Die Macht der Definition - Guten Pillen, schlechte Pillen

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6 4/2013 GPSP www.gp-sp.de
Psychische Erkrankungen
Die Macht der Definition
Um Patienten gut zu behandeln, müssen Ärztinnen und Ärzte die Beschwerden und Symptome
ihrer Patienten korrekt einordnen, also die richtige Diagnose stellen. Dazu nutzen sie – neben ihren Kenntnissen aus Aus- und Weiterbildung – das Handbuch International Classification of Diseases (ICD), das die Weltgesundheitsorganisation herausgibt. Doch was künftig
als psychisch krank definiert wird, darauf wird gerade von anderer Seite Einfluss genommen.
In den USA gibt die Amerikanische Psychiatrie
Gesellschaft (APA) nämlich ein Konkurrenzprodukt heraus, das Diagnostic and Statistical Manual
of Psychiatric Disorders (DSM). Von Zeit zu Zeit
wird das DSM neu aufgelegt. Aber besonders jetzt,
bei der 5. Auflage (DSM-5), ist zunehmend Kritik an dem Manual zu hören, und zwar sogar aus
den Reihen der beteiligten Wissenschaftler. Der
Grund: Das Klassifizierungsschema basiert eher
auf Expertenkonsens als auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. Ein wunder Punkt, denn schon in der
4. DSM-Version waren 57% der Experten mit Arzneimittelherstellern verbandelt. Sie hatten von ihnen etwa Geld für Studien erhalten. Oder Vorträge gehalten, die
„Wann immer Sie lesen,
sie öfters gar nicht selbst verfasst
dass es eine Zunahme
hatten, sondern Schreiberlinge
einer Störung gibt, haben im Sold einer Pharmafirma.
sich nicht etwa die Menschen verändert, sondern
die Bezeichnungen.“
Im Vorentwurf für DSM-5 hatten derlei Interessenkonflikte der
Verfasser nicht etwa abgenomAllen Frances 4
men, sondern waren gestiegen:
von 57% auf 69% der Experten.1
Das wollten unabhängige Mediziner nicht hinnehmen. Zu leicht tragen derartige Abhängigkeiten
ebenso wie berufspolitische Hintergründe dazu
bei, dass neue „Krankheiten“ ausgerufen und Menschen mit Alltagssorgen und leichten Befindlichkeitsstörungen zu Patienten gemacht werden, die
Pillen schlucken müssen. Ganz im Sinne der pharmazeutischen Industrie.
Im DSM-5 bestätigen sich solche Fehlentwicklungen. Da gibt es zum Beispiel erstmals die
Diagnose DMDD (Disruptive mood dysregulation disorder), was ungefähr „Stimmungsschwankungen mit Wutausbrüchen“ entspricht. Diese neu
zusammengezimmerte und nach vorliegenden er-
sten Tests unspezifische und zudem unzuverlässige
„Diagnose“ ist quasi ein Mix aus den Kriterien für
Depression und ADHS.2 Sie ist konstruiert worden, weil nach Einführung des Vorläufers DSM-4
die Kriterien für „bipolare Störung“ so ausufernd
angewendet wurden, dass plötzlich eine mehr als
40-fache Zunahme dieser Diagnose bei Kindern
und Jugendlichen in den USA beobachtet wurde.3
Und das konnte nicht richtig sein.
Jetzt heißt es in den USA bereits: Bipolar ist out,
DMDD ist in. Das mag als lächerliche psychiatrische Verirrung erscheinen, aber: Zu befürchten
ist, dass derart diagnostizierte „Patienten“ als neue
Zielgruppe für Arzneitherapien herhalten sollen.
Und da spielt das Manual eine wichtige Rolle.
Denn die amerikanische Zulassungsbehörde FDA
verlangt, dass die diagnostischen Einteilungen des
DSM bei allen psychiatrischen Studien in den USA
berücksichtigt werden. Das hat die Konsequenz,
dass Arzneimittelstudien zur Therapie der „neuen
Krankheiten“ gemacht werden, die dann auf die
Zulassung dieser Medikamente für diese Krankheit
hinauslaufen.
Wenn die Europäer nicht aufpassen, werden die
Definitionen der DSM-5 auch Einfluss auf die zukünftige Klassifikation von Erkrankungen durch
die Weltgesundheitsorganisation haben. Das wiederum würde dann die Diagnosestellung und Therapieentscheidungen in unserem Land beeinflussen.
1 DER ARZNEIMITTELBRIEF (2012) 7, S. 54
2 ADHS = Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung
3 Frances A (2013) Normal. DuMont Verlag, 430 Seiten,
22 €. Der Autor und ehemalige DSM-Experte hat sich gut
lesbar mit der Gesamtproblematik der Festschreibung
psychiatrischer Krankheitsbilder beschäftigt.
4 Frances A (2013) „Bipolar gestört? Sie sind so was von
normal“. taz 11. Mai
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