III. Theorien und Konzeptionen der Wirtschaftspolitik

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Franz Josef Floren: Wirtschaftspoltik im Zeichen der Globalisierung
Paderborn 1998 (Schönigh)
[144]
III.
Theorien und Konzeptionen der
Wirtschaftspolitik
Nachdem im vorausgehenden Kapitel die wirtschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik beschrieben wurde, soll es in diesem Kapitel um eine nähere Erläuterung der Grundlagen der Wirtschaftspolitik gehen. Unter dem Begriff Wirtschaftspolitik lässt
sich nach einer Definition des Wirtschaftswissenschaftlers Herbert Giersch die „Gesamtheit aller
Maßnahmen politischer Entscheidungsträger“ verstehen, die „darauf abzielen, den Ablauf des wirtschaftlichen Geschehens zu ordnen, zu beeinflussen
oder unmittelbar festzulegen.
Da sich die praktische Wirtschaftspolitik in aller
Regel an bestimmten Theorien orientiert, sollen in
diesem Kapitel zunächst die Grundzüge der beiden
Theorien vorgestellt werden, die die wirtschaftswissenschaftliche und die wirtschaftspolitische
Diskussion in der Bundesrepublik maßgeblich bestimmt haben (M 59—M 64).
Zuvor wollen wir in einem kurzen orientierenden
Überblick den Zusammenhang zwischen der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik (vgl. M 10a) und der jeweiligen Orientierung an bestimmten wirtschaftstheoretischen Konzepten in groben Zügen verdeutlichen. Die Politik
der Sozialen Marktwirtschaft, wie sie sich nach
1948 durchsetzte, erhielt ihre Begründung weitgehend durch die ökonomische Denkrichtung des Neoliberalismus, dessen geistiges Zentrum in Deutschland die „Freiburger Schule“ bildete. Seine wichtigsten Vertreter waren Walter Eucken, Wilhelm Röpke,
Franz Böhm und Alfred Müller-Armack. Ihre Lehre
entwickelte sich in der Auseinandersetzung mit dem
klassischen Liberalismus des 18. und 19. Jahrhunderts, dessen Grundidee der freie marktwirtschaftliche Wettbewerb war und der den Verzicht
des Staates auf unmittelbare Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen forderte. Die „Neo-Liberalen“ orientierten sich zwar weitgehend an diesen Grundvorstellungen, modifizierten sie aber doch erheblich, indem sie dem Staat neben der Erhaltung und
Gestaltung eines allgemeinen Ordnungsrahmens
auch bestimmte Eingriffsfunktionen (vor allem zur
Vermeidung von wirtschaftlichen Machtkonzentrationen) zusprachen und die soziale Verantwortung
der Wirtschaftspolitik nachdrücklich betonten.
Aus diesen Vorstellungen heraus entwickelten Lud-
wig Erhard und sein Staatssekretär Alfred MüllerArmack das Konzept der „Sozialen Marktwirtschaft“,
das bis heute den „ordnungspolitischen Rahmen“
der Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik bestimmt.
In Orientierung an dieser Wirtschaftstheorie vollzog
sich der ökonomische Wiederaufbau der Bundesrepublik, der durch anhaltendes Wachstum, zunehmende Beschäftigung und allgemeine Wohlstandsmehrung („Wirtschaftswunder“) gekennzeichnet war.
Ein erster Rückschlag, gekennzeichnet durch die
Rezession 1966/67, führte nicht nur zum Rücktritt
der Regierung des Bundeskanzlers Erhard, der zuvor als Wirtschaftsminister der Regierung Adenauer der „Vater des Wirtschaftswunders“ genannt wurde, und zur Bildung der „Großen Koalition“ zwischen
CDU/ CSU und SPD (s. 5. 36), sondern auch zur
Entwicklung einer neuen wirtschaftspolitischen Konzeption.
Die „Neue Wirtschaftspolitik“, wie sie besonders von
dem damaligen Wirtschaftsminister Karl Schiller
(SPD) entwickelt wurde, orientierte sich maßgeblich an der Theorie des englischen Nationalökonomen John Maynard Keynes, die dieser bereits in
den 30er-Jahren entwickelt hatte und die besonders
durch die Forderung einer akti-[145]veren Rolle des
Staates bei der Lenkung des Wirtschaftsprozesses
gekennzeichnet ist. Schiller, der diese theoretische
Grundkonzeption mit der neoliberalen zu verbinden
versuchte, prägte für die neue staatliche Lenkungstätigkeit den Begriff der „antizykIischen Globalsteuerung“. Damit sollte verdeutlicht werden, dass
es bei der geforderten aktiveren Rolle des Staates
nicht um die direkte Einschränkung der freien Entscheidung der einzelnen Wirtschaftssubjekte, sondern um die Steuerung globaler Größen wie Investitionen, Einkommen und Konsum gehen sollte, mit
dem Ziel, die Schwankungen des Konjunkturzyklus
möglichst gering zu halten bzw. ihnen entgegen zu
steuern (daher der Begriff „antizyklisch“) und die konjunkturell bedingte Arbeitslosigkeit zu vermeiden bzw.
zu bekämpfen.
Die auf dem Keynesianismus beruhende Konjunkturpolitik hat die Entwicklung bis fast zum Ende der
sozialliberalen Regierungskoalition (SPD und FDP)
wesentlich bestimmt. Die durch die beiden „ÖlpreisExplosionen“ (1973/74 und 1980) mitbedingte und
1
beitslosigkeit erreichte jedoch aufgrund der in der
Rezessionsphase erfolgten massiven Rationalisierungsmaßnahmen in der Folgezeit (1997) einen neuen Rekordstand (s. dazu auch M 10b, 5. 37).
Der Streit zwischen Regierung und Opposition, Unternehmerverbänden und Gewerkschaften um die
beiden genannten wirt-[146] schaftspolitischen Konzeptionen (keynesianische Nachfrage- und neoklassische Angebotsorientierung) spielte bis etwa
1996/97 keine bedeutende Rolle, die wirtschaftspolitische Diskussion wurde stärker durch die sich
aus der deutschen Vereinigung ergebenden Finanzierungsprobleme und durch die Steuerpolitik bestimmt. Vor allem im Verlauf des Jahres 1997 orientierte
sich die lebhafte wirtschaftspolitische Diskussion aber
wieder überraschend deutlich an der genannten konzeptionellen Alternative (s. S. 160). Es erscheint
durch wachsende Massenarbeitslosigkeit gekennzeichnete Wirtschaftskrise, die in den Jahren 1981/
82 ihren Höhepunkt erlebte, wurde von vielen
Kritikern als Beweis für die Erfolglosigkeit der „antizyklischen Globalsteuerung“ angesehen und war eine
wesentliche Ursache für den Regierungswechsel im
Jahre 1982 (Ende der sozialliberalen Koalition aus
SPD und FDP, Beginn der CDU/CSU/FDP-koalition
unter Bundeskanzler Kohl).
Mit dem Regierungswechsel vollzog sich bald auch
der Wechsel der wirtschaftspolitischen Konzeption
— weg von der keynesianischen Konjunktursteuerung hin zu einer stärker neoklassisch geprägten
Politik, die die Rahmenbedingungen für die Unternehmen nachhaltig verbessern sollte („Angebotsorientierung“).
Die wirtschaftliche Entwicklung bis 1990 war durch
kontinuierliches, wenn auch in der Höhe unterschiedliches Wachstum einerseits und durch weiterhin bestehende, sich erst allmählich etwas verringernde
hohe Arbeitslosigkeit andererseits gekennzeichnet.
Die 1992/93 einsetzende schwere Rezession, verbunden mit wieder wachsender Arbeitslosigkeit und
hoher Inflation, kam in ihrem Ausmaß für viele
überraschend, zumal die deutsche Vereinigung zunächst (1990/91) zu einer Boomphase (aufgrund des
Nachfragesogs aus den neuen Bundesländern) geführt hatte. Zwar erholte sich die Wirtschaft im Verlaufe des Jahres 1994 relativ schnell wieder, die Ar-
daher sinnvoll, sowohl die beiden grundlegenden
Wirtschaftstheorien des Liberalismus und des
Keynesianismus als auch die daraus abgeleiteten
wirtschaftspolitischen Konzeptionen (Nachfrage- und
Angebotsorientierung) in ihren Grundzügen darzustellen.
Wir haben im Folgenden die kurze, beschreibende
Darstellung des klassischen Liberalismus einerseits
und der Keynes‘schen Theorie andererseits jeweils
durch einen Originaltext von Adam Smith (M 61) bzw.
von J. M. Keynes (M 63) ergänzt (für eine knappe
Information reicht die Erarbeitung von M 59/60 und
M 62a aus; die Keynes‘sche Theorie kann auch aus
M 64b heraus entwickelt werden). Auf eine nähere
Darstellung der neoliberalen Wirtschaftstheorie (vgl.
Glossar), die für das Verständnis der beiden wirtschaftspolitischen Grundkonzeptionen (M 65 ff.) keine unbedingte Voraussetzung bildet, haben wir ver-
zichtet.
1. Die Wirtschaftstheorie des klassischen Liberalismus
M 59 Wirtschaftlicher Liberalismus
Als „Klassiker“ der Volkswirtschaftslehre bezeichnet man eine Reihe von Okonomen die die Wirtschaftswissenschaft zum Range einer selbstständigen Disziplin mit eigenem Erkenntnisobjekt und eigener Methodik
entwickelt haben. Nach überwiegender Anschauung sind dies Adam Smith, Thomas Robert Malthus, Jean
2
Baptiste Say, David Ricardo und John Stuart Mill.
Das Denken der Klassiker wendete sich gegen die von Staatsmännern und Verwaltungsbeamten dirigierte
Okonomie des merkantilistischen Zeitalters.
Im Merkantilsystern‘ das in Frankreich bis zur Revolution von 1789 galt, war nach J. St. Mill jegliche
gewerbliche Tätigkeit „der sich überall einmischende(n) und alles von sich aus regulierende(n) Gesetzgebung
unterworfen“. Das klassische Denken war ein Protest gegen diese staatlichen Reglementierungen. Daher stammt
die spätere Bezeichnung der klassischen Lehre als wirtschaftlicher Liberalismus. Der Liberalismus betont
Eigengesetzlichkeit des Verhaltens von Gruppen und Individuen und versucht sie gegen Herrschaftsanspruche
von Institutionen zu schützen.
Der individualistische Grundsatz der liberalen Wirtschaft lässt sich in vier Prinzipien zusammenfassen (Götz
Briefs):
— Träger der wirtschaftlichen Handlungen ist das Individuum (und nicht der Staat). Das Individuum entscheidet in freier Selbstbestimmung über seine wirtschaftlichen Handlungen und Unterlassungen.
— Die Wirtschaftseinheiten haben einzustehen für dic Folgen ihres Tuns und Unterlassens (Verantwortung
für das wirtschaftliche Handeln, Haftungsprinzip).
— Die Individuen handeln nach der Leitnorm des eigenen Interesses aufgrund ökonomisch-rationaler Entscheidungen.
— Freie Konkurrenz ist die Voraussetzung für das Funktionieren des Gesamtsystems.
Diese Grundsätze galten als die natürlichen Ordnungs- und Funktionsgesetzeder Wirt-[147]schaft.
Wenn die Individuen nur ihren eigenen wirtschaftlichen Interessen nachgehen und in freier Konkurrenz auf
den Märkten miteinander in Beziehung treten, tragen sie nach klassischer Auffassung „automatisch“ zum
Wohle der Gesamtheit bei. Die wirtschaftlichen Handlungen der Individuen sind — den Einzelnen unbewusst
— naturgesetzlich bestimmt. Die Marktmechanismen sorgen dafür, dass sich die natürliche Ordnung einer
sozial harmonischen Gesellschaft einstellt (s. M 61, S. 37ff.). Die Klassiker sahen ihre Aufgabe darin, nach
den objektiven Gesetzen Ausschau zu halten, die Produktion und Verteilung der Güter regeln. Wirtschaften ist
nach klassischer Auffassung „ein natürlicher Prozess, in dem der Bedarfsdeckungsvorgang durch Produktions- und Tauschhandlungen von nach Selbstinteressen in Konkurrenz verfahrenden einzelnen (Wirtschaftseinheiten) gesetzmäßig vor sich geht“ (Briefs).
Die wirtschaftspolitische Aufgabe des Staates besteht nach Meinung von Adam Smith (1723—1790) in der
Schaffung von Bedingungen, die das individuelle Wirtschaften fördern, nämlich: Schaffung und Unterhaltung
von öffentlichen Infrastruktur-Einrichtungen, Aufrechterhaltung der Rechtsordnung. Sicherung der Individualrechte, Erhaltung der Verteidigungsbereitschaft (vgl. M 61, S. 46ff.).
J. St. Mill (1806—1873) fügte hinzu, dass der Staat auch für den Schutz von Kindern und Jugendlichen
sorgen sowie im Bildungshereich und im Fürsorgcsystem Aufgaben übernehmen musse.
(Günter Poser, Wirtschaftspolitik, Stuttgart, 5. Aufl. 1994,S. 241.)
M 60 Die Unmöglichkeit von Wirtschaftskrisen
Nach den von den Klassikern formulierten Marktgesetzen kann es kein Auseinanderklaffen zwischen gesamtwirtschaftlichem Angebot und gesamtwirtschaftlicher Nachfrage gehen. Dieser Optimismus resultierte aus
der Annahme einer ausreichenden Wirksamkeit der marktwirtschaftlichen Kräfte und einer behaupteten Tendenz zu einem gesamtwirtschafiliehen Gleichgewicht hei Vollheschäftigu,mg, einem Zustand optimaler Nutzung der vorhandenen Ressourcen einer Volkswirtschaft. Begründet wurde diese Annahme mit Hilfe des
Say‘schen Theorems. Danach ist ein dauernder Überschuss des Gesamtangebotes über die Gesamtnachfrage
in einer Volkswirtschaft nicht möglich, weil jeder Anbieter tauschen will und damit auch in Höhe seines
Angebotes nachfragt. Auf diese Weise muss jedem zusätzlichen Angebot eine zusätzliche Nachfrage gegenüberstehen. Dabei wird vorausgesetzt, dass Geld nur als Tauschmittel, nicht dagegen als Wertaufbewahrungsmittel verwendet wird.
Bei Annahme marktdeterminierter Preise ist Arbeitslosigkeit als ein dauerndes Überschussangebot an Arbeitskräften unmöglich, da fallende Löhne die Unternehmer veranlassen werden, die nun billigere Ware Arbeit in
größerem Umfang nachzufragen (s. M 62a. S. 7ff.). Falls trotzdem Krisen auftreten, könnten sie nur durch
exogene Kräfte. also solche, die dem Wirtschaftssystem nicht immanent sind, verursacht werden oder partieller und vorübergehender Natur sein. Partielle Überproduktionskrisen wurden als ein reinigender Prozess mit
Auslesefunktion empfunden, der die Fehlleitung von wirtschaftlichen Ressourcen offenbart und letztlich dadurch verhindert. Auf diese Weise berge die Krise in sich bereits den Keim für einen neuen Aufschwung. Da
3
nach diesen Uberlegungen ein dauerhaftes gesamtwirtschaftliches Überschussangebot nicht möglich ist, sei es
nicht Aufgabe des Staates. für ein ausreichendes Beschäftigungsniveau der Wirtschaft zu sorgen. Der Staat
soll sich so weit wie möglich wirtschaftlicher Aktivität enthalten. Staatliche Eingriffe würden im Gegenteil
eine optimale Entfaltung der Wirtschaftskräfte verhindern. Auf diese Weise wurde das kapitalistische System
als ein auf streng deterministischen Gesetzen basierendes natürliches System hingestellt, das optimal funktioniere und daher nicht in Frage gestellt werden dürfe.
(Uwe Taenzer, Grundlagen der Wirtschaftswissenschaftefl. Teil 3, Makroökonomie, Stuttgart 1977, 5. 50)
[148]
M 61 Adam Smith: Das einfache System der natürlichen Freiheit
Der Einzelne ist stets darauf bedacht herauszufinden, wo er sein Kapital, über das er verfügen kann, so
vorteilhaft wie nur irgend möglich einsetzen kann. Und tatsächlich hat er dabei den eigenen Vorteil im Auge und nicht etwa den der Volkswirtschaft. Aber
gerade das Streben nach seinem eigenen Vorteil ist es, das ihn ganz von selbst
oder vielmehr notwendigerweise dazu führt, sein Kapital dort einzusetzen, wo
es auch dem ganzen Land den größten Nutzen bringt.
Erstens ist ein jeder bestrebt, viel von seinem Kapital möglichst in der nächsten Umgebung und folglich zur Unterstützung des einheimischen Gewerbes
zu investieren, natürlich immer vorausgesetzt, er kann damit die übliche Kapitalverzinsung, zumindest nicht sehr viel weniger als diese, erzielen. [...]
Zweitens wird jeder, der sein Kapital zur Unterstützung der eigenen Volkswirtschaft investiert, notwendigerweise bestrebt sein, die wirtschaftliche Aktivität so zu lenken, dass ihr Ertrag den größtmöglichen Wert erzielen kann.
[...]
Nun ist aber das Volkseinkommen eines Landes immer genauso groß wie der Tauschwert des gesamten Jahresertrages oder besser, es ist genau dasselbe, nur anders ausgedrückt. Wenn daher jeder Einzelne so viel wie
nur möglich danach trachtet, sein Kapital zur Unterstützung der einheimischen Erwerbstätigkeit einzusetzen
und dadurch diese so lenkt, dass ihr Ertrag den höchsten Wertzuwachs erwarten lässt, dann bemüht sich auch
jeder Einzelne ganz zwangsläufig, dass das Volkseinkommen im Jahr so groß wie möglich werden wird.
Tatsächlich fördert er in der Regel nicht bewusst das Allgemeinwohl, noch weiß er, wie hoch der eigene
Beitrag ist. Wenn er es vorzieht, die nationale Wirtschaft anstatt die ausländische zu unterstützen, denkt er
eigentlich nur an die eigene Sicherheit, und wenn er dadurch die Erwerbstätigkeit so fördert, dass ihr Ertrag
den höchsten Wert erzielen kann, strebt er lediglich nach eigenem Gewinn. Und er wird in diesem wie auch in
vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen er in
keiner Weise beabsichtigt hat. Auch für das Land selbst ist es keineswegs immer das schlechteste, dass der
Einzelne ein solches Ziel nicht bewusst anstrebt, ja, gerade dadurch, dass er das eigene Interesse verfolgt,
fördert er häufig das der Gesellschaft nachhaltiger, als wenn er wirklich beabsichtigt, es zu tun. Alle, die
jemals vorgaben, ihre Geschäfte dienten dem Wohl der Allgemeinheit, haben meines Wissens niemals etwas
Gutes getan. [...]
Gibt man daher alle Systeme der Begünstigung und Beschränkung auf, so stellt sich ganz von selbst das
einsichtige und einfache System der natürlichen Freiheit her. Solange der Einzelne nicht die Gesetze verletzt,
lässt man ihm völlige Freiheit, damit er das eigene Interesse auf seine Weise verfolgen kann und seinen
Erwerbstleiß und sein Kapital im Wettbewerb mit jedem anderen oder einem anderen Stand entwickeln oder
einsetzen kann. Der Herrscher wird dadurch vollständig von einer Pflicht entbunden, bei deren Ausübung er
stets unzähligen Täuschungen ausgesetzt sein muss und zu deren Erfüllung keine menschliche Weisheit oder
Kenntnis jemals ausreichen könnte, natürlich der Pflicht oder Aufgabe, den Erwerb privater Leute zu überwachen und ihn in Wirtschaftszweige zu lenken, die für das Land am nützlichsten sind. Im System der natürlichen Freiheit hat der Souverän lediglich drei Aufgaben zu erfüllen, die sicherlich von höchster Wichtigkeit
sind, aber einfach und dem normalen Verstand zugänglich: Erstens die Pflicht, das Land gegen Gewalttätigkeit und Angriff anderer unabhängiger Staaten zu schützen, zweitens die Aufgabe, jedes Mitglied der Gesellschaft so weit wie möglich vor Ungerechtigkeit [149] oder Unterdrückung durch einen Mitbürger in Schutz zu
nehmen oder ein zuverlässiges Justizwesen einzurichten, und drittens die Pflicht, bestimmte öffentliche Anstalten und Einrichtungen zu gründen und zu unterhalten, die ein Einzelner oder eine kleine Gruppe aus
eigenem Interesse nicht betreiben kann, weil der Gewinn ihre Kosten niemals decken könnte, obwohl er häufig
höher sein mag als die Kosten für das ganze Gemeinwesen.
(Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, aus dem Englischen übertragen von H. C. Recktenwald, München 1978,S.369—71,S.582)
4
Die Texte, mit denen die Wirtschaftstheorie des klassischen Liberalismus (M 59—M 61) und die
Grundzüge der Keynes ‘schen Theorie (M 62ff.) vorgestellt werden, sind in sich so klar gegliedert, dass ihre Erarbeitung keine Mühe machen wird. Wir wollen uns dazu auf einige wenige
Hinweise beschränken.
1. Machen Sie sich klar, in welcher historischen Situation der ökonomische Liberalismus entstand und auf welches ökonomische System er die Reaktion darstellte
(M 59).
2. Zur Verdeutlichung und Vertiefung der kurzen Darstellung von M 59 sollten Sie den Text von
Adam Smith (M 61) hinzuziehen. Erläutern Sie, was er mit dem „einfachen System der natürlichen Freiheit“ und mit seinem berühmten Wort von der „unsichtbaren Hand“ (S. 30) meint.
3. M 60 ist von entscheidender Bedeutung für das Verständnis der beiden wirtschaftspolitischen
Konzeptionen, die die Diskussion bis heute bestimmen (s. M 64). Verdeutlichen Sie, wie auf der
Grundlage des Say‘schen Theorems die Forderung nach neutralem Verhalten des Staates gegenüber dem Wirtschaftsprozess (Neutralitätspostulat) begründet wird.
2. Grundzüge der Keynes‘schen Theorie
M 62a Die Revolution des John M. Keynes
Die Weltwirtschaftskrise Anfang der 30er-Jahre hatte in allen Industrieländern verheerende Arbeitslosigkeit und großes Elend zur Folge. Die traditionelle Wirtschaftstheorie stand diesen Tatsachen hilflos gegenüber; ihren Annahmen ztifolge konnte Arbeitslosigkeit immer nur eine vorübergehende Erscheinung sein, keinesfalls ein Dauerzustand. Sollte es nämlich zu Arbeitslosigkeit kommen, dann müssten die Löhne sinken und niedrigere Lohnkosten
würden für die Unternehmer wieder mehr Produktion und damit mehr Beschäftigung rentabel machen. Im Mittelpunkt der traditionellen (klassischen)
Wirtschaftstheorie stand das einzelne Unternehmen und der einzelne
Arheiterhaushalt. Ein Unternehmer, so die Grundthese der klassischen Ökonomik, veranstaltet einen Produktionsprozess und bietet Arbeitsplätze an, wenn
er seine Produktion a) absetzen und b) zu Preisen absetzen kann, die seine Produktionskosten — einschließlich eines „üblichen“ Gewinns — decken. Nach dieser Theorie konnte Arbeitslosigkeit also nur entstehen,
wenn zu hohe Lohnkosten die Produktion für den Unternehmer unrentabel machten. [150]
Wenn es zu Arbeitslosigkeit kommen sollte. dann würden die Arbeitswilligen verstärkt um die verfügbaren
Arbeitsplätze konkurrieren und dadurch ihre Löhne wieder auf ein Niveau drücken, hei dem alle, die arbeiten
wollten, auch Beschäftigung tindcn würden. Anhaltende hohe Arbeitslosigkeit war innerhalb dieses theoretischen Ansatzes also nicht möglich. Offensichtlich war sie jedoch in der Realität (der Weltwirtschaftskrise)
möglich — und deswegen machten sich Keynes und seine Kollegcrt daran, aus der Kritik der klassischen
Wirtschaftstheorie, die offensichtlich an der Realität scheiterte, eine neue Theorie zu entwickeln, die in der
Lage wärc, die anhaltende Millionenarheitslosigkeit zu erklären. Wenn man nur ein einzelnes Unternehmen
und den einzelnen Arbeiterhaushalt betrachte, schrieb Keynes, dann seien die Hypothesen der klassischen
Theorie schon richtig. Man müsse sich aber fragen, was geschehen würde, wenn alle Unternehmen bei bestehender Arbeitslosigkeit die Löhne herabsetzen, wie es in der Krise ja tatsächlich geschehen sei. Dann
würden auch die Einkommen der privaten Haushalte sinken — und damit die gesamtwirtschaftliche Konsumnachfrage. Das müsste die Krise aber noch weiter verschlimmern, denn ein Unternehmer, so Keynes, stelle
auch hei sinkenden Löhnen so lange keine neuen Arbeitskräfte ein, wie die Nachfrage nach seinen Produkten
unzureichend oder gar rückläufig sei. Gesamtwirtschaftlich, d.h. makro-ökonomisch betrachtet, hänge die
Beschäftigung vor allem von der Gesamtnachfrage und diese wiederum vom Volkseinkommen ab. Sinkende
Löhne würden das Einkommen und die wirksame gesamtwirtschaftliche Nachfrage nur noch weiter drücken
und dadurch den Ahschwungsprozess kumulativ verstärken.
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Dies beleuchtet die Bedeutung der wissenschaftlichen Methode: Aus seiner Kritik des mikro-ökonomischen
Ansatzes der klassischen Ökonomik entwickelte Keynes seine makro-ökonomische, gesamtwirtschaftliche
Größen einheziehende Theorie. Dieser Wechsel von der einzel- zur gesamtwirtschaftlichen Betrachtung lieferte Ergebnisse, die eine umwälzende Bedeutung für die Wirtschaftspolitik haben sollten. Der wichtigste Bestimmungsgrund der Beschäftigung war für Keynes die gesamtwirtschaftliche Nachfrage (vgl. dazu M 20).
Ein wirtschaftlicher Ahschwung bedeutete für ihn nichts anderes als ein Produktionsrückgang, der auf eine
unzureichende gesamtwirtschaftliche Nachfrage ztirückzuführcn war. Die entscheidende Frage lautete also:
Wie kann man die gesamtwirtschaftliche Nachfrage wieder auf ein Niveau heben, bei dem ein hoher Beschäftigungsstand gesichert ist? Keynes analysierte die einzelnen Nachfragekomponenten: Die Konsumnachfrage
der privaten Hatishalte war zu niedrig, weil Arbeitslosigkeit vorherrschte und die Einkommen im Abschwung
sanken. Sollte man also die Löhne erhöhen? Dann würden die Unternehmer nur noch mehr Arbeitskräfte auf
die Straße setzen. denn für den einzelnen Unternehmer waren es ja auch die zu hohen Lohnkosten, welche die
Produktion unrentabel machten. Die Investitionsnachfrage war zu niedrig, weil der Authau neuer Produktionskapazitäten bei zu hohen Kosten und ungenügender Konsumnachfrage nicht sehr aussichtsreich erschien.
Wie konnte man die Investitionsnachfrage wieder anregen? Eine Senkung der Lohnkosten hätte die Konsumnachfrage noch weiter verringert; dieser Weg schicd also aus. Welche Nachfragekomponenten blieben dann
noch übrig? Die Auslands- und die Staatsnachfrage. Vom Ausland war nicht viel zu erwarten, denn dort
herrschten auch Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit vor; und der Staat hatte kaum das Geld, seine bestehenden Verpflichtungen. vor allem in der Sozialversicherung, zu erfüllen, weil die Steuereinnahmen bei sinkender
Produktion und fallenden Einkommen rückläufig waren. Woher sollte also zusätzliche Nachfrage kommen?
Der zentrale Wirtschaftspolitische Gedanke von Keynes war nun der, dass der Staat zusätzliche Nachfragee
schaffen muss, weil nur er es „autonom“ konnte. Wenn ihm die Mittel — wegen mangelnder Steuereinnahmen
— für zusätzliche Staatsausgaben fehlten, dann konnte er — und deswegen musste er — sich hei der Notenbank verschulden. Dies war ein Aufsehen erregender Vorschlag, denn bisher hatte der Grundsatz gegolten,
dass dcr Staatshaushalt ausgeglichen sein müsse. Wie ein ordentlicher privater Haushalt sollte [151] auch der
öffentliche Haushalt nur so viel ausgeben, wie er einnahm. Verschulden durfte sich der Staat allenfalls für
Kriegszweckc — aber zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit? Das hatte es bisher nicht gegeben.
Genau darauf aber bestand Kcynes. Wenn der Staat seine Nachfrage entsprechend seiner sinkenden Steuereinnahmen auch noch drosseln wollte, dann müssten der Abschwungsprozess noch verstärkt und die Krise noch
auswegloscr werden. Um das zu verhindern, müsste der Staat also vorübergehend Haushaltsdefizite in Kauf
nehmen (delicit spending). Der Wirtschaftsprozcss würde dadurch wieder in Schwung gebracht und die Steuereinnahmen würden dann auch wieder steigen, so dass die aufgelaufenen Schulden voraussichtlich auch
wieder getilgt werden könnten.
Fazit: Keynes diagnostizierte die konjunkturellen Schwankungen als zyklische Schwankungen der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. Abschwung und anhaltende Arbeitslosigkeit sind die Folgen unzureichender privater Nachfrage. Ein Staat, der seine Verantwortung für das Wohl der Bürger ernst nimmt, muss die gesamtwirtschaftliche Nachfrage durch zusätzliche Staatsausgaben wieder auf ein Niveau heben, das einen hohen
Beschäftigungsstand sichert — auch wenn dadurch Haushaltsdefizite entstehen.
(Gerhard WilIke, Wirtschaft — Stabilisierungspolitik und Wirtschaftsordnung. In: Dimensionen der Politik 1, Frankfurt 1983, S. 2/546.)
M 62b Die drei „grundlegenden psychologischen Faktoren“
Das Verhalten der Nachfrager, das hei einem zu geringen Niveau der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage zu
einem Gleichgewicht (auf den Gütermärkten) bei Unterbeschäftigung führen könne, erklärte Keynes mit
„drei grundlegenden psychologischen Faktoren, nämlich dem psychologischen Hang zum Verbrauch, dem
psychologischen Verhalten zur Liquidität und der psychologischen Erwartung des zukünftigen Erträgnisses
aus Kapital-werten [...]1
1. Der Hang zum Verbrauch
Wenn sich in einer wachsenden Volkswirtschaft die Einkommen erhöhen, ist die Bevölkerung zwar geneigt,
auch ihre Konsumausgaben zu erhöhen, aber nicht im gleichen Maße. „Das grundlegende [...] Gesetz, auf das
wir uns von vornherein sowohl aufgrund unserer Kenntnis der menschlichen Natur als auch der einzelnen
Erfahrungstatsachen mit großer Zuversicht Stützen dürfen, ist, dass die Menschen in der Regel und im Durch1
John M. Keynes, Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes (1936), Berlin 1974, S. 206
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schnitt geneigt sind, ihren Verbrauch mit der Zunahme ihrer Einkommen zu vermehren, aber nicht in vollem
Maße dieser Zunahme.“2
2. Die Vorliebe für Liquidität
Wenn die Konsumausgaben relativ sinken, kann ein größerer Teil der Einkommen gespart werden. Sparen
bedeutet aber nicht automatisch, dass das gesparte Geld auch in Sparguthaben, Wertpapiere oder Investitionen gesteckt wird. Es gibt Zeiten, in denen die Sparer es sinnvoll finden, Erspartes „liquide“ (als Bargeld) zu
halten. Das kann aus psychologischen Gründen (z.B. aus Vorsorge für nicht vorher zu sehende Ereignisse)
oder aus spekulativen Motiven (z.B. aus der Erwartung einer bestimmten Zinsentwicklung für Wertpapiere)
erfolgen.
3. Die Erwartung zukünftiger Kapitaierträgnisse
Die Nachfrage nach lnvestitionsgütern hängt entscheidend davon ah, welche Gewinnerwartungen die Unternehmer mit ihren Investitionen verbinden, wie sie die „Grenzleis-[152]tungsfähigkeit des Kapitals“ („marginal efficicncy of capital“) einschätzen. Die Grenzleistungsfähigkeit bezeichnet das Verhältnis zwischen dem
voraussichtlichen Ertrag eines Kapitalwertes (Investition) und seinen Anschaffungskosten (Angebotspreis);
d.h., sie wird nicht nur vom jeweiligen Zinsfuß (für das eingesetzte Kapital), sondern vor allem von der
Zukunftserwartung der Investoren bestimmt. In den Schwankungen dieser Erwartungen (der „unlenkbaren
und unfügsamen Psychologie der Geschäftswelt“) sieht Keynes auch den wesentlichen Grund für die Entstehung von Wirtschaftskrisen.
(Autorentext)
M 63 J. M. Keynes: Ausdehnung der Aufgaben der Regierung
Die hervorstechenden Fehlei- der wirtschaftlichen Gesellschaft. in der wir lehen, sind ihr Versagen, für Vollbeschäftigung Vorkehrung zu treffen, und ihre willkürliche und unbillige Verteilung des Reichtums und der
Einkommen. [...]
Ich selber glaube, dass bedeutsame Ungleichheiten von Einkommen und Reichtum gesellschaftlich und psychologisch gerechtfertigt sind, aber nicht so große Ungleichheiten, wie sie hetite bestehen. Es gibt wertvolle
menschliche Betätigungen, die zu ihrer vollen Entfaltung den Beweggrund des Gelderwerhs und die Umgehung privaten Besitztums erfordern. Gefährlich menschliche Triebe können überdies durch Gelegenheiten für
Geld-erwerb und privaten Besitz in verhältnismäßig harmlose Kanäle abgeleitet werden, die, wenn sie nicht
auf diese Art befriedigt werden können, einen Ausweg in Grausamkeit, in rücksichtsloser Verfolgung von
persönlicher Macht und Autorität und anderen Formen von Selhsterhöhung finden können. [...]
Der Staat wird einen leitenden Einfluss auf den Hang zum Verbrauch teilweise durch sein System der Besteuerung, teilweise durch die Festlegung des Zinsfußes und teilweise vielleicht durch andere Wege ausüben müssen. Ferner scheint es unwahrscheinlich, dass der Einfluss der Bankpolitik auf den Zinsfuß an sich genügend
sein wird, um eine Optimumrate der Investition zu bestimmen. Ich denke mir daher, dass eine ziemlich umfassende Verstaatlichung der Investition sich als das einzige Mittel zur Erreichung einer Annäherung an Vollbeschäftigung erweisen wird; obschon dies nicht alle Arten von Zwischenlösungen und Verfahren ausschließen
muss, durch welche die öffentliche Behörde mit der privaten Initiative zusammenarbeiten wird. Aber darüber
hinaus wird keine offensichtliche Begründung für ein System des Staatssozialismus vorgebracht, das den
größten Teil des wirtschaftlichen Lebens des Gemeinwesens umfassen würde. Es ist nicht der Besitz der
Erzeugungsgüter, deren Aneignung wichtig für den Staat ist. Wenn der Staat die der Vermehrung dieser Güter
gewidmete Gesamtmenge der Hilfsmittcl und die grundlegende Rate der Belohnung an ihre Besitzer bestimmen kann, wird er alles erfüllt haben, was notwendig ist. Die notwendigen Maßnahmen der Verstaatlichung
können überdies allmählich eingeführt werden und ohne einen Bruch in den allgemeinen Überlieferungen der
Gesellschaft. [...] Von der Notwendigkeit zentraler Leitung für die Herbeiführung eines Ausgleichs zwischen
dem Hang zum Verbrauch und der Veranlassung zur Investition abgesehen, besteht somit nicht mehr Grund
für die Verstaatlichung des wirtschaftlichen Lebens als zuvor. [...]
Die zentralen Leitungen, die für die Sicherung von Vollbeschäftigung erforderlich sind, bringen natürlich eine
große Ausdehnung der überlieferten Aufgaben der Regierung mit sich. Außerdem hat die moderne klassischen
Theorie selbst die Aufmerksamkeit auf verschiedene Zustände gelenkt, in denen es notwendig sein mag, das
freie Spiel der wirtschaftlichen Kräfte zu zügeln oder zu leiten. Aber es wird immer noch ein weites Feld für
2
John M. Keynes, a.a.O., S. 83
7
die Ausübung der privaten Initiative und Verantwortung verbleiben. Innerhalb dieses Feldes werden die überlieferten Vorteile des Individualismus immer noch Geltung haben.
[153] Während daher die Ausdehnung der Aufgaben der Regierung, welche die Ausgleichung des Hanges zum
Verbrauch und der Veranlassung zur Investition mit sich bringt, einem Publizisten des 19. Jahrhunderts oder
einem zeitgenössischen amerikanischen Finanz-mann als ein schrecklicher Eingriff in die persönliche Freiheit
erscheinen würde, verteidige ich sie im Gegenteil, sowohl als das einzige durchführbare Mittel, die Zerstörung
der bestehenden wirtschaftlichen Formen in ihrer Gesamtheit zu vermeiden, als auch als die Bedingung für die
erfolgreiche Ausübung der Initiative des Einzelnen.
Denn wenn die wirksame Nachfrage unzulänglich ist, ist nicht nur der öffentliche Skandal unbenützter
Hilfsquellcn unerträglich, sondern arbeitet auch der einzelne Unternehmer, der versucht, diese Hilfsquellen in
Tätigkeit zu setzen, mit zu vielen Punkten gegen sich. Das Zufallsspiel, das er spielt, ist mit vielen Nullen
versehen, so dass die Spieler in ihrer Gesamtheit verlieren werden, wenn sie die Energie und die Hoffnung
haben, alle Karten zu geben. Bis jetzt ist der Zuwachs des Reichtums der Welt hinter der Gesamtheit der
positiven einzelnen Ersparnisse zurückgeblieben; und die Differenz ist von den Verlusten jener wettgemacht
worden, deren Mut und Initiative nicht durch ausnahmsweise Geschicklichkeit oder ungewöhnlich gutes Glück
ergänzt worden ist. Wenn aber die wirksame Nachfrage angemessen ist, werden die durchschnittliche Geschicklichkeit und das durchschnittliche gute Glück ausreichen.
Die autoritären Staatssysteme von heute scheinen das Problem der Arbeitslosigkeit auf Kosten der Leistungsfähigkeit und der Freiheit zu lösen. Es ist sicher, dass die Welt die Arbeitslosigkeit, die, von kurzen Zeiträumen der Belebung abgesehen — nach meiner Ansicht unvermeidlich — mit dem heutigen kapitalistischen
Individualismus verbunden ist, nicht viel länger du!den wird. Durch eine richtige Analyse des Problems sollte
es aber möglich sein, die Krankheit zu heilen und gleichzeitig Leistungsfähigkeit und Freiheit zu bewahren.
(John Maynard Keynes, Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes (1936); Berlin [5. Aufl.] 1974, S. 31 4—321
[Auszüge]
1. Beschreiben Sie anhand von M 62a,
-vor welchem historisch-ökonomischen Hintergrund Keynes seine Theorie entwickelte,
-worin sich, sein Ansatz von dem der klassischen Theorie grundlegend unterscheidet,
-wie er ökonomische Krisen erklärt und
-welche Sonderstellung er dem Staat im Vergleich zu den übrigen Nachfragesektoren zuerkennt.
2. Erklären Sie die drei „grundlegenden psychologischen Faktoren“ (M 62b) und versuchen Sie
mit ihrer Hilfe die Darstellung von M 62a (über die Ursachen einer unzureichenden gesamtwirtschaftlichen Nachfrage) zu verdeutlichen.
3. Für die Analyse des (sehr anspruchs- und gehaltvollen) Textes M 63 darf Ihre Arbeitszeit nicht
zu gering bemessen sein. Beachten Sie dabei folgende Hinweise:
-Welches ist das Hauptproblem, für das Keynes mit seiner Analyse eine wirtschaftspolitische
Lösung zu finden sucht?
-Warum plädiert er nicht für eine grundsätzliche Änderung (Abschaffung) des kapitalistischen
Wirtschaftssystems? Worin sieht er dessen unverzichtbare Vorteile?
-Wie versteht Keynes den wiederholt gebrauchten Begriff der „Verstaatlichung“?
-Als das hauptsächliche wirtschaftspolitische Ziel formuliert Keynes wiederholt den „Aus
gleich zwischen dem Hang zum Verbrauch und der Veranlassung zur Investition“. Erläutern Sie präzise, was damit gemeint ist. [154]
-Im zweitletzten Abschnitt beschreibt Keynes den „öffentlichen Skandal unbenützter Hilfsquellen“, für dessen Beseitigung der Staat dem privaten Sektor zu Hilfe kommen soll. Erläu
tern Sie, inwieweit den Unternehmern das lnvestitionsrisiko abgenommen werden soll.
-An welche „autoritären Staatssysteme“, die die Arbeitslosigkeit durch Beschränkung der
Freiheit beseitigen wollten, mag Keynes (1936) gedacht haben?
-Die Keynessche Analyse und die sich daraus ergebenden wirtschaftspolitischen Empfehlun
gen wurden nicht selten als „Keynes‘sche Revolution“ bezeichnet (vgl. auch M 62a). An wel
chen Stellen des Textes wird deutlich, dass es Keynes durchaus bewusst war, dass seine
Lehre als revolutionär empfunden wurde? ImVergleich zu welchen Grundprinzipien musste
8
sie so wirken?
M 64 Der Arbeitsmarkt in neoklassischer Sicht und bei Keynes
M 64a Neoklassischer Arbeitsmarkt
Nach der Neoklassik übt der Preismechanismus seine Funktion nicht nur auf dem Güter-, sondern auch auf
dem Arbeits- und dem Geldmarkt aus. Wir verdeutlichen die Funktionsweise des Preismechanismus am Beispiel des Arbeitsmarktes. Für die anderen Märkte gelten die Ausführungen analog.
Das Angebot an Arbeitskräften nimmt auf dem Arbeitsmarkt mit steigendem Reallohn (Quotient aus Nominallohn und Güterpreis) zu, da die Arbeitskräfte bei höherem Lohn auf Freizeit verzichten und mehr Arbeit
anbieten. Umgekehrt fragen die Unternehmen mehr Arbeit bei sinkendem Reallohn nach, wenn die Lohnkosten niedriger als die Grenzproduktivität der Arbeit sind und es für sie daher rentabel ist, mehr Arbeitskräfte
einzustellen. Der Gleichgewichtsreallohn lr0 in Abb. 1 mit der Beschäftigungsmenge B0 wird durch den Schnittpunkt der Angebotskurve an Arbeitskräften A und der Nachfragekurve nach Arbeitskräften N bestimmt. Die
Pläne der Arbeitskraftanhieter und die der Arbeitskraftnachfrager werden erfüllt: Es herrscht Vollbeschäftigungsgleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt.
Alle Erwerbspersonen, die zu dem Reallohn lr0 arbeiten
wollen, erhalten einen Arbeitsplatz. Es gibt also keine
unfreiwillige, sondern nur freiwillige Arheitslosigkeit.
lr
A
N
Freiwillig arbeitslos sind die Arbeitskräfte, die Arbeit
0
rechts vom Gleichgewicht B , zu einem höheren als dem
Gleichgewichtsreallohn anbieten.
A´
Wie wirkt nun der Lohnmechcmismus? Nehmen wir
an, dass aufgrund einer starken Zuwanderung in die
lr
Bundesrepublik oder einer erhöhten Erwerbsneigung von
lr
Frauen sich das Arbeitskraftangehot erhöht, d.h. zum
jeweils gleichen Reallohn mehr Arbeit angeboten wird.
Die Arbeitsangebotskurve verschiebt sich von A nach
A‘ in Abb. 1. Besteht vollkommene Konkurrenz [155]
zwischen den Arheitskräften und sind die Nominallöhne fexihel, dann sinken die (Real-) Löhne solange, bis
der neue Gleichgewichtsreallohn lr1 mit dem neuen
Gleichgewicht B1 realisiert ist. Es werden mehr Arbeitskräfte in B1 zu einem geringeren Reallohn als vorher
beschäftigt. Es besteht wieder Vollbeschäftigung, da alle Arbeitskräfte. die zu diesem niedrigeren Reallohn
arbeiten wollen, einen Arbeitsplatz erhalten.
Der Lohnmechanismus führt bei Abweichungen vom Gleichgewicht zur Wiederherstellung der Vollbeschäftigung; es gibt keine unfreiwillige Arbeitslosigkeit. Diese Gleichgewichtstendenz besteht hei flexiblen Löhnen,
Preisen und Zinsen für alle Arbeits-, Güter-und Kapitalmärkte einzel- und gesamtwirtschaftlich.
Bisher haben wir unterstellt, dass die Unternehmen die Produktion aus der Beschäftigungsmenge B0 oder B1
jederzeit verkaufen können, also eine ausreichende Nachfrage vorbanden ist. Diese Bedingung gilt in der
Neoklassik als erfüllt und wird als Saysches Theorem bezeichnet (vgl. M 60).
Es besagt in Kurzform, dass sich jedes Angebot seine eigene Nachfrage schafft. Hinter dieser Aussage steht
die Erkenntnis, dass mit der Produktion von Gutem Einkommen für die Arbeitnehmer und die Unternehmer
als Kapitalbesitzer geschaffen werden. Diese Einnahmen gehen die Besitzer der Produktionsfaktoren wieder
aus, um Güter zu kaufen: Konsumgüter für die Lohn- und Kapitaleinkommensbezieher. Investitionsgüter für
die Unternehmer.
In einer reinen Tauschwirtschaft ohne Geld trifft das Say‘sche Theorem zu, dort stimmen Käufe und Verkäufe
überein. In einer Geldwirtschaft ist diese Ubercinstirnmung nicht a priori gegeben. So können die Nachfrager
„Geld zurückhalten“ (sparen) und damit produzierte Güter nicht nachfragen. Dieses Problem besteht aber in
der Neoklassik nicht, da Geld nur eine Tauschmittelfunktion (s. M 71, 5. 172) hat. [...]
Wie erklärt nun die traditionelle Neoklassik Arbeitslosigkeit‘? [...]
Unfreiwillige Arbeitslosigkeit existiert nach der traditionellen neoklassischen Arheitsmarkttheorie hei flexiblen Löhnen nicht. Arbeitslosigkeit gibt es dann, wenn die Funktionsweise des Lohnmechanismus durch exogene Einflüsse in seiner Wirksamkeit beschränkt ist. Nehmen wir z.B. wie in Abb. 2 an, dass durch staatliche
0
1
9
Regelungen oder gewerkschaftliche Aktivitäten ein Mindestlohn existiert, dann kann es auch im neoklassisehen System Arbeitslosigkeit geben. Im Ausgangsgleichgewicht herrscht Vollbeschäftigung mit einem Lohn
lr0 und der Beschäftigungshöhe Bo Steigt durch die gewerkschaftliche Tarifpolitik der (Real-)lohn auf lr1 dann
ergibt sich bei unverändertem Arbeitskräfteangehot und einer unveränderten Arheitskräftenachfrage eine Arbeitslosigkeit in Höhe von EG. Angebot und Nachfrage weichen also dann voneinander ab, wenn der Reallohn
zu hoch oder zu niedrig ist.
„Wenn der Reallohn zu hoch ist (...)‚ dann ist die Arbeitslosigkeit aus der Sicht der einzelnen Arbeitslosen
unfreiwillig. sofern das Reallohnniveau nicht vom einzelnen Arbeitnehmer, sondern durch [157] kollektive
Vereinbarungen auf der einen Seite, dem Ergebnis des Wettbewerbs auf den Gütermärkten auf der anderen
Seite festgesetzt wird. Ist der Reallohn dagegen zu niedrig (...). dann verzichten die Erwerbswilligen von sich
aus darauf, einen Teil der angehotencn Arbeitsplätze anzunehmen — sie sind freiwillig arbeitslos (Kromphardt
1987, 5. 77)
Die wirtschaftspolitische Therapie zur Reduktion der Arbeitslosigkeit ergibt sich aus der neoklassischen Erklärung: Der Reallohn muss auf lr0 sinken, dann stimmen das Angebot an und die Nachfrage nach Arbeitskräften wieder überein; jeder, der zu diesem Lohn arbeiten will, erhält einen Arbeitsplatz.
Die Bedeutung der traditionellen neoklassischen Arheitsmarkttheorie für die arbeitsmarktpolitische Diskussion in den Achtzigeijahren und Anfang der Neunzigerjahre dürfte deutlich geworden sein. Die hohe Arbeitslosigkeit seit Anfang der Achtzigerjahre und die Massenarbeitslosigkeit seit der Vereinigung in den neuen Bundesländern wird überwiegend durch die zu hohen Reallöhne und die zu starken Lohnsteigerungen erklärt. Die
Zunahme der Beschäftigung Ende der Achtziger- und Anfang der Neunzigerjahre geht demnach auch auf die
zurückhaltende Lohnpolitik in diesem Zeitraum zurück. [...]
Außer dieser Hochlohnarheitslosigkeit gibt es in der Neoklassik auch eine strukturelle und eine friktionelle
Arbeitslosigkeit. Wird die Prämisse der sofortigen Anpassung an Angebots- oder Nachfrageveränderungen im
einfachen Modell durch die Einführung der Zeit ersetzt, so beinhaltet das neoklassische Paradigma eine langfristige Tendenz zum wirtschaftlichen Gleichgewicht auf allen Märkten. Kurzfristig kann bei Veränderungen
der Nachfrage strukturelle Arbeitslosigkeit auftreten. Geht die Nachfrage nach einem Produkt X zurück und
steigt sie entsprechend nach einem Gut Y, dann sinkt die Arbeitskraftnachfrage auf Teilarheitsmarkt X, auf
dem Teilarbeitsmarkt für das Produkt Ynimmt sie zu; auf
beiden Teilarheitsmärkten besteht ein Ungleichgewicht.
Durch,die (relative) Senkung des Preises und des Lohnes lr
auf dem Markt X und entsprechende Erhöhungen auf dem
Al
Markt Y kommt ein Anpassungsprozess auf beiden GüterA
l
und Arbeitsmärkten in Gang. bis wieder Gleichgewicht auf r
F
G
den Gütcrmärkten und Vollbeschäftigung besteht. Dieser l
r
strukturelle Anpassungsprozess benötigt aber Zeit.
Friktionelle Arbeitslosigkeit besteht dann, wenn jemand seiN
nen Arbeitsplatz kündigt und erst nach einer bestimmten
Zeit eine neue Arbeit aufnimmt und dieser Arbeitsplatz hei
der Kündigung bereits kontrahiert war. Hier besteht also
eine zeitliche Friktion zwischen altem und neuem Arbeitsplatz. [...]
Durch die Weltwirtschaftskrise in den Dreißigcrjahren
wurde die traditionelle Neoklassik erschüttert. Sie konnte die damalige Massenarbeitslosigkeit nicht erklären,
da sie in ihrem System keinen Platz hatte. Löhne und Preise sanken während der Weltwirtschaftskrise ganz
erheblich, trotzdem nahm die Arbeitslosigkeit zu.
Diese Hilflosigkeit gegenüber einem so gravierenden Problem forderte Kritik heraus. Einer solchen Kritik
kann in mehrfacher Hinsicht begegnet werden. Eine Konsequenz aus der offensichtlichen Diskrepanz zwischen Modell und Realität bestand darin, die Ursache für das Auseinanderklaffen in exogenen, institutionellen Faktoren zu sehen. Institutionen sind aus der traditionellen neoklassischen Analyse ausgeklammert. Mit
Ausnahme der konstitutiven Institutionen, privates Verfügungsrecht und Markt, beeinträchtigen sie, so die
Neoklassik, die Funktiosweise der Märkte und bewirken Ungleichgewichte und erschweren die Anpassungsfähigkeit.
Die neoklassische Forderung war und ist daher die Beseitigung der institutionellen Hemmnisse, die den Lohnund Preismechanismus beschränken. Die wirtschaftliche Wirklichkeit sollte dem Modell angenähert werden.
Die (traditionelle) Neoklassik erfuhr damit eine normative Wendung: Nicht mehr das Sein, sondern das Sollen
1
0
10
stand im Vordergrund der Analyse.
(Heinz Dieter Hardes/Gerd-Jan KroI/Fritz Rahmeyer/Alfons Schmidt, Volkswirtschaftslehre — problemorientiert, Tübingen, 19. Aufl. 1995,
S. 195—205)
[157]
M 64b Der Arbeitsmarkt im traditionellen Keynesianismus
Die Weltwirtschaftskrise Ende der Zwanziger-, Anfang der Dreißigerjahre bewirkte eine Krise der Okonomie.
Sollte sich wegen der mangelnden Erklärungsfähigkeit der Neoklassik die Marx‘sche Prophezeiung von den
sich verstärkenden Krisen des Kapitalismus und dem dadurch bedingten Übergang zum Sozialismus erfüllen?
War die Marktwirtschaft, basierend auf den Entscheidungen der Mikroeinheiten, unfähig, die systemimmanenten Instabilitäten zu überwinden? Blieb nur der Ausweg einer staatlichen Zentralverwaltungswirtschaft?
Inzwischen wissen wir, dass diese Fragen mit einem Nein zu beantworten sind. Doch zur damaligen Zeit war
dies keineswegs sicher. Wesentlich mit zu diesem Nein beigetragen hat der britische Nationalökonom John
Maynard Keynes. In seinem 1936 veröffentlichten Hauptwerk „The General Theory of Employment, lnterest
and Money‘ lieferte Keynes die Diagnose und die Therapie. Seine Diagnose beinhaltete im Unterschied zur
Neoklassik, dass im marktwirtschaftlichen System Instabilitäten wie z.B. Arbeitslosigkeit vorherrschen können. Gleichzeitig lieferte er die Therapie, wie im Rahmen des kapitalistischen Wirtschaftssystems diese Instabilitäten beseitigt werden können. Keynes betrachtete seinen Ansatz als einzig gangbaren Weg, um den Zusammenbruch des Kapitalismus zu vermelden.
Zur (Neo-)Klassik schreibt Keynes: „Unsere Kritik der akzeptierten klassischen Theorie der Wirtschaftslehre
bestand nicht so sehr darin, logische Fehler in ihrer Analyse zu finden, als hervorzuheben, dass ihre stillschweigenden Voraussetzungen selten oder nie erfüllt sind, mit der Folge, dass sie die wirtschaftlichen Probleme der wirklichen Welt nicht lösen kann: (Keynes 1936, 5.319) [...]
Auf dem Arbeitsmarkt analysiert Keynes zwei Fälle: Einmal geht er von der empirischen Beobachtung aus,
dass die Nominallöhne (nicht die Reallöhne!) nach unten weitgehend starr sind. In diesem Fall ergibt sich bei
einem Nachfragerückgang ein Gleichgewicht auf dem Gütermarkt hei Unterheschäfligung. Diese Situation
tritt auch in der Neoklassik ein, wenn gleichzeitig das Preisniveau unverändert bleibt. Insofern unterscheidet
sich hier Keynes nicht grundsätzlich von der Neoklassik. Zum
anderen analysiert er die wirtschaftliche Entwicklung auch
unter der Annahme flexibler Löhne und Preise. Auch unter
dieser Annahme braucht es nach Keynes — entgegen neoN´
A
N
klassischer Lehrmeinung — keine Rückkehr zur Vollbeschäftigung zu gehen. Eine wesentliche Rolle für diese Aussage
spielen die Erwartungen. Erwarten Konsumenten und Investoren bei einem Rückgang von Preisen und Löhnen weitere
Preis- und Lohnsenkungen, dann werden sie ihre Konsum0
und Investitionsausgaben hinausschieben.
Die neoklassische Aussage einer Vollbeschäftigungstendenz
bei Flexibilität von Löhnen und Preisen hält Keynes für einen
unerlaubtcn Schluss von einer einzelwirtschaftlichen SichtB0
B
0
Bv
weise auf den gesamtwirtschaftlichen Zusammenhang.
„Wenn auch ein einzelner Arbeiter einen Arbeitsplatz finden
mag, wenn er einen niedrigeren Lohn akzeptiert, so folgt daraus noch lange nicht, dass dieses Ergebnis eintritt, wenn alle Arbeiter einen niedrigeren Lohn akzeptieren. Warum nicht? Weil die im Einzelfall zutreffende
stillschweigende Annahme, dass die Gesamtnachfrage unverändert bleibt, nicht mehr gültig ist, wenn alle
Arbeiter einen niedrigeren Lohn akzeptieren; denn dann sinkt als Erstes die Lohn- und Gehaltssumme und die
Konsumgüternachfrage der Arbeitnehmerhaushalte dürfte zurückgehen. Je nach der Reaktion des Preisniveaus und des Zinssatzes wird außerdem die lnvestitionsgüternachfrage beeinflusst.“ (Kromphardt 1980, 5.
171)
Das Zitat verdeutlicht einen wesentlichen Unterschied zwischen Keynes und der Neoklassik:
Nach Abb. 1 verläuft die Arheitsangebotskurve bis zur Vollbeschäftigung B, wegen der nach unten starren
Nominallöhne parallel zur Abszisse. Die Begründung für diese Lohnstarrheit liegt bei Keynes darin, dass sich
die Arbeitnehmer am Geldlohn orientieren und diesen verteidigen (Mindestlöhne), Geldlohnsenkungen nicht
inlmer zu Mehrheschäftigung führen und für die Arbeitnehmer die relativen Löhne, d.h. die Löhne der
nächsthöheren oder -niedrigeren Lohngrtippe die Bezugsgröße bilden. Die Nachfragekurve entspricht dem
11
traditionellen neoklassischen Verlauf: Bei hohem Nominallohn (und gegebenem Preisniveau) ist die Beschäftigung gering und umgekehrt.
In Abb. 1 realisiert die gesamtwirtschaftliche effektive Nachfragekurve N nach Arbeitskräften nur ein
Beschäftigungsvolunien von OB0. Da der Nominallohn l0 nach unten starr ist, besteht bei diesem Lohn eine
unfreiwillige Arbeitslosigkeit von BvB0. Entgegen der Neoklassik besteht im Schnittpunkt der Arbeitsangebotsund der -nachfragekurve ein Gleichgewicht bei Unterbeschäftigung. Der Marktmechanismus bewirkt keine
Rückkehr zur Vollbeschäftigung. Das neoklassische Postulat, nach dem die mikroökonomischen Entscheidungen
durch die Wirkungsweise von Markt und Wettbewerb indirekt auch die makroökonomischen Ziele, wie hier
Vollbeschäftigung, realisieren, trifft nach keynesianischer Aussage nicht zu.
Welche Möglichkeit besteht nun, Vollbeschäftigung wieder zu erreichen? In Abb. 1 führt eine Verschiebung
der Nachfragekurve nach rechts zu N‘ zu einer Steigerung der Beschäftigung. Aber wie kann die Nachfrage
erhöht werden, da die Wirtschaftspläne der Anbieter an und der Nachfrager nach Arbeitskraft im Gleichgewicht sind und daher der Marktmechanismus keine Rückkehr zur Vollbeschäftigung bewirkt‘?
Die keynesianische Diagnose einer der Marktwirtschaft inhärenten Instabilität beinhaltet gleichzeitig die Therapie: Die erforderliche zusätzliche Nachfrage zur Wiederherstellung der Vollbeschäftigung kann nur von
marktexternen Institutionen kommen. Damit war die Notwendigkeit einer staatlichen Konjunkturpolitik begründet. Mit der Etablierung einer solchen Politik sollte die Marktwirtschaft nicht überwunden. sondern ein
‚.Marktfehler beseitigt werden. Der Preismechanismus behielt in der neoklassischen Synthese auf der Mikroehene weiterhin seine Bedeutung zur Koordination der Entscheidungen; auf der Makroebene wurde er
durch eine staatliche Nachfragestcuerung ergänzt.
Der Keynesianismus erlebte seine Blütezeit in der zweiten Hälfte der Sechzigerjahre. Die gesamtwirtschaftliche Nachfragepolitik des Staates sorgte für eine hohe Beschäftigung. Das Problem der Arbeitslosigkeit schien
gelöst. Das zu Beginn der Siebzigerjahre in fast allen Industrieländern verschärft auftretende lnflationsproblem
und das neue Krisenphänomen Stagflation haben die keynesianische Euphorie gedämpft. Zur Bekämpfung
der Stagflation, dem gleichzeitigen Auftreten von Inflation und Stagnation (s. S. 39, Z. 52ff.), war die
keynesianische Globalsteuerung ungeeignet.
(Heinz Dieter Hardes u.a. [= M 54a], 5.214ff.)
[159]
1. In klassischer Sicht funktioniert der Arbeitsmarkt genauso wie der Gütermarkt (M 64a). Erläutern Sie kurz, von welchen Annahmen das klassische Arbeitsmarktmodell ausgeht. Welche Rolle
spielt dabei das „Say‘sche Theorem“ (vgl. M 60)?
2. Beschreiben Sie, auch mithilfe der Analyse von Abb. 1, 5. 154, inwiefern der Marktmechanismus
in klassischer Sicht die Vollbeschäftigung garantiert. Wodurch allein kann Arbeitslosigkeit (s.
Abb. 2, S. 155) entstehen? Welche wirtschaftspolitische Maßnahme kann sie beseitigen?
3. Inwiefern zeigte sich in der Weltwirtschaftskrise (1929—1933), dass bestimmte Modellannahmen
(s.o. Arbeitshinweis 1) nicht mit der Realität übereinstimmten (vgl. das Keynes-Zitat Z. 18—22, S.
157)?
4. Erläutern Sie, welche Folgen sich nach Keynes für den Arbeitsmarkt aus der Tatsache ergeben, dass die Nominallöhne „nach unten weitgehend starr sind“ (Z 24/25, S. 157). Analysieren
Sie dazu Abb. 1, 5. 158: Wie müsste die Angebotskurve verlaufen, wenn die Löhne nach unten
hin flexibel wären?
5. Beschreiben Sie dann den zweiten Aspekt, in dem sich die Keynes ‘sche Sichtweise von der
der Neoklassik unterscheidet (M 64b, S. 28ff.). Warum gibt es nach Keynes auch bei flexiblen
Löhnen und Preisen keine Garantie für Vollbeschäftigung?
12
3. Wirtschaftspolitische Konzeptionen
Nachfrageorientlerte Konjunkturpolitik und neoklassische Wirtschaftspolitik — Monetarismus und Fiskalismus
Wie in der Einleitung zu Kap. III kurz dargestellt (S.
145), hat sich als Reaktion auf die Wirtschaftskrise
Anfang der 80er-Jahre und aufgrund wachsender
Kritik an der seit 1967 praktizierten, an der keynes‘schen Theorie orientierten Konjunkturpolitik mit
dem Regierungswechsel von 1983 auch ein Wechsel der wirtschaftspolitischen Konzeption vollzogen
(ähnliche Entwicklungen waren in Großbritannien
und den USA vorausgegangen).
Da die Kritik an der nachfrageorientierten Politik
Keynes‘scher Prägung deutlich an die Grundsätze
der (neo)klassischen Wirtschaftstheorie anknüpft,
kann man das neue Konzept der Wirtschaftspolitik
insgesamt als neoklassisch bezeichnen. Dabei lassen sich zwei Richtungen unterscheiden, die in der
praktischen Wirtschaftspolitik in unterschiedlicher
Gewichtung miteinander verknüpft erscheinen:
Monetarismus und Angebotsorientierung.
Beiden Varianten neoklassischer Wirtschaftspolitik
steht die auf Keynes beruhende nach frageorientierte Konzeption gegenüber, die im Hinblick
auf ihr zentrales Instrument des Staatshaushaltes
auch als Fiskalismus bezeichnet werden kann. Wie
bereits erwähnt (Einleitung zu Kap. III, 5. 146) war
in der Diskussion um die richtige Wirtschaftspolitik
Anfang der 90er-Jahre die Kontroverse um die beiden theoretischen Konzeptionen weitgehend in den
Hintergrund getreten. Regierung und Opposition
argumentierten eher von Fall zu Fall und verwendeten dabei häufiger Elemente aus beiden Konzeptionen, als dass sie sich jeweils langfristig an einer
bestimmten Konzeption orientierten (vgl. dazu z.B.
die Debatte um die Staatsverschuldung; s. Kap. VI.
1).
Seitdem in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre erkennbar wurde, dass die Massenarbeitslosigkeit
nicht nur nicht abgebaut werden konnte, sondern
neue Rekorde erreichte, flammte die Diskussion
über Angebots- oder Nachfrageorientierung wieder
auf (s. Zeitungsausschnitte unten). In der folgenden knappen Gegenüberstellung der beiden wirtschaftspolitischen Grundkonzeptionen kommt dem
Text M 65 eine zentrale Bedeutung zu. Beachten
Sie bei seiner Erarbeitung die Arbeitshinweise und
bedenken Sie, dass beide Konzeptionen den Charakter von Modellen haben; im Einzelfall kann eine
wirtschaftspolitische Maßnahme manchmal sowohl
nachfrageals auch angebotstheoretisch verstanden
werden.
M 65 Nachfrage- und Angebotsorientierung
Die nachfrageorientierte Politik zielt zum einen auf die Beseitigung kurzfristiger Gleichgewichtsstörungen
der Volkswirtschaft auf der Nachfrageseite ab, die zu unerwünschten Schwankungen hei Produktion und
Beschäftigung führen. In mittelfristiger Sicht geht sie zum anderen davon aus, dass die private Nachfrage in
reifen Volkswirtschaften dauerhaft zu gering ist, um Vollbeschäftigung gewährleisten zu können. Als Konsequenz davon muss der Staat versuchen, durch Eigennachfrage oder Förderung der privaten Nachfrage diese
Nachfragelücke zu schließen.
Zur Wiedergewinnung und langfristigen Sicherung der Vollbeschäftigung schlagen Vertreter dieses
13
Politikansatzcs die Durchführung von staatlichen Ausgabenprogrammen in erheblicher Größenordnung vor
und zu diesem Zweck die Erschließung neuer Nachfragebereiche des Staates. Auf kurze Frist angelegte
Stabilitätsprogramme halten sie nicht mehr für geeignet. Die Ausgabenprogramme können zu einem Anstieg
der Staatsausgabenquote und vorübergehend auch der Neuverschuldung führen. Maßnahmen zur Verbesserung
der Angebotsbedingungen halten sie nicht für ausreichend, da die Unternehmen solange nicht genügend investierten, wie keine ausreichende Nachfrage für den Absatz der mit neuen Produktionskapazitäten hergestellten
Produkte gesichert sei.
Von einem raschen Abbau des Haushaltsdefizits vor Erreichung der Vollbeschäftigung befürchten die Befürworter einer nachfrageorientierten Strategie eine Zunahme der Arbeitslosenquote. Zwar wollen auch sie nicht
die Schuldenquote der öffentlichen Haushalte dauerhaft steigen lassen, sie betonen aber mehr den instrumentalen Charakter der Staatsverschuldung im gesamtwirtschaftlichen Kreislaufzusammenhang und machen ihre
Höhe nicht zu einem eigenständigen wirtschaftspolitischen Ziel. Einen vorübergehenden weiteren Anstieg des
negativen Finanzierungssaldos und der Neuverschuldung zur Finanzierung staatlicher Ausgahenprogramme
nehmen sie in Kauf. Sie verweisen darauf. dass die angestrebte Erhöhung des Beschäftigungsgrades und die
Beschleunigung des Wirtschaftswachstums zu zusätzlichen Einnahmen an Steuern und Sozialbeiträgen und
zu Einsparungen bei den Transferzahlungen führten, so dass das Ausgabenprogramm die Finanzierungsposition der öffentlichen Haushalte letztlich verbessere.
Die Gefahr der Verdrängung privater Investitionen („crowding out“, s. M 117) durch eine Ausdehnung der
Ausgabentätigkeit des Staates aufgrund steigender Zinssätze wird von dieser Seite gering eingeschätzt.
Die angebotsorientierte Politik als eine neoklassisch ausgerichtete Position geht langfristig von der Annahme der Vollbeanspruchung der Produktionsmöglichkeiten bei Vollbeschäftigung aus. Die Möglichkeit einer
dauerhaften Nachfragelücke zieht sie nicht in Betracht. Zwar befreit sie den Staat nicht gänzlich von seiner
beschäftigungspolitischen Verantwortung. Sie soll sich aber nicht auf die fallweise Steuerung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage erstrecken, die lediglich inflatorische Impulse auslöse, sondern darin bestehen, Wirtschaftswachstum und Beschäftigung durch die Beseitigung angebotsseitiger Störungen mittelfristig zu fördern. Auf diese Weise will sie mehr Arbeitsplätze rentabel machen.
Instrumente der Angebotspolitik sind vor allem die generelle Stärkung der Investitionsfiihigkeit der Unternehmen, daneben die Erleichterung der Existenzgniindung kleinerer und mittlerer Unternehmen, die Förderung von Forschung und Entwicklung, die Erhöhung der Mobilität der Arbeitskräfte. All diese Aktivitäten
sollen die Anpassungsfähigkeit der Wirtschaft an ungelöste Angcbotsprobleme wie veränderte außenwirtschaftliche Rahmenbedingungen und Anpassungsschwierigkeiten im Strukturwandel erhöhen.
Von der Seite der Finanzpolitik ist die Stetigkeit der Ausgahenentwicklung und vor allem der Abbau der
hohen Haushaltsdefizite durch ein unterdurchschnittliches Wachstum der Staatsausgaben Voraussetzung der
Angehotspolitik. Einhergehend mit der relativen Ausgabenkürzung empfiehlt der [weitgehend angebotstheoretisch argumentierende, F.J. Floren] Sachverständigenrat eine Revision der Ausgabenstruktur in Richtung auf eine Stärkung des investiven Anteils, z.B. durch einen Abbau der Suhventionen und eine Privatisierung öffentlicher Leistungen. Zur Flankierung hält er auf der Einnahmen-Seite Steuererhöhungen bei den
indirekten Steuern für vertretbar. Vom Abbau des strukturellen Haushaltsdefizites und damit der Höhe der
Neuverschuldung erwartet er Zinssenkungen und lnvestitionsanregungen für die Privatwirtschaft. Die zunehmende private Investitionstätigkeit führt auch zu einer Förderung des Produktivitätswachstums und damit zu
einer Kostenentlastung und einer Stärkung der internationalen Wetthewerbewebsfähigkeit. Bedenken gegen
eine dauerhaft hohe Staatsverschuldung wie in der zweiten Hälfte der 70er-Jahre erhebt er vor allem aus
wachstumspolitischer Sicht aus drei Gründen:
- Anstieg des Anteils der Zinszahlungen an den staatlichen Gesamtausgaben, damit Einengung des
privaten Investitionsspielraumes,
- Einschränkung des konlunkturpolitischen Handlungsspielraumes in der Rezession,
- Verdrängung privater Investitionen (crowding out) durch Zinssteigerungen.
Eine Konsolidierung und Umstrukturierung der öffentlichen Haushalte muss mit einer Verringerung der
Lohnquote einhergehen. Dazu muss das Wachstum der Reallöhne dauerhaft geringer als das der Arbeitsproduktivität ausfallen. Die damit einhergehende Verresserung der Gewinnsituation der Unternehmen soll ihre
Eigenkapitalbasis stärken und die private Investitionstätigkeit anregen. Im Vordergrund steht bei dieser Betrachtung derKostenaspekt der Löhne, nicht der Nachfrageaspekt.
Fritz Rahmeyer, Konzepte der Stabilitätspolitik. In: verbrauchererziehung. Informationsdienst zur wirtschaftlichen 3ildung Heft 4,1984, S.
23f. Hrsg. vom Institut für wirtschafts- und sozialwissenschaftl. Bildung Münster
14
[162]
M 66
Ursachen eines Wachstums- und Beschäftigungsrückgangs aus keynesianischer Sicht
Defizit an gesamtgesellschaftlicher Nachfrage
Entlassungen werden vorgenommen
Auslastung der Preoduktion verschlechtert sich
Rendite sinkt
Das verfügbare Einkommen
der privaten Haushalte sinkt
Weitere Entlassungen
werden vorgenommen
Investitionsnachfrage geht zurück
Nachfrage nach privaten
Konsumgütern geht zurück
Gewinn- und Nachfrageerwartungen
verschlechtern sich
Investitionsrückgang setzt sich fort
Produktion sackt weiter ab
Produktion im Konsumgüterbereich
ist rückläufig
Therapie eines Beschäftigungs- und Wachstumsrückgangs aus keynesianischer Sicht
Gesamtwirtschaftliches Nachfragedefizit und hohe Arbeitslosigkeit
Antizyklische Nachfragesteuerung mittels eines
expansiven staatlichen Ausgabenprogramms,
dessen Schwerpunkte die Notwendigkeit der Lösung bestimmter angebotsseitiger Probleme (Energiekrise, Umweltverschmutzung, Konkurrenz aus
Entwicklungsländern) reflektieren können
u.U. kombiniert mit einem Steuersenkungsprogramm,
das die verfügbare Kaufkraft der privatzen Haushalte
erhöht
Produktionszuwachs
beschleunigt sich
Es werden wieder zusätzliche
Arbeitskräfte eingestellt
Investitionsnachfrage
steigt wieder
Kapazitätsauslastung steigt
in den Branchen, die von den
staatlichen Aufträgen profitieren
zusätzlich eingestelltes Personal erzielt
Einkommen, das es entsprechend seiner
Konsumneigung ausgibt
Zukunftserwartungen hinsichtlich
Nachfrage und Gewinnaussichten
verbessern sich wieder
Einkommen der Beschäftigten
in jenen Branchen steigen: die
Konsumausgaben steigen
Produktion und Kapazitätsauslastung
in der Konsumgüterindustrie steigen
Rendite auf das eingesetzte Kapital
steigt in den Branchen, in denen Produktion und Kapazitätsauslastung
steigen
(0.Leipert, Alternative Wege der Wirtschaftspolitik. In: Verbrauchererziehung. Informationsdienst zur wissenschaftl. Bildung Heft 12,1980,
S. 19. Hrsg. vom Institut für wirtschafts- und sozialwissenschaftl. Bildung Münster)
1. Bei der Analyse von M 65 kommt es zunächst darauf an, das „Profil“ beider Konzeptionen
herauszuarbeiten und gegenüberzustellen und sodann zu untersuchen, inwieweit sich darin
wirtschaftstheoretische Vorstellungen (vgl. M 59, M 62a) widerspiegeln.
2. Für die Erarbeitung können Sie sich an folgenden Kategorien orientieren und eine
entsprechende Gegenüberstellung versuchen:
—
Worin wird jeweils die Ursache eines wirtschaftlichen Ungleichgewichts gesehen?
—
Handelt es sich um eine eher kurzfristige oder eher langfristige Betrachtung der wirtschaft
lichen Entwicklung?
—
Welche Aufgabe wird dem Staat zugesprochen?
15
—
—
—
—
—
Mit welchen Mitteln soll der Staat seiner Aufgabe nachkommen?
Welche Einstellung zum Problem der Staatsverschuldung ist erkennbar? Wie wird diese
Einstellung begründet?
Was wird über die Bedeutung von Lohnerhöhungen gesagt?
Welches wirtschaftspolitische Ziel wird besonders betont, welches eher vernachlässigt?
Welche wirtschaftstheoretischen Grundpositionen des klassischen Liberalismus (M 59/60)
bzw. der Keynes‘schen Theorie (M 62) sind erkennbar?
[163] 3. Vergleichen Sie die Pfeilschemata (M 66) mit der Darstellung des Textes CM 65 zur Nach
frageorientierung). Inwieweit stimmen sie überein, inwieweit enthalten sie weitere Gesichtspunkte und andere Akzente?
4. Entwickeln Sie aus der Darstellung des Textes zur Angebotsorientierung (M 65, Z. 32ff.) analog zu M 66 ein Pfeilschema zur Therapie eines Wachstums- und Beschäftigungsrückgangs, der
(aus neoklassischer Sicht) auf der Störung der Angebotsbedingungen beruht.
M 67 Monetarismus und Fiskalismus
Nchcn der Strategiedebatte gibt cs auch im Hinblick auf das Instrumentarium der Wirtschaftspolitik einen grundsätzlichen Meinungsstreit, der sich zum
Teil mit der Angebots-Nachfrage-Debatte üherschneidet.
Auf der einen Seite stehen wiederum „Kcynesianer“, die für eine antizyklische Geld- und Finanzpolitik plädieren. Weil dabei dem Staat als Fiskus eine
wichtige Rolle zukommt, bezeichnet man sie in diesem Zusammenhang auch
als „Fiskalisten“. Diese Bezeichnung ist insofern irreführend, weil auch von
Vertretern des fiskalisitischcn Lagers der Geldpolitik eine wichtige Rolle zuerkannt wird. Allerdings wird ihr eine beträchtliche Handlungsund Wirkungsverzögerung unterstellt. so dass die Geldpolitik durch Finanzpolitik zu unterstützen ist. Dies ist um so mehr erforderlich, als die Geldpolitik durch die
Beeinflussung des Zinsniveaus nur auf einen Teil der Investitionen einwirken
kann. Während die meisten Investitionen weniger von den Zinskosten abhängig sind als von der Rendite — und diese hängt u.a.ab von der Möglichkeit. Kosten in den Preis zu überwälzcn
—‚ kann eine deutliche Zinsabhängigkeit zwingend nur im privaten Wohnungsbau nachgewiesen werden.
Folglich sind — so die Fiskalisten — finanzpolitische (fiskalische) Maßnahmen wirksamer als geld- und
kreditpolitische.
Die Gegenposition zu den Fiskalisten vertretcn die „Monetaristen“. herausragend vertreten durch den in
Chicago lehrenden Milton Friedman (“Chicagoer Schule“ „Chicagoboys“). Ihrer Meinung nach ist eine antizyklische Wirtschaftspolitik ungeeignet, konjunkturellen Schwankungen zu begegnen, da diese die Schwankungen nicht dämpft, sondern gerade hervorruft. Im Grunde genommen tendiere der Wirtschaftsablauf zu
gleichgewichtiger Entwicklung, und nur durch Eingriffe des Staates würden wegen der Wirkungsverzögerungen
und Dosierungsprobleme wirtschaftspolitischer Maßnahmen Schwankungen produziert. Folglich solle sich
der Staat konjunkturoricnticrter Beeinflussung weitmöglichst enthalten. Die Monetaristen sehen es insbesondere als erforderlich an, die lnflation zu bekämpfen, die ihrer Meinung nach durch eine expansive keynesianische
Wirtschaftspolitik, die Wachstums- und Beschäftigungszielen Vorrang gibt vor Preisstabilität, hervorgerufen
worden sei.
Zentrale Steuerungsgröße der Monetaristen — daher die Bezeichnung — ist die Geldmenge. Ihr kommt nach
monetaristischer Auffassung eine ursächliche Rolle im Wirtschaftsprozess zu, indem das Sozialprodukt auf
Veränderungen der Geldmenge reagiert. während Keynesianer dies eher umgekehrt sehen. Insofern stützen
sich die Monetaristen auf verfeinerte Versionen der Quantitätstheorie des Geldes, weshalb man sie auch als
Neoquantitätstheoretiker oder Neoklassiker klassifiziert (vgl. auch M 48. Geldmengeninflation).
[164] Durch eine Verstetigung der Geldmengenveränderung könnten nach monetaristischer Auffassung somit
Konjunkturschwankungen langfristig geglättet und das Stop-and-Go antizyklischer Wirtschaftspolitik vermieden werden.
Das [...] Autofahrerbeispiel als Analogie zur Konjunkturbeeinflussung kann hier verwendet werden: Die antizyklische Nachfrageheeinflussung versucht, ein ins Schleudern kornmendes Fahrzeug durch Gegensteuern zu
stabilisieren, wobei die destabilisierenden Kräfte unvorhersehbar und unvermeidlich sind. Angebotsorientierte
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wie monetaristische Wirtschaftspolitik geht davon aus, dass gerade das ständige Gegensteuern das Schleudern verursacht. Vielmehr sei es erforderlich, die Fahrbahn so zu gestalten, dass die Fahrzeuglenker sich —
frei von Stabilisierungsproblemen — auf die Vorwärtsbewcgung (Wachstum und Beschäftigung) konzentrieren können. [...]
Die monetaristische Unterstellung, dass konjunkturelle Schwankungen auf Eingriffe des Staates zurückzuführen seien, ist sehr restriktiv. Sie abstrahiert von sämtlichen übrigen Störfaktoren, die teils „hausgemacht“
sein mögen (wie z.B. innerpolitische Spannungen oder Streiks), teils aus dem Ausland kommen können, wie
wirtschaftliche Probleme von Hande!spartnern oder weltwirtschaftliche Turbulenzen überhaupt. [...]
Angebotstheorie und Monetarismus auf der einen Seite und Nachfragetheorie und Fiskalismus auf der anderen überschneiden sich hinsichtlich der Einschätzung der Rolle des Staates. Monetaristen wie Angebotstheoretikcr betonen die Selbstheilungskräfte des Marktes und sehen im Staat eher einen Störfaktor als einen
Stahilisator, während Keynesianer und Fiskalisten staatlichen Maßnahmen eine stabilisierende Funktion zusprechen. Die unterschiedlichen Positionen sind also weniger ein Streit um Zweck-Mittel-Relationen als eine
ordnungspolitische Auseinandersetzung über die Funktion des Staates im Wirtschaftsahlauf und somit um
staatliche Wirtschaftspolitik. Auf einer mehr praktischen Ebene reduziert sich diese konzeptionelle Auseinandersetzung vereinfachend auf das Dilemma, im Zielkonflikt zwischen Preisniveaustabilität und Vollbeschäftigung (vgl. M II) dem einen oder dem anderen Ziel höhere Priorität einzuräumen.
(Jörn Aitmann, Wirtschaftspolitik, Stuttgart, 4. Aufl. 1995, 5. 250—253)
M 68
Nachfragetheorie/Fiskalismus
Allgemeine Kennzeichen
• kurzfristig, nachfrageorientiert
• Staat soll ggf. nachhaltige Ablaufpolitik
betreiben
• Hauptvertreter: John Maynard Keynes
(1883-1946); entwickelt unter dem Eindruck
der Weltwirtschaftskrise in den 30er
-Jahren; später modifiziert („Neo- und
Post-Keynesianer“).
Grundannahmen:
• Instabilität der Wirtschaft, keine immanente
Tendenz zum Gleichgewicht
• daher erforderlich: antizyklisches Gegensteuern durch den Staat
• globale Beeinflussung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage möglich („Globalsteuerung)
Ansatzpunkte und Instrumente:
• Veränderung von Staatseinnahmen und -ausgaben (Staatshaushalt), daher „Fiskalismus“
• Finanzpolitik/Fiskalpolitik wirkt über Multiplikatorwirkungen auf die Nachfrage
• im Abschwung müssen zusätzliche Staatsausgaben (Konjunktur- bzw. Beschäftigungsprogramme) durch Verschuldung finanziert werden („deficit spending“)
• privater Konsum hängt vom laufenden Einkommen ab
• Geldpolitik wirkt nur auf kleinen (zinsabhängigen Teil) der Nachfrage; ihre Wirkungen
sind daher nur Ergänzung zur Finanzpolitik
Weitere Annahmen
• Inflation wird nicht monetär erklärt, sondern als
Nachfragesog- oder Kostendruckinflation oder
über den internationalen Preiszusammenhang
Angebotstheorie/Monetarismus
Allgemeine Kennzeichen
• langfristig, wachstumsorientiert
• Keine staatliche Ablaufpolitik, nur Ordnungs
politik
• stützt sich auf Konzepte der klassischen
Theorie („Neoklassik“) (z.B. Adam Smith)
• früher Vertreter: u.a. F. A. von Hayek;
• Monetaristen: Milton Friedman („Chicagoer
Schule“)
Grundannahmen
• Die private Wirtschaft ist stabil, tendiert zum
Gleichgewicht, reguliert sich über Preis- und
Mengeneffekte selbst
• Antizyklische staatliche Eingriffe („stop and
go‘) sind nicht Reaktion, sondern Ursache für
Konjunkturschwankungen; sie bedeuten
Unsicherheit für den privaten Sektor und
führen zu Fehlentscheidungen
• Notwendige (Struktur-)Anpassun
gen der Wirtschaft werden u.a. durch
Subventionen und staatliche Reglementierung behindert
• Für Investitionen erforderliche Unternehmergewinne werden durch im Vergleich zur
Arbeitsproduktivität zu hohe Löhne und
Lohnnebenkosten sowie zu hohe Steuern
und Abgabengeschmälert
• Konsum hängt vom auf Dauer erwarteten
Einkommen ab
Ansatzpunkte und Instrumente
• Verstetigung der Geld(mengen)- und
Fiskalpolitik, auch bei Konjunktur
schwankungen
• Steuerungsgröße ist die Geldmenge (daher:
„Monetarismus“)
• außenwirtschaftliche Absicherung des monetären Sektores durch flexible Wechselkurse
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• Das Produktionspotenzial ist gegeben
• Bei Vollbeschäftigung ist Inflation fast unvermeidbar (Phillipskurve, s. M 11, 5. 38)
• Arbeitslosigkeit baut sich wegen nach unten
starrer Löhne nicht von selbst ab
• Bei nach unten starren Nominallöhnen bedeutet Inflation Reallohnsenkung
• private Sparneigung ist relativ konstant; Einkommensänderungen führen daher zu Nachfrageänderungen
• Staatsverschuldung wirkt nicht verdrängend
(kein „crowding out“)
• Finanzpolitik ergänzend für strukturelle und alIokative. nicht für antizVklische konjunkturelle
Ausgaben
• branchenmäßige und sektorale Differenzierung
der Lohnstruktur in Abhängigkeit von der
Arbeitsproduktivität, kein Einheitstaniflohn
• Flexibilisierung der Arbeitszeit
• Reduzierung der Staats quote
• Abbau der Staatsverschuldung
• Reform (Senkung) unternehmensbelastender
Abgaben
• Abbau staatlicher Vorschriften (Deregulierung)
• Abbau von Subventionen
Weitere Annahmen
• Inflation ist ein monetäres Phänomen: wenn das
Geldmengenwachstum das Wachstum des
Produktionspotenzials übersteigt (basiert auf
der Quantitätstheorie, daher auch „Neo-Quantitätstheorie“)
• Arbeitslosigkeit ist vorrangig strukturell bedingt, kann von konjunktureller Arbeitslosigkeit
überlagert werden
[...]
(Jörn Altmann [= M 67], 5. 238 f.)
1. Stellen Sie die wichtigsten Merkmale der monetaristischen Position und des „Eiskalismus“
gegenüber (M 67). Achten Sie dabei auf den unterschiedlichen Stellenwert von Geld- und Finanzpolitik in beiden Positionen (zur Unterscheidung der beiden Begriffe s. Einleitungstext S.
166, 3. Spiegelstrich) und erläutern Sie das „Auto fahre rbeispiel“.
2. Erörtern Sie die Beurteilung, dass es sich bei dem Streit um die beiden Grundkonzeptionen
hauptsächlich um eine „ordnungspolitische Auseinandersetzung über die Funktion des Staates
im Wirtschaftsablauf“ handele.
2. Die „Synopse“ (M 68) bietet Gelegenheit, das Verständnis der beiden wirtschaftspolitischen
Konzeptionen zu überprüfen (durch Erläuterung einzelner Stichworte unter denen sich einige in
den bisherigen Texten noch nicht gebrauchte Begriffe befinden; s. Glossar). Als eine Art „Merkmalskatalog“ („Checkliste“) bietet sie die Möglichkeit, den konzeptionellen Hintergrund aktueller wirtschaftspolitischer Maßnahmen und Stellungnahmen (vgl. Kap. VI, Abschnitt 4) zu untersuchen.
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