Psychopathologische Symptome als Zeichen einer Störung

Werbung
Review article
Psychopathologische Symptome als Zeichen
einer Störung im Sprachsystem
Friedel M. Reischies
Friedrich von Bodelschwingh Klinik, Arbeitsgruppe Neuropsychologie und experimentelle Psychopathologie Charité, Berlin, Germany
Funding / potential competing interests: No financial support and no other potential conflict of interest relevant to this article was reported.
Summary
Psychopathological symptoms as signs of a disorder of the speech system
Some psychopathological symptoms are caused by a specific disorder of
the speech system in the brain. Here the factors of incoherence associated to
the language system will be outlined. (1.) Firstly, the role of disorders in the
working memory will be explained. (2.) Subsequently, errors in word retrieval, i.e. in recall from the semantic memory, will be explained by means
of the disorder in neural networks. (3.) Finally, using new data regarding
semantic representation in the cortex in the form of distributed semantic
characteristics, an implicit speech production will be presented, which contributes to incoherence, which however also participates in other symptoms,
such as phonemes, thought insertion and disorders affecting thought control.
Key words: language; memory disorders; word retrieval; semantic representation
laubt sprachliche Kompetenz (nach Chomsky, d.h. beispielsweise die Fähigkeit, richtige von falschen Sätzen zu unterscheiden ) – inkludiert sind die syntaktischen Regeln. Dazu
findet sich in dem individuellen Sprachsystem der Schatz
an semantischen Repräsentationen mit übernommenen
Phrasen, Floskeln und Redewendungen. Es ist in den neuronalen Strukturen ein Sprachverständnissystem und ein
Sprachproduktionssystem realisiert. Die Entwicklung des
individuellen Sprachsystems im Gehirn scheint bei Patienten
mit Schizophrenie in der Entwicklung gestört und dürfte zur
Psychopathologie des Krankheitsbildes beitragen [1].
Einschränkend muss erwähnt werden, dass hier nur drei
sprachliche Bereiche hinsichtlich der Inkohärenz besprochen werden sollen – (1.) verschiedene Formen des sprachlichen Arbeitsgedächtnisses, (2.) Wortfindungs- und Abruffehler und (3.) implizite Sprachproduktion.
Einleitung
Sprachliches Arbeitsgedächtnis
Die Psychopathologie hat vielfältige Beziehungen zur Sprache. Zunächst ist die Psychiatrie ein ausgesprochen sprachbetontes Fach und viele Symptome werden sprachlich
ausgedrückt – einige hängen eng mit dem Sprachsystem
zusammen. Wie ist, wenn man genau hinsieht, die Relation
psychopathologischer Symptome zu einer Störung im
Sprachsystem des Gehirns? In diesem Beitrag interessiert besonders Sprache als kausaler oder modifizierender Faktor,
d.h., das Sprachsystem ist gestört und verursacht dadurch
das psychopathologische Symptom.
Welche Aspekte der Sprache, speziell welche Funktionsebenen der Sprache werden in der Psychopathologie relevant? Um komplexe Diskussionen zu umgehen, soll in Abbildung 1 versucht werden, die verschiedenen Funktionsebenen oder Aspekte der Sprache darzustellen, in denen
psychische Symptome modifiziert oder verursacht werden
können. Pathologie im Bereich der Sprache, wie sie in
diesem Beitrag verstanden werden soll, meint demnach eine
Störung des in einer Person realisierten Sprachsystems, ein
individuelles Exemplar des Fodor-Moduls Sprache. Es erCorrespondence:
Professor Friedel M. Reischies
Friedrich von Bodelschwingh Klinik
Arbeitsgruppe Neuropsychologie und
experimentelle Psychopathologie Charité
Landhausstr. 33–35
D-10717 Berlin
Germany
f.reischies[at]fvbk.de
In der Psycholinguistik sind die Rollen verschiedener Formen des Arbeitsgedächtnisses intensiv untersucht worden.
Nehmen wir an, jemand möchte einen Beitrag in einer
öffentlichen Diskussion leisten und versucht, einen Satz zu
formulieren. Für die konkrete Ausarbeitung einer Aussagenstruktur ist – in der Bemühung, Brüche in der Satzkonstruktion zu vermeiden – eine Sonderform des Arbeitsgedächtnisses notwendig. Fehler in diesem Bereich sind bereits bei
gesunden Menschen häufig. Besonders häufig kommt es bei
der Inkohärenz zu Brüchen in der Satzkonstruktion (s.u.).
Der sogenannte Sprachzerfall in einer akuten schizophrenen
Psychose und Schizophasie bringt massive Defizite in der
Satzkonstruktion mit sich. Auch für das Sprachverständnis
ist ein Arbeitsgedächtnis erforderlich, wenn, wie im Deutschen vielfach, «das Verb auf der nächsten Seite» kommt.
Neben dieser Form sprachlichen Arbeitsgedächtnisses wird
hier vor allem eine andere Form betrachtet, welche sprachliche Denkvorgänge organisiert.
Im Folgenden soll die Relation von Denken und Sprache
das Thema sein. Darum zunächst eine Bemerkung dazu: Mit
Denken bezeichnet man über die sprachlichen Prozesse
hinaus auch nichtsprachliche Transformationen, wie z.B.
mentale Rotation, d.h. sich vorstellen, wie ein komplexer
Körper von unten aussieht usw. Diese Form des Denkens
soll hier keine Rolle spielen. Wir hören das Sprechen des
Patienten. Kommt es zu einem Fehler, wissen wir prinzipiell
nicht sicher, ob der Fehler in der Funktionsebene der
Sprachproduktion oder der des Denkens entstand. In einer
S W I S S A R C H I V E S O F N E U R O L O G Y A N D P S Y C H I A T R Y 2013;164(8):274–9
www.sanp.ch | www.asnp.ch
274
Review article
Abbildung 1
Sprachsystem
1. Historisch entstandene Sprache als linguistisches «System», Entwicklung der deutschen Sprache.
2. Biologisches Sprach«system» in Gehirnen – primär phylogenetisch; speziell: ontogenetisch.
3. Individuelle Realisation der Funktionen und Repräsentationen des Sprach«systems» – hier ist eingeschlossen die individuelle Semantik.
4. Aktuelle Funktion des Sprach«systems» in seinen beiden Aspekten, der Biologie und der (z.B. kommunikativen) Funktion im Sinne von
Sprachverständnis und Sprachproduktion.
Manierismus,
sprachliche Pose
Sprachentwicklung Deutsch
z.B. Slang,
Behördensprache
Sprachentwicklung,
z.B. bei Schizophrenie
Individuelle Entwicklung des neurowissenschaftlichen
Sprachsystems
Sprachmodul
Elaboriertheit,
Differenziertheit
Individuelle Realisierung der Sprache, z.B. der Semantik
– Kontinuierliche Anpassung
Antriebstörung,
Interessen/Werte;
Denkstörungen
Denken
z.B. Entwicklung der
Wortbedeutungen
– soz. Rückkopplung
aktuelle Funktion des Sprachsystems
Sprachmotorik
Akustik
Psychopathologie
Testsituation hören wir beispielsweise anlässlich der Fluency-Aufgabe einen Patienten möglichst viele Wörter mit
dem Anfangsbuchstaben «F» nennen. In dieser Situation
kommt das Sprechen sehr nah an das Denken heran, wenngleich jedoch der prinzipielle Hiatus bestehen bleibt. Beispielsweise werden viele Menschen eine Art Filter aktivieren, unziemliche Wörter nicht zu nennen. Die semantischen
Prozesse der Sprache liegen an der Grenze zum Denken –
oder es wird angenommen, dass es sich um Denkprozesse
handelt. Eine Diskussion dieser Grenzziehung sprengt den
Rahmen dieser Darstellung. Semantische Prozesse werden
hier als Sprachprozesse bezeichnet.
Denkstörungen treten praktisch in allen psychiatrischen
Syndromen auf, oft in charakteristischer Weise. Viele nichtsprachliche Faktoren, wie ein verminderter oder gesteigerter
Antrieb, sind an formalen Denkstörungen beteiligt [2]. Die
Frage wird nun sein, an welcher Stelle beeinflussen sprachliche Faktoren das Denken derart, dass eine spezielle Art der
Denkstörung deutlich wird.
Als Beispiel soll das Denken über das aktuelle Abendessen dienen. Das sprachliche Arbeitsgedächtnis erfüllt dabei
die Aufgabe, ein Denkziel zu behalten [3]. Welche Funktion
hat dieses sprachliche Arbeitsgedächtnis? Ein Topic, ein
Wort (wie z.B. «Abendessen») wirkt als Adresse in einem
Speicher. Was ist dabei die sprachliche Rolle des Denkziels?
Ein Wort, ein Thema wird zu einer die folgenden Denkprozesse überdauernden Adresse für den Abruf: Die Wortfindung ist ein Abruf aus dem semantisch/lexikalischen
Gedächtnis. Das Thema «Abendessen» zum Beispiel fördert
den Abruf von semantischen Einheiten (wie Kochen,
Restaurant usw.) oder auch den Abruf von Einträgen im
episodischen Gedächtnis («Kommt jemand zu Besuch?»,
«Pizza beim Italiener um die Ecke war doch letztes Mal
gut»). Das Denkziel startet einen Abruf aus dem semantischen und episodischen Gedächtnis. Denkstörungen treten
z.B. Arbeitsgedächtnis:
Adresse für Abruf;
syntaktische
Elaboration
Beispiele
wegen des Vergessens aus dem Arbeitsgedächtnis oder
wegen des zeitweiligen Nichtbeachtens des Denkziels auf:
Den Faden verlieren oder Umständlichkeit. Für die Inkohärenz ist – neben dem Bruch der Satzkonstruktion (s. oben) –
der fehlende Spannungsbogen in einer sprachlichen Äusserung wichtig. Das Arbeitsgedächtnis organisiert weiterhin
den Vergleich der Einfälle mit dem Denkziel und gegebenenfalls das Updaten der Inhalte des Denkziels.
Unvermitteltes Unterbrechen eines Gedankengangs
kommt als Gedankenabreissen in der Psychopathologie der
Schizophrenie als seltenes Symptom vor. Vermutlich häufiger ist, dass Patienten mit Schizophrenie keine Texte lesen,
weil sie die Exposition mit der Vorstellung von Personen,
Sachverhalten und Problemen irgendwann beim Lesen
plötzlich aus dem Arbeitsgedächtnis verlieren – d.h. unvermittelt nicht mehr wissen, was in dem Text der Fall ist und
wieder von vorne anfangen müssten.
Fehler im Abruf aus dem semantischen Gedächtnis,
in der Assoziationsbildung und in der Wortfindung
Ein weiteres Merkmal der Inkohärenz ist, dass Sprünge im
Gedankengang auftreten, die unverständlich sind. Ein
Grund liegt darin, dass Patienten mit einer akuten Schizophrenie in einem Kontext nicht nur Kontext-angemessene
Wörter nennen, sondern auch auf Wörter kommen, die
nicht erwartet werden. Hierfür wird zur Erklärung herangezogen, dass bei Patienten mit einer Schizophrenie die Adresse, die vom Arbeitsgedächtnis bereitgestellt wird, nicht
angemessen wirksam wird, sie führt zur Aktivierung eines
unpassenden Wortes. Eine Adresse führt nicht zu einem erfolgreichen, sondern zu einem fehlerhaften Abruf (Abb. 2).
Warum könnte das Denkziel nicht wirken? Eine Erklärung für den fehlerhaften Abruf aus dem semantischen
S W I S S A R C H I V E S O F N E U R O L O G Y A N D P S Y C H I A T R Y 2013;164(8):274–9
www.sanp.ch | www.asnp.ch
275
Review article
Abbildung 2
Sprichworterklären: «Morgenstund hat Gold im Mund».
1. Ein Patient startet mit dem Abruf von beispielsweise «heller Morgen». Er wird mit diesem Kontext eher die Farbe des Goldes aktivieren,
das Aussehen: z.B. «es blitzt dann in der Morgensonne der Goldzahn im Mund» und nicht
2. über früh am Morgen aufstehen; Fleiss; sich das wertvolle Zahngold leisten können.
3. Andere Patienten können überhaupt keinen sinnvollen Abruf erreichen: Beispielsweise werden sie Klangassoziationen nennen.
«Morgenstund // hat Gold // im Mund»
«hold, Sold»
phonematisch
Hell
«Gold»
Farbe
äussere Eigenschaft
Fleiss
funktionale Eigenschaft
schwer, Wert
Ring, Münze, Zahn
kausal
Beispielhafte Aspekte des Wortes
Gedächtnis liefert die Theorie der neuronalen Netzwerke.
Hoffman stellte das wegweisende Modelle zur Erklärung
formaler Denkstörungen bei Patienten mit Schizophrenie
vor, das von der Speicherung semantischer Relationen in
den Verbindungsstärken zwischen Neuronen in einem
neuronalen Netzwerk ausgeht [4]. Hier, in diesem Rahmen,
kann die Theorie der neuronalen Netzwerke nicht erklärt
werden. Entscheidende Vorarbeiten wurden gemacht durch
die Entwicklung distributiver Speicherung (Gedächtnismatrix). In leistungsfähigen Rechnern wurde eine digitale
Simulation möglich. Das Prinzip der Speicherung liegt in
den Verbindungsstärken von einem neuronalen Knoten
zum nächsten neuronalen Knoten – wodurch der Input ins
Netz (Aktivierung der Eingangsknoten) zu einem sinnvollen
Output (Aktivierung von Ausgangsknoten) führt. Allein
die Einführung einer Rückkopplung der einfachsten Art
(Hebb-Lernen) führt – nach Lerndurchgängen mit Erfolg
und Misserfolg – zu einer Etablierung der erfolgreichen
Verknüpfung im Netzwerk (s. Lehrbücher über Neurowissenschaft); damit ist eine angepasste Stimulus-ResponseVerbindung gespeichert. Das Rückkopplungsprinzip besteht
beispielsweise darin, dass der Erfolg der Antwort zur Stärkung der neuronalen Knotenverbindungen führt, die gerade
aktiv waren.
Es wurde sodann versucht, nicht nur normale Funktionen, sondern auch pathologische Abläufe im Gehirn in
neuronalen Netzen zu simulieren. Veränderung der Verbindungsstärken der neuronalen Knoten im neuronalen Netz
führt zur Erhöhung der Fehlerrate im Abruf. Veränderungen
an den Verbindungen im neuronalen Netz können zum
Beispiel durch Veränderung im Transmittersystem erklärt
werden. Ist die Störung der Verbindung der neuronalen
Knoten nach kurzer Zeit reversibel, wird danach wieder
fehlerfrei abgerufen.
Inkohärenz bei Patienten mit Schizophrenie wird nach
diesem Modell mit fehlerhaftem Abruf durch distribuierte
temporäre Veränderung der Verbindungsstärken der neuronalen Knoten erklärt. Dies führt zur Erhöhung der Fehlerrate im Abruf aus dem neuronalen Netz.
Als Beispiel für eine Inkohärenz bei einem Patienten mit
einer Schizophrenie soll ein Ausschnitt aus der sprachlichen
Äusserung des Falls D. dienen. Der Patient äusserte diese
Sätze flüssig in normaler Prosodie: «... in diesem Segment
fühlt man sich mit dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt. Das ist nicht so gut; weil das ist vorstandsbezogen zu
naiv, ähmm ... es lässt einen ja ohnehin wirklich seit zwanzig Jahren keine freie Schematik der Erörterung zu. Es muss
die Bildung der absoluten Vernunft handeln. Hat dafür aber
S W I S S A R C H I V E S O F N E U R O L O G Y A N D P S Y C H I A T R Y 2013;164(8):274–9
www.sanp.ch | www.asnp.ch
276
Review article
auch wirklich keine Freiheitsmasse, persönlich irgendwie
individuell betrachtet zu werden oder einfach viel zu viele
Zusammenhänge zu kritisieren.»
Neben Brüchen in der Satzkonstruktion, gedanklichen
Sprüngen und ungewöhnlichem Wortgebrauch sind die
Syntaxregeln vielfach verletzt.
Weitere Sprachproduktion des Patienten D.:
– habe mich lange «vehement unterbewusst gewehrt»
– «paranoider Suggestionswahn der niederen Beweggründe»
– «Richtigkeitsrechnung»
– «mit seinem verantworteten Wissen umgehen»
– «ich denke nicht [...] ist eine Grundlosigkeit [...] freies
Leben ohne die Realität vorstellen [...] denken, damit
wird man wahnhaft gestört»
– «rechtsvehemente Fehler sind gemacht worden»
– «Verstand ist die Ausartung der Bewegung»
– «Psychosomase»
Nach der Bitte, seine Gedanken zu seinem Wahn einem
einfachen Menschen aus der Bevölkerung zu erklären, fiel
er trotz Bemühung sofort wieder in die unverständliche
Sprachproduktion. Über alltägliche Sachverhalte hingegen
waren von dem Patienten klare und fehlerfreie Sätze zu
hören. Es handelt sich hierbei offenbar um das sogenannte
Registerziehen.
Mit dem hier verfolgten Erklärungsmodell kann auch
das schizophrene Vorbeireden veranschaulicht werden. Die
Patienten antworten abwegig: die Frage führt primär zu
einem falschen Abruf, der die Elaboration der Antwort weiterhin in eine falsche Richtung lenkt. Die Patienten können
die Frage wiederholen, sie haben sie verstanden.
Implizite Sprachproduktion
Neben einer Störung im für das Denken wichtigen sprachlichen Arbeitsgedächtnis und dem fehlerhaften Abruf aus
dem semantischen Gedächtnis soll ein dritter «Mechanismus» für die Erklärung von formalen Denkstörungen angeführt werden, der genuin sprachlichen Charakters ist – die
implizite Generierung von Sprache.
In Verhandlungen beispielsweise können wir in der
Regel explizit kontrolliert sprachliche Äusserungen vorbereiten – im Gegensatz zum Traum, in dem wir sprachliche
Äusserungen ohne unsere explizite Kontrolle erleben (wenn
es sich nicht um Erinnerungen aus dem episodischen
Gedächtnis handelt). Ausser im Traum scheint es bei psychopathologischen Symptomen eine besondere Rolle impliziter Sprachproduktion zu geben.
Die explizite Kontrolle der Sprachproduktion ist nicht
bis in die einzelnen Prozesse hinein möglich, was zu dem
Charakter eines modularen Systems nach Fodor gehört. Der
Mensch erlebt nach einem Gedanken über die Intention der
Aussage in der Regel den Ablauf der konkreten Sprachproduktion passiv – er kann nur korrigierend eingreifen und
manchmal noch stoppen. Dadurch hat er dabei das Gefühl
der Kontrolle.
Zur Unterstützung der Argumentation, dass es eine implizite Sprachproduktion gibt und dass diese eine Rolle in
der Psychopathologie hat, werden wir in diesem Rahmen
speziell die semantische Verknüpfung betrachten, die sich
aus der semantischen Repräsentation ergibt. Die zusätzlich
ablaufende implizite Elaboration der Äusserung mit Ausformulierungen, syntaktischen Anpassungen usw. müssen
wir auslassen.
Repräsentation semantischer Einheiten
Zunächst soll eine Spezifizierung der Modelle neuronaler
Netzwerke für die Repräsentation von semantischen Einheiten/Wörtern dargestellt werden. Beispielsweise wie
wird eine semantische Einheit wie «Flugzeug» im Gehirn
repräsentiert? Hier geht es nicht einfach nur um die lexikalischen Einträge, sondern die vollständige – individuelle –
semantische Repräsentation, mit den Konnotationen einer
semantischen Einheit. Repräsentation wird hier im Sinne
der neurowissenschaftlichen Kognitionswissenschaft als die
Aktivierung von Neuronenverbänden verstanden, die alle
Verschaltungen für die Auswirkungen der Aktivierung der
Repräsentation beinhalten. Dies soll an einem Beispiel verdeutlicht werden: Wenn die Repräsentation «Halt» aktiviert
wird, dann nicht nur die lexikalische Einheit «Halt», sondern zugleich damit die Bedeutung mit allen semantischen
Konnotationen, die bildliche Vorstellung, die Aussprache
und, vor allem auch, Handlungsvorbereitungen für das Konzept «Halt».
Eine wegweisende Studie zur Frage der neuronalen
Organisation der Repräsentation von semantischen Einheiten ist von Mitchell und Mitarbeitern veröffentlicht
worden [5]. Sie massen (1.) im fMRI das Muster der Hirnaktivierung für eine Reihe von Standardwörtern. Weiterhin
wurden die Daten über das gemeinsame Auftreten der
Wörter im natürlichen Sprachkontext herangezogen und
(2.) wurden dann aus diesen Daten über statistische Verknüpfungen von weiteren Wörtern wie Flugzeug oder
Sellerie mit den gemessenen Standardwörtern das fMRIAktivierungsmuster für «Flugzeug» oder «Sellerie» vorausgesagt (beim Flugzeug beispielsweise mehr Aktivierung im
visuellen Cortex als bei Sellerie). Die vorhergesagten fMRIMuster stimmten weitgehend mit den für die Zielwörter
ermittelten Aktivierungsmustern im fMRI überein. Aus dem
fMRI-Aktivierungsmuster konnte vorausgesagt werden,
welches der weiteren Wörter die Person verstanden hat.
Fazit ist, dass die Bedeutung eines Wortes distribuiert gespeichert sein dürfte in dem charakteristischen Muster
aktivierter Pixel im fMRI, wobei die Ähnlichkeit des Repräsentationsmusters zu Wörtern, die häufig gemeinsam auftreten, höher ist.
Eine Plausibilität für dieses Modell liegt darin, dass eine
semantische Einheit durch die Aktivierung des semantischen Hofs repräsentiert wird. Dieser ist in der Regel für jede
semantische Einheit einzigartig. Es handelt sich weiterhin
um eine distribuierte Speicherung, die weniger fehler- und
schädigungsanfällig ist.
Speziell interessant ist hier der Umstand, dass beim Verstehen eines Wortes die Wahrscheinlichkeit der Aktivierung
von assoziierten Wörtern bzw. Folgewörtern (Sellerie ist …)
oder (ein Flugzeug ist …) erhöht wird, d.h. die Schwelle der
Aktivierung von Folgewörtern erniedrigt wird.
S W I S S A R C H I V E S O F N E U R O L O G Y A N D P S Y C H I A T R Y 2013;164(8):274–9
www.sanp.ch | www.asnp.ch
277
Review article
Dazu kommt, dass damit eine Feed-forward-Charakteristik der neuronalen Verarbeitung ermöglicht wird. Mit
jedem Wort wird die Wahrscheinlichkeit der Aktivierung
eines Folgeworts erhöht, wenn es nach der Sprachstatistik
häufig zusammen mit dem ersten Wort vorkommt. Die Charakteristik der menschlichen Informationsverarbeitung des
Gehirns im Sinne von Vorhersage und Wahrscheinlichkeit
des Eintreffens eines Ereignisses ist in den letzten Jahren
plausibel gemacht worden (s. Bayesian brain). In der
Sprachverarbeitung ist allein schon die Schnelligkeit der
Informationsverarbeitung beim Sprachverständnis ein Argument für diese Charakteristik. Denn wir können vermutlich
deswegen äusserst schnell komplexe Sprachäusserungen
verstehen, weil wir die jeweils folgenden Wörter vorhersagen. Als Beleg dafür hat man seit langem Abweichungen
von erwarteten Folgewörtern im EEG mittels N400 messen
können [6].
In diesem Modell kann weiterhin die jeweils richtige
Vorhersage «belohnt» werden. Über diese Rückmeldungssensitivität kann das semantische Netzwerk permanent trainiert werden und derart die kontinuierliche Anpassung an
den Sprachgebrauch in der individuellen Umgebung ermöglicht werden [7]. In unserem Zusammenhang wichtig ist,
dass das dopaminerge Transmissionssystem für die positive
Rückmeldung richtiger Voraussagen im Gehirn verantwortlich ist und zur plastischen Anpassung an den Sprachgebrauch der Mitmenschen beiträgt.
Die Erhöhung der Wahrscheinlichkeit der Aktivierung
von passenden Folgewörtern kann eine sprachliche Sequenz
anregen (mit weiterer automatischer syntaktischer Elaboration). Damit entstehen sprachliche Verbindungen, die als
Gedanken oder sogar als Äusserungen mitgeteilt werden
können. Woher kommen die Worte für eine implizite
Sprachproduktion? Die Wörter, die Folgewörter aktivieren,
können beispielsweise aus dem Arbeitsgedächtnis selbst
(Aspekte des Denkziels) stammen, von extern angeregt werden (implizite Benennung), von den abgerufenen Wörtern
abgleitet sein oder als Folge von habituellen «Hintergedanken» aktiviert sein; einige Menschen berichten, dass sie
stets, auch in Gesprächen, im Hintergrund andere Gedanken
haben (s.u.).
Zusammenfassend kann aus vielerlei Gründen angenommen werden, dass neben dem expliziten Denken im
Gehirn auch implizite sprachliche Prozesse ablaufen können, die – in mehr oder weniger ausformulierter Form – im
ZNS aktiviert sind. In der psychoanalytischen Tradition wird
auf unterbewusste sprachliche Aspekte von konflikthaften
Triebregungen abgehoben. Hier soll jedoch eine allgemeinere Auffassung impliziter Sprachprozesse im Fokus des
Interesses stehen.
Im normalen Denk- und Sprachablauf erleben wir die
implizite Sprachproduktion nicht oder nur kaum einmal.
Diejenigen Wörter, die im Denkprozess nicht ausgewählt
werden, müssen unterdrückt werden, d.h. die sie repräsentierenden Neuronenverbände werden gehemmt. Es ist
anzunehmen, dass im Ausmass und der Qualität dieser
Hemmung ein Faktor für die Entstehung psychopathologischer Symptome zu suchen ist.
Neben der expliziten Sprachproduktion unter der Kontrolle des Wachbewusstseins gibt es – zusammenfassend –
eine autonome Sprachproduktion, die ohne Kontrolle des
Wachbewusstseins abläuft, quasi automatisch auf den Pfaden der sich sequenziell aktivierenden Wörter / semantischen Einheiten.
Dies spielt bei einer Reihe von psychopathologischen
Phänomenen eine Rolle. Wir wollen im Folgenden mögliche
Rollen bei der Inkohärenz und bei anderen psychopathologischen Symptomen betrachten. In der Inkohärenz ist (1.)
die Ordnung der sprachlichen Äusserungen durch eine Dysfunktion im Arbeitsgedächtnis gestört. (2.) Ist der Abruf aus
dem semantischen Gedächtnis fehlerhaft und dazu kommt
(3.) auch implizite Sprachproduktion, die gewissermassen
unkontrolliert in den Argumentationsverlauf eingespielt
wird, den der Patient im Sinn haben kann. Die implizit produzierten Gedanken, die in der Gedankenkontrollstörung
wahrgenommen werden (s.u.), können in den explizit geäusserten Gedankengang eindringen und so zusätzlich für
Unverständlichkeit sorgen.
Es gibt ausser der Inkohärenz weitere Beispiele für eine
Rolle impliziter Sprachproduktion bei psychopathologischen
Phänomenen.
Gedankenkontrollstörung
Wir interessieren uns aktuell für Gedankenkontrollstörungen, d.h. die Wahrnehmung von Patienten, dass sie die Kontrolle über ihre Gedanken verloren haben. In der traditionellen Psychopathologie wird ein verwandtes Konzept als
Gedankendrängen (AMDP) bezeichnet, wobei mehr die
Fülle der Gedanken und die Unkontrollierbarkeit dieser Flut
von Gedanken auch bei manischen Patienten abgebildet
wird.
Eine Befragung konsekutiver Patienten der Klinik mit
der Diagnose Schizophrenie wurde durchgeführt. Die Frage
lautete, ob sie Gedanken nicht stoppen, nicht kontrollieren
können oder die in der akuteren Phase der Schizophrenie
nicht konnten:
Zitate:
– «Sich aufdrängende» Gedanken
– Gedanken nicht kontrollieren können: «In der Psychose»
– habe eine Zeit lang «Gedanken nicht stoppen können»
– «Gedanken ziehen vorbei wie im Traum, ja, keine Kontrolle»
– «Es sind meine Gedanken» – hat nur minimal mit Angst
zu tun
– Es treten andere Phantasien dazu, nicht zu kontrollieren
– «Gedanken und Erinnerungen sind nicht zu kontrollieren»
– Kontrolle der Gedanken gestört, «nicht frei denken»
– Gedanken «verselbständigen sich»
– In akuter Psychose «Gedanken verflossen»
– Strom der Gedanken «wäre eine Überforderung für die
anderen»
– Gedanken zogen vorbei, ich «war passiv»
– «Auch philosophische Gedanken» nicht zu stoppen
– Wechselnde Inhalte, auch «interessant»
Die Patienten berichten häufig, dass es eben dieses Gefühl des Verlusts der Kontrolle über die eigenen Gedanken
ist, das für sie die «Psychose» ausmacht.
S W I S S A R C H I V E S O F N E U R O L O G Y A N D P S Y C H I A T R Y 2013;164(8):274–9
www.sanp.ch | www.asnp.ch
278
Review article
Auszählung von Schizophrenie-Patienten mit Gedankenkontrollstörungen: Über zwei Drittel der befragen Patienten mit Schizophrenie berichteten über das Phänomen
aktuell oder in der akuten Psychose (33 von 46 Patienten).
Sekundäre Wahnbildung:
Patienten mit Schizophrenie sagen z.B. «Ich denke gar
nicht». «Etwas denkt durch mich hindurch» und sie erwägen, dass es eine IT-Maschine sein muss, die an ihr Gehirn
angeschlossen sein muss.
Running commentary und Phoneme
Einige Menschen erleben ein «running commentary» in
ihrem Kopf, als Gedanken oder als Stimmen. Bei einem Teil
befragter Personen treten offenbar permanent im Hintergrund Gedanken auf. Diese dürften mit der impliziten
Sprachproduktion zu erklären sein. In der akuten schizophrenen Psychose beginnen die passiv erlebten Hintergrundgedanken das Denken zu dominieren, wie es einige
der Patienten berichten.
Wenn die implizite Sprachproduktion akustisch vernehmbar ist, wird sie als Phoneme wahrgenommen. Das
Faktum der akustischen Qualität der impliziten Sprachproduktion ist ein weiteres Phänomen, das hier nicht betrachtet werden kann. Die Patienten können sich meist
nicht vorstellen, dass die Sprache, die sie als Phoneme
hören, gewissermassen unkontrolliert in ihrem Gehirn
produziert worden sein soll. Patienten nach erfolgreicher
Therapie langanhaltender Phoneme berichten, sie seien
erstaunt, dass es in ihrem Kopf plötzlich «leise» ist.
Gedankeneingebung
Gedankeneingebung ist ein weiteres Phänomen, das mit
impliziter Sprachproduktion im Gehirn zusammenhängen
könnte – es könnte sein, dass die Gedanken des Patienten
nicht als fremd verkannt werden, also nach kontrollierter
Produktion nicht mehr als eigene gesehen werden, sondern
dass sie primär implizit entstanden sind und nie unter Kontrolle des Patienten standen. Offenbar erkennen die meisten
Menschen die impliziten Gedanken als eigene an, wenn sie
nicht die Charakteristik von Phonemen bekommen, oder
aufgrund weiterer Charakteristik wie bei der Gedankeneingebung, die jedoch noch nicht weiter erforscht ist [8].
Aus der Rückmeldungssensitivität im Rahmen des oben
genannten Modells des Sprachverständnisses aus Vorhersagen der statistisch wahrscheinlichen Folgewörter folgt,
dass eine Störung in diesem Bereich eine Rolle in der Psychopathologie haben dürfte. Dies gilt z.B. für den ungewöhnlichen Wortgebrauch: Bei einer Störung der Plastizität
des semantischen Systems durch eine Störung beispielsweise
im dopaminergen System bei Schizophrenie kann eine ausbleibende Korrektur von ungewöhnlichem Sprachgebrauch
erklärt werden. Gesunde Personen können ihre Erwartung
von assoziierten Wörtern über die Rückmeldung bei falschen Voraussagen und der daran geknüpften plastischen
Veränderungen im neuronalen Netzwerk adaptieren. In der
Schizophrenie wird diese Rückmeldung folgenlos bleiben
oder zu falschen Spuren im semantischen Gedächtnis führen. Bei schizophrenen Patienten kann die mangelnde
Rückkopplung nicht nur über eine dopaminerge Störung
verursacht werden. Zusätzlich könnte auch der Kommunikationsverlust infolge des sozialen Rückzugs und sozialer
Isolierung eine Bedeutung haben [3]. Dieser Mechanismus
kann – im weiteren Sinne – zur Aufrechterhaltung der falschen Aussagen des Wahns beitragen. Wieweit hierbei eine
dopaminerge Störung als Grund für die ausbleibende Korrektur schizophrener Wahnaussagen angenommen werden
muss, kann im Moment nicht gesagt werden.
Konklusion
Das Sprachsystem ist bei einigen Symptomen der Psychopathologie beteiligt in dem Sinne, dass die Störung des
Sprachsystems das Symptom formt oder es kausal bedingt.
Es wurden vorwiegend drei Bereiche der sprachlichen Einflussnahme auf psychopathologische Symptome dargestellt,
(1.) das sprachliche Arbeitsgedächtnis, (2.) der falsche Abruf von Wörtern aus dem semantischen Gedächtnis und
(3.) eine implizite Sprachproduktion.
Darüber hinaus existieren weitere Einflüsse von Sprache
auf psychopathologische Symptome, die aber hier nicht
dargestellt werden konnten. Lange Zeit schon läuft die
Diskussion über Einfluss des «Mediums» Sprache als historische kulturevolutive Entität auf den Geist, das Denken und
letztlich die sprachlichen Äusserungen. Es gibt die Warnung,
durch Sprache im Denken zu Fehlern verführt zu werden
[9, 10].
Literatur
1 Strik W, Dierks T, Hubl D, Horn H. Hallucinations, thought disorders, and the
language domain in schizophrenia. Clin EEG Neurosci. 2008;39:91–4.
2 Reischies FM. Pathology of Language Behavior in Affective Psychoses.
In: Blanken G, Dittmann J, Grimm H, Marshall JC, Wallesch CW (eds.).Band 8.
Linguistic disorders and Pathologies. An International Handbook. Berlin,
New York: Walter De Gruyter; 1993. p. 513–21.
3 Reischies FM. Psychopathologie – Merkmale psychischer Krankheitsbilder
und klinische Neurowissenschaft. Berlin: Springer; 2007.
4 Hoffman RE. Computer simulations of neural information processing and the
schizophrenia-mania dichotomy. Arch Gen Psychiatry. 1987;44:178–88.
5 Mitchell TM, Shinkareva SV, Carlson A, Chang KM, Malave VL, Mason RA,
et al. Predicting human brain activity associated with the meanings of nouns.
Science. 2008;320:1191–5.
6 Kutas M, Federmeier KD. Thirty years and counting: finding meaning in the
N400 component of the event-related brain potential (ERP). Annu Rev
Psychol. 2011;62:621–47.
7 Prinz W. Selbst im Spiegel – die soziale Konstruktion von Subjektivität.
Berlin: Suhrkamp; 2011.
8 Synofzik M, Vosgerau G, Voss M. The experience of agency: an interplay
between prediction and postdiction. Front Psychol. 2013;4:127.
9 Wittgenstein L. Philosophische Untersuchungen. Frankfurt: Wissenschaftliche
Buchgesellschaft; 2011.
10 Fausey CM, Broditsky L 2010. Subtle linguistic cues influence perceived
blame and financial liability. Psychonomic Bulletin Review 17, 644-50.
S W I S S A R C H I V E S O F N E U R O L O G Y A N D P S Y C H I A T R Y 2013;164(8):274–9
www.sanp.ch | www.asnp.ch
279
Herunterladen