Differentialdiagnose und Behandlung von Angststörungen

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Angststörungen
Ulrich Hegerl
Klinik für Psychiatrie
der Universität Leipzig
Ist Angst eine Krankheit?
• physiologisch:
–
–
–
–
Schutz
Schreckreaktion
Flucht
Möglichkeit der Reifung in Schwellensituationen
• pathologisch:
– unbegründet
– anhaltend
– Leiden und Beeinträchtigung der Lebensqualität
verursachend
12-Monatsprävalenz psychischer Störungen
(Prozentanteil Betroffener an der Bevölkerung, Altersgruppe 18 - 65 Jahre)
Ess-Störungen
Illegale Drogen
Zwangsstörungen
Psychosen
Bipolare Störungen
Agoraphobie
Generalisierte Ängste
Panikstörungen
Soziale Phobien
Alkoholabhängigkeit
Somatoforme Störungen
Spezifische Phobien
Depression
0
1
Datenquelle: Wittchen/Jacobi (2005), S. 365
2
3
4
5
6
7
%
Relevanz in Hausarztpraxis
• ca. 10 % aller Patienten von Allgemeinärzten
• Betroffene wenden sich vornehmlich an
Hausärzte
• körperliche Symptome häufig im Vordergrund
• bei Psychiatern zu wenig beachtet
• häufige Verdachtsdiagnosen:
– Schilddrüsenerkrankungen, KHK, Hypertonus, MS,
Epilepsie, HWS-Syndrom
Ursachen:
Psychische und körperliche
Psychosoziale
Aspekte
Vulnerabilität z. B. negative Lebenserfahrungen, Traumatisierung, Persönlichkeit
Auslöser
z. B. akute psychosoziale Belastung,
Stress
akute
Erkrankung
Angstsymptomatik
Therapie
Psychotherapie
Neurobiologische
Aspekte
z. B. genetische Faktoren
z. B. Überaktivität
Amygdala-Hippocampus
z. B. Dysfunktionen der
Neurotransmitter
Serotonin/
Noradrenalin u. HPA-Achse
Pharmakotherapie
Agoraphobie
Diagnose
Agoraphobie
ICD
Prävalenz
F 40.0
11
Soziale Phobie
F 40.1
3 - 13
Spezifische Phobie
F 40.2
10 - 11
Panikstörung
F 41.0
7-9
generalisierte Angststörung
F 41.1
5-9
Angst + Depression gemischt
F 41.2
<1
posttraumat. Belastungsst.
F 43.1
4 - 14
F 42
3
Zwangsstörung
Agoraphobie
• Angst vor „offenen Plätzen“
• häufiger vor Menschenansammlungen
– Theater, Kino, Restaurant, Kaufhaus
• wo Flucht nicht sofort möglich
• Panik zu kollabieren und hilflos umher
zu liegen
• mit oder ohne Panikstörung
Fallbeispiel Agoraphobie
• 36-jährige Patientin:
– traut sich nicht mehr, mit der U-Bahn oder
anderen öffentlichen Verkehrsmitteln zu
fahren
– aus Angst, zu kollabieren
– ihr Ehemann muss sie täglich zur Arbeit
fahren und wieder abholen
Soziale Phobie
Diagnose
Agoraphobie
ICD
Prävalenz
F 40.0
11
Soziale Phobie
F 40.1
3 - 13
Spezifische Phobie
F 40.2
10 - 11
Panikstörung
F 41.0
7-9
generalisierte Angststörung
F 41.1
5-9
Angst + Depression gemischt
F 41.2
<1
posttraumat. Belastungsst.
F 43.1
4 - 14
F 42
3
Zwangsstörung
Soziale Phobie
•
•
•
•
•
„krankhafte Schüchternheit“
Angst vor Bewertung durch andere
überempfindlich gegen Kritik
geringes Selbstbewusstsein
vermeiden Kontakte
– vor allem kleine Gruppen
• Erröten, Übelkeit, Zittern, Harndrang
• Frauen = Männer
Fallbeispiel Soziale Phobie
•
•
•
•
•
Mann 32 J.
lebt zurückgezogen
außer wenig Kontakten zu Kollegen
noch nie intimer Kontakt zu Frauen
Angst nichts zu sagen zu haben, wenn im
Kontakt mit Frauen
• dann Erröten, feuchte Hände, Stuhldrang
Spezifische Phobie
Diagnose
Agoraphobie
ICD
Prävalenz
F 40.0
11
Soziale Phobie
F 40.1
3 - 13
Spezifische Phobie
F 40.2
10 - 11
Panikstörung
F 41.0
7-9
generalisierte Angststörung
F 41.1
5-9
Angst + Depression gemischt
F 41.2
<1
posttraumat. Belastungsst.
F 43.1
4 - 14
F 42
3
Zwangsstörung
Spezifische Phobie
• Phobien auf spezifische Situationen
beschränkt
– Tiere
– Höhen
– Dunkelheit
– Fliegen
– geschlossene Räume
– Anblick von Blut
Fallbeispiel
Spezifische Phobie
• 45-jähriger Mann,
• früher mehrere längere Reisen nach
Mittelamerika
• unternimmt seit Jahren keine Fernreisen
mehr
• aus Angst von einer Schlange gebissen zu
werden
• nie unangenehme Erlebnisse mit Schlangen
Panikstörung
Diagnose
Agoraphobie
ICD
Prävalenz
F 40.0
11
Soziale Phobie
F 40.1
3 - 13
Spezifische Phobie
F 40.2
10 - 11
Panikstörung
F 41.0
7-9
generalisierte Angststörung
F 41.1
5-9
Angst + Depression gemischt
F 41.2
<1
posttraumat. Belastungsst.
F 43.1
4 - 14
F 42
3
Zwangsstörung
Panikstörung
•
•
•
•
•
•
•
wiederholte Panikattacken
spontan und unerwartet auftretend
nicht auf spezifische Situation beschränkt
Dauer Minuten bis Stunden
mehrmals pro Monat
Erschöpfung nach Panikattacke
nicht bei Phobien (F 40-Diagnosen)
Definition einer Panikattacke
• Plötzlich ausbrechende, grundlose und
übertriebene Angst mit Unbehagen
• Angst, Kontrolle zu verlieren,
durchzudrehen oder verrückt zu werden
• Todesangst (Herzattacke, Gehirntumor)
– Vernichtungsangst
Körperliche Symptome
einer Panikattacke
•
•
•
•
•
•
Kurzatmigkeit – Atemnot – Erstickungsgefühle
Benommenheit
Mundtrockenheit – Übelkeit
Kälteschauer – Hitzewallungen
Parästhesien
Brustschmerzen
• z. T. in Arm ausstrahlend
Fallbeispiel Panikstörung
• 56-jährige Patientin,
• verlässt Haus kaum noch,
• da seit 5 Jahren wiederholt in
verschiedenen Situationen völlig
unerwartet Herzrasen, Übelkeit und
Todesangst auftreten
• seit 1 Jahr zunehmend depressiv
Generalisierte Angststörung
Diagnose
Agoraphobie
ICD
F 40.0
Prävalenz
Soziale Phobie
F 40.1
3 - 13
Spezifische Phobie
F 40.2
10 - 11
Panikstörung
F 41.0
7-9
generalisierte Angststörung
F 41.1
5-9
Angst + Depression gemischt
F 41.2
<1
posttraumat. Belastungsst.
F 43.1
4 - 14
F 42
3
Zwangsstörung
11
Generalisierte Angststörung
• anhaltende Angst und Befürchtungen
• „pathologische Sorge“
• nicht auf bestimmte Situation oder Umgebung
beschränkt
• „frei flottierend“
• Sorgen um Gesundheit Angehöriger
• früher: „Angstneurose“
• Suizidalität:
– 13 % Lebenszeitprävalenz für Suizidversuche
Symptome Generalisierte
Angststörung
•
•
•
•
•
•
•
Ruhelosigkeit
leichte Ermüdbarkeit
Konzentrationsstörungen oder Leere im Kopf
Reizbarkeit
Muskelverspannungen
Schlafstörungen
Tachykardie, Diarrhö, Schwitzen
Fallbeispiel Generalisierte
Angststörung
• 41-jähriger Patient,
• seit > 10 Jahren anhaltende Ängste und
Sorgen
– v. a. dass den Kindern etwas passieren könnte
– oder dass ihm in der Arbeit Fehler unterlaufen
• Nervosität, Schlafstörungen, Herzrasen,
Verspannungen, Muskelschmerzen,
Schwitzen
Posttraumatische
Belastungsstörung
Diagnose
Prävalenz
Agoraphobie
ICD
F 40.0
Soziale Phobie
F 40.1
3 - 13
Spezifische Phobie
F 40.2
10 - 11
Panikstörung
F 41.0
7-9
generalisierte Angststörung
F 41.1
5-9
Angst + Depression gemischt
F 41.2
<1
posttraumat. Belastungsst.
F 43.1
4 - 14
F 42
3
Zwangsstörung
11
Posttraumatische
Belastungsstörung
• Reaktion auf belastendes Ereignis
• oder Situation außergewöhnlicher Bedrohung
• Wiedererleben des Traumas (Flashbacks)
in sich aufdrängenden Erinnerungen
• Gefühl von Betäubtsein
• vegetative Übererregung und
Vigilanzsteigerung
Fallbeispiel Posttraumatische
Belastungsstörung
• 30-jährige Patientin,
• nach Hausbrand und Rettung in letzter
Minute durch Sprung aus dem Fenster
• Schlafstörungen, Alpträume, erhöhte
Anspannung, Erschöpfbarkeit und
Schmerzen
• Panikattacken, wenn sie Sirene hört
Substanzinduzierte
Angststörung
• ausgeprägte Angstsymptome als direkte
Folge:
– einer Droge (Intoxikation oder Entzug)
•
•
•
•
•
Alkohol
Cannabis
Kokain
Amphetamin
Halluzinogene
– eines Medikamentes
– einer Exposition gegenüber einem Toxin
Pharmakogene Angstsyndrome
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
Anästhetika
Bronchodilatoren
Koffein
Muskelrelaxantien
Schilddrüsenhormone
Steroide
Sympathomimetika
Theophyllin
Beispiele für Angstsymptomatik
bei körperlicher Krankheit
• Endokrinologie:
–
–
–
–
Hyperthyreose
Hyperparathyreose
Phäochromozytom
Hypoglykämie
• Neurologie:
–
–
–
–
vestibuläres Syndrom
Epilepsie
Enzephalitis
Tumor
Beispiele für Angstsymptomatik
bei körperlicher Krankheit
• Kardiovaskulär:
–
–
–
–
Arrhythmien
KHK
Herzfehler
Lungenembolie
• Atemwege:
– COPD
– Pneumonie
– Asthma
Weitere Differentialdiagnosen
• Wahnhafte Störung:
– z. B. Fahrstuhl manipuliert, Verfolgungsideen
• Schizophrenie:
– abgelenkt, bizarr, Halluzinationen, affektiv
angespannt, formale Denkstörungen
• Persönlichkeitsstörungen:
– vermeidend selbstunsicher
– emotional-instabil (Borderline-Störung)
Folgen
• Chronifizierung
• Überbeanspruchung medizinischer
Dienste
• exzessiver Alkohol-, Anxiolytika-,
Sedativa-, Hypnotikagebrauch
• Beeinträchtigung der sozialen und
beruflichen Funktionsfähigkeit
• erhöhtes Risiko für Major Depression
• Suizidalität
Psychotherapie
• CBT (Kognitiv-Behaviorale-Therapie)
– Wirksamkeit erwiesen für
• Agoraphobie, Soziale Phobie, Panikstörung,
Generalisierte Angststörung, Zwangsstörung
• Expositionstherapie:
– Wirksamkeit erwiesen für
• Agoraphobie, soziale Phobie, Panikstörung,
spezifische Phobie, Zwangsstörungen, PTSD
Medikamentöse Therapie
Agoraphobie
• erwiesene Wirksamkeit:
– Paroxetin* (Seroxat®)
– (S-)Citalopram* (Cipramil®, Cipralex®)
– Sertralin* (Gladem®, Zoloft®)
– Venlafaxin* (Trevilor®)
*zugelassen
vom BfArM
– Imipramin (Tofranil®)
– Clomipramin* (Anafranil®)
– Moclobemid (Aurorix®)
– Alprazolam* (Tavil®, Xanax®)
Medikamentöse Therapie
der Panikstörung
• Wirksamkeit nachgewiesen:
–
–
–
–
–
Paroxetin* (Seroxat®)
Fluvoxamin* (Fevarin®)
Citalopram* (Cipramil®)
S-Citalopram* (Cipralex®)
Sertralin* (Zoloft®)
–
–
–
–
Venlafaxin* (Trevilor®)
Imipramin* (Tofranil®)
Clomipramin* (Anafranil®)
Moclobemid* (Aurorix®)
*von BfArM
zugelassen
Benzodiazepine
– Lorazepam (Tavor®)
– Alprazolam (Tafil®, Xanax®)
– Diazepam (Valium®)
– Clonazepam (Rivotril®)
• CAVE: Missbrauch, Abhängigkeit!
• daher nur in der Kurzzeittherapie,
• Kombinationsbehandlung
• oder als Reservemedikament geeignet
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