Die spinozerebelläre Ataxie Typ 2 : klinische Symptomatik

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4. Diskussion
Die spinozerebelläre Ataxie Typ 2 umfaßt das gesamte Symptomenspektrum der
ADCA-I Erkrankungen. Diese Symptome betreffen im Wesentlichen das Kleinhirn, die
Okulomotorik, das extrapyramidale und pyramidale System, das periphere
Nervensystem sowie die Hirnnerven.
Die bei der SCA 2 bei allen untersuchten Patienten vorkommenden Kleinhirnsymptome,
allen voran die Ataxie von Beinen und Armen, sind für die Patienten von Beginn der
Erkrankung an die Leitsymptome, nicht zuletzt wegen der durch sie verursachten und
fortschreitenden Immobilität. So zeigte sich bei allen Betroffenen die Gangataxie als
das zuerst auftretende Symptom, mit dem sich die Krankheit bemerkbar machte.
Ebenfalls waren alle Patienten im Verlauf der Krankheit von Dysdiadochokinese der
Arme bzw. Beine sowie von einer zerebellären Dysarthrie betroffen.
Den zweiten entscheidenden Symptomenkomplex stellen die Störungen der
Okulomotorik dar. Eine Veränderung der Blicksakkaden, vor allem die
Sakkadenverlangsamung (siehe Abbildung 12) sowie ein pathologischer optokinetischer
Nystagmus und vestibulo-okulärer Reflex, waren die am häufigsten vorkommenden
Formen.
Von einer Störung des pyramidalen und extrapyramidalen Systems waren bei weitem
nicht alle Patienten betroffen. Nur zirka jeweils ein Drittel der Betroffenen wiesen
entsprechende Symptome auf. Die am häufigsten vorkommenden Kennzeichen einer
Störung dieser Systeme waren in Bezug auf das extrapyramidale System die
Bradykinesie und der Aktionstremor, beim pyramidalen System die Spastik und der
Babinski-Reflex.
Das periphere Nervensystem war bei allen SCA2-Patienten von der Krankheit
beeinträchtigt. Vor allem Muskelkrämpfe, Hyporeflexie und ein gestörtes
Vibrationsempfinden traten auf.
Dagegen kamen Hirnnervensymptome nur bei etwa der Hälfte der Erkrankten vor.
Das Symptomenspektrum ist allerdings auch innerhalb des SCA2- Kollektives hoch
variabel. Jeder untersuchte Patient bot eine individuelle Symptomkonstellation sowie
einen individuell unterschiedlichen Krankheitsverlauf.
Die Frage, ob die großen Unterschiede innerhalb der Gruppe durch Zufall oder durch
-37-
Abb.12:
Sakkadentest
1. Kontrolle:
Anm.: Y-Achse: Bewegung in Grad
X-Achse: Zeit in msec.
Oben : Augenbewegung; Unten: Bewegung des Zielpunktes
2.SCA2 – Patient (4-1) : Deutlich reduzierte Sakkadengeschwindigkeit bei normaler
Latenz.
Anm.: Y-Achse: Bewegung in Grad
X-Achse: Zeit in msec.
Oben : Augenbewegung; Unten: Bewegung des Zielpunktes
andere Faktoren bestimmt werden, läßt sich nicht eindeutig klären. Für einen Teil der
großen Unterschiede innerhalb der Gruppe sind offensichtlich die unterschiedlich
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langen CAG-Repeats der einzelnen Patienten verantwortlich. Nicht nur der frühere
Beginn der Erkrankung und das frühere Auftreten von bestimmten Symptomen bei
hohen Repeatzahlen weisen darauf hin, sondern ebenfalls die Beobachtung, daß
bestimmte Symptome ab einer gewissen Repeatzahl häufiger oder seltener vorkommen.
So treten zum einen verlangsamte Blicksakkaden bei Patienten mit 40 oder mehr CAGRepeats, verknüpft mit einem Erkrankungsalter von weniger als 30 Jahren erheblich
häufiger auf, als bei den übrigen Patienten: 7 von 9 Patienten mit
Sakkadenverlangsamung hatten mehr als 40 Repeats und einen Erkrankungsbeginn vor
dem 30.Lebensjahr, das Gleiche trifft auch für die Blickparese sowie den Aktionstremor
zu.
Zum Anderen scheint diese Tendenz bei einigen Symptomen jedoch genau umgekehrt
vorzuliegen. Bei einigen Zeichen der peripheren Nervenschädigung wie dem gestörten
Vibrationsempfinden, dem beeinträchtigten Lageempfinden und der mangelhaften
Spitz/Stumpf- Diskrimination treten die Symptome häufiger und ausgeprägter bei
Patienten mit weniger als 40 CAG-Repeats und einem Erkrankungsbeginn über 40
Jahren auf. An dieser Stelle ist allerdings zu bemerken, daß die Patienten mit weniger
als 40 CAG-Repeats auch gleichzeitig älter waren als die Patienten mit über 40 Repeats,
so daß gleichartige Beschwerden auch bei diesen auftreten können, wenn sie ein
entsprechendes Alter erreichen.
Die meisten Symptome scheinen jedoch unabhängig von der CAG-Repeatzahl
aufzutreten. So finden sich unter den Patienten mit 40 CAG-Repeats Unterschiede im
Erkrankungsalter von 12 Jahren. Auch die sich im Krankheitsverlauf entwickelnde
Symptomenkonstellation unterscheidet sich ganz erheblich, so entwickelte zum Beispiel
ein Patient 5 verschiedene Formen der Augenbewegungsstörung, ein anderer keine
einzige.
Ähnliche Zusammenhänge zwischen CAG-Repeatlänge und Variation des Phänotyps
wurden 1999 von Sasaki et al. bei einem Patientenkollektiv in Japan beobachtet. Neben
dem Erkrankungsalter, das sich auch in dieser Studie invers zur CAG-Repeatlänge
verhielt, wurden bei hohen CAG-Repeatzahlen signifikant häufiger
Sakkadenverlangsamung, Hyporeflexie, Demenz und Aktionstremor beobachtet.Ein
weiterer Aspekt der SCA2-Erkrankung ist das Phänomen der Antizipation, das auch bei
den anderen ADCA-Formen auftritt.
Bei den dominant vererblichen Ataxien kommt es vor, daß innerhalb einer Familie eine
Generation einen früheren Krankheitsbeginn und einen schwereren Verlauf hat, als die
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vorhergehende Elterngeneration. Wie bereits in der Einleitung beschrieben liegt die
Ursache dieses Phänomens in der Instabilität expandierter CAG-Repeats und deren
zunehmender Tendenz zur Expansion während der Gametogenese, vor allem der
Spermatogenese, woraus oft eine höhere Repeatzahl in den an die nachfolgende
Generation vererbten Allelen resultiert.
Auch in dem untersuchten Patientenkollektiv ist das Phänomen der Antizipation
nachzuweisen. Patient 9-1 (siehe Tabelle 1, S.14., Ergebnisteil) ist Träger der SCA2Mutation auf Chromosom 12q, das Gen beinhaltet eine CAG-Repeatverlängerung von
38 Repeats. Sein Sohn, Patient 9-2, trägt bereits 40 CAG-Repeats in seinem SCA2-Gen,
woraus für ihn klinisch ein 17 Jahre früherer Krankheitsbeginn und eine stärkere
Symptomenausprägung beziehungsweise ein früherer Beginn der einzelnen Symptome
im Krankheitsverlauf resultiert. Diese Beobachtungen werden durch die Ergebnisse von
Dürr et al. (1995) und Cancel et al. (1997) (siehe auch Einleitungsteil) bekräftigt.
Anhand der Daten von 4 Eltern/Kind - Paaren aus unserem Patientenkollektiv konnte
die folgende Abbildung 13 zur Veranschaulichung dieses Sachverhaltes erstellt werden:
Alter bei Erkrankungsbeginn
(Jahre)
Abb.13: Antizipation bei SCA2
(4 Eltern/Kind-Paare)
45
40
35
30
25
20
15
10
5
0
Eltern
Kinder
Anm: Elterngeneration: Durchschnittsalter bei Erkrankungsbeginn: 29,7 Jahre ; StAbw: 10.4 Jahre
Kinder: Durchschnittsalter bei Erkrankungsbeginn: 24,5 Jahre ; StAbw: 10,8 Jahre
Die bei den SCA2-Patienten durchgeführten elektrophysiologischen Untersuchungen
zeigten nur bei wenigen Patienten eine Verlangsamung der motorischen
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Nervenleitgeschwindigkeit. Lediglich bei einem Patienten war war die mNLG des
N.peronaeus reduziert, etwa ein Drittel zeigte verlängerte F-Wellen-Latenzen.
Keiner der untersuchten Patienten zeigte eine verlängerte distale Latenzzeit, nur einer
ein reduziertes evoziertes Muskelaktionspotential; auch die sensorische
Nervenleitgeschwindigkeit war nur bei einem Patienten reduziert. Dagegen konnte bei
drei Viertel der Patienten ein reduziertes sensorisches Nervenaktionspotential
nachgewiesen werden.
Die motorisch evozierten Potentiale, d.h. die periphere und zentrale motorische
Überleitungszeit war bei allen Patienten im Normbereich.
Die visuell evozierten Potentiale zeigten bei einem Patienten aufgrund einer
pathologisch verlängerten Latenzzeit und bei einem Drittel der Patienten aufgrund einer
reduzierten Amplitude Auffälligkeiten. Aufgrund der bereits im Ergebnisteil
geschilderten Probleme unter den ambulanten Bedingungen konnten die akustisch und
somatosensibel evozierten Potentiale nur bei einer sehr geringen Patientenzahl
störungsfrei abgeleitet werden. Bei den akustisch evozierten Potentialen fand sich bei
jeweils der Hälfte der untersuchten Patienten ein Hinweis auf eine kaudale (Welle III)
bzw. rostrale (Welle V) Hirnstammschädigung.
Bei den somatosensibel evozierten Potentialen fand sich bei dem einzigen Patienten mit
auswertbaren Ergebnissen eine Verzögerung der lumbalen Potentiale als Korrelat der
peripheren sensiblen Neuropathie.
Für die magnetresomanztomographischen Untersuchungen der SCA2-Patienten, die zur
Abklärung eines morphologischen Korrelates der klinischen Symptomatik durchgeführt
wurden, standen nur 2 Probanden zur Verfügung.
Die Befunde zeigten eine ausgeprägte Atrophie sowohl von zerebellären als auch von
pontinen Strukturen. Im Bereich des Kleinhirns waren vor allem der mittlere
Kleinhirnstiel stark atrophisch sowie der 4. Ventrikel deutlich erweitert. Die
Kleinhirnhemisphären und die oberen und unteren Wurmanteile zeigten mäßige
Atrophien, ebenso wie das Halsmark.
Stark atrophische Strukturen zeigte der Ponsbereich. Dagegen stellte sich die
Großhirnrinde nur leicht atrophisch dar.
Diese Befundkonstellation ist mit der Diagnose einer olivopontozerebellären Atrophie
vereinbar. Bemerkenswert ist , daß die im MRT sichtbaren Veränderungen bereits im
frühen Krankheitsstadium, vor dem Auftreten der ersten klinischen Symptome, sichtbar
sind.
-41-
Eine von Guiffrida et al. 1999 durchgeführte Studie mit MRT-Befunden von 20 SCA2Patienten, und somit einer höheren statistischen Aussagekraft, beschreibt ähnliche
Merkmale der SCA2 im MRT-Befund. Die olivopontozerebellare Atrophie wird auch
von Guiffrida als typische Befundkonstellation beschrieben. Aber auch eine Atrophie
von Halsmark und supratentoriellen Anteilen (Großhirnrinde) findet hier Erwähnung,
wenn auch nur bei 60% der Patienten. Interessanterweise gibt es in dieser Studie keinen
Zusammenhang von CAG-Repeatlänge und Ausprägung der OPCA. Auch die
Krankheitsdauer zum Aufnahmezeitpunkt hat darauf keinen Einfluß. Im Gegensatz dazu
wird eine signifikante Korrelation zwischen dem Schweregrad der supratentoriellen
Beteiligung und der Krankheitsdauer berichtet.
Der Vergleich der SCA2 mit den anderen SCA-Formen 1, 3 und 6 mit dem Ziel
herauszufinden, ob die SCA2 basierend auf klinischen Zeichen zu diagnostizieren ist,
deckte nur wenige statistisch signifikante und somit für eine Differentialdiagnose in
Frage kommende Unterschiede auf.
Bis auf einen Tremor war kein Symptom isoliert bei der SCA2 zu finden.
Im Vergleich mit der SCA1-Gruppe fanden sich nur bei den elektrophysiologischen
Messungen einige signifikante Unterschiede (siehe auch Tabelle 5, Seite 34). So wurden
bei den SCA1-Patienten wesentlich häufiger verlangsamte Nervenleitgeschwindigkeiten
sowie verlängerte F-Wellen-Latenzzeiten in den Nn. tibialis und peronaeus festgestellt.
Bei den peripheren und zentralen motorischen Überleitungszeiten in den motorisch
evozierten Potentialen zeigte die SCA1-Gruppe die ausgeprägtesten pathologischen
Meßwerte. Die SCA2 wies, soweit bei der der geringen Untersuchungszahl beurteilbar,
normale periphere und zentrale motorische Leitungszeiten auf. Diese Ergebnisse
werden durch eine Untersuchung von Yokota et al. (1998) bestätigt.
Diese Studie erfolgte an jeweils zehn SCA1- bzw. SCA3- Patienten sowie acht
Patienten mit der Diagnose SCA2. Es wurden Vergleichsmessungen der zentralen
motorischen Überleitungszeiten (CMCT) durchgeführt. Analog zu unseren Ergebnissen
wurden bei den SCA1- Patienten signifikant häufiger verlängerte zentrale motorische
Überleitungszeiten festgestellt.
Ebenso waren in dieser Untersuchung die CMCT- Werte bei den SCA2 und SCA3Patienten normal.
Betrachtet man die beiden übrigen Vergleichsgruppen SCA3 und 6, so kann man im
Bereich der neurologischen Untersuchung, nicht aber bei den elektrophysiologischen
Messungen, signifikante Unterschiede feststellen. So wiesen die SCA2- Patienten
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signifikant weniger Sakkadendysmetrien, Nystagmus, eine sakkadierte Blickfolge sowie
Doppelbilder auf als die Patienten dieser Gruppen. Hingegen zeigten bei der SCA2Gruppe deutlich mehr Patienten eine Sakkadenverlangsamung, im Vergleich zur SCA3
und SCA6, auch mit einer statistischen Signifikanz
Ebenso traten Spastik und Hyperreflexie als Ausdruck einer Pyramidenbahnschädigung
bei den anderen Gruppen häufiger auf.
Speziell im Vergleich zur SCA6 zeigten die SCA2-Betroffenen signifikant weniger
Beeinträchtigungen des peripheren Nervensystems.
Obwohl, wie oben schon ausführlich dargestellt wurde, aufgrund der klinischen
Symptomatik und der elektrophysiologischen Befunde keine definitive Unterscheidung
der SCA2 von den anderen Gruppen vorgenommen werden kann, so scheint doch die
Kombination aus Sakkadenverlangsamung, Tremor, Hypo- bzw. Areflexie und
Muskelkrämpfen auf die Erkrankung hinzuweisen, da diese Symptomkonstellation,
wenn auch nicht statistisch belegt, im direkten Vergleich (siehe Tabelle 4, S.26) mit den
anderen Erkrankungen hervorsticht.
Eine weitere Möglichkeit der Unterscheidung der ADCA I- Erkrankungen ohne die
genetische Diagnostik wurde 1998 von Rivaud-Pechoux et.al. veröffentlicht. Diese
Arbeitsgruppe fand mit Hilfe der Elektrookulographie für die SCA1, 2 und 3 jeweils
charakteristische Kombinationen von horizontalen Augenbewegungsstörungen.
Im Fall der SCA2 wurde als Hauptcharakteristikum eine Sakkadenverlangsamung
festgestellt, was den Befunden bei unserem Kollektiv entspricht. Gleichzeitig
präsentierten sich die meisten Patienten mit einer normalen Sakkadenamplitude und
ohne einen Blickrichtungsnystagmus.
Als Charakteristika der SCA1-Patienten wurden von Rivaud-Pechoux et.al.
hypermetrische zentrifugale Sakkaden bei normaler Sakkadengeschwindigkeit bei
fehlendem Blickrichtungsnystagmus beschrieben.
Die SCA3-Patienten ließen dagegen hypometrische zentrifugale Sakkaden in
Kombination mit Blickrichtungsnystagmus bei normaler Sakkadengeschwindigkeit
erkennen.
Für jede der untersuchten Gruppen wurden also die drei jeweils genannten
Charakteristika aufgestellt. Zwei dieser Kriterien wurden in den Gruppen zu 90-93%
erfüllt, womit eine recht hohe diagnostische Aussagekraft insbesondere in Kombination
mit anderen klinischen Zeichen erreicht wird.
-43-
Unsere Befunde der MRT-Untersuchungen zeigten bei allen Patientengruppen
atrophische Veränderungen in den Bereichen des Kleinhirns, der pontinen Basis, des
zervikalen Rückenmarks sowie eine Erweiterung des 4.Ventrikels, jedoch mit
unterschiedlichem Verteilungsmuster.
Die SCA1 und SCA2-Patienten wiesen vor allem eine ausgeprägte zerebelläre und
pontine Atrophie im Sinne einer olivopontozerebellären Atrophie (OPCA) auf. Dabei
war auffällig, daß bei den SCA2-Patienten die im MRT sichtbaren Veränderungen zum
Teil schon zu Beginn der Erkrankung sichtbar und zum großen Teil sehr ausgeprägt
vorhanden waren. Die SCA1-Gruppe zeigte dagegen einen späteren Beginn der mit den
bildgebenden Verfahren darstellbaren Veränderungen sowie eine schwächere
Ausprägung der Befunde. (Abb. 2, S.22 und Abb. 9, S.36).
Die atrophischen Veränderungen der SCA3-Patienten stellten sich im MRT zum
größten Teil weniger ausgeprägt dar als bei den anderen Formen. Auffällig war hier vor
allem die bei fast allen Patienten vorhandene Erweiterung des 4. Ventrikels (Abb. 10,
S36).
Die Patienten mit der Diagnose SCA6 zeigten im MRT die geringsten atrophischen
Veränderungen. Die atrophischen Bezirke waren vor allem auf die zerebellären
Strukturen im Sinne einer panzerebellären Atrophie betont. Die Hirnstamm- und
Ponsregionen waren nur in geringem Ausmaß betroffen, so daß diese Veränderungen
nicht mit der Diagnose einer schweren OPCA übereinstimmen (Abb. 11, S.36).
Unsere Ergebnisse sind vergleichbar mit denen einer Untersuchung von Klockgether et
al. (1998 a), in der bei Patienten mit der Diagnose SCA1, SCA2 bzw. SCA3 die
Veränderungen der intrakraniellen Strukturen mittels MRT verglichen wurden. Alle
Gruppen zeigten deutliche Zeichen einer Atrophie von Kleinhirn und Hirnstamm, wobei
der Grad der Atrophie bei den SCA2-Patienten am ausgeprägtesten war. Zusätzlich
wurde von dieser Arbeitsgruppe als Besonderheit der SCA3 eine ausschließlich bei
diesen Patienten aufgetretene Reduktion des Volumens von Putamen und Nucleus
caudatus herausgestellt.
Entsprechend diesen radiologischen Befunden sind in der Literatur Studien zum
pathologisch-anaotomischen Vergleich der Erkrankungen zu finden. Die pathologischanatomischen Studien von Yagishita et. al. (1997) decken sich größtenteils mit den von
uns erhobenen radiologischen Befunden:
Im Fall der SCA2 wird ein der sporadischen olivopontozerebellären Ataxie sehr
ähnliches pathologisches Bild beschrieben:
-44-
Es wird von einem erheblichen Neuronenverlust mit Gliose im Ncl. olivaris, den
pontinen Kernen sowie im zerebellären Kortex berichtet. Im Bereich der
olivozerebellären und pontozerebellären Bahnen wird ein Verlust von myelinisierten
Fasern, die im mikroskopischen Bild einer diffusen, astrocytären Gliose weichen,
beschrieben. Hinzu kommt eine generalisierte Sklerose der weißen Substanz des
Kleinhirns.
Auch die übrigen Regionen des Gehirns sind nach diesem Schema betroffen:
Es besteht eine Degeneration der Substantia nigra und des Ncl. dentatus bei erhaltenen
Basalganglien, Thalamus und Ncl. ruber. Im Hirnstamm und Rückenmark wird ein
generalisierter Verlust von Motoneuronen berichtet.
Interessanterweise wird trotz der klinischen Symptomatik keine pathologisch sichtbare
Veränderung an den Okulomotorius- und Abduzenzkernen aufgezeigt. Dies
verdeutlicht, daß insbesondere die supranukleären Blickzentren für die
Okulomotorikstörung verantwortlich sind. Hinsichtlich des Rückenmarksbereiches
weisen die Autoren auf eine erhebliche Demyelinisierung der spinozerebellären Bahnen
und der Funiculi posteriores hin, ebenfalls passend zu dem von uns ermittelten
klinischen Bild.
Die im MRT-Bild der SCA2 pathomorphologisch sehr ähnliche SCA1 bietet auch in der
Beschreibung von Yagishita et. al. (1997) ein ähnliches pathologisch-anatomisches
Bild, es ergeben sich jedoch bei der Durchsicht der Ergebnisse noch weitere, im MRTBild nicht zu erfassende Unterschiede: Die morphologisch faßbaren Zeichen der SCA1
beschreibt Yagishita (1997) als eine schwere Degeneration der spinozerebellären
Bahnen inklusive einer diffusen neuronalen Rarefizierung im Tractus spinozerebellaris
posterior des Rückenmarks sowie einer Degeneration der Vorderhornzellen in diesem
Bereich. Im Zerebellum wird ein moderater Neuronenverlust im Bereich des
Ncl.dentatus und eine ebenfalls milde Degeneration der olivopontozerebellaren Bahnen
genannt.
Die kortikale Degeneration umfaßt ausschließlich die Purkinje-Zellen. Der Ncl. olivaris
inferior sowie die Substantia nigra, der Globus pallidus und der Ncl. ruber sind nur
mäßig und sehr variabel von der Atrophie betroffen.
Laut dieser Studie zeigt die SCA1 also insgesamt eine erheblich geringere Atrophie im
olivo- pontozerebellären System als die SCA2. Außerdem betrifft im Falle der SCA1
die Kleinhirnatrophie nicht alle Schichten, sondern ausschließlich die Purkinje-Zellen,
-45-
der Ncl dentatus ist nicht betroffen und die spinozerebellären Bahnen sind in
geringerem Ausmaß in die degenerativen Veränderungen einbezogen.
Die Pathologie der SCA3 betrifft nach Yagishita et. al. (1997) hauptsächlich die
pallidoluysialen und dentatorubralen Systeme, die Substantia nigra und die motorischen
Hirnnervenkerne. Vor allem der beschriebene Befall der motorischen Hirnnervenkerne
deckt sich mit dem von uns ermittelten klinischen Bild. Im Rückenmarksbereich sind,
vergleichbar mit SCA1 und 2, der Tractus spinozerebellaris posterior und die anderen
spinozerebellären Bahnen von der Atrophie betroffen. Als typisch und für die
pathologisch-anatomische Diagnose „SCA3“ essentiell werden die Beteiligung des
Globus pallidus, vor allem im medialen Segment, sowie die Degeneration des Ncl.
dentatus beschrieben, ebenso wie die Aussparung des zerebellaren und zerebralen
Cortex, des Thalamus, des Striatums, der inferioren Oliven und der corticospinalen
Bahnen genannt. Yagishita et al. (1997) beschreiben für die SCA1 und 2 keine
Degeneration des pallidoluysialen Systems.
Im Gegensatz dazu stehen Untersuchungen von Dürr et al. (1995), die an zwei
Gehirnen von SCA2- Patienten aus einem Kollektiv von 53 SCA2- Fällen in Martinique
durchgeführt wurden. Hier ist in beiden Fällen eine Degeneration des pallidoluysialen
Systems unter Einbeziehung der Substantia nigra und des dentato- rubralen Systems,
das jedoch nur in sehr geringem Ausmaß betroffen war, beobachtet worden. Ferner sind
bei dieser Studie ebenfalls die von Yagishita et al. festgestellten Neuronenverluste mit
Gliose in den pontinen Kernen, den unteren Olivenkernen sowie im zerebellären Kortex
(Purkinje- Zellen) aufgetreten. Entsprechend den spinozerebellären Bahnen kam es zu
einem Schwund von myelinisierten Nervenfasern im Hirnstamm und
Rückenmarksbereich. Makroskopisch berichten Dürr et al. neben der auch bei den
anderen Untersuchern als typisch für die SCA2 geltenden olivopontozerebellären
Atrophie über eine erhebliche Atrophie der Großhirnhemisphären, vor allem der Rinde
(gyrale Atrophie) in den Frontal- und Temporallappen, in einem der Fälle auch mit
Ventrikelerweiterung. Entsprechend den mikroskopischen Veränderungen
(Myelinfaserverlust) waren bei den Patienten Hirnstamm und Rückenmark ebenfalls
stark atrophisch.
Zu sehr ähnlichen Ergebnissen kommt eine Studie, die 1999 von Estrada et al. an 11
autopsierten SCA2- Patienten auf Kuba durchgeführt wurde:
Es wurden in allen Fällen atrophische Veränderungen im Sinne einer
olivopontozerebellären Atrophie, die bereits in frühen Krankheitsstadien sehr
-46-
ausgeprägt war, beobachtet. Im Einzelnen wird über einen Neuronenverlust im Bereich
der Substantia nigra sowie von Striatum und Pallidum und nicht zuletzt in der
Kleinhirnrinde berichtet. Ebenso war die Großhirnrinde betroffen. Interessanterweise
berichten Estrada et al. über eine regelmäßig auftretende Aussparung des Nucleus
dentatus von diesen pathologischen Veränderungen, ganz im Gegensatz zu den oben
aufgeführten Untersuchungen von Yagishita et al. (1997)
Das SCA2- Genprodukt mit dem Namen „Ataxin-2“ wurde 1998 von Huynh et. al.
biochemisch und auf seine Verteilung und eventuelle Funktion im Organismus hin
untersucht.
Das 145 kd –Protein besteht aus 1312 Aminosäuren und hat einen isoelektrischen Punkt
von 10. Der Wildtyp dieses Moleküls enthält 22 Glutamin-Repeats, die von einer
Region aus prolin- und serinreichen Domänen flankiert werden. Kein bisher bekanntes
Protein ist mit Ataxin-2 strukturell oder funktional verwandt.
Das Protein enthält jedoch neben zahlreichen Serin-, Prolin- und Glutamineinheiten
noch zwei Regionen, die mit Sm1 und Sm2 bezeichnet werden, die ebenfalls in
Proteinen gefunden werden, die am Prozeß des RNA-Splicings beteiligt sind, so daß
eine Involvierung des Ataxin-2-Moleküls in den Prozeß des RNA-Splicings in humanen
Zellen angenommen wird.
Im menschlichen Körper ist Ataxin-2 in allen Geweben, außer im Lungen- und
Nierengewebe, nachzuweisen. Im ZNS des gesunden Menschen wurde es in allen von
der Arbeitsgruppe um Huynh untersuchten Gewebeformationen gefunden, unter
anderem in der Kleinhirnrinde und den Kleinhirnhemisphären, der Medulla oblongata,
dem Rückenmark, dem Großhirn sowie dem Stammhirn.
Ob Ataxin-2 jedoch ein nukleäres oder cytoplasmatisches Protein ist, konnte bis heute
nicht geklärt werden.
Die regionale Verteilung des Ataxin-2-Moleküls im ZNS ist nicht gleichmäßig. Die mit
Antikörpern durchgeführten Untersuchungen deckten eine starke Expression von
Ataxin-2 in der Rinde der Großhirnhemisphären, v.a. in den Gliazellen und in Neuronen
im Bereich der Pyramidenbahn auf. In der weißen Substanz wurde Ataxin-2 nicht
beschrieben. Ebenso wurden größere Ansammlungen des Proteins in den Zellen des
Mittelhirns, der Medulla oblongata und der Substantia nigra vor allem in den großen
Neuronen und nicht zuletzt auch in den Purkinje-Zellen der 2. Zellschicht der
Kleinhirnrinde festgestellt. Die Verteilung von Ataxin-2 in den Purkinje-Zellen ist nicht
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homogen, sondern am stärksten in den zellkernnahen Regionen und den Abgängen der
Dendriten.
In den Gehirnen von SCA2-Patienten, die makroskopisch in der bereits oben
aufgeführten Weise atrophisch verändert sind, wird von Huynh und Mitarbeitern
(1998) über eine veränderte Verteilung des Ataxin-2 berichtet: Er beschreibt in diesem
Fall im Kleinhirn eine stärkere und gleichzeitig diffusere Anreicherung in den
überlebenden Purkinje-Zellen, die bei Patienten mit einem längeren Krankheitsverlauf
noch ausgeprägter ist. Dabei wird betont, daß zwischen der Ataxin-2-Verteilung und der
veränderten Zellmorphologie kein Zusammenhang besteht. Im Gegensatz zum normalen
Kleinhirn wird in diesem Fall außerdem von einer Verteilung des Proteins in den
Gliazellen der weißen Substanz berichtet.
Diese Beobachtungen, nämlich daß Ataxin-2 in den von der Atrophie betroffenen
Strukturen vermehrt zu finden ist, erhärtet den Verdacht, daß das Protein an der
Ausprägung des SCA2-Phänotyps maßgeblich beteiligt ist. Anzumerken ist an dieser
Stelle, daß bei den SCA2-Patienten außerdem aufgrund der CAG-Repeatlänge eine
veränderte molekulare Masse des Genprodukts von 145 kd des Wildtyps auf ca. 180 kd
vorliegt.
Zu einer Bildung von zellulären Einschlußkörpern, wie sie zum Beispiel bei der SCA1
und SCA3 im mikroskopischen Bild vorliegen können, ist es im Fall der SCA2 nicht
gekommen.
Erklärt wird dieses Phänomen mit der im Vergleich zu den anderen entsprechenden
Genprodukten kürzeren Bau des Ataxin-2-Moleküls.
Betrachtet man nun die Gesamtheit der erarbeiteten Befunde und der Unterschiede
zwischen den einzelnen Krankheitsgruppen, so stellt sich abschließend die Frage nach
den diagnostischen Möglichkeiten und deren Einschränkungen.
Mit Hilfe der klinischen, elektrophysiologischen und kernspintomographischen
Untersuchungen vermag ein erfahrener Untersucher in vielen Fällen die der Erkrankung
der ADCA-Patienten zugrunde liegende Mutation zu erkennen. Der enorm variable
Verlauf der einzelnen Erkrankungen und die weitgehende Überlappung der klinischen
Symptome zwischen den verschiedenen genetisch determinierten Krankheitsentitäten
aber führen vor allem bei der Diagnostik einzelner Patienten zu Problemen und
ermöglichen keinerlei Prognose für den Einzelfall. Eine genetische Sicherung der
Diagnose „SCA2“ ist aus diesen Gründen unverzichtbar. Eine wirksame, eventuell auch
kausale Therapie der spinozerebellären Ataxien wird in der Zukunft von einem
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genaueren Verständnis der zugrunde liegenden pathophysiologischen Mechanismen der
einzelnen Krankheiten sowie deren Beeinflußbarkeit abhängen.
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