Psychische Störungen bei Patienten im Allgemeinkrankenhaus

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M E D I Z I N
AKTUELL
Volker Arolt
Martin Driessen
Horst Dilling
Z
um Erfahrungsspektrum vieler
niedergelassener oder klinisch
tätiger Ärzte gehört die Wahrnehmung auffälliger psychischer Symptome bei körperlich Kranken. Oft erscheint jedoch zweifelhaft,
ob den entsprechenden Beobachtungen tatsächlich Krankheitswert zukommt und ob eine Behandlungsentscheidung getroffen werden muß. Die
Hinzuziehung eines psychiatrischen
beziehungsweise psychosomatischen
Konsiliars kann sich in dieser Situation
als hilfreich erweisen, wird jedoch im
Klinikalltag aus verschiedenen Gründen ausgesprochen selektiv genutzt
(4). Ein wesentliches Problem stellt in
Deutschland die vielerorts mangelhafte Verfügbarkeit qualifizierter Konsiliarleistungen dar. Praktisches und wissenschaftliches Interesse an der Diagnostik und Behandlung psychischer
Störungen bei körperlich Kranken war
in Deutschland bisher überwiegend in
der psychosomatischen Medizin und
der medizinischen Psychologie erkennbar (21) und meist speziellen Fragestellungen (zum Beispiel der Transplantationsmedizin) gewidmet. Im
psychiatrischen Fachgebiet hat dieser
Aufgabenbereich bis vor wenigen Jahren eher geringe Beachtung gefunden,
obwohl die umfangreichste konsiliarische Versorgungsleistung von psychiatrischen Abteilungen oder hinzugezogenen niedergelassenen Nervenärzten getragen wird. In jüngster Zeit
ist jedoch auch im psychiatrischen Bereich ein zunehmendes Interesse an
der Thematik zu erkennen, das sich
unter anderem in der Einrichtung eines Fachreferats bei der Deutschen
Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde und
der Herausgabe eines praktischen
Leitfadens (33) äußert.
Psychische Störungen kommen
bei Allgemeinkrankenhauspatienten
ausgesprochen häufig vor. Ein
Überblick über die insbesondere im
angloamerikanischen
Sprachraum
Psychische Störungen
bei Patienten im
Allgemeinkrankenhaus
Obwohl insbesondere Studien aus dem englischen Sprachraum zeigen, daß
psychische Störungen bei Allgemeinkrankenhauspatienten häufig vorkommen
und vermutlich auch erheblichen Einfluß auf den Verlauf somatischer Erkrankungen haben, hat diese Thematik in Deutschland bisher vergleichsweise
wenig Beachtung gefunden. Dieser Sachverhalt ist um so kritischer zu sehen, als
vielfältige Hinweise dafür vorliegen, daß die derzeitige konsiliarische Versorgung von somatisch kranken Patienten mit psychischen Störungen unzureichend ist. Die Möglichkeit zur Sekundärprävention psychischer Störungen
bleibt im Krankenhaus oft ungenutzt, mit negativen Konsequenzen nicht nur für
die Patienten selbst, sondern vermutlich auch für die ärztliche Weiterbildung.
verfügbare wissenschaftliche Literatur läßt darauf schließen, daß etwa bei
30 bis 60 Prozent der Patienten
während der Krankenhausbehandlung psychische Störungen oder
eine erkennbare psychopathologische
Symptomatik vorliegen (14, 25, 26).
Die vorliegenden Studien zur Prävalenz variieren allerdings erheblich im
Hinblick auf die gewählten Untersuchungsfelder, Stichproben und psychiatrisch-diagnostischen
Methoden.
Die weitaus meisten Untersuchungen
liegen aus internistischen Fachabteilungen vor. Arbeiten, die sich auf andere Stichproben, zum Beispiel aus
chirurgischen oder neurologischen
Abteilungen, beziehen, sind wesentlich seltener. In methodischer Hinsicht ist außerdem von Bedeutung, ob
eine dimensionale Einschätzung psychopathologisch faßbarer Syndrome
(zum Beispiel Depressivität) oder eine kategoriale Zuordnung zu pyschiatrischen Erkrankungseinheiten entsprechend einer Klassifikation (zum
Beispiel depressive Episode nach
ICD-10 oder major depression nach
DSM-IV) vorgenommen wurde.
Psychische Störungen bei Allgemeinkrankenhauspatienten lassen
sich in vier große ErkrankungsgrupKlinik für Psychiatrie (Direktor: Prof. Dr. med.
Horst Dilling) der Medizinischen Universität
zu Lübeck
A-1354 (50) Deutsches Ärzteblatt 94, Heft 20, 16. Mai 1997
pen einteilen: depressive Störungen,
körperlich begründbare Störungen
(organische Psychosyndrome), Alkohol-, beziehungsweise Substanzmißbrauch sowie weitere Störungen.
Depressive Störungen
Bei 22 bis 61 Prozent (9, 34), im
Mittel bei etwa 25 Prozent, internistischer Krankenhauspatienten werden
Symptome einer depressiven Störung
beobachtet, wenn Screeninginstrumente zur dimensionalen Einschätzung eingesetzt werden. Wird, eventuell zusätzlich, eine Erkrankungsdiagnose gestellt, so ergibt sich mit guter
Übereinstimmung eine Prävalenzrate
von etwa 15 Prozent für das aktuelle
Vorliegen einer depressiven Störung
(11, 23, 35). Für über 65jährige Patienten wurden Prävalenzraten ähnlicher Größenordnung berichtet (7,
16). Die wenigen Untersuchungen
aus chirurgischen Abteilungen (22)
lassen ebenfalls auf eine Depressionshäufigkeit von etwa 15 Prozent
schließen. Es ist umstritten, ob Depressionen gehäuft mit bestimmten
somatischen Erkrankungen, wie
Krebserkrankungen, assoziiert sind.
Bei neurologischen Patienten sind depressive Störungen offenbar sehr häufig, bei etwa 30 bis 35 Prozent, vorzufinden (8, 27). Besondere Aufmerk-
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samkeit wurde in jüngster Zeit der
Komorbidität von zerebralen Insulten
und psychischen Störungen gewidmet: Bei bis zu 50 Prozent dieser
Patienten wurden während des akuten Erkrankungsstadiums depressive
Störungen diagnostiziert (36). Depressionen bei somatisch Kranken haben einen geringeren Schweregrad als
bei psychiatrischen Patienten und
können eine Reaktion auf die somatische Erkrankung im Sinne eines depressiven Modus der Krankheitsverarbeitung sein (31); sie hängen ursächlich aber auch oft mit bereits vorbestehenden psychischen Problemen und
sozialen Schwierigkeiten zusammen
(25, 26). Es handelt sich jedoch um zuverlässig diagnostizierbare und auch
behandlungsbedürftige
psychische
Störungen, die nicht als vermeintlich
normale Begleitreaktionen körperlicher Erkrankungen mißverstanden
werden sollten.
Körperlich begründbare
Störungen
Körperlich begründbare Störungen (organische Psychosyndrome)
kommen in internistischen Abteilungen im aktuellen zeitlichen Querschnitt mit Häufigkeiten zwischen
neun und etwa 33 Prozent (20) vor.
Die veröffentlichen Prävalenzraten
sind nur schwerlich vergleichbar, da
sich die untersuchten Stichproben
hinsichtlich ihres Anteils an über
65jährigen Patienten erheblich unterscheiden. Dieser Faktor fällt hinsichtlich der Häufigkeit körperlich begründbarer Störungen weit mehr ins
Gewicht als mögliche Differenzen, die
sich aus der Anwendung dimensionaler Skalen oder kategorialer diagnostischer Methoden ergeben. Die Arbeitsgruppe um Cooper führte die in
Deutschland bislang einzige Untersuchung zur Häufigkeit kategorial erfaßter psychischer Störungen durch.
Sie untersuchte Patienten im Alter
von 65 bis 85 Jahren in Mannheimer
Allgemeinkrankenhäusern und ermittelte eine Punktprävalenz von
neun Prozent. Diese Rate liegt im internationalen Vergleich eher niedrig.
Die meisten Studien zeigen auch,
daß akute organische Psychosyndrome etwa mit gleicher Häufigkeit bei
internistischen Patienten auftreten
wie chronische, dementielle Erkrankungen.
Alkoholmißbrauch
und Abhängigkeit
Mißbrauch und Abhängigkeit von
psychotropen Substanzen stellen im
Allgemeinkrankenhaus ebenfalls ein
häufiges Problem dar. Während die
Prävalenz des Gebrauchs von illegalen
Drogen sehr starken regionalen
Schwankungen
unterliegt,
sind
Mißbrauch und Abhängigkeit von Alkohol international weit und vergleichsweise gleichförmig verbreitet.
Die folgenden Angaben beziehen sich
daher auf diese Erkrankungsgruppe.
Ein Hauptproblem der epidemiologischen Alkoholismusforschung besteht
in der unklaren Definition der Erkrankungseinheiten und der Abgrenzung
von schädlichem Gebrauch und Abhängigkeit. Eine Übersicht über die
methodisch akzeptablen Studien ergab, daß bei 10 bis 20 Prozent der Patienten in internistischen und chirurgischen Abteilungen eine alkoholbezogene Störung angenommen werden
muß (11, 28, 30). Frühere Untersuchungen aus dem deutschen
Sprachraum (5, 6, 29) ergaben Prävalenzraten von etwa 10 bis 15 Prozent.
Die jüngst veröffentlichte, methodisch
sehr gründliche Untersuchung von
John und Mitarbeitern (18), die sich
auf internistische und chirurgische Abteilungen eines Lübecker Allgemeinkrankenhauses bezieht, kam zu dem
Ergebnis, daß bei 12,7 Prozent der Patienten aktuell eine Alkoholabhängigkeit und bei weiteren 4,8 Prozent ein
Alkoholmißbrauch besteht, darüber
hinaus bei 9,7 Prozent der Verdacht auf
Vorliegen einer alkoholbezogenen
Störung. In den vorliegenden Untersuchungen besteht Konsens dahingehend, daß Männer etwa dreimal häufiger als Frauen betroffen sind.
Andere psychische
Störungen
Bei insgesamt etwa zehn Prozent
somatisch Kranker bestehen andere
als die genannten psychischen Störungen, so zum Beispiel Angsterkrankun-
gen, somatoforme Störungen, Schizophrenien und Persönlichkeitsstörungen. Die Prävalenzangaben der wenigen Studien, die sich mit den genannten
Störungseinheiten
befassen,
schwanken stark und lassen verläßliche Schätzungen derzeit noch nicht zu.
Die Lübecker Allgemeinkrankenhausstudie
Eine Übertragung der Ergebnisse von Studien aus dem angloamerikanischen Sprachraum auf deutsche
Verhältnisse ist aufgrund wesentlicher
Unterschiede in den jeweiligen medizinischen Versorgungssystemen problematisch. Für den deutschen
Sprachraum lagen, mit Ausnahme
von Studien zum Alkoholismus und
der Mannheimer Studie an 65- bis
85jährigen Patienten, bislang keine
Untersuchungen vor, die eine Schätzung der Punktprävalenz psychischer
Störungen erlauben. Wie international ist auch in Deutschland weitgehend unklar, welcher Behandlungsbedarf im Zusammenhang mit dem Vorliegen psychischer Störungen bei Patienten in allgemeinen Krankenhäusern besteht. Erst eine möglichst
valide Schätzung beider Sachverhalte
erlaubt eine realitätsgerechte Planung
von Versorgungsleistungen. In diesem
Zusammenhang ist evident, daß die
bisher vorliegenden Untersuchungen
in wesentlich geringerem Maße
als Planungsgrundlage herangezogen
werden können als die bekannten Erhebungen aus der Allgemeinbevölkerung (10, 12) oder Allgemeinarztpraxen (39, 24) im deutschsprachigen
Raum.
Die Lübecker Allgemeinkrankenhaus(LAK)-Studie wurde in vier
Lübecker Krankenhausabteilungen,
jeweils zwei internistischen und zwei
chirurgischen, durchgeführt, die eine
für die Versorgung von Allgemeinkrankenhäusern typische Struktur aufwiesen. Auf die Methodik der Untersuchung wird an anderer Stelle ausführlich eingegangen (2); sie soll hier
nur kurz dargestellt werden. Im zeitlichen Querschnitt wurden alle Patienten von insgesamt 15 Stationen
während 14tägiger Perioden untersucht. Eine Untersuchung wurde von
21 (4,8 Prozent) Patienten abgelehnt,
Deutsches Ärzteblatt 94, Heft 20, 16. Mai 1997 (51) A-1355
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17 (3,9 Prozent) waren zu schwer er- gnostik psychischer Störungen wur- einbezogen, ergibt sich eine Prävakrankt, als daß eine Untersuchung zu- den, im Gegensatz zu bisher vorliegen- lenzrate von 13,2 Prozent (CIDI: 9,0
mutbar gewesen wäre. N = 400 Patien- den Arbeiten, verschiedene pharma- Prozent); Männer sind etwa sechsfach
ten (je 200 aus internistischen und chir- ko-, psycho- und soziotherapeutische überrepräsentiert. Bei 44,4 Prozent
urgischen Abteilungen) wurden einge- Behandlungsmöglichkeiten benannt.
der Patienten mit AlkoholabhängigTabelle 1 gibt die wesentlichen keit bestand mindestens eine weitere,
hend untersucht. Die Patienten waren
zwischen 18 und 97 Jahren alt, der Me- Ergebnisse im Hinblick auf die Punkt- komorbide psychische Störung (1). Es
dian lag bei 66 Jahren. Der Frauen- prävalenz psychischer Störungen wie- zeigt sich, daß sich auf der Basis klinianteil betrug 48,3 Prozent.
scher Diagnostik eine höhere
Tabelle 1
Die Untersuchung wurde
Gesamtprävalenz ergibt als
von sechs Fachärzten für
Häufigkeit aktuell vorliegender psychischer Störungen (ICD-10) bei unter ausschließlicher VerPsychiatrie (mit ZusatzbeN = 400 internistischen und chirurgischen Allgemeinkrankenhaus- wendung des CIDI. Während
zeichnung
„Psychotheradie Übereinstimmung (auch
patienten (Prozent)
pie“) durchgeführt. Bei der
fallweise) zwischen beiden
Diagnostisches Vorgehen
psychiatrischen
UntersuVerfahren im Bereich organichung kam ein standardisierscher Psychosyndrome sehr
ICD-10 Diagnose
CIDI
klinische
tes Interviewverfahren, das
hoch ist, wirkt sie im Bereich
Untersuchung
composite international diader Depressionen durch das
gnostic interview (CIDI), zur
CIDI zugunsten der depressiDepressive Episode
7,5
3,8
Anwendung. Dieses Diagnoven Episoden verschoben. Im
Dysthymia
0,8
4,3
seinstrument wurde in den
Hinblick auf die meisten
Depressive Reaktion
–
7,3
USA entwickelt und im AufStörungseinheiten
werden
trag der WHO ins Deutdurch das CIDI insgesamt
Organische
sche übersetzt (38). Es erweniger Erkrankungen erPsychosyndrome
17,5
16,5
möglicht eine computergefaßt als mit Hilfe des zusätzlidavon: Demenzen
–
11,0
stützte psychiatrische Diachen klinischen Vorgehens.
Alkoholmißbrauch
1,8
1,8
gnose nach ICD-10 und
Die wesentlichen Gründe für
Alkoholabhängigkeit
2,5
4,5
DSM-III-R (beziehungsweidie benannten Unterschiede
Anderer Substanzse DSM-IV) und zeichnet
sind zum einen darin zu sumißbrauch
0,3
1,8
sich durch eine hohe Reliabichen, daß die Störungskatelität aus. Das diagnostische
gorie der depressiven ReaktiAngststörungen
0,8
1,0
Vorgehen ist dadurch geon auf der Basis des CIDI
Somatoforme und
kennzeichnet, daß mit Hilfe
nicht erfaßt werden konnte.
dissoziative Störungen
1,8
3,3
von sektionsweise vorgegeWesentliche Gründe waren
Andere Störungen
0,3
2,8
benen Fragen und Antwortjedoch zum anderen, daß die
möglichkeiten alle psychiadiagnostischen Urteile der an
Psychische Störungen,
trisch relevanten Störungen
der Untersuchung beteiliginsgesamt
33,0
46,8
angesprochen und erfaßt
ten, langjährig erfahrenen
Angegeben ist die Punkt(Sieben-Tages-)prävalenzrate psychiwerden. Basierend auf diePsychiater
wahrscheinlich
scher Störungen, das heißt Störungen wurden als vorhanden
sem Verfahren, wurde in der
weniger
durch
Verleugnungsgewertet, wenn sie in einem Zeitraum von sieben Tagen vor der
Untersuchung vorgelegen hatten. Die psychiatrische Diagnostik
LAK-Studie jedoch als Ermechanismen der Patienten
erfolgte bei jeweils 200 internistischen und chirurgischen Patiengänzung ein zusätzliches kli(zum Beispiel bei Alkoholabten auf der Grundlage 1. der alleinigen Anwendung eines stannisches Interview durchgehängigkeit, Depression) bedardisierten Verfahrens, des composite international diagnostic
interview (CIDI; WHO, 1992), 2. einer Ergänzung durch eine
führt. Diese Erweiterung des
einflußt wurden und auch auf
zusätzliche psychiatrisch-klinische Untersuchung.
diagnostischen Vorgehens
umfassenderer Informationserschien im Hinblick auf die
sammlung aus allen zur Verdurch körperliche Erkrankungen er- der. Aufgeführt werden neben CIDI- fügung stehenden Quellen beruhten.
heblich komplizierte Sachlage, aber Diagnosen auch klinische Diagnosen Es ist zu vermuten, daß bei ausauch unter Berücksichtigung der zu er- mit einem relevanten Schweregrad schließlicher Anwendung des CIDI
wartenden Verleugnungstendenzen > 2 (vergleiche 10, 12), das heißt, es eine Kerngruppe eher schwererer
von seiten der Patienten sowie anderer lagen krankheitswertige Symptome Störungen abgebildet wird.
Erwägungen geboten. Sämtliche er- vor, die zu subjektiv belastenden EinIm Hinblick auf alle in Tabelle 1
hältliche Angaben von betreuenden schränkungen und Behinderungen aufgeführten Erkrankungsgruppen
Ärzten, Krankenpflegepersonal und führten. Die häufigsten Störungs- ist zu berücksichtigen, daß aus GrünAngehörigen wurden einbezogen. Es gruppen sind Depressionen, psycho- den der Übersichtlichkeit lediglich
wurden verschiedene diagnostische organische Störungen und alkoholbe- die Hauptdiagnosen (aktuell klinisch
Klassifikationen (ICD-9, ICD-10, zogene Störungen. Werden im Hin- im Vordergrund stehende Diagnosen)
DSM-III-R) benutzt; im Rahmen der blick auf Alkoholmißbrauch/-abhän- genannt wurden. Eine Schätzung der
vorliegenden Arbeit werden ICD-10- gigkeit, wie in vielen Studien üblich, „wahren“ Häufigkeit aktuell vorlieDiagnosen referiert. Neben der Dia- lediglich Patienten unter 65 Jahren gender psychischer Störungen bezieA-1356 (52) Deutsches Ärzteblatt 94, Heft 20, 16. Mai 1997
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hungsweise Störungsgruppen fällt also wegen der Nichtberücksichtigung
von Nebendiagnosen eher konservativ aus. Hinsichtlich der Prävalenzraten einzelner diagnostischer Kategorien ist auch bemerkenswert, daß eine
fast deckungsgleiche Verteilung in der
internistischen wie der chirurgischen
Stichprobe vorliegt.
Werden die in der LAK-Studie
erhobenen Prävalenzraten (klinische
Diagnostik) mit den entsprechenden
Raten psychischer Störungen in der
Allgemeinbevölkerung, wie sie sich
aus den Untersuchungen von Dilling
und Mitarbeitern (10) sowie Fichter
(12) ergeben, verglichen, so zeigt sich,
daß im Allgemeinkrankenhaus drei
Störungsgruppen oder Störungen
überrepräsentiert sind: psychoorganische Störungen, Alkoholabhängigkeit
und depressive Reaktionen. Sämtliche anderen diagnostischen Kategorien entsprachen hinsichtlich ihrer Vorkommenshäufigkeit der Allgemeinbevölkerung (2).
Schätzung des
Behandlungsbedarfs
Es kann nicht davon ausgegangen werden, daß alle Patienten mit
diagnostizierten Störungen auch im
Krankenhaus psychiatrisch behandlungsbedürftig sind. Andererseits
kann eine Behandlung in speziellen
Fällen notwendig oder sinnvoll sein,
auch wenn die Fallkriterien zur Stellung einer Diagnose nicht erfüllt sind
(25, 26). Eine Schätzung des psychiatrischen/psychosomatischen
Behandlungsbedarfs wäre von erheblichem Wert, da insbesondere auf dieser Grundlage Überlegungen zur Planung von Versorgungsleistungen angestellt werden können. Im Rahmen
bisheriger Studien ist dieser Schritt jedoch meist nicht unternommen worden. Wesentliche Gründe hierfür sind
die methodischen Schwierigkeiten,
die sich im Zusammenhang mit der
Operationalisierung komplexer Behandlungsentscheidungen ergeben,
aber auch die Tatsache, daß viele Erhebungen von zwar trainierten, klinisch jedoch meist unerfahrenen Untersuchern durchgeführt wurden.
Im Rahmen der LAK-Studie
wurden für jeden untersuchten Patien-
fische MitbetreuBehandlungsindikationen (Prozent) bei N1 = 400 internistischen und ung in mehr als
chirurgischen Patienten (Gesamtstichprobe) und N2 = 186 Patienten zwei Sitzungen bei
mit aktuell vorliegenden psychischen Störungen (klinische Diagnosen) 26,3 Prozent dieser
Patienten als indiziert beurteilt. Bei
Art der Intervention
Patientenstichprobe
der überwiegenden Mehrheit der
mit psychischen
alle
Störungen
Patienten mit psy(N1 = 400)
(N2 = 186)
chischen Störungen bestand ein
Im Krankenhaus:
spezifischer
BePsychotherapeutische
handlungsbedarf
Intervention
27,5
48,9
(Tabelle 2). IrgendPsychopharmakotherapie
20,8
54,7
eine Form der BeSoziale Hilfen
22,3
43,5
handlung war bei
Verlegung in Fachabteilung/
80,6 Prozent die-klinik
6,5
12,9
ser Patienten indiziert; werden soNach Entlassung:
ziale Hilfen (HausFachspezifische
Weiterbehandlung
24,8
49,0
haltshilfen, Heimambulant
20,0
40,4
unterbringung, Fastationär
4,8
8,6
milienpflege und
andere)
ausgeDie für jeden Patienten detailliert benannten psychiatrischen/
nommen,
so
bepsychosomatischen/psychotherapeutischen Behandlungsempfehlungen wurden zu Gruppen zusammengefaßt. Es konnten mehresteht bei 70,4 Prore Behandlungsempfehlungen, jedoch nur aus den unterschiedzent ein spezifilichen Verfahrensgruppen, angegeben werden.
scher
Behandlungsbedarf. Psyten im Sinne einer Expertenschätzung chotherapie (überwiegend supportiv,
differenziert Behandlungsindikatio- vergleiche [3]) oder Pharmakotheranen benannt, die in Tabelle 2 zu Grup- pie waren bei 67,7 Prozent indiziert,
pen zusammengefaßt sind. Dabei war Psychotherapie allein bei 23,1 Promaßgeblich, welche fachlich-diagno- zent, Pharmakotherapie allein bei
stischen (Konsil) beziehungsweise 18,8 Prozent und eine Kombination
therapeutischen Möglichkeiten für von beiden bei 25,8 Prozent. Die meiden Patienten als sinnvoll im Rahmen sten dieser Indikationen wurden als
der Krankenhausbehandlung angese- über den Krankenhausaufenthalt hinhen wurden. Das methodische Defizit ausreichend beurteilt. Eine fachspezieiner möglicherweise unbefriedigen- fische, also psychiatrische/psychoden Reliabilität wurde in Kauf genom- somatische/psychotherapeutische ammen, um wenigstens einen groben An- bulante Weiterbehandlung wurde bei
halt für das Ausmaß des Behandlungs- 40,4 Prozent, eine stationäre bei
bedarfs zu erhalten. Andererseits 8,6 Prozent der Patienten mit psychikonnte bei den Untersuchern auf- schen Störungen als indiziert angegrund langer klinischer Zusammenar- sehen.
beit (drei bis zwölf Jahre) mit täglichen Fallkonferenzen und langjähriger Konsiliarpraxis von ähnlichem BeSchlußfolgerungen
urteilungsverhalten ausgegangen werAngesichts der Ergebnisse aus
den.
Bei den meisten Patienten mit der LAK-Studie kann gefragt werden,
psychischen Störungen (81,7 Pro- ob eine Verallgemeinerung zu einer
zent), aber auch bei einigen Patienten Überschätzung der „wahren“ Prävaohne Erfüllung der Fallkriterien (8,5 lenzraten psychischer Störungen
Prozent), wurde mindestens ein Kon- führt, aber auch des „wahren“ Besiliarbesuch aus diagnostischen oder handlungsbedarfs in der Realität der
therapeutischen Gründen als sinnvoll Krankenversorgung. Gegen diese
angesehen. Lag eine psychische Überlegung spricht, daß die gefundeStörung vor, so wurde eine fachspezi- nen Prävalenzraten gut mit UntersuTabelle 2
Deutsches Ärzteblatt 94, Heft 20, 16. Mai 1997 (53) A-1357
M E D I Z I N
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chungen aus dem angloamerikanischen, aber auch dem deutschen
Sprachraum übereinstimmen (2). Lediglich die Häufigkeit der organischen Psychosyndrome liegt höher als
in der Mannheimer Untersuchung;
diese Differenz ist jedoch aufgrund
methodischer Unterschiede der Studien erklärbar (2). Es erscheint auch
durchaus plausibel, daß bei etwa 80
Prozent der klinisch bedeutsamen
Störungen eine Form eines psychiatrischen/psychosomatischen/psychotherapeutischen
Interventionsbedarfs
besteht.
Eine Antwort auf die Frage, von
welcher Seite diese Leistungen im klinischen Alltag erbracht werden müßten, ist in allgemeingültiger Weise
nicht zu geben; sie muß auf die Kompetenzen der jeweis vorhandenen
Fachabteilungen bezogen sein. Diesbezüglich könnte in Zukunft einer intensiveren, fächerübergreifenden Kooperation zwischen Psychiatrie, Psychosomatik und medizinischer Psychologie gerade im Konsiliar-/Liaisonbereich wesentliche Bedeutung
zukommen. Es erscheint außerdem
durchaus denkbar, daß ein Teil der
nötigen Interventionen von psychosomatisch-psychotherapeutisch vorgebildeten Internisten im Rahmen der
Station geleistet werden kann. Auch
der rechtzeitige Einsatz von einfach
handhabbaren und kaum zeitkonsumierenden psychiatrischen Screening-Instrumenten durch die behandelnden Ärzte oder auch das Pflegepersonal kann sich in diesem Zusammenhang als wertvoll erweisen. Letztlich kann jedoch nur mit Hilfe kontrollierter Interventionsstudien gezeigt werden, inwieweit sich die im
Zusammenhang mit einer Schätzung
des Behandlungsbedarfs aufgeworfenen Probleme in der Praxis sachgerecht lösen lassen.
Die derzeit in vielen Klinken vorgehaltene, fachspezifische, konsiliarische Versorgungsleistung (17) erscheint jedoch unzureichend. Werden
zum Beispiel die Leistungen der
ausgesprochen „konsilaktiven“ Lübecker psychiatrischen Hochschulklinik (2000 Konsile/Jahr) analysiert (4)
und mit einem theoretisch hochgerechneten Bedarf verglichen, dann
zeigt sich eine Bedarfsdeckung von
durchschnittlich etwa zwölf Prozent.
Es wird dabei auch deutlich, daß
psychiatrische Konsile offenbar überwiegend bei Patienten mit einer in
verschiedener Hinsicht besonders
auffälligen
psychopathologischen
Symptomatik angefordert werden.
Die konsiliarische Betreuung von Patienten mit weniger dramatischen
Symptomen (depressive Reaktionen,
neurotische Störungen, Demenzen)
ist demgegenüber deutlich schlechter.
Diese Beobachtung entspricht Ergebnissen aus der internationalen
Literatur (26).
Ist angesichts des bereits erheblichen und weiter zunehmenden Kostendrucks im Gesundheitswesen
überhaupt eine Erweiterung von Leistungsangeboten zu erwarten? In
den USA ist die Konsiliar-/
Liaisonpsychiatrie (die ein eigenes
Teilgebiet innerhalb der Psychiatrie
darstellt) nach einer stürmischen
Entwicklung in den 70er Jahren etwa
ab Mitte der 80er Jahre aufgrund zunehmenden ökonomischen Drucks
unter erheblichen Rechtfertigungszwang geraten. Auch dieser Tatsache
verdanken wir eine Reihe von Untersuchungen, die belegen, daß eine
psychiatrische Komorbidität meist
mit einer verlängerten Dauer des
Krankenhausaufenthalts assoziiert
ist (15, 32).
Rechtzeitige psychiatrische Interventionen scheinen zu einer Verkürzung der Liegezeit und zu Kostenersparnissen zu führen (37). In jüngster Zeit mehren sich die Hinweise
darauf, daß eine psychiatrische Komorbidität den Verlauf somatischer
Erkrankungen ungünstig beeinflußt.
So konnte zum Beispiel in einer methodisch überzeugenden Studie gezeigt werden, daß das Vorliegen einer
depressiven Symptomatik nach einem Herzinfarkt als signifikanter,
prädiktiver Faktor für eine höhere
kardiale Mortalität gelten muß (13).
In Deutschland ist erst in den
letzten Jahren im Gesundheitswesen
eine Situation entstanden, in der die
Knappheit der Ressourcen spürbar
wird. Die Befürchtung jedoch, daß
sich durch eine bessere personelle
Ausstattung oder überhaupt erst
durch die Einrichtung von Konsiliardiensten zwangsläufig finanzielle
Verluste ergeben, erscheint nach dem
gegenwärtigen Kenntnisstand nicht
A-1358 (54) Deutsches Ärzteblatt 94, Heft 20, 16. Mai 1997
gerechtfertigt. Angesichts unseres
zunehmenden Wissens hinsichtlich
der negativen Einflüsse unbehandelter psychiatrischer Komorbidität auf
Behandlung und Verlauf somatischer
Erkrankungen, aber auch der erheblichen sekundären Kosten, die durch
unerkannte und chronifizierte psychische Störungen selbst verursacht
werden (19), wird sich daher in Zukunft auch unter dem Kostengesichtspunkt die Frage stellen, ob ihre
eher geringe Beachtung und damit
die Einschränkung einer wichtigen
Möglichkeit zur Sekundärprävention
verantwortbar sind. Es sollte außerdem nicht übersehen werden, daß
Allgemeinkrankenhäuser wesentliche Weiterbildungsstätten für später
niedergelassene Allgemeinärzte sind.
Die bekannten, jüngst erneut bestätigten geringen Fallerkennungsraten für psychische Störungen in Allgemeinpraxen (24) können im Zusammenhang mit einer Weiterbildungspraxis gesehen werden, die hinsichtlich der Berücksichtigung komorbider psychischer Störungen in
Deutschland, aber auch in anderen
europäischen Ländern, Defizite aufweist.
Danksagung
Die Autoren sind den folgenden Kollegen
zu Dank verpflichtet: Dr. A. Bangert-Verleger, Dr. H. Neubauer, Dr. A. Schürmann und Dr. W. Seibert für ihre aktive
Mitarbeit an der LAK-Studie sowie Prof.
Dr. H.-P. Bruch, Prof. Dr. J. Durst, Prof. Dr.
H. L. Fehm, Prof. Dr. T. Hütterroth für ihre
interessierte Bereitschaft, Patienten ihrer
Abteilungen untersuchen zu lassen.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1997; 94: A-1354–1358
[Heft 20]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf
das Literaturverzeichnis im Sonderdruck,
anzufordern über die Verfasser.
Anschrift für die Verfasser
Priv.-Doz. Dr. med. Volker Arolt
Klinik für Psychiatrie
Medizinische Universität zu Lübeck
23538 Lübeck
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