Plastizität des Gehirns und Lernen

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A u sd e mV o r s t a n d
Plastizität des Gehirns und Lernen
Referat von Prof. Dr. Martin Meyen Universität Zürich,
im Anschlussan die GV des DSGTAvom 10. März 2012
Zusammenfassung: Jürg Sonderegger
Als Referent konnte Martin Meyer verpflichtetwerden, der gemeinsammit dem
ursprünglich vorgesehenen Lutz Jäncke
eine der führenden Figuren im Bereichder
kognitiven Neuropsychologieist und dies
nicht nur auf dem Platz Zürich. Beide
stammenausder gleichenGegend(Rheinland), beide haben am Max-Planck-Institut in Leipzig studiert. Herr Meyer arbeitete und arbeitet in Edinburgh, Klagenfurt
und Zürich. Die Liste der Publikationen,
Jürg Sondereggerhat sich in verdankenswerter Weisebereit erklärt, das
Referat von Martin Meyer zusammenzufassen.Für seinen speziellen (sonntäglichen) Einsatz danken wir ihm
an dieser Steile ganz herzlich.
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anatomieund Psychologie,beschäftigtmit
den Zusammenhängenzwischen Gehirnfunktionen und Verhalten.Damit befindet
sie sich im Spannungsfeldkonkurrierender Positionen. Auch hier gilt natürlich,
dassArgumente immer im Bezug auf Ansichten und Haltungen entwickelt werden,
die man eigentlich widerlegen möchte.
Darum misst sich die Neurowissenschaft
immer wieder auch mit den Vertretern der
Philosophieund Theologie, aufderen alte
Fragen die Neurowissenschaftneue Antworten sucht (2.B. Ist der menschliche
Wille frei?). So ist zu erkiären, dass die
als alleiniger Verfasser oder in Zusammenarbeit mit andern Forschern, ist be-
Neurowissenschafterihre Ansichten eher
eindruckend, auch in ihrer Dichte gerade
einen Seitenhiebauf andere Lehrmeinun-
in den letzten zehn Jahren. In der Presse
sind die Themen rund ums Lernen, um
Hirnhälften, um Wahrnehmung ebenso
etwas spitz formulieren, sich manchmal
gen nicht verkneifen können. Denn die Debatte, die Kontroversegehört dazu, selbst
ein wenig Polemik kann gelegentlich da-
präsentwie in Radio- und Fernsehsendungen. Mit Titeln wie ,Legastheniehat nichts
zukommen.
mit Erziehung zu tun, warum macht Mu-
Der Vortragende startete mit einem kur-
sik eine Hühnerhaut?, sind Hirnhälften
,männlich, und .weiblich,?, wechselnde
zen Biick in die Vergangenheit,in die Ver-
Aufgaben strengen das Gehirn mehr an,
hirn und erklärte, dassman eigentlich erst
werden alle Schichten der Bevölkerung
heute zu begreifen beginne, welche Regi-
angesprochen; das Thema bleibt somit
kein akademischerAnsatzpunkt, geeignet
onen des Gehirns sich wie und unter wel-
ausschliesslichfür wissenschaftlicheUn-
tigen Lehrmeinung, dass sich das Gehirn
tersuchungen. Die Neurowissenschaft,
präziseBezeichnungkognitive Neuropsy-
nach der Geburt nur noch zum Negativen
entwickelt, sich also im permanenten Ab-
chologie,ist angesiedeltzwischen Neuro-
bau befindet, ist man längst abgekommen.
änderungen der Ansichten über das Ge-
chen Umständen entwickle. Von der eins-
A u sd e mV o r s t a n d
Der Menschist im Vergleich zu andern Lebewesen absolute Spitze,was die Anzahl
der Nervenzellen betrifft. Das Gehirn des
Menschen hat sich im Laufe der letzten
Aber auch die resignative Meinung von
Emil Heinrich du Bois-Reymond (r8Zz),
KongressabgeordneteGabrielle Giffords
nach einem Gehirndurchschuss bereits
dasswir nichts darüber und vor allem nie
nach wenigen Wochen und konnte ihre
normalen Aktivitäten wieder aufnehmen.
Das bringt Arzte und Forscher ins Stau-
etwaswissenwerden, ist überholt. Die Tatsache, dass schon im Mittelalter das
Thema Gehirn die Menschenbeschäftigte,
zwei Millionen Jahre um ca. 450lovergrössert und zwar nicht gleichmässig, sondern überproportional im Bereich des
Grosshirns,also dort, wo Wahrnehmung
und Handlungsplanung positioniert ist.
Das Gehirn hat kein Wissen, bevor nicht
VerbindungenzwischenNeuronen entste-
wurde anhand eines Ausschnitts aus den
nen, weil nicht deutlich wird, wie sich
$,chädigungenauswirken. Damit kam der
Gemälden der Sixtinischen Kapelle deutlich (Erschaffung desMenschen),bei dem
Referent zu einem genauerenBlick in den
Kopfhinein, wobei eine ersteBeobachtung
Gott in eine Umgebunggemalt wurde, die
bis aufEinzelheitenhin der Form einesGe-
ronen gemeinsamaktiviert werden, desto
stärkerwird ihre Verbindung.Man spricht
hirns entspricht. Gott sitzt nach dieser
erstaunte, dass sich zum Beispiel rechte
und linke Gehirnhälfte nicht unterscheiden. DasmenschlicheGehirn ist eingefal-
Vorstellung quasi im Frontalkortex. Dennoch gab Herr Meyer natürlich zu, dass
tet, um das Volumen zu verkleinern, gewissermassen ein Trick der Natur. Herr
räumte in diesem Zusammenhang mit
zwei alten Lehrmeinungen auf und zwar
nach wie vor keine wirkliche Theorie dar-
Meyer zeigte an Beispielen,dass die Grö-
mit der sogenanntenFabrik-Metapher,bei
über besteht, das Gehirn als Ganzeswirk-
sseallein noch nichts über die Leistungs-
der ein Generaldirektor alles lenkt und in
lich zu verstehen,ausservielleicht, dasses
fähigkeit einesGehirnsaussagt.Also ste1lt
verschiedenenAbteilungen verschiedene
grundsätzlichdie Aufgabehat, den Körper
sich erneut die Frage: Was macht es aus,
dass wir als die intelligenten Wesen, die
Arbeit geleistet wird, aber auch mit der
Computer-Metapher,nach der ein ständi-
wir sind, funktionieren können? Lange
Zeit wurden die grauen Zonen als For-
ges Anwachsen der Festplatte das passendeBild für die Tätigkeit desGehirnsist.
schungsobjektbevorzugt. Die weissenBereiche (Axone) sind aber als Verbindung
und Verkabelung (Herr Meyer sprachvon
Tatsacheist, dass sich das Gehirn dynamisch verhält; eswird auf-, ab- und umge-
möglichst unfallfrei durchs Leben zu führen. Dass bei Schädigungen des Gehirns
z.B. nicht die gleichen,klaren Folgen auftreten, erläuterteer an zwei aktuellen Beispielen: Die FernsehmoderatorinMonica
Lierhauserlitt nach einer kleinen Gehirnoperation schwerwiegende Beeinträchtigungen im Gleichgewicht, in der Fortbe-
Highways) ebenso wichtig. Zirat: ,Wenn
das Gehirn so einfach wäre, dass wir es
wegung, im Sprechbereich.Auf der anderen Seite erholte sich die amerikanische
verstünden, wären wir so einfach, dass
wir es nicht verstehenkönnten,.
hen. Alles, was wir wissen, was wir sind,
kommt von der Art und Weise unserer
Nburonenverbindungen.Je häufiger Neu-
hier von statistischemLernen. Herr Meyer
baut. Wir lernen nützliche wie unnütze
Dinge, dabei gilt die einfache Regel: Je
länger - desto besser und je häufiger desto besser.Dazu bemerkte der Referent
in einer Zusatzschleife,dass das Gehirn
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Ausdem Vorstand
UngeboreneKinder hören bereits, sie zeigen die gleichenReaktionenwie Neugebo-
er, dass die Sensibilität dafür entscheidend sei und die entstehein den ersten 9
rene. Dabei gilt schon dort, häufiges Hören stärkt das Wissen, seltenesHören be-
Auswirkungen von musikalischem Trai-
deutet eine Schwächung. In den ersten
zwölf Monaten geschieht der Aufbau der
ning auf Lernen und Gehirnentwickiung.
Man hat dabei massiveVeränderungender
bedeutend mehr Spass am Lernen hat,
wenn es mit Sinneswahrnehmungenver-
synaptischen Verbindungen. Nicht Gebrauchteswird abgebaut,das Gehirn ver-
grauen Substanzfestgestellt,daskortikale
bunden ist; es werden relevante Verbindungen geschaffen, wenn Gefühle und
schlankt sich bereits in dieser Zeit. Jedes
Kind könnte in dieser Phasejede Fremd-
verschiedeneSinnesorganeim Spiel sind.
Deshalb fällt vielen Kindern das reine,
sprachelernen. Ein Kleinkind hat in dieser Zeit eine angeborene Präferenz für
stureVokabelnlernen, das Schreiben-und
Sprachmelodien.Die Intonationsphrasen
Lesen lernen so schwer.Wenn Gefühle,
Empfindungen dabei sind, entstehen
spieien eine gewichtige Rolle. Man kann
alsobehaupten,dassSäuglingeeine Sprache erkennen, aber (noch) nicht verste-
starke synaptischeVerbindungen; es entsteht sichtbarNeues,genausowie einVer-
Lebensmonaten. Gut erforscht sind die
Volumen ist bei Musikern sichtbar grösser
als bei Nichtmusikern, nicht zuletzt deshalb, weil musikalischeTätigkeiten ganzheitliche Beanspruchung erfordern (Gehör, Auge, Bewegung, Gefühl). Dabei gilt
auch hier der Grundsatz:Use it or loose it,
das heisst ein Abbau findet statt, wenn
diese Aktivierungen weniger werden. Ob
ein TransferbestehtzwischenSpracheund
Musik, wie ein solchereventuell aussieht,
nachlässigendieser Verbindungen einen
Abbau zur Folgehat; Wissengeht verioren,
hen. Die sogenannteAmmensprache mit
Übertreibüng und deutlichen Vokalen unterstützt diese Entwicklung. Kurz ging
wir bezeichnendiesgemeinhin alsVergessen.DasBeispiel,dassman im Moment ei-
hier Herr Meyer auf die Bedeutung der
Spiegel-Neuronenein, die aktiv werden
macht, ist noch nicht schlüssigbeantwor-
nen Namen nicht präsent hat, dassdieser
bei der Ausführung einer Handiung, aber
auch durch Beobachtung derselben. Sie
Zusammenhangeinen Kredit über r Milli-
bilden das fundamentale Prinzip des imitatorischenLernensund bilden die Verbin-
tion desGehirns experimentell zu erschaffen und die fälligen Schlüssedarauszu zie-
Resultate irgendwann ins Bewusstsein
dung zwischen Motorik und Sprache.So
behaupteteder Referentin diesemZusam-
hen. Damit schlossder ReferentseineAusführungen, im Bewusstsein nur einen
drücken.
menhang auch, dass Mimik und Gestik,
rudimentären Streifzug durch diesesvieischichtigeGebietpräsentiert zu haben.
vielleicht Stunden oder Tagespäterungefragt auftaucht, sei allen bekannt und
zeige, dass die gehirneigenen Suchmaschinen ihre Tätigkeit fortsetzen und ihre
In einem nächstenAbschnitt ging derVortragende genauerauf den Aspekt Plastizität und Lernen ein. Die neuronalen Bildungen beginnen bereits vor der Geburt;
Gebärden also, die Wurzeln der Sprache
bilden würden. Untersuchungenmit Men-
da stehtdie Forschungerst amAnfang. Die
populäre Frage also, ob Musik schlau
tet. Die UniversitätLausannehat in diesem
arde Frankenbekommen,um eine Simula-
schenaffen,vorwiegend Schimpansen,devon derjeren DNA sich übrigens nur r.30/0
Die Fragenaus den Reihen der Zuhörerinnen und Zuhörer ergabenweitere Erkennt-
nigen der Menschenunterscheidet,zeigen
nisseund Auskünfte. Zur Frage,ob esempfehiens- und nachahmenswert wäre (wie
es findet also bereits Lernen statt. Die synaptischenVerbindungenverstärken sich
dies deutlich. Die Plastizität des Gehirns
zwischen S. und rr. Lebensjahr macht es
bis zum zo. Altersjahr, wobei diese Entwicklung nicht linear verläuft. Die graue
empfänglich für das Erlernen einer Sprache, auch einer Fremdsprache.Die geneti-
Substanznimmt bis zur Pubertät zt, danach beginnt eine Abnahme. Der Frontalkortex ist die letzte Struktur, die reift, was
scheReifung lst noch nicht abgeschlossen. che übernehmen,meinte Herr Meyer, dass
Zum Thema Fremdsprachenin der Primar- es gemässHirnforschung keine zwingenden Gründe und Vorteile dafür gebe,dass
schulzeit mochte Herr Meyer deshalb
insbesondere für Eltern und Pädagogen
eine wichtige Erkenntnis biidet. Denn ge-
keine Befürchtüngen äussern.Von einer
Überforderung des Gehirns könne nicht
aber damit vermutlich durch den Einbezug der Eltern bei der Festigung der Mut-
rade in der Zeit der Pubertät wird am
meistenauf-,ab- und umgebaut.
gesprochenwerden. ZurFrage, ob es ein
Talent zum Sprachenlernengebe, meinte
tersprache emotionale und sozio-kulturelle Konflikte eventuell eher vermieden
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in Finnland), dassKinder mit Migrationshintergrund zuerst intensiv ihre Muttersprachelernen, bevor sie die Landesspra-
Ausdem Vorstand
werden können. Für die unterschiedliche
Lernfähigkeit von Kindern und Schülerinnen und Schülern machte Herr Meyer einerseits verantwortlich, dass die neuronale, vorgeburtlicheWanderung nicht immer im gleichen optimalen Stil verläuft
Eine ganz interessante Frage wurde ganz
und dass demzufolge ein unreifer Kortex
die Folge sein kann und andererseitsdie
zum Schluss gestellt: Wird Lernen im Alter langsamer?Die Frage,wie sich das Ge-
Leitungsgeschwindigkeit der Neuronen
hirn im Alter organisiert, wird in zehn
bei jedem Menschen unterschiedlich ist.
Jahren besser beantwortet werden kön-
Eine Fragezielte auf einen möglichen Zu-
nen. Jetzt schonist erkennbar,dassgrosse
pnterschiedebei vielen älteren Menschen
sammenhang zwischen Gehirnentwicklung und ADS. Herr Meyer bestritt, dass
bestehen,was Lern-,Leistungs-und Hand-
ADS durch,falsche,,frühkindliche Stimulation herbeigeführtwerden kann. Esgebe
lungsfähigkeit und Struktur des Gehirns
betrifft. Es scheint eine Art Entkoppelung
Menschen,die einen andern Transmitter-
zwischen den Bereichen stattzufinden.
Auf die Frage,was gegenDemenz-Erkran-
haushalt hätten, die mehr oder weniger
Dopamin ausschütteten.Es ist eine Tatsache, dass Knaben häufiger davon betroffen sind (Herr Meyer machteetwasschalk-
kung das beste Mittel wäre, zog Herr
Meyer eine Untersuchung zu Hilfe, die
haft den männlichen Bauplan dafür ver-
ausweist,dassu.a. Brettspieleund Tanzen
prophylaktisch wirken könnten, mehr
antwortlich, der wohl eher ein Testlaufge-
vielleicht als vegetarischesEssen.Immer-
wesen sei!) Als Entgegnung zu dieser
Erscheinungempfahl er eher ein multisen-
hin sei erwiesen, dassproteinhaltiges Essen (also Fleisch) der hauptsächliche
sorischesHerangehen als den schnellen
Grund für die massiveVergrösserungdes
Griff zur Ruhigstellungmittels Ritalin und
Gehirns im Laufe der Menschheitsge-
ähnlichen Medikamenten. Ahnlich wie
schichtesei.
Kinderarzt Remo Largo wies er auf die
Tatsachehin, dassdie Primarschulein der
SchweizGefahr läuft eine Mädchenschule
Der Referent, Herr Martin Meyer, wurde
auch noch beim anschliessendenApdro
zu werden, nicht zuletzt auch wegen der
bilateral auf Fragen zum präsentierten
starken Feminisierung des Lehrerberufs
Thema angesprochen
auf dieser Stufe.
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