Heute noch normal, morgen schon verrückt

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DIAGNOSE PSYCHISCHER STÖRUNGEN -
Heute noch normal, morgen schon verrückt
Bald erscheint die Bibel der Psychiatrie neu, kurz "DSM-5".
Das Handbuch zur Diagnose psychischer Leiden wird über
Nacht Millionen zu Kranken machen.
Ende Mai 2013 werden auf der Welt plötzlich Millionen
Geisteskranke
mehr
leben.
Denn
die
größte
Psychiatervereinigung trifft sich in San Francisco und
veröffentlicht die fünfte Neuauflage der Bibel ihrer Zunft,
das DSM-5. Nach der Überarbeitung des Diagnostic and
Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) werden aus
leichten psychischen Störungen plötzlich echte Krankheiten,
aus Gesunden über Nacht Kranke.
Seit Monaten schimpfen Kritiker aus aller Welt gegen den
Herausgeber, die American Psychiatric Association (Apa).
Die 36.000 Mitglieder starke Organisation arbeitet seit
mehreren Jahren daran, die neuesten Forschungsergebnisse
in das Handbuch aufzunehmen und genauer zu definieren,
wo normales Verhalten aufhört und eine psychische Störung
beginnt.
Eigentlich kein schlechter Prozess, der durchaus Fortschritte
bringt, etwa für Spielsüchtige oder Menschen mit dem
Messie-Syndrom. Ihnen kann künftig präziser geholfen
werden. Spielsucht gilt nun als Verhaltenssucht und schreibt
zielgerichtetere Therapien vor. Das Messie-Syndrom wird
unter DSM-5 erstmals als eigene Krankheit geführt.
Beunruhigend finden viele Mediziner und Psychiater
allerdings den Trend, die Schwelle zur psychischen
Krankheit zu senken. "Die Überarbeitung des Katalogs war
eigentlich nicht nötig", sagt Wolfgang Maier, Präsident der
Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie,
Psychosomatik
und
Nervenheilkunde
(DGPPN),
"methodisch hat sich DSM-5 qualitativ nicht wesentlich
weiter entwickelt als sein Vorgänger." Allerdings rücke die
Grenze zwischen gesund und krank nun gefährlich nah an
normales Verhalten heran. "Die Kollegen scheuen sich nicht,
einen großen Anteil von Gesunden zu Kranken zu machen",
sagt DGPPN-Präsident Maier und spielt damit auf falsch
positive Diagnosen an, die DSM-5 nach sich ziehen wird.
Die Fachorganisation Apa nimmt in Kauf, dass Ärzte nun
auch eine Reihe gesunder Menschen mit Medikamenten
und entsprechenden Nebenwirkungen behandeln wird.
Trauer wird zur Krankheit
Eine der am heftigsten kritisierten Änderungen betrifft die
Depression: Normale Trauer wird in der Neuauflage des
Diagnosehandbuchs schon nach kurzer Zeit zu einer
Krankheit. Wer nach dem Tod eines geliebten Menschen
keinen Appetit und keinen Antrieb verspürt, schlecht schläft
und mit gedrückter Stimmung durch den Tag schleicht,
würde nun bereits nach zwei Wochen eine Depression
diagnostiziert bekommen. Nicht selten werden hier
Psychopharmaka verschrieben, vor allem in den USA, wo
viele Mediziner bereits bei leichten psychischen Störungen
Medikamente verordnen. So ist auch der Vorwurf
entstanden, vor allem die Pharmaindustrie habe ein
Interesse an neuen DSM-Kriterien.
Mit DSM-5 wird wohl auch die Zahl der Kinder weiter
steigen, die an ADHS leiden sollen. Bislang müssen die
typischen Zappelphilipp-Symptome wie motorische Unruhe
und mangelnde Konzentrationsfähigkeit vor dem siebten
Lebensjahr
auftreten,
um
eine
Erkrankung
zu
diagnostizieren. Dieser Zeitraum wird im neuen
Diagnosekatalog auf die ersten zwölf Lebensjahre
ausgeweitet. Damit schließen die Autoren auch die
Schulzeit mit ein. Dies ist ohnehin eine große Umwälzung
im Leben von Kindern, die Stress mit sich bringt, der nicht
selten mit ADHS-Symptomen einhergeht. In vielen Fällen
sind dies ganz normale Reaktionen, mit denen die Kinder
auch ohne Medikamente zurechtkommen. In Deutschland
bekommen allerdings schon heute 6,5 Prozent der Jungen
unter zehn bis zwölf Jahren Medikamente wie Ritalin.
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Angesichts solcher Zahlen "ist von einer deutlichen
Überdiagnostik und pharmakologischen Übertherapie
auszugehen", sagt etwa Rainer Richter, der Präsident der
Bundespsychotherapeutenkammer. Er sieht sogar eine neue
Diagnose-Epidemie für Kinder auftauchen: Mit der
Disruptive Mood Dysregulation Disorder (DMDD) werde
eine Krankheit geschaffen, die es vorher nicht gab. Eine
Diagnose könnten Kinder und Jugendliche bekommen, die
einfach nur Wutanfälle haben. "Insgesamt ist die Forschung
aber noch zu dürftig, um eine neue Diagnosekategorie zu
begründen", sagt Richter. Ähnlich wie bei Verlusttrauer
schaffe die amerikanische Fachorganisation Apa mit DMDD
eine Störung für normales Verhalten.
Auch wenn die Kritiker warnen, für Patienten in
Deutschland könnte sich erst verzögert etwas ändern. Nach
welchen Kriterien in Deutschland ein Arzt einem
Betroffenen etwa eine Depression diagnostizieren kann,
regelt ein anderes System. Die International Classification of
Diseases in seiner zehnten Auflage, kurz ICD-10, beschäftigt
sich in Kapitel V mit psychischen Krankheiten. Die
Weltgesundheitsorganisation WHO gibt es heraus.
Warum also die Aufregung? Schüren Lobbygruppen von
Psychiatern und Psychotherapeuten nur unnötige Ängste?
Nein. Denn DSM-5 wird einen gehörigen Einfluss auf die
neue ICD-Auflage haben, die in zwei Jahren veröffentlicht
werden soll. Sie ist bindend für deutsche Ärzte und legt die
Kriterien fest, nach denen Krankheiten diagnostiziert
werden sollen. Und sie orientiert sich im Bereich der
psychischen Leiden seit jeher an den Vorgaben des DSM.
Bis DSM-5 im Behandlungszimmer deutscher Ärzte
ankommt, dauert es noch. Wissenschaftler wie Wolfgang
Maier und Rainer Richter aber werden schon vorher mit
DSM-5 arbeiten müssen: In der internationalen Forschung
führt an dem ungeliebten System kein Weg vorbei.
Quelle: Die Zeit v. 11.5.2013
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