN DIE DIFFERENZIALRECHNUNG
60
und dies ist eine Polynomfunktion vom Grad n − 1. Die zweite Ableitung von p
ist gegeben durch
p00 (x) = 2a2 + 6a3 x + · · · + n(n − 1)an xn−2 =
n−2
X
(i + 2)(i + 1)ai+2 xi ,
i=0
also eine Polynomfunktion vom Grad n − 2. Für die Ableitungen allgemeiner
Ordnung gilt
Satz 17 (Ableitung von Polynomfunktionen) Polynomfunktionen sind beliebig
oft differenzierbar. Für eine Polynomfunktion vom Grad n ∈ N von der Form
p(x) =
n
X
ai xi = a0 + a1 x + a2 x2 + · · · + an xn
i=0
ist die m-te Ableitung, m ∈ N, gegeben durch

n−m

 X
(i + m)(i + m − 1) · · · (i + 1)ai+m xi , m ≤ n
.
p(m) (x) =

 i=0
0,
m>n
Bemerkung: Die m-te Ableitung einer Polynomfunktion vom Grad n ist eine
Polynomfunktion vom Grad n − m für m ≤ n, und die Nullfunktion für m > n.
Beispiel: Wir betrachten die quadratische Funktion p(x) = −3x2 + 2x + 1. Die
Ableitungen von p sind gegeben durch
p0 (x) = −6x + 2
p00 (x) = −6
(m)
p (x) = 0, m ≥ 3
4.2.2
(lineare Funktion),
(konstante Funktion),
(Nullfunktion).
Ableitung von gebrochenrationalen Funktionen
Ein Spezialfall der Quotientenregel ist die Reziprokenregel:
0
0
1 Satz 15, 4. (1) g − 1 · g 0
0 · g − g0
g0
=
=
=
−
.
g
g2
g2
g2
(35)
Kombinieren wir die Reziprokenregel (35) und die Potenzregel (Satz 16), so
erhalten wir die Ableitung der Kehrwerte der Monome:
0
0
(xn ) Satz 16 nxn−1
n
1
(35)
=
−
= − 2n = − n+1 , n ∈ N,
2
xn
x
x
(xn )
oder auch
x−n
0
= −nx−n−1 ,
n ∈ N.
4
EINFÜHRUNG IN DIE DIFFERENZIALRECHNUNG
61
Bemerkung: Die Potenzregel (Satz 16) gilt also auch für negative ganzzahlige
Exponenten.
Beispiel: Die Ableitung der echt gebrochenrationalen Funktion f (x) = x1 ist
gegeben durch f 0 (x) = − x12 (n = 1).
Im Allgemeinen müssen wir für rationale Funktionen die Quotientenregel
(Satz 15, 4.) anwenden. Die benötigten Ableitungen der Zähler- und Nennerpolynome können jeweils mit Satz 17 bestimmt werden.
Satz 18 (Ableitung von gebrochenrationalen Funktionen) Rationale Funktionen
sind an jeder Stelle ihres Definitionsbereichs beliebig oft differenzierbar. Für eine
rationale Funktion von der Form
f (x) =
Z(x)
,
N (x)
wobei Z und N Polynomfunktionen sind, ist die Ableitung gegeben durch die
rationale Funktion
f 0 (x) =
Z 0 (x)N (x) − Z(x)N 0 (x)
,
N (x)2
mit denselben Definitionslücken wie f .
Beispiel: Z(x) := 3x2 − x + 2, N (x) := −2x2 + 4x + 5. Für die Ableitung der
unecht gebrochenrationalen Funktion
f (x) :=
3x2 − x + 2
Z(x)
=
N (x)
−2x2 + 4x + 5
werden die Ableitungen von Z und von N benötigt. Mit Satz 17 berechnen wir
Z 0 (x) = 6x − 1,
N 0 (x) = −4x + 4
und daher nach Satz 18:
f 0 (x)
=
=
=
4.3
4.3.1
Z 0 (x)N (x) − Z(x)N 0 (x)
N (x)2
(6x − 1) −2x2 + 4x + 5 − 3x2 − x + 2 (−4x + 4)
(−2x2 + 4x + 5)
10x2 + 38x + 13
.
4
4x − 16x3 − 4x2 + 40x + 25
2
Anwendungen der Differenzialrechnung
Näherungspolynome einer Funktion
Sei n ∈ N, und die Funktion f : D → R sei an der Stelle x0 ∈ D n-mal
differenzierbar. Dann betrachten wir das folgende Problem:
4
EINFÜHRUNG IN DIE DIFFERENZIALRECHNUNG
62
Bestimme ein Polynom Tn ∈ Pn , das die Gleichungen
Tn (x0 )
=
f (x0 ),
Tn0 (x0 )
Tn00 (x0 )
Tn(3) (x0 )
=
f 0 (x0 ),
=
f 00 (x0 ),
=
..
.
f (3) (x0 ),
Tn(n) (x0 )
=
f (n) (x0 )
erfüllt.
An der Stelle x0 ∈ D sollen also das Polynom Tn und seine ersten n Ableitungen
mit der Funktion f und mit ihren ersten n Ableitungen übereinstimmen. Dies
führt auf ein System von n + 1 linearen Gleichungen für die n + 1 unbekannten
Koeffizienten des Polynoms Tn , und die Lösung des Problems ist gegeben durch
das n-te Taylorpolynom der Funktion f an der Stelle x0 (B. Taylor, 1685–1731):
Satz 19 (Taylor-Formel) Sei n ∈ N, und die Funktion f : D → R sei an der
Stelle x0 ∈ D n-mal differenzierbar. Dann existiert eine Funktion hn : D → R,
so dass
n
X
f (k) (x0 )
k
f (x) =
(x − x0 ) + hn (x)(x − x0 )n
(36)
k!
k=0
und limx→x0 hn (x) = 0.
Bemerkungen:
• In (36) gelten f (0) (x0 ) := f (x0 ) und k! := k(k − 1)(k − 2) · · · 2 · 1 ∈ N (“k
Fakultät”) mit 0! := 1.
• Die Polynomfunktion
Tn (x) =
n
X
f (k) (x0 )
k=0
k!
(x − x0 )
k
ist die Lösung des oben gestellten Problems. Die Funktion Rn (x) :=
hn (x)(x − x0 )n heisst das n-te Restglied.
• Beachten Sie, dass wir nicht f (n) (x0 ) 6= 0 vorausgesetzt haben; daher gilt
im Allgemeinen deg Tn ≤ n.
• Das n-te Taylorpolynom kann als Näherungsfunktion für die Funktion f in
der Nähe von x0 ∈ D verwendet werden, denn der Approximationsfehler
ist gegeben durch das n-te Restglied:
f (x) − Tn (x) = Rn (x) = hn (x)(x − x0 )n ,
mit
lim hn (x) = 0
x→x0
(Peano-Form des Restglieds nach G. Peano, 1858–1932). Je grösser n und
je kleiner |x − x0 | ist, desto besser ist also die Näherung.
4
EINFÜHRUNG IN DIE DIFFERENZIALRECHNUNG
63
Beispiele:
1. Für n = 1 erhalten wir als lineare Näherungsfunktion die Tangente an den
Graphen von f im Punkt (x0 , f (x0 )):
T1 (x) = f (x0 ) + f 0 (x0 )(x − x0 )
(vgl. Kap. 4.1). Wir nennen die Funktion T1 auch die Linearisierung oder
1. Näherung von f bei x0 .
2. Für n = 2 erhalten wir als quadratische Näherungsfunktion die Schmiegeparabel an den Graphen von f im Punkt (x0 , f (x0 )):
f 00 (x0 )
(x − x0 )2 .
2
Wir nennen die Funktion T2 auch die 2. Näherung von f bei x0 .
T2 (x) = f (x0 ) + f 0 (x0 )(x − x0 ) +
3. Für die kubische Funktion f (x) := x3 − 2x + 5 wollen wir die ersten beiden
Taylorpolynome an der Stelle x0 := 1 berechnen. Für die Ableitungen von
f erhalten wir
f (x) = x3 − 2x + 5,
f (1) = 4,
f 0 (x) = 3x2 − 2,
f 0 (1) = 1,
f 00 (x) = 6x,
f 00 (1) = 6.
Damit erhalten wir für die ersten beiden Taylorpolynome von f an der
Stelle x0 = 1:
= f (1) + f 0 (1)(x − 1) = 4 + 1(x − 1) = x + 3,
f 00 (1)
T2 (x) = f (1) + f 0 (1)(x − 1) +
(x − 1)2
2
= 4 + 1(x − 1) + 3(x − 1)2 = 3x2 − 5x + 6.
T1 (x)
7
f(x) = x3 − 2 x + 5, x0 = 1
6.5
T (x) = x + 3
1
T (x) = 3 x2 − 5 x + 6
6
2
y
5.5
5
4.5
4
3.5
3
−1
−0.5
0
0.5
x
1
1.5
2
4
EINFÜHRUNG IN DIE DIFFERENZIALRECHNUNG
64
Für diese Näherungen können wir auch die Restglieder explizit berechnen:
R1 (x)
=
f (x) − T1 (x) = x3 − 3x + 2 = (x − 1)(x + 2)(x − 1),
|
{z
}
=h1 (x)
R2 (x)
=
3
2
f (x) − T2 (x) = x − 3x + 3x − 1 = (x − 1)(x − 1)2 .
| {z }
=h2 (x)
Bemerkung: Weil f eine Polynomfunktion vom Grad 3 ist, sind die Ableitungen f (n) konstante Funktionen für n ≥ 3 (Satz 17). Daher werden die
n-ten Taylorpolynome von f für n ≥ 3 mit f übereinstimmen: Tn ≡ f ,
n ≥ 3, d. h. Rn ≡ 0, n ≥ 3.
4.3.2
Bestimmung von Extremstellen differenzierbarer Funktionen
Sei f : D → R eine differenzierbare Funktion, die an der Stelle x0 ∈ D ein lokales
Minimum besitzt. Gemäss Def. 21 existiert dann ein Intervall I mit x0 ∈ I, so
dass
f (x0 ) ≤ f (x) ∀ x ∈ D ∩ I.
(37)
Mit der Ableitung von f an der Stelle x0 erhalten wir als erste Näherung von
f:
f (x) = f (x0 ) + f 0 (x0 )(x − x0 ) + h1 (x)(x − x0 ),
lim h1 (x) = 0.
|
{z
} |
{z
} x→x0
=T1 (x)
=R1 (x)
Für x ∈ D ∩ I, x 6= x0 , gilt nun:
f (x) − f (x0 )
= f 0 (x0 ) + h1 (x),
x − x0
Weil nach (37) f (x) − f (x0 ) ≥ 0, so gelten
f (x) − f (x0 )
≤ 0,
≥ 0,
x − x0
lim h1 (x) = 0.
x→x0
x < x0
.
x > x0
Der Grenzwert an der Stelle x0 (Differenzialquotient) kann also nur Null sein,
und daraus folgt f 0 (x0 ) = 0.
Satz 20 (Bedingungen für ein lokales Extremum)
1. (notwendige Bedingung) Die Funktion f : D → R besitze an der Stelle
x0 ∈ D ein lokales Extremum (Minimum oder Maximum), und f sei an
der Stelle x0 ∈ D differenzierbar. Dann gilt f 0 (x0 ) = 0.
2. (hinreichende Bedingung) Die Funktion f : D → R sei an der Stelle x0 ∈
D zweimal differenzierbar. Falls f 0 (x0 ) = 0 und f 00 (x0 ) 6= 0, dann hat f
an der Stelle x0 ein lokales Extremum. Dabei handelt es sich um ein
• lokales Minimum, falls f 00 (x0 ) > 0,
4
EINFÜHRUNG IN DIE DIFFERENZIALRECHNUNG
65
• lokales Maximum, falls f 00 (x0 ) < 0.
Bemerkungen:
• Die Nullstellen der Ableitung f 0 sind also Kandidaten für Extremstellen
von f .
• In einem lokalen Minimum von f ist die Schmiegeparabel an den Graphen
von f nach oben geöffnet, in einem lokalen Maximum nach unten.
Beispiel: Wir betrachten die echt gebrochenrationale Funktion
f (x) :=
(x − 1)(x − 2)
x2 − 3x + 2
= 3
.
3
(x + 1)
x + 3x2 + 3x + 1
Mit Satz 18 berechnen wir die Ableitungen
f 0 (x) = −
x2 − 8x + 9
,
(x + 1)4
f 00 (x) =
2(x2 − 13x + 22)
.
(x + 1)5
Die Nullstellen von f 0 sind gegeben durch die Lösungen der quadratischen Gleichung x2 − 8x + 9 = 0, also
√
√
√
8 ± 64 − 36
7±5 7
00
√
x1,2 =
= 4 ± 7, mit f (x1,2 ) = −
2
6550 ± 2462 7
√
√
Wir erhalten f 00√
(4 + 7) < 0 und f 00 (4 − 7) > 0, und daher hat die
√ Funktion
f bei x1 = 4 + 7 ' 6.646 ein lokales Maximum und bei x2 = 4 − 7 ' 1.354
ein lokales Minimum.
Wir zeichnen die Tangenten und die Schmiegeparabeln an den Graphen von
f in diesen Extrempunkten:
0.07
0.06
0.05
0.04
0.03
y = (x−1)(x−2)/((x+1)3)
Tangente am Tiefpunkt
Tangente am Hochpunkt
Schmiegeparabel am Tiefpunkt
Schmiegeparabel am Hochpunkt
0.02
0.01
0
−0.01
−0.02
−0.03
0
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
4
EINFÜHRUNG IN DIE DIFFERENZIALRECHNUNG
4.3.3
66
Der Mittelwertsatz der Differenzialrechnung
Satz 21 (Mittelwertsatz der Differenzialrechnung) Sei f : D → R eine stetige Funktion und [a, b] ⊆ D ein abgeschlossenes Intervall. Ausserdem sei die
Funktion f im offenen Intervall (a, b) differenzierbar. Dann
∃ x0 ∈ (a, b) :
f 0 (x0 ) =
f (b) − f (a)
.
b−a
Korollar 2 Sei f : D → R eine differenzierbare Funktion und I ⊆ D ein
Intervall.
1. f ist genau dann monoton wachsend (fallend) auf I, wenn f 0 (x) ≥ 0
(f 0 (x) ≤ 0) ∀ x ∈ I.
2. Falls f 0 (x) > 0 (f 0 (x) < 0) ∀ x ∈ I, so ist f streng monoton wachsend
(fallend) auf I.
3. f ist genau dann konstant auf I, wenn f 0 (x) = 0 ∀ x ∈ I.
Beispiele:
• Auf dem Intervall I := (0, ∞) ⊆ R ist die Ableitung der Funktion f (x) :=
x2 gegeben durch f 0 (x) = 2x > 0, also ist die Funktion f streng monoton
wachsend auf I.
• Die Bedingung f 0 (x) > 0 ∀x ∈ I ist hinreichend für streng monoton wachsend, aber nicht notwendig: Die Funktion f (x) := x3 ist streng monoton
wachsend auf jedem Intervall I ⊆ R, aber f 0 (x) = 3x2 erfüllt f 0 (0) = 0.
4.3.4
Das Newton-Verfahren zur Bestimmung von Nullstellen differenzierbarer Funktionen
Sei f : D → R eine differenzierbare Funktion. Wir suchen eine Nullstelle von
f , also ein x∗ ∈ D mit f (x∗ ) = 0. Ein bekanntes Verfahren zur Berechnung
von Nullstellen ist das Newton-Verfahren (I. Newton, 1643–1727): Sei n ∈ N
und xn ∈ D. Wir linearisieren die Funktion f an der Stelle xn und suchen die
Nullstelle der 1. Näherung von f bei xn ,
T1 (x) = f (xn ) + f 0 (xn )(x − xn ).
Die Nullstelle der linearen Funktion T1 ist gegeben durch
xn+1 := xn −
f (xn )
.
f 0 (xn )
(38)
Für einen gegebenen Startwert x1 ∈ D definiert (38) eine Zahlenfolge hxn i.
Falls diese Zahlenfolge konvergent ist, so ist x∗ := limn→∞ xn eine Nullstelle
der Funktion f . Ob die Zahlenfolge hxn i konvergiert und wenn ja, gegen welche
Nullstelle von f , hängt vom Startwert x1 ab.
LITERATUR
67
Beispiel: Wir betrachten die echt gebrochenrationale Funktion aus Kap. 4.3.2
mit Nullstellenmenge {1, 2}. In der folgenden Grafik zeichnen wir einige Glieder
der Folge hxn i für verschiedene Startwerte x1 ∈ R \ {−1}: in diesem Beispiel
konvergieren einige der Folgen gegen die Nullstelle x1 = 1, andere gegen die
Nullstelle x2 = 2, und wieder andere divergieren.
0.1
4
3.5
3
y = (x−1)(x−2)/((x+1) )
3
2.5
0.05
y
xn
2
1.5
1
0
0.5
0
−0.5
−0.05
0
0.5
1
1.5
x
2
2.5
3
−1
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
n
Literatur
[1] R. Axthelm: Analysis für Ingenieure I & II. Skript zu MAE1 und MAE2
im Schuljahr 2011/2012
[2] R. Courant: Vorlesungen über Differential- und Integralrechnung (2 Bände);
Springer
[3] K. Jänich: Mathematik (2 Bände); Springer
[4] K. Meyberg, P. Vachenauer: Höhere Mathematik (2 Bände); Springer
[5] L. Papula: Mathematik für Ingenieure und Naturwissenschaftler (3 Bände);
Vieweg & Teubner
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