Deutsches Ärzteblatt 1985: A-3410

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
DAS BESONDERE BUCH
D
en „Gesunden Geschäften",
die laut Werbetext „Pharmakonzerne und zahllose Ärzte
mit ihrem Material — den Patienten" machen, stieß der Kölner
Kiepenheuer & Witsch-Verlag in
diesem Herbst mit einem neuen
publikumswirksamen Horrortitel
nach: „Bittere Pillen". Nach Nutzen und Risiken bewertet wurden
insgesamt 2 600 Medikamente,
die in den 75 wichtigsten Anwendungsgebieten 80 Prozent aller
verkauften Arzneimittel ausmachen. 62,3 Prozent aller in der
Bundesrepublik Deutschland verwendeten Arzneimittel sollen laut
der „Gesunden Geschäfte" nichts
taugen. Rund 17 Prozent der hierzulande von den Patienten verbrauchten Arzneimittel sollen nur
„mit Einschränkungen" zweckmäßig sein. Nur 20,6 Prozent sind
nach Lesart der Autoren „therapeutisch zweckmäßig" und somit
ihren Preis wert.
Der Verlag verspricht sich offensichtlich seinerseits von dem Thema ein gesundes Geschäft und
startete das Nachschlagewerk mit
einer Auflage von über 100 000
Exemplaren. Von der Erstauflage
wurden bisher 850 000 Exemplare
verkauft.
Rein rechnerisch ist so zu erwarten, daß in einer Praxis mit 1 000
Scheinen mindestens ein Patient
mit dem blauen Wälzer unter dem
Arm erscheint und — wie es der
Ratgeber empfiehlt — mit seinem
Arzt über dessen als negativ eingestufte Medikation diskutieren
will.
Die drei Autoren sind identisch
mit denen der Erst-Publikation
„Gesunde Geschäfte", wobei einer von ihnen als ehemaliger
Pharma-Angestellter sein Pseudonym gelüftet hat. Keiner aus dem
Terzett ist Mediziner, und nur einer hat Pharmazie studiert. Unangefochtener „Spiritus rector" ist
aber ganz sicher Prof. Eberhard
Greiser, Medizinstatistiker und
Epidemiologe aus dem vom Bremer SPD-Senat gegründeten Institut für Präventionsforschung und
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men haben, im Buch als ‚abzuraten' eingestuft wird, bedeutet das
keinesfalls, daß Sie sofort aufhören sollen, es einzunehmen. Sprechen Sie mit einem Arzt darüber!"
Und dann noch die juristische Absicherung: „Angaben über Inhaltsstoffe, Preise, Umsätze ohne
Gewähr" — das sollte besser
gleich auf dem Umschlag stehen.
Sozialmedizin. Wie der sogenannte Greiser-Index verurteilt auch
die Kölner Verbraucherfibel fast
durchweg die Kombinations-Präparate, während die Monopräparate wesentlich besser abschneiden.
An sich wäre es gar nicht so
schlimm, wenn pillengläubige
Bürger von einer ungezügelten
Selbstmedikation abgeschreckt
würden — vor allem dann, wenn
der behandelnde Arzt von der Medikation nichts weiß. In den vorangestellten „Gebrauchshinweisen"
für das Buch selbst findet sich zudem im Kasten unter dem Stichwort „Wichtig" die Aufforderung:
„Wenn ein Medikament, das Sie
von einem Arzt verordnet bekom-
Kurt Langbein
Hans-Peter Martin
Hans Weiss
13ittere
Pillen
Nutzen und Risiken der Arzneimittel
Ein kritischer Ratgeber
2600 Medikamente
aus hundert Anwendungsgebieten
wissenschaftlich bewertet
Arzneimittel im Krankenhaus
Sonderteil:
Homöopathie /Naturheilmittel
Kiepenheuer
& Witsch
Kurt Langbein, Hans-Peter Martin, Hans
Weiss: Bittere Pillen, Köln, 1985, 1154
Seiten, broschiert, 36 DM
(22) Heft 46 vom 13. November 1985 82. Jahrgang Ausgabe A
Für die neuen „Bitteren Pillen"
wurden 395 Arzneimittel untersucht, die aufgrund ihrer pflanzlichen Inhaltsstoffe mit „Naturheilkraft" in Verbindung gebracht
werden. Von der Verwendung von
183 dieser Mittel muß „abgeraten" werden, weil sie neben
pflanzlichen Inhaltsstoffen auch
chemisch synthetisierte Substanzen enthalten. Beispielsweise
sind in einem vielverwendeten
Abführmittel neben einem harmlosen natürlichen Füll- und Quellmittel (Agar-Agar) auch ein chemisch synthetisierter Darmreizstoff (Phenolphtalein) sowie Paraffinöl enthalten, das zu Leberstörungen führen kann und mit der
Entstehung von Darmkrebs im Zusammenhang gebracht wird.
Wenn diese zweifelhaften Mischungen als „Naturheilmittel"
angepriesen werden, wird der
Konsument nicht nur in die Irre
geführt; sie können dem Patienten auch gefährlich werden.
Und selbst die Naturheilmittel, die
ausschließlich aus Pflanzenextrakten bestehen, sind keineswegs immer harmlos. Insgesamt
wurden deshalb von den 395 bewerteten Mitteln mit pflanzlichen
Inhaltsstoffen nur 40 mit dem positiv gemeinten Prädikat „Naturheilmittel" versehen. Nur diese
wenigen Präparate könnten auf
der Grundlage des gesicherten
Erfahrungswissens für die Anwendung als „geeignet" eingestuft
werden, heißt es.
Indes: Wem nützt dieses „Nachschlagewerk" eigentlich? Bei einer derzeit verkauften Auflage
von fast einer Million (!) letztendlich den Verfassern und dem Verlag!
Rolf Combach
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