Prävention und Behandlung posttraumatischer Störungsbilder im

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S c h r i f t e n r e i h e B a n d 11
Psychosomatische Fachklinik Bad Pyrmont
Klinik für Psychosomatische Medizin und Verhaltenstherapie
Eberhard Okon · Rolf Meermann (Hrsg.)
Prävention und Behandlung
posttraumatischer Störungsbilder im Rahmen
militärischer und polizeilicher Aufgabenerfüllung
Schriftenreihe der
Psychosomatischen Fachklinik
Bad Pyrmont
Ein Unternehmen der
Band 11
›
Ihre Ansprechpartner in der Klinik
Chefarzt:
Prof. Dr. med. Rolf Meermann
Sekretariat:
Anke Voigts
Tel.: 0 52 81 / 619 – 635
Posttraumatische
Belastungsstörung:
Eberhard Okon,
Dipl.-Psychologe
Tel.: 0 52 81 / 619 – 642
Verwaltungsdirektor:
Horst Schiller,
Dipl.-Kaufmann
Sekretariat:
Gundula Greve
Tel.: 0 52 81 / 619 – 630
Aufnahmesekretariat:
Ute Cölven
Tel.: 0 52 81 / 619 – 509
Postadresse:
Psychosomatische Fachklinik
Bad Pyrmont
Bombergallee 10
31812 Bad Pyrmont
Internet:
www.ahg.de/Pyrmont
E-Mail:
[email protected]
Telefonzentrale:
0 52 81 / 619 – 0
Telefax:
0 52 81 / 619 - 666
›
Inhaltsverzeichnis
Seite
Vorwort der Herausgeber
7
Grußworte anläßlich der Tagung
„Posttraumatische Belastungsstörung vom 8.10.-10.10.2001“
8
Okon, Eberhard
Diagnostische Kriterien der Posttraumatischen Belastungsstörung
13
Furtwängler, Jürgen Ph.
Historischer Abriß der Psychotraumatologie ­
eine Geschichte der Kriegstraumatisierungen
19
Meermann, Rolf
Combat Stress und seine kurz- und langfristigen Folgen
23
Kreim, Günter; Meermann, Rolf
Präventive Aspekte bei der Personalauswahl und Schulung von KSK-Soldaten
29
Biesold, Karl-Heinz; Hahne, Hans-Heiner
Präventions- und Behandlungskonzept zur Bewältigung
einsatzbedingter psychischer Belastungen bei Soldaten der Bundeswehr
35
Barre, Klaus; Biesold, Karl-Heinz
Therapie psychischer Traumatisierungen bei Soldaten der Bundeswehr
41
Biesold, Karl-Heinz; Barre, Klaus
Auswirkungen von Streß und Traumatisierungen bei Soldaten der Bundeswehr
47
Weber, Wolfgang W.
Organisation des Critical Incident Stress Managements in der Bundeswehr
53
Varn, Alexander
Konzeptentwicklung und Klinische Erfahrungen zu posttraumatischen
Belastungsstörungen auf dem Hintergrund der Vietnam-Veteranen
63
Grube, Achim
Der Sozialwissenschaftliche Dienst der Polizei Niedersachsen
73
Hallenberger, Frank
Polizeilicher Schußwaffengebrauch: Erleben und Folgen
77
Platiel, Peter
Belastungen des Botschaftspersonals des Auswärtigen Amtes
und Betreuungskonzepte nach Gewalterfahrung
85
›
Vorwort der Herausgeber
Im Oktober 2001 trafen sich in der Psychosomatischen Fachklinik Bad Pyrmont etwa 200 Teilnehmer und an die 40 Referenten, um
Fragen der Diagnostik, Prävention und Behandlung der Posttraumatischen Belastungsstörung zu diskutieren. Vor dem Hintergrund der
Terroranschläge in den USA erhielt unsere Tagung ungewollt politische Aktualität.
Diese Aktualität zeigte sich an dem großen Medieninteresse, so drehte das ZDF einen Beitrag für "heute", der Hörfunk des
Norddeutschen Rundfunks produzierte zwei Sondersendungen basierend auf den Ergebnissen der Tagung und Vertreter verschiedener
Printmedien nutzten die Möglichkeit, mit den Veranstaltern und einigen der Referenten in Kontakt zu treten, um sich zu dem tagesak­
tuellen Geschehen Hintergrundinformationen zu holen.
Ebenfalls ausgelöst durch die Ereignisse am 11. September und sich daran anschließenden Überlegungen bezüglich eines AfghanistanEinsatzes deutscher Soldaten gewann das Thema Prävention und Behandlung Posttraumatischer Belastungsstörungen bei Soldaten
zusätzlich Interesse. Gleiches gilt für die Gefährdung von Polizeibeamten, die im Rahmen der Terrorismusbekämpfung und ebenfalls
notwendiger Auslandseinsätze etwa im ehemaligen Jugoslawien einem zum Teil verwandten Gefährdungspotential ausgesetzt sind.
Gerade die positiven Rückmeldungen der Teilnehmer über die Möglichkeit eines zivilmilitärischen Austausches über Posttraumatische
Belastungsstörungen ermunterte uns als Veranstalter, die Inhalte in einem Band unserer Klinik- Schriftenreihe darzustellen. In diesem
hiermit vorgelegten mittlerweile 11. Band der Schriftenreihe der Psychosomatischen Fachklinik Bad Pyrmont finden Sie Beiträge
führender ärztlicher und psychologischer Vertreter aus den Bereichen Militär und Polizei, die aus ihrem jeweils ganz speziellen
Tätigkeitsfeld die Prävention und Behandlung Posttraumatischer Belastungsstörungen beleuchten.
Wir wünschen Ihnen, daß Sie die vorliegenden Beiträge mit Gewinn lesen.
Bad Pyrmont, im Frühjahr 2002
Dipl.-Psych. Eberhard Okon
Ltd. Psychologe
Prof. Dr. med. Rolf Meermann
Chefarzt
7
›
Grußworte anläßlich der Tagung „Posttraumatische Belastungsstörung vom 8.10.-10.10.2001“
Grußwort des VDR
Wenn wir von dem Anspruch ausgehen, daß die Rehabilitation ein den gesamten Menschen betreffendes Hilfsangebot darstellt, können
Konzept, Diagnostik und Therapie nur unter einem dynamischen Aspekt gesehen werden.
So gewinnt zum Beispiel die Verhaltensmedizin als Integral zwischen den klassischen Disziplinen der Medizin und der Psychologie mit
ihrem verhaltenstherapeutischen Ansatz eine zunehmende Aktualität und Wirkmächtigkeit in den Rehabilitationskliniken.
In einer Gesellschaft, die geprägt ist durch multiplurale Lebensformen und Erlebnishorizonte und durch unterschiedliche ethnische
Bevölkerungsgruppen, die des weiteren geprägt ist durch massive und hoch belastende situative Anpassungsleistungen im
Alltagsvollzug, drängen sich Krankheitszustände wie die sogenannten posttraumatischen Belastungsstörungen, auch in der
Rehabilitation, immer stärker in den Vordergrund.
Wir sind selbst unter Umständen Zeuge von schweren Verkehrsunglücken, Gewaltausübungen und Geiselnahme. Im persönlichen
Umgang mit Kriegsflüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien haben wir Schilderungen grausigster Schandtaten, Verletzungen und
Tötungen vernommen. Manche Asylbewerber, die Integration in unsere Gesellschaft begehren, haben in ihren Herkunftsländern
Bedrohung, Inhaftierung und Folterung erleben müssen.
Die schweren und schwersten seelischen Belastungszustände in unserem eigenen zivilisierten Alltag zum Beispiel bei Bahnpersonal und
Polizei geraten häufig nicht so spektakulär in unser Bewußtsein, sind jedoch ebenso tiefgreifend für den Betroffenen und behandlungs­
bedürftig.
Dieses Pilotseminar, welches der VDR gemeinsam mit der Psychosomatischen Fachklinik in Bad Pyrmont veranstaltet, soll
Aufmerksamkeit bei sozialmedizinischen Gutachtern und Rehabilitationsmedizinern wecken und die fachkompetente
Auseinandersetzung mit dieser weitgehend neuen Materie nach Kräften fördern.
Frankfurt, im August 2001
Dr. med. Winfried Hackhausen
8
Grußwort des Inspekteurs des Sanitätsdienstes der Bundeswehr
Sehr geehrte Seminarteilnehmer,
jeder militärische Einsatz ist mit einem Risiko für Gesundheit und Leben der Soldaten behaftet. Dies gilt auch für die psychische
Gesundheit.
Es ist bekannt, dass die Auseinandersetzung mit Einsatz- und Kriegserlebnissen, ihre psychische Verarbeitung und Bewältigung auch
erfahrene Soldaten nicht kalt lässt, sondern zu erheblichen psychophysischen Reaktionen führen kann. Auch bei der Bundeswehr hat
sich bestätigt, dass kriegs- und einsatzeigentümliche Ereignisse bei ungenügender Verarbeitung der traumatischen Erlebnisse zu psy­
chosomatischen Störungen von Krankheitswert – den Posttraumatischen Belastungsstörungen – führen können. Und genau das ist ja
das Thema Ihres Fachseminars.
Mit zunehmendem internationalem Engagement hat die Bundeswehr zeitgemäße Konzepte für den Umgang mit einsatzbedingten
Belastungen entwickelt, insbesondere zur Prävention vor und Intervention bei einsatzbedingten Belastungen. Auch nach einem Einsatz
soll eine Reihe von Reintegrations- und Nachsorgemaßnahmen die Wiedereingliederung erleichtern und besonders belasteten Soldaten
Hilfen zur Wiederherstellung und Erhaltung der psychischen Gesundheit geben. Hier sind Ärzte, Psychologen, Seelsorger und militäri­
sche Führer gemeinsam gefordert.
Besondere Bedeutung hierbei hat die Fortentwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnisse, insbesondere durch Evaluierung der prakti­
schen Erfahrungen auf dem noch recht neuen Fachgebiet der Psychotraumatologie. Es bestehen z.B. noch erhebliche Unsicherheiten
über die richtigen Wege sowohl in Diagnostik und Therapie wie auch bei der Begutachtung der Posttraumatischen
Belastungsstörungen. Wichtig erscheint mir insbesondere der Informationsaustausch zwischen Vertretern verschiedener Nationen,
Körperschaften und Organisationen, die Einsatzkräfte in potenziell traumatisierende Szenarien entsenden.
Um so mehr freue ich mich, dass dieses Seminar ein Forum bietet, in dem die Erfahrungen aus all diesen Bereichen diskutiert werden
können. Wir können und wollen eine Menge voneinander lernen!
In diesem Sinne wünsche ich dem Seminar einen guten Verlauf und Ihnen einen fruchtbaren Gedankenaustausch zum Wohle der uns
anvertrauten Patienten.
Ihr
Dr. med. Karl Wilhelm Demmer
Generaloberstabsarzt
Inspekteur des Sanitätsdienstes der Bundeswehr
9
Grußwort der AHG
Der ganz normale Wahnsinn!
Unter dem Begriff "Posttraumatische Belastungsstörungen“ (PTBS) sind Krankheitsmerkmale zusammengefaßt, die bei Menschen nach
dem Erleben und Überleben von Katastrophen auftreten. Die häufigsten Traumen sind eine ernsthafte Bedrohung des eigenen Lebens,
bzw. der körperlichen Integrität, ernsthafte Bedrohungen oder Schädigung der eigenen Kinder, des Partners bzw. naher Verwandter und
Freunde, eine plötzliche Zerstörung des eigenen Zuhauses sowie das Mitansehen, wie andere Personen infolge von Unfällen oder kör­
perlicher Gewalt gerade oder vor kurzem ernsthaft verletzt wurden oder starben.
Die Prävalenzraten für PTBS nach traumatischen Ereignissen werden zwischen 8% bis 13% für Männer angeben und zwischen 20% bis
30% für Frauen. Die Lebenszeitprävalenz für eine PTBS wird zwischen 12% bei Frauen und 6% bei Männern geschätzt.
Zu den Ereignissen, die posttraumatische Belastungsstörungen hervorrufen, gehören
• Naturkatastrophen
• unvorhergesehene Unglücksfälle, (z.B. Autounfälle bzw. Bahnunfälle mit schweren körperlichen Verletzungen, Flugzeugabstürze,
Großbrände, Zerstörung der physikalischen Umwelt)
• absichtlich verursachte Katastrophen (Anschläge, Folterungen)
• absichtlich verursachte Unglückfälle (Anschläge im Verkehrswesen, Suizide mit Hilfe von Verkehrsmitteln)
• soziale Gewalterfahrungen (z.B. militärische Gefechte, Überfalle, Geiselnahme), sexuelle Gewalterfahrungen (sexueller Mißbrauch in
Kindheit und Jugend, Vergewaltigung im Erwachsenenalter)
Manchmal gibt es begleitende körperliche Komponenten des Traumas: Verbrennungen, andere Großwunden, Amputationen, Verlust der
körperlichen Integrität, aber auch geringgradige Verletzungen.
Die AHG AG hat in ihren psychosomatischen Fachkliniken bereits 1985 mit konzeptionellen Ausarbeitungen zur Behandlung von
Patienten mit Gewalterfahrungen begonnen und mit gezielten Fortbildungsaktivitäten, mit Fachtagungen und mit entsprechenden kli­
nischen und wissenschaftlichen Veröffentlichungen die Professionalisierung der therapeutischen Mitarbeiter vorangetrieben.
Qualifizierung und Spezialisierung sind bei der Weiterentwicklung von Behandlungskonzepten für PTBS unabdingbar, wenn man sich
nicht mit unspezifischen Breitbandverfahren bescheiden will.
Solche Spezialisierungen verdichten sich in bezug auf folgende Behandlungsindikationen:
Behandlungsindikationen
• Patienten als Geschädigte von technischen Katastrophen mit körperlichen Folgeschäden, die nicht mehr primär akutmedizinisch
versorgt werden müssen, bzw. Patienten ohne körperliche Folgeschaden
• Patienten nach konfliktbedingten Einsätzen im Rahmen Militärischer Aktionen
• Patienten als professionelle Einsatzkräfte (Polizei, Feuerwehr, Sanitätsdienste) oder als paraprofessionelle Einsatzkräfte (DRK, THW)
bei der Katastrophenbewältigung mit nachfolgenden posttraumatischen Belastungsstörungen
• Patienten mit Zuständen nach sozialen Gewalterfahrungen (Geiselnahme, Folterungen, sonst. Lebensbedrohungen)
• Patienten mit Zuständen nach sexuellen Gewalterfahrungen
Die Fachtagung umfaßt die gesamte Spannbreite möglicher Primärereignisse von Gewalterfahrungen und versucht, eine Verbindung
herzustellen zwischen präventiven Ansätzen, sozialmedizinischen Problemstellungen der Begutachtung, therapeutischen und wissen­
schaftlichen Bemühungen um eine Optimierung der Behandlungskonzepte und langfristig angelegten Nachsorgeaktivitäten. Das
Aufgreifen der Thematik im Rahmen der sozialmedizinischen Weiterbildung des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger VDR
unterstreicht die zunehmende Bedeutung von PTBS im Krankheitsgeschehen und in der medizinischen Rehabilitation.
Ich wünsche den Tagungsteilnehmern interessante Tage und einen intensiven Erfahrungsaustausch zu einem Problembereich, dessen
Brisanz nach unserer Einschätzung eher weiter zunehmen wird.
Hilden, im August 2001
Manfred Zielke
10
Grußwort der Psychosomatischen Fachklinik Bad Pyrmont
Seit 14 Jahren werden in unserer Klinik auch Patienten mit der Diagnose PTSD stationär verhaltenstherapeutisch behandelt. Der Begriff
der Posttraumatischen Belastungsstörung wurde auf Druck von Vietnam-Veteranen bzw. deren juristischer Vertretungen 1980 in das
Diagnostische und Statistische Manual der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft (APA) aufgenommen (DSM III, 1980).
Auch 20 Jahre später ist die Diskussion um die medizinische Notwendigkeit bzw. Wissenschaftlichkeit dieser Diagnose noch nicht erlo­
schen (vgl. z. B. Shephard 2000).
So uneinheitlich wie die verschiedenen Ursachen und Äußerungsformen dieses Störungsbildes sind auch die Behandlungsempfehlungen
in der Literatur. Dabei scheint bisweilen die „Lautstärke“, mit der ein bestimmtes Einzelverfahren propagiert wird, im umgekehrten
Zusammenhang zum klinischen Erfahrungshintergrund der Autoren zu stehen. Wir bevorzugen ein multimodales verhaltenstherapeuti­
sches Breitband-Behandlungsprogramm, welches auf einer individuellen Verhaltensanalyse der spezifischen Probleme, aber auch der
vorhandenen positiven Ressourcen unserer Patienten aufbaut. Wir denken, daß nur in einem komplexen psychiatrisch-psychologischen
Gesamtbehandlungsplan PTSD-Patienten adäquat geholfen werden kann. Dabei ist das sogenannte „bio-psycho-soziale Modell“ mittler­
weile eine triviale Grundvoraussetzung.
Über das Angebot des VDR, in unserer Klinik eine entsprechende gemeinsame Fachtagung zu veranstalten, haben wir uns sehr gefreut.
Die Liste der Referenten verspricht eine dichte Arbeitsatmosphäre, hohen Informationsgewinn und lehrreiche Diskussionen.
Bad Pyrmont, im August 2001
Rolf Meerman
Literatur:
Ben Shephard
A War of Nerves
Soldiers and Psychiatrists 1914 – 1994
London, Jonathan Cape, 2000
11
Grußwort des Generalarztes Dr. med. Manfred Neuburger
Sehr verehrter Herr Prof. Meermann, meine sehr verehrten Damen und Herren,
zunächst darf ich Ihnen die Grüße des Inspekteurs des Sanitätsdienstes der Bundeswehr überbringen.
Er hat ja bereits in seinem Grußwort, welches Sie in Ihrem Programmheft abgedruckt finden, zu der Bedeutung, die diese Tagung für
die Bundeswehr hat, Stellung genommen.
Er bedauert, nicht selbst an der Veranstaltung teilnehmen zu können und wünscht nochmals auf diesem Weg einen erfolgreichen
Verlauf dieser Tagung sowie viele gute Gespräche.
Gestatten Sie mir - ohne Sie lange von den interessanten Vorträgen abhalten zu wollen - noch einige ergänzende Anmerkungen zum
Engagement des Sanitätsdienstes der Bundeswehr auf dem Gebiet der PTBS.
Wie Sie dem Programm entnehmen können, werden auch Vertreter des Sanitätsdienstes in Vorträgen Ihre Erfahrungen auf diesem
Gebiet berichten.
Ohne diesen im Detail vorgreifen zu wollen, möchte ich auf die Entwicklung innerhalb der Bundeswehr eingehen.
In der Zeit des kalten Krieges war man von der Konfrontation des Militärs im traditionellen Sinne ausgegangen. Im Rahmen dieser krie­
gerischen Auseinandersetzung bedeutete dies für den Sanitätsdienst der Bundeswehr, daß man grundsätzlich mit einem Massenanfall
von Verwundeten zu rechnen hatte. Eine friedensmäßige medizinische Versorgung wäre unter diesen Bedingungen nicht mehr möglich
gewesen. Dank der Balance der militärischen Blöcke blieb uns diese Erfahrung erspart und die Bundeswehr war zu dieser Zeit mit dem
Problem der PTBS - damals sprach man im angelsächsischen Raum von „battle stress“ oder auch von „battle fatigue“ - nur rein theore­
tisch befaßt. Im wesentlichen verfügten damals z.B. Länder wie die USA (Stichwort „Vietnamkrieg“) und Israel (Stichwort „6-Tage-
Krieg“) über praktische Erfahrungen auf diesem Gebiet. Die israelischen Streitkräfte verfügten schon sehr frühzeitig über sog. „battle
stress rehabilitation units“ in möglichst großer Nähe zum Frontbereich.
Die Situation änderte sich grundlegend mit der neuen geopolitischen Lage ab 1990. Mit der zunehmend intensiveren Beteiligung deut­
scher Soldaten an Auslandseinsätzen bei gleichzeitigem Fortbestehen der Friedenssituation in Deutschland wurde uns das Problem der
PTBS immer bewußter. Die Soldaten wurden einerseits mit den schrecklichen Ereignissen konfrontiert, die sie sich bislang nicht real
vorstellen konnten (z.B. Geiselnahmen und sog. „menschliche Schutzschilde“), andererseits erforderten die Auslandseinsätze Trennung
von der familiären und gewohnten Umgebung bis zu einem halben Jahr und mehr. Beides führte in der Bundeswehr zu einem deutli­
chen Anstieg von psychotraumatischen Erkrankungen. Inzwischen sind im Sanitätsdienst der Bundeswehr entsprechende Konzepte ins­
besondere zu Prävention und Nachbehandlung diesbezüglicher Erkrankungen erstellt und umgesetzt worden.
Zwischen zivilen und militärischen Großschadensereignissen ergeben sich heute viele Parallelen im Rahmen der Entstehung und Be­
handlung von PTBS. Auch außerhalb von klassischen militärischen Aktionen müssen wir - wie die jüngsten Ereignisse in den USA ge­
zeigt haben - mit dieser Art von Psychotraumatologie rechnen. Eine zivilmilitärische Zusammenarbeit drängt sich deshalb geradezu auf.
Zudem ist Ihre Mitgliedschaft im Wehrmedizinischen Beirat des Bundesministeriums für Verteidigung - Herr Prof. Meermann - bereits
Ausdruck einer fruchtbaren und engen Kooperation zwischen Sanitätsdienst und zivilem Gesundheitswesen. Auf einer der letzten
Ausschußsitzungen des Wehrmedizinischen Beirates haben wir uns ausführlich mit der Psychotraumatologie befaßt und Sie haben uns
dabei in dankenswerter Weise tatkräftig unterstützt.
Mit der zunehmenden Bedeutung der PTBS tauchen jedoch auch unverkennbar Schattenseiten im Umgang mit diesem hochsensiblen
Fachgebiet auf. So wird bei der Öffentlichkeit manchmal der Eindruck vermittelt, es sei besonders modern oder schick, sich in eine
dementsprechende Behandlung zu begeben. Die Zunahme sogenannter „selbsternannter Seelenheiler“ sollte uns aufmerksam machen.
Wir brauchen deshalb verbesserte differentialdiagnostische Möglichkeiten, um den wirklich „psychisch kranken“ Menschen erkennen
und fachgerecht behandeln zu können.
Qualitätsmanagement muß auch hier - wie in so vielen anderen Fachgebieten - auf allen Ebenen - von der Prävention bis zur Therapie
- Eingang finden.
Ich hoffe, daß diese Tagung einen Beitrag dazu leisten wird. Ich wünsche uns allen noch interessante Diskussionen und gute Gespräche.
Vielen Dank.
Dr. med. Manfred Neuburger
Bundesministerium für Verteidigung
12
Diagnostische
Kriterien
der Posttraumatischen
Belastungsstörung*
Eberhard Okon
Kurzfassung
Die diagnostischen Kriterien der Posttraumatischen Belastungsstörung nach ICD-10 werden kurz vorgestellt. Es findet eine kurze differenti­
aldiagnostische Erörterung verwandter Störungsbilder statt. Zusätzliche Konzepte wie das Victimisierungssyndrom nach Ochberg oder das
komplexe psychotraumatische Belastungssyndrom nach Herman ergänzen die o.g. diagnostischen Kriterien.
Das klinische Erscheinungsbild der
Posttraumatischen Belastungsstörung
(Synonyme: PTBS, PTSD) ist gekennzeich­
›
net durch eine Reihe von Einzelsymp­
tomen wie Intrusionen, Flashbacks, bela­
stende Alpträume, ein erhöhtes psycho­
ICD-10 Kriterien der Posttraumatischen Belastungsstörung (F 43.1)
A: Die Betroffenen sind einem kurz- oder langanhaltenden Ereignis oder
Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung mit katastrophalem Ausmaß
ausgesetzt, das nahezu bei jedem tiefgreifende Verzweiflung auslösen würde.
physiologisches Erregungsniveau, emo­
tionale Abstumpfung, z.T. Amnesien, häu­
fig auch Tendenzen zur erhöhten
Reizbarkeit und Hypervigilanz.
Hervorgerufen wird diese Störung mit
einer Latenz (nach ICD 10) von einigen
Wochen bis zu 6 Monaten nach einem
Belastungsereignis von außer­
gewöhnlicher Bedrohung mit katastro­
phalem Ausmaß, welches bei nahezu
jedem tiefgreifende Verzweiflung auslö­
B: Anhaltende Erinnerungen oder Wiedererleben der Belastung durch aufdring­
liche Nachhallerinnerungen, lebendige Erinnerungen, sich wiederholende
Träume oder durch innere Bedrängnis in Situationen, die der Belastung
ähneln oder mit ihr in Zusammenhang stehen.
sen würde. Die einzelnen Kriterien nach
ICD-10 finden sich in Abb. 1.
C: Umstände, die der Belastung ähneln oder mit ihr in Zusammenhang stehen,
werden tatsächlich oder möglichst vermieden. Dieses Vermeiden bestand
nicht vor dem belastenden Ereignis.
Im einzelnen finden sich
also folgende fünf Haupt­
kriterien:
D: Entweder 1 oder 2:
1) Teilweise oder vollständige Unfähigkeit, einige wichtige Aspekte der Belastung zu erinnern.
2) Anhaltende Symptome (nicht vorhanden vor der Belastung) mit zwei
der folgenden Merkmale: Schlafstörungen, Reizbarkeit/Wutausbrüche,
Konzentrationsprobleme, Hypervigilanz, erhöhte Schreckhaftigkeit
• Erlebnis eines Traumas,
• Intrusionen,
• Vermeidungsverhalten und allge­
meiner emotionaler Taubheitszustand,
• anhaltendes physiologisches
Hyperarousal,
• die Symptome dauern länger als einen
Monat.
E: Die Kriterien B, C, D treten innerhalb von 6 Monaten nach dem
Belastungsereignis oder nach Ende einer Belastungsperiode auf. In einigen
Fällen kann ein späterer Beginn berücksichtigt werden, dies sollte aber
gesondert angegeben werden
Abb. 1
* Vortrag gehalten auf dem dreitägigen Fachseminar Posttraumatische Belastungsstörung vom 08.-10. Oktober 2001 in der Psychosomatischen Fachklinik Bad Pyrmont.
13
Differentialdiagnostisch muß die Post­
traumatische Belastungsstörung von
einer Reihe Störungen unterschieden
werden, die z.T. verwandte Symptome
aufweisen. Zu denken ist hierbei an alle
›
Arten depressiver Erkrankungen inklusive
der Anpassungsstörungen, an die Gruppe
der Angststörungen, die dissoziativen
Störungen sowie die andauernde Per­
sönlichkeitsveränderung nach Extrembe­
Differentialdiagnosen
Depressionen (F 32. 0 – F32. 8, F 33.0 – F33.9)
Akute Belastungsreaktion (F43.0)
Anpassungsstörung (F43.2)
Dissoziative Störungen (F 44.0 – F 44.9)
Andauernde Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung (F 62.0)
Trauerreaktion (normale Trauer als Z-Kodierung)
Angststörungen
organische Psychosyndrome
Abb. 2
Menschlich verursachte Traumen („man made disasters“)
•
•
•
•
•
•
•
sexuelle/ körperliche Mißhandlungen in der Kindheit
kriminelle und familiäre Gewalt
Vergewaltigungen
Kriegserlebnisse
zivile Gewalterlebnisse (Geiselnahmen)
Folter, politische Inhaftierung
Massenvernichtung (KZ)
Katastrophen, berufsbedingte und Unfalltraumen
• Naturkatastrophen
• technische Katastrophen
• berufsbedingte z.B. Militär, Polizei, Feuerwehr
• Arbeitsunfälle, Verkehrsunfälle
nach Maercker, 1997
Abb. 3
Kurzdauernde traumatische Ereignisse (Typ I – Traumen)
•
•
•
•
Naturkatastrophen
Unfälle
technische Katastrophen
kriminelle Gewalterfahrungen
Kennzeichen: akute Lebensgefahr, Plötzlichkeit, Überraschung
lastung. Bis auf Letztgenannte erfüllen
die anderen Störungen nicht das klini­
sche Vollbild gemäß der ICD-10 Kriterien,
können aber vom klinischen Erschei­
nungsbild dem der Posttraumatischen
Belastungsstörung ähneln. Für die Diag­
nose der Posttraumatischen Belastungs­
störung muß immer das Kriterium des
Traumas erfüllt sein. Bei der Art des
Traumas ist dabei zu berücksichtigen,
dass tatsächlich das Argument der
Schwere und Bedrohung ausführlich
gewürdigt wird, in der Literatur finden
sich z.T. auch Versuche, Erlebnisse wie
partnerschaftliche Trennungen oder
Arbeitsplatzverlust als Auslöser für eine
Posttraumatische Belastungsstörung zu
benennen. Ob diese Ereignisse das Kri­
terium einer Traumatisierung erfüllen, muß
zumindest ausgiebig diskutiert werden.
Eine Zusammenfassung der Differen­
tialdiagnosen finden sich in (Abb. 2.)
In letzter Zeit finden sich Hinweise da­
rauf, dass es „die“ Posttraumatische Be­
lastungsstörung nicht gibt, sondern dass
die Symptomatik deutlich variieren kann,
abhängig von der Art des Traumas und
dessen zeitlichen Verlaufes. Für die
Symptomatik, die Prognose und die
Therapie der Störung ist es durchaus
bedeutsam, ob es sich etwa um einmali­
ge Unfallereignisse oder langjährige,
menschlich verursachte Traumatisie­
rungen wie etwa andauernde sexuelle
oder körperliche Mißhandlung in der
Kindheit, politische Inhaftierung oder
Kriegserlebnisse (sog. „man made disa­
sters“) handelt. Maercker (1997) schlägt
deshalb eine Unterteilung in verschiede­
ne Dimensionen vor, die sowohl die Ur­
sache des Traumas als auch den zeit­
lichen Verlauf der Traumatisierung
berücksichtigt. Er unterscheidet zwischen
Traumen, die im Rahmen eines sozialen
Kontextes verursacht sind, von Kata­
strophen, berufsbedingten und Unfall­
traumen (Abb. 3).
Längerdauernde, wiederholte Traumen(Typ II – Traumen)
•
•
•
•
•
Vom zeitlichen Verlauf her unterscheidet
er kurzdauernde traumatische Ereignisse
und längerdauernde, wiederholte Trau­
men (s. Abb. 4).
Geiselhaft
mehrfache Folter
Kriegsgefangenschaft
KZ-Haft
wiederholte Gewalterfahrungen in Form von Mißbrauch, Mißhandlung
Kennzeichen: verschiedene Einzelereignisse, geringe Vorhersagbarkeit des
weiteren Verlaufs
nach Maercker, 1997
Abb. 4
14
Primäre Traumatisierung beschreibt das
eigene Erleben eines Traumas, sekundäre
Traumatisierung findet sich bei Be­
›
Komplexe Posttraumatische Belastungstörung
1. Unterworfensein unter totalitäre Kontrolle über einen längeren Zeitraum
(Monate bis Jahre) mit Beispielen wie Geiselhaft, Kriegsgefangenschaft,
Überleben von Konzentrationslagern und einiger religiöser Kulte. Weitere
Beispiele sind die Opfer totalitärer Systeme im sexuellen und familiären
Bereich, wie Überlebende von familiärer Gewalt, Kindesmißhandlung, sexuel­
lem Kindesmißbrauch und organisierter sexueller Ausbeutung.
2. Veränderungen von Affektregulierung mit anhaltenden dysphorischen
Verstimmungen, chronischer Beschäftigung mit Suizidideen, Neigung zu
Selbstverletzungen, explosiver oder extrem unterdrückter Wut (ev. im
Wechsel), zwanghafter oder extrem gehemmter Sexualität (ev. im Wechsel).
3. Veränderungen des Bewußtseins, wie Amnesie oder Hypermnesie für traumati­
sche Ereignisse, dissoziative Episoden, Depersonalisation/ Derealisation,
Wiedererleben der traumatischen Erfahrungen entweder in Form intrusiver
Symptome oder in Form von ständigem Grübeln.
4. Veränderungen des Selbstbildes mit Gefühlen von Hilflosigkeit und
Initiativverlust; Scham, Schuldgefühlen und Selbstanklage; eigener
Wertlosigkeit oder Stigmatisierung; Gefühl, völlig verschieden von anderen zu
sein (etwas Besonderes beispielsweise, Erleben äußerster Einsamkeit, die
Überzeugung, von niemandem verstanden werden zu können oder nicht
menschlich zu sein).
5. Veränderungen in der Wahrnehmung des Täters, wie ständige Beschäftigung
mit ihm (z.B. auch in Form von Rachegedanken); eine unrealistische
Sichtweise des Täters als übermächtig (Vorsicht! Das Opfer kann die Macht
des Täters unter Umständen realistischer einschätzen als der Therapeut!);
Idealisierung des Täters oder paradoxe Dankbarkeit ihm gegenüber; das
Gefühl einer besonderen oder übernatürlichen Beziehung zum Täter; Übernah­
me von Weltanschauung oder Rechtfertigungen des Täters.
6. Veränderung der sozialen Beziehungen mit Isolation und Rückzug, Abbruch
von intimen Beziehungen, fortgesetzte Suche nach einem Retter (kann wech­
seln mit Isolation und Rückzug), ständigem Mißtrauen, wiederholtem
Versagen beim Schutz der eigenen Person.
7. Veränderung von Stimmungslagen und Einstellungen wie Verlust von Zuversicht, Gefühle von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung.
Herman, 1992, nach Fischer und Riedesser 1998
Abb. 5
obachtern von der Bedrohung, Verletzung
oder Tötung Dritter, etwa bei Zeugen
oder Helfern.
In der Literatur werden ergänzend zur
Posttraumatischen Belastungsstörung als
Diagnose, wie sie derzeit im ICD-10
geführt wird, auch alternative diagnosti­
sche Konzepte diskutiert wie etwa das
Victimisierungs-Syndrom nach Ochberg
(1993) oder das komplexe psychotrauma­
tische Belastungssyndrom nach Herman
(1992).
Fischer und Riedesser (1998) schlagen
vor, die heute bekannte Posttraumatische
Belastungsstörung als basales psycho­
traumatisches Belastungssyndrom
(bPTBS) zu bezeichnen, um damit die
Möglichkeit zu haben, auch komplexere
Störungsbilder aufbauend auf diesem
basalen Syndrom zu beschreiben. Bereits
im ICD-10 vorhanden ist die andauernde
Persönlichkeitsveränderung nach Extrem­
belastung.
Die komplexe Posttraumatische Belas­
tungsstörung (Abb. 5) nach Herman faßt
die Symptomatik von Personen zusam­
men, die zusätzlich zur Symptomatik
nach ICD-10 weitergehende
Veränderungen erleben, das beschriebene
Störungsbild findet sich häufig bei Typ IITraumatisierten. Zusätzliche Symptome
in diesem Zusammenhang sind vor allen
Dingen Veränderungen in der Affekt- und
Impulsregulation, ausgeprägte dissoziati­
ve Tendenzen, ein deutlich beeinträchtig­
tes Identitätsgefühl, ausgeprägte interak­
tionelle Störungen, eine
Revictimisierungsneigung sowie ein
depressiv getönter allgemeiner
Sinnverlust. Darüber hinaus neigen die
betreffenden Patienten dazu, stark mit
somatischen Symptomen zu reagieren.
Das Victimisierungssyndrom nach Och­
berg (Abb. 6) beschreibt einige sympto­
matische Ergänzungen, die bei Patienten
auftreten nach „man made disasters“,
also für Menschen, die zwischenmen­
schliche Gewalterfahrungen gemacht
haben. Hier finden sich vor allen Dingen
Gefühle, täglichen Aufgaben und Ver­
pflichtungen nicht mehr gewachsen zu
sein, dies auch über die traumatisierende
Situation hinaus gehend, das Gefühl einer
dauerhaften Beschädigung in der Inte­
grität der eigenen Person, Vertrauens­
verlust gegenüber anderen Menschen,
eine reduzierte Fähigkeit im Umgang mit
Ärger, die Tendenz, sich selber für den
Vorfall als schuldig zu erleben sowie Ten­
denzen zur Täterschonung und Entschul­
digung.
Die andauernde Persönlichkeitsverände­
rung nach Extrembelastung (Abb. 7)
beschreibt ein Störungsbild, das auch
Aspekte interaktioneller Veränderungen
nach einer Traumatisierung berücksich­
tigt. Hier sind insbesondere zu nennen
eine feindliche und mißtrauische Haltung
der Welt gegenüber, sozialer Rückzug,
Gefühle der Leere oder Hoffnungslosig­
keit, ein chronisches Gefühl von Nervo­
sität wie bei ständigem Bedrohtsein,
Entfremdung. Bzgl. des Kriteriums der
Traumatisierung wird eine so extreme
Belastung gefordert, dass die
Vulnerabilität der betreffenden Person als
Erklärung für die tiefgreifende
Auswirkung auf die Persönlichkeit nicht
ausreicht. Beispiele werden genannt:
Erlebnisse in einem Konzentrationslager,
Folter, Katastrophen, langjährige Geisel­
haft oder Gefangenschaft mit drohender
Todesgefahr. Die andauernde Persönlich­
keitsveränderung nach Extrembelastung
kann einer Posttraumatischen Belas­
tungsstörung zeitlich folgen, kann aber
auch ohne diese auftreten. Kurzzeitige
Lebensbedrohungen wie etwa bei einem
15
›
Victimisierungsyndrom nach Ochberg
A. Die Erfahrung einer oder mehrerer Episoden von psychischer Gewalt oder psy­
chischem Mißbrauch oder Nötigung zu sexueller Aktivität, dies entweder als
Opfer oder als Zeuge.
B. Die Entwicklung von mindestens x (Anzahl muß noch festgelegt werden) der
folgenden Symptome (nicht vorhanden vor der Victimisierungserfahrung):
1. Ein Gefühl, den täglichen Aufgaben und Verpflichtungen nicht mehr
gewachsen zu sein, welches über das Erlebnis von Ohnmacht in der spezi­
ellen traumatischen Situation hinausgeht (z.B. allgemeine Passivität,
mangelnde Selbstbehauptung, oder fehlendes Vertrauen in die
eigene Urteilsfähigkeit).
2. Die Überzeugung, dass man durch die Victimisierungserfahrung dauerhaft
beschädigt ist (z.b. wenn ein mißbrauchtes Kind oder ein Opfer von
Vergewaltigung der Überzeugung ist, dass es für andere nie mehr attraktiv
sein kann).
3. Gefühle von Isolation, Unfähigkeit, anderen zu vertrauen oder mit ihnen
Intimität herzustellen.
4. Übermäßige Unterdrückung oder exzessiver Ausdruck von Ärger.
5. Angemessene Bagatellisierung von zugefügten (psychischen oder physi­
schen) Verletzungen.
6. Amnesie des traumatischen Erlebnisses.
7. Die Überzeugung des Opfers, an dem Vorfall eher die Schuld zu tragen als
der Täter.
Autounfall würden die genannten Krite­
rien der Traumatisierung nicht erfüllen,
da in diesem Zusammenhang von einer
vorbestehenden psychischen Vulnerabi­
lität ausgegangen werden muß.
Abschließend bleibt noch zu bemerken,
dass – eigentlich eine Selbstverständ­
lichkeit – auch bei der Posttraumatischen
Belastungsstörung ein sauberes diagnos­
tisches und differentialdiagnostisches
Vorgehen gefordert ist. Leider können in
der klinischen Praxis zwei
Beobachtungen immer wieder gemacht
werden:
Das Vorhandensein eines Traumas führt
zu einer automatischen Vergabe der
Diagnose PTSD, auch wenn die geforder­
ten Symptome nach ICD 10 nicht vorlie­
gen. Deshalb soll noch einmal darauf
hingewiesen werden, dass nach einer
Traumatisierung auch eine Depression,
Ängste oder andere Störungsbilder auf­
treten können.
8. Eine Neigung, sich der traumatischen Erfahrung erneut auszusetzen.
9. Übernahme des verzerrten Weltbildes des Täters in der Einschätzung von
sozial angemessenem Verhalten (z.B. die Annahme, dass es in Ordnung ist,
wenn Eltern sexuelle Beziehungen zu ihren Kindern unterhalten oder dass
es in Ordnung ist, wenn ein Ehemann seine Kinder schlägt, damit sie
gehorchen).
10. Idealisierung des Täters.
C. Dauer des Syndroms von mindestens einem Monat.
Ochberg, 1993, nach Fischer und Riedesser 1998
Abb. 6
›
Andauernde Persönlichkeitsveränderung nach
Extrembelastung (F 62.0)
Die Persönlichkeitsänderung muß andauernd sein und sich in unflexiblem und
unangepaßtem Verhalten äußern, das zu Beeinträchtigungen in zwischenmensch­
lichen, sozialen und beruflichen Beziehungen führt. Die Persönlichkeitsänderung
sollte fremdanamnestisch bestätigt werden.
Zur Diagnosestellung müssen folgende, bei dem Betroffenen zuvor nicht beob­
achtete Merkmale vorliegen:
1.
2.
3.
4.
5.
Eine feindliche oder mißtrauische Haltung der Welt gegenüber.
Sozialer Rückzug.
Gefühle der Leere oder Hoffnungslosigkeit.
Ein chronisches Gefühl von Nervosität wie bei ständigem Bedrohtsein.
Entfremdung.
Die Persönlichkeitsänderung muß über mindestens 2 Jahre bestehen und nicht
auf eine vorher bestehende Persönlichkeitsstörung oder auf eine andere psychi­
sche Störung außer einer Posttraumatischen Belastungsstörung zurückzuführen
sein. Eine schwere Schädigung oder Krankheit des Gehirns, die gleiche klinische
Bilder verursachen können, muß ausgeschlossen werden.
Abb. 7
16
Zum anderen hat man manchmal das
Gefühl, dass dissoziative Symptome, Alp­
träume und ängstliches Verhalten gerade
bei weiblichen Patientinnen zu einer
Schlussfolgerung verleiten, dass etwa
frühkindlicher Mißbrauch und/ oder Ge­
walterfahrung vorliegen müssen, ohne
dass die Patientin von sich aus solche
Erlebnisse anspricht. Hier wird aber mög­
licherweise eine Hypothese verfolgt, die
für die Patienten mehr Schaden als
Nutzen bringt, wenn sie aktiv exploriert
wird.
›
Literatur
Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlicher Medizinischer Fachgesellschaften:
Leitlinie Posttraumatische Belastungsstörung, AWMF online, AWMF-Leitlinien-Register 051/010 Entwicklungsstufe 1 + IDA, im Internet:
http://www.uni-duesseldorf.de/awmf/
Bauer, M.; Priebe, S.: Psychopharmakotherapie. in: Maercker, A. (a.a.O)
Dreßing, H., Berger, M. (1991). Posttraumatische Streßerkrankungen, Nervenarzt, 62, 16 – 26
Ehlers, A. (1999). Posttraumatische Belastungsstörung, Göttingen: Hogrefe Fischer, G.; Riedesser, P.( 1998). Lehrbuch der Psychotraumatologie München: Reinhardt-Verlag
Frommberger, U.; Angenendt, J.; Nyberg, E.; Anders, B.; Berger, M. (1999) Differentialindikation therapeutischer Verfahren bei der PTBS,
psycho, 25, 458 – 462
Herman, J. L. (1992): Trauma and Recovery. Basic Books, New York
Maercker, A. (Hrsg.) (1997). Therapie der Posttraumatischen Belastungsstörung; Berlin Heidelberg: Springer
Ochberg, F. M. (1993): Posttraumatic therapy. In: Wilson, J.P., Raphael, B.(Hrsg): International handbook of traumatic stress syndroms.
New York : Plenum Press
Saigh, P.A. (Hrsg.)(1995): Posttraumatische Belastungsstörung. Bern: Huber 17
Historischer Abriss
der Psychotraumatologie – eine
Geschichte der Kriegstraumatisierungen
Jürgen Ph. Furtwängler
Kurzfassung
Die Geschichte der Psychotraumatologie ist auch eine Geschichte der Kriege des 19. und 20. Jahrhunderts mit ihren verheerenden
Auswirkungen. Die Wandlungen der klinischen Erscheinungsbilder bei Soldaten vom shell-shock und den Kriegszitterern des 1. Weltkrieges
über Psychosomatisierungen und verdrängte Psychotraumata im 2. Weltkrieg bis hin zu den Posttraumatischen Belastungsstörungen der
Vietnam-Veteranen und den psychischen Folgen des Golfkrieges werden dargestellt und diskutiert.
Einleitung
Die Möglichkeit des Menschen, auf
extrem bedrohliche Ereignisse in der Art
und Weise zu reagieren, die wir heute als
„traumatisch“ oder „posttraumatisch“
bezeichnen, dürfte entwicklungsge­
schichtlich mit zum ältesten Erbe in
unserem Verhaltensrepertoire gehören.
Dabei haben wir von unseren früh­
menschlichen Vorfahren an erster Stelle
nicht etwa einfach Angst – z. B. vor
irgendwelchen menschenfressenden
Raubtieren – geerbt, sondern überhaupt
„die Fähigkeit, schnell und nachhaltig
Angst vor ihnen zu entwickeln“
(Ehrenreich, 1999). Ehrenreich vertritt
recht plausibel die Hypothese, dass unse­
re Vorfahren, ehe sie sich in die Lage ver­
setzen konnten, als Jäger Beute zu
machen, selber vorzugsweise gejagte
Beute ihnen weit überlegener Raubtiere
waren.
„Wir, die wir heute leben, sind die Nach­
fahren derjenigen Frühmenschen (sog.
,Homoniden’), die angesichts der Gewalt
reflexartig reagierten, sei es durch Flucht,
sei es durch gemeinsame Verteidigung.
Deswegen kann auch in unserer weitge­
hend raubtierfreien modernen Lebens­
welt der Anblick von Blutvergießen die
Flucht- oder Kampf-Reaktion, bzw.
sowohl physiologische als auch unphy­
siologische Varianten dieses Reaktions­
musters auslösen: Herzschlag und Atem­
frequenz beschleunigen sich, die Haut
wird blasser und die Eingeweide ziehen
sich zusammen. Wir sind angespannt und
wachsam.“
Wir kennen diese und weitere Reaktionen
als die klassischen Stress-Symptome. Die
einzige Art und Weise, Stress zu charak­
terisieren, schreibt der Begründer der
Stress-Forschung Hans Selye, besteht
darin: ihn als nichtspezifische Reaktion
des Körpers auf jede beliebige Art von
Anforderung zu bezeichnen [...] Man soll­
te und kann Stress nicht vermeiden; ihn
total auszuschalten, würde bedeuten, das
Leben selbst zu zerstören. Wenn man
keine Anforderungen an seinen Körper
stellt, ist man tot.“
Unabhängig davon, von welchem
Standpunkt aus man die hier ins Auge zu
fassenden Verhaltensmuster betrachtet,
ob unter der „Opfer-Perspektive“
(„Distress“) oder unter der Perspektive
von Steigerungsmöglichkeiten der
menschlichen Lebensqualität („Eustress“),
dürften die Muster von Herausforderung,
Trauma und Bewältigung die gesamte
Menschheitsgeschichte in immer neuen
Erscheinungsformen begleitet, ja in ihren
Erfolgen und Fehlschlägen sogar
bestimmt haben.
„Achill in Vietnam“
Jonathan Shay hat wichtige Einsichten
für seine Arbeit als Psychiater für eine
Gruppe amerikanischer Veteranen mit
Kampferfahrungen im Vietnamkrieg, die
an schweren posttraumatischen Per­
sönlichkeitsstörungen (PTSD) leiden, aus
Homers Ilias bezogen. Dabei ergaben sich
über die gängige Betrachtungsweise
19
posttraumatischer Störungen hinaus zwei
„innovative Konzepte, die in Fachkreisen
noch nicht allgemein akzeptiert sind, was
etwa die Bedeutung des Berserkertums
oder den Verrat an dem betrifft, was (für
das Verständnis von Soldaten) Recht ist,
im Rahmen der Ätiologie der chronischen
posttraumatischen Belastungsstörung
nach dem Kampfeinsatz“ (Shay, 1998).
Shay orientierte sich in seinen Betrach­
tungen sehr dicht an Homers Schilderung
der Geschichte des Achill: „Agamemnon,
der Befehlshaber des Achill, verrät „alles,
was recht ist“, indem er unrechtmäßiger­
weise dessen Preis der Ehre an sich reißt;
indignierter Zorn verengt den gesell­
schaftlichen und moralischen Horizont
des Achill, bis er sich schließlich nur
noch für die kleine Gruppe seiner
bewährten Kampfgenossen interessiert;
sein engster Freund in diesem Kreis, sein
militärischer Stellvertreter und
Adoptivbruder Patroklos, fällt im Kampf;
tiefe Trauer und Selbstmordverlangen
nehmen von Achill Besitz; er hat das
Gefühl, bereits tot zu sein; er ist von
Schuldgefühlen gequält und davon über­
zeugt, dass besser er anstelle seines
Freundes hätte sterben sollen; er strebt
nicht mehr danach, in die Heimat
zurückzukehren; er wird zum Berserker
und verübt Schandtaten gegen Lebende
und Tote“
Dies sei die wirkliche Geschichte des
Achill in der Ilias und nicht eine meta­
phorische Übersetzung. Ebendiese
Geschichte aber hätten auch viele
Frontveteranen erlebt, sei es in Vietnam,
sei es in anderen lang währenden
Kriegen.
Obwohl nun die atavistischen Reaktions­
muster, mit denen der Mensch auf extre­
me Belastung und gewaltsame Überfor­
derung reagiert, einerseits in ihren phy­
siologischen und psychologischen Grund­
zügen (u. a. entwicklungsgeschichtlich
bedingt) durch unterschiedliche zeitliche
Epochen hindurch und quer durch die
unterschiedlichsten Kulturen anthropolo­
gisch ein hohes Maß an Übereinstim­
mung aufweisen, so verschieden haben
sie sich im Laufe der Menschheits­
geschichte gerade unter kriegerischen
Bedingungen dargestellt. Es scheint näm­
lich eine pathoplastisch höchst präge­
wirksame Wechselbeziehung zwischen
20
den sozio-kulturellen Lebensbedingungen
des Menschen – nicht zuletzt verankert
in bestimmten Vorstellungen einer
Gesellschaft davon, wie sich der Einzelne
aufzuführen hat, was er darf und was
nicht – und der Art und Weise, in der er
speziell psychosomatische Krank­
heitsbilder hervorbringt, zu bestehen.
Besonders für den Verlauf posttraumati­
scher Belastungsstörungen ist die Art
und Weise, wie man damit umgeht, von
ausschlaggebender Bedeutung. Jonathan
Shay vertritt dazu die aus seiner Arbeit
mit den Vietnamveteranen abgeleitete
These:
„Moralische Verletzungen stellen einen
Kernbestandteil eines jeden Fronttraumas
dar, das zu einer lebenslangen psychi­
schen Schädigung führt. Gewöhnlich
können sich Veteranen von Schrecken,
Furcht und Trauer erholen, wenn sie ins
Zivilleben zurückkehren, es sei denn,
zusätzlich wurde auch noch gegen „das,
was recht ist“ verstoßen“.
Solche Verstöße können sowohl aus Er­
fahrungen der Soldaten während des
Einsatzes als auch danach resultieren,
nicht zuletzt, wenn es beispielsweise um
die Durchsetzung ihrer Entschädigungs­
ansprüche für die empfangenen seeli­
schen Verletzungen geht. Wenn die
Ideale, die der Soldat davon hegt, „was
recht ist“, plötzlich nicht mehr mit dem
übereinstimmen, was davon gesellschaft­
lich gang und gäbe ist, steigert das die
psychische Vulnerabilität des Soldaten
ganz außerordentlich, weil er sich von
der Gesellschaft, für deren Interessen er
in den Krieg gezogen ist, im Stich gelas­
sen, ja verraten fühlt. Viele Veteranen
vertreten (nach J. Shay) eine
„Dolchstoßlegende“, ähnlich der, die
deutsche Kriegsteilnehmer nach dem
Ersten Weltkrieg vertraten – danach
wäre der Krieg leicht zu gewinnen (und
ein Trauma zu vermeiden) gewesen, hät­
ten die Fronttruppen sich nicht von
Politikern an der Heimatfront verraten
fühlen müssen.
Diese Wechselwirkung zwischen Umge­
bung und den (gesundheitlichen) Proble­
men des Individuums ist auch den ameri­
kanischen Militärpsychiatern Ingraham
und Manning aufgefallen, die festgestellt
haben, dass der seelische Zusammen­
bruch von Soldaten eigentlich eine Art
von „Berufskrankheit“ sei, die typisch für
eine ganz bestimmte Umgebung ist,
nämlich für den Krieg. Wie diese
Ausfallserscheinungen dann aussehen,
hänge von zweierlei ab: von der „Natur
des Krieges“ – also von der Art der
Kriegsführung – und davon, wie man mit
solchen Ausfällen verfahre (Ingraham
und Manning, 1980). Jeder Krieg erzeugt,
vereinfacht gesagt, sein traumatisches
Syndrom (z.B.: Gulf-War-Syndrom).
Verhältnisse in den
deutschen Streitkräften
während des Ersten und
Zweiten Weltkrieges
Der Einfluß sozio-kultureller Faktoren auf
die Ausgestaltung psychosomatischer
Leiden (Shorter, 1994) dürfte jedenfalls
maßgeblich dafür verantwortlich sein,
dass bei aller Ähnlichkeit in den anthro­
pologischen Grundmustern traumatischer
Reaktionen deren Erscheinungsformen
und vor allem ihre Bewertung zu unter­
schiedlichen Zeiten, in unterschiedlichen
Kulturen und Kriegen nicht unerheblich
variierten. Wenn sich beispielsweise in
der neueren Kriegsgeschichte trauma­
tisch bedingte Ausfälle bei deutschen
Soldaten des Ersten und des Zweiten
Weltkrieges, sowie deren militärpsychia­
trische Bewertung und Behandlung von
den Verhältnissen in anderen Armeen
zumindest teilweise unterschieden
haben, dann sind diese Unterschiede in
erster Linie durch die unterschiedlichen
sozio-kulturellen Bedingungen zu
erklären, unter denen die Kriegsteil­
nehmer jeweils angetreten waren und
weniger als Ausdruck eines immer wieder
ominös beschworenen „deutschen
Sonderweges“.
Solche Mutmaßungen über Besonder­
heiten in der psychischen Konstitution
des deutschen Soldaten reichten bis hin
zu der lange Zeit ernsthaft vertretenen
Auffassung, seitens deutscher Soldaten
habe es während des Zweiten Welt­
krieges – anders als im Ersten Weltkrieg
– so gut wie gar keine psychischen
Ausfälle gegeben. Nun kann es nicht
Sache dieser kurzen essayistischen
Betrachtung sein, detaillierte Infor­
mationen im Sinne einer umfassenderen
Studie psychisch bedingter Ausfälle vorzulegen. Deswegen sei der Anschau­
lichkeit halber an dieser Stelle einmal auf
die Erinnerungen zweier berühmter deutscher Nervenärzte aus der Zeit des Ersten
Weltkrieges zurückgegriffen. Max Nonne
aus Hamburg erinnert sich unter der
Überschrift: „Kriegsneurosen“
(Nonne,1971):
Der Krieg brachte uns in Eppendorf
gewaltige Arbeit. Wir bekamen bald
traurige Bilder zu sehen von Amputier­
ten, von durch Kopfschüsse halbseitig
Gelähmten, von durch Rückenmarkschüsse an beiden Beinen, an Blase und
Mastdarm Gelähmten, Epileptiker, die
durch Kopfschüsse Anfälle bekommen
hatten. Aber schon nach wenigen
Monaten zeigte sich bei uns ein Bild, das
wir früher nur ganz selten gesehen hat­
ten – das Bild der Hysteria virilis, der
„männlichen Hysterie“. Es war ein solches
Bild schon von Charcot in Paris gezeich­
net worden. Wir hatten damals gesagt:
„So etwas kommt nur bei den Franzosen
vor, in Deutschland gibt es keine Hysterie
der Männer“. Jetzt sahen wir sie oft und
in allen Formen. Als Stimmbandlähmung,
als Stummheit, als Lähmung der oberen
und unteren Extremitäten, als Zittern in
den verschiedensten Formen, als Verkrampfung der einzelnen Muskeln und
Muskelgruppen, als Taubheit, als Seh­
und Gehstörungen, als Verrenkungen in
den vertracktesten Formen....
Auch der berühmte Münchner Psychiater
Emil Kraepelin war vom Reichsausschuss
für Kriegsbeschädigtenfürsorge zur
Mitarbeit aufgefordert worden. Kraepelin
erinnert sich wie folgt (Kraepelin, 1983):
Schon damals tauchte die Frage der
Kriegsneurosen auf. Wir Irrenärzte waren
alle einig in dem Bestreben, der freigiebi­
gen Rentengewährung entgegenzuwir­
ken, weil wir dadurch ein rasches Anwachsen der Krankheitsfälle und der Ansprüche fürchteten. Trotzdem ließ sich
das Unheil nicht verhüten. Namentlich,
als mit der längeren Dauer des Krieges
immer mehr auch minderwertige
Persönlichkeiten in das Heer eingestellt
werden mussten und die allgemeine
Kriegsmüdigkeit zunahm, wirkte die
Tatsache verhängnisvoll, dass allerlei
mehr oder weniger ausgeprägte nervöse
Krankheitserscheinungen nicht nur die
langfristige Überführung in ein Lazarett,
sondern auch die Entlassung aus dem
Heeresdienst mit reichlich bemessener
Rente herbeiführen konnten. Dazu kam
das öffentliche Mitleid mit den an­
scheinend schwer geschädigten Kriegszitterern, die auf den Strassen die allge­
meine Aufmerksamkeit auf sich zogen
und reichlich beschenkt zu werden pfleg­
ten. Wie eine Flutwelle verbreitete sich
unter diesen Umständen die Zahl derer,
die durch einen „Nervenschock“, beson­
ders aber durch „Verschüttung“ das
Anrecht auf Entlassung und weitere
Versorgung erworben zu haben glaubten...
Diese beiden authentischen Zitate lassen
einige wesentliche psychotraumatologi­
sche Aspekte erkennen. So wird deutlich,
dass die Kampfreaktionen der Soldaten
durchaus als psychogen erkannt wurden,
obwohl seinerzeit in der (deutschen)
Medizin und Nervenheilkunde grundsätzlich eine organische Orientierung vorherrschte. So schreibt der im Ersten
Weltkriege gefallene Nervenarzt Dr.
Ludwig Scholz in seinen Aufzeichnungen
„Seelenleben des Soldaten an der Front“
(Scholz, 1920):
„Alle diese eigenartigen Symptome beru­
hen [...] nicht auf organischen Schädigungen des Nervenapparates, wie die
Patienten (und anfangs übrigens auch
die Ärzte – J.Ph.F.) meist steif und fest
glauben, sondern sie sind seelischen Ur­
sprungs, und zwar gewöhnlich unbe­
wußte Produkte der Angst, unter der die
Kranken leiden“.
Freilich erfuhren diese seelisch verursachten Symptome und ihre Träger, wie
sich unschwer aus Kraepelins Aufzeich­
nungen herauslesen läßt, eine für das
heutige Empfinden recht problematische
Bewertung, wenn da von „minderwerti­
gen Persönlichkeiten“ die Rede ist, die
offensichtlich nur darauf aus wären, sich
„das Anrecht auf Entlassung und weitere
Versorgung erworben zu haben“. Auch
Ludwig äußert sich zu diesen Aspekten:
„Die psychologische Erklärung liegt in
folgendem: Der Kranke hat dank dem
erlittenen großen Schrecken eine
begreifliche Abneigung gegen die Front
bekommen. Die Folge davon: er möchte
heraus, fort, möglichst für immer! Wie
soll er das anfangen? Einfach: er ergreift,
freilich nur bildlich gesprochen, die
Flucht, indem er sich vor unbequemen
Zumutungen, denen er sich auch innerlich nicht mehr gewachsen fühlt, in den
Hafen einer Krankheit rettet. Damit weiß
er sich geborgen, – für seine Leiden ,kann
er nichts‘, er ist eben krank und niemand
wird ihm hieraus einen Strick drehen.
Also er simuliert, er schwindelt?
Keineswegs. Seine Zuckungen, Läh­
mungen usw. übertreibt er vielleicht ein
bißchen, im übrigen aber sind sie echt
[...] Ein täuschendes Kleid, eben die
Krankheit, hüllt die Furcht und Unlust
ein, und der Hysteriker schauspielert vor
sich selbst, ohne eine Ahnung davon zu
haben, – er ist ein betrogener Betrüger...“
Die aus den hier angeführten Zitaten
erkennbare Haltung gegenüber psychoso­
matischen Störungen im Allgemeinen
und gegenüber Kampftraumata im
Besonderen hat sich in der deutschen
Militärpsychiatrie vor allem bei den bera­
tenden Psychiatern des deutschen Heeres
1939 bis 1945 (und nebenbei bemerkt im
Entschädigungswesen bis auf den heuti­
gen Tag) im Großen und Ganzen fortge­
setzt, wobei für die Verhältnisse in der
Wehrmacht zu berücksichtigen ist, dass
aus der dort praktizierten Psychiatrie
Einflüsse der Freud`schen Lehre ja wei­
testgehend ausgeklammert blieben.
Selbst da, wo während des Zweiten
Weltkrieges bei deutschen Soldaten versucht wurde, psychogenen Reaktionen
ansatzweise gesprächstherapeutisch
abzuhelfen, wurden einem Bericht von
Schott (Berger, 1998) dem Soldaten drei
– fatale – Alternativen „angeboten“:
„Wahrscheinlich sei seine Krankheit eine
leichte nervöse Störung, die sich schnell
bessern werde. Sei dies nicht der Fall,
kämen folgende ,Differentialdiagnosen’
in Frage: Es handele sich um einen
,Schlechtwilligen’, der strafrechtlich ver­
folgt werden müßte, oder um einen
,Geisteskranken’, der in ,dauernde
Irrenanstaltsverwahrung‘ gehöre ...“
Dieses kurze Zitat mag belegen, dass
„psychogene Reaktionen“ auch bei den
Soldaten der Wehrmacht während des
Zweiten Weltkrieges vor allem gegen
Kriegsende, eine nicht unbedeutende
21
Rolle spielten, deren Erfassung und wissenschaftliche Bewertung nach heutigen
Kriterien sich allerdings als äußerst
schwierig erweist, wie Georg Berger in
seiner vorzüglichen Studie über: „Die beratenden Psychiater des deutschen
Heeres 1939 bis 1945“ herausgearbeitet
hat. Diese Studie kann jedem, der sich
sachlich, also frei von ideologischen
Tendenzen, über die deutsche
Militärpsychiatrie im Zweiten Weltkrieg
informieren will, bestens empfohlen wer­
den. Im Übrigen ist auf die durchaus fun­
dierten, dabei indessen mit plakativen
Titeln wie: „Aufrüstung der Seelen“ und:
„Maschinengewehre hinter der Front“
sozialkritischen Arbeiten von Peter
Riedesser und Axel Verderber hinzuwei­
sen (Riedesser & Verderber, 1985;
Riedesser & Verderber, 1996).
Auf dem Weg zur posttraumatischen Belastungsstörung – Verhältnisse in der
Bundeswehr
Unter dem Primat einer Sicherheits- und
Verteidigungspolitik, die sich in der Zeit
des sog. „Kalten Krieges“ ganz und gar
dem Gedanken der Abschreckung ver­
schrieben hatte, war in der Phase der
Aufstellung der Bundeswehr und darüber
hinaus bis in die achtziger Jahre der Gedanke an den unmittelbaren Einsatz deutscher Streitkräfte und die damit auch im
Bereich der Militärpsychiatrie zu gewärtigenden Weiterungen gegenüber der frie­
densmäßigen Versorgung der Soldaten in
den Hintergrund getreten. Soweit Aspekte
einer einsatzbezogenen Militärpsychiatrie
maßgeblich z. B. von Rudolf Brickenstein
zur Diskussion gestellt wurden, stand im
Mittelpunkt der entsprechenden Überle­
gungen, die sich im übrigen hauptsächlich
auf WK-II-Erfahrungen stützten, der
Begriff der „Panik“.
Modernere, aus dem internationalen
Kontext bezogene Konzepte begannen
›
sich in der Bundeswehr nicht zuletzt unter
Federführung der Inneren Führung von
Anfang der achtziger Jahre an zu etablie­
ren. In diesem Zusammenhang sei an die
Führungshilfe: „Menschenführung unter
Extrembelastung“ erinnert. Diese Konzepte
orientierten sich überwiegend an der
Stresstheorie und bezogen moderne psy­
chologische und psychotherapeutische
Überlegungen bereits mit ein, die sich
nunmehr auf Erfahrungen im Korea- und
Vietnamkrieg und vor allem auf Israelische
Erfahrungen stützten.
Der entscheidende Anstoß dazu, schließ­
lich im Anschluß an die internationalen
Gepflogenheiten und Klassifikationen das
Konzept der posttraumatischen Belas­
tungsstörungen in der Militärpsychiatrie
und Psychologie der Bundeswehr zu eta­
blieren, resultierte aus der neueren Auftragslage und den damit verbundenen
Einsätzen der Streitkräfte. Über die Moda­
litäten und den Sachstand der militärpsychiatrischen und psychologischen
Konzeptualisierung von Maßnahmen zur
Betreuung traumatisierter Soldaten geben
die nachstehenden Beiträge Auskunft.
Literatur
Berger, G. (1998). Die beratenden Psychiater des deutschen Heeres 1939 bis 1945. Frankfurt am Main: Peter Lang
Ehrenreich, B.(1999). Blutrituale – Ursprung und Geschichte der Lust am Krieg. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag.
Ingraham, L.H. & Manning, F.J (1980). Psychiatric Battle Casualties: The Missing Column in a War Without Replacement, Military Review,
Aug. 1980, page 20 ff.
Kraepelin, E. (1983). Lebenserinnerungen. Berlin: Springer-Verlag. Nonne, M. (1971). Anfang und Ziel meines Lebens – Erinnerungen. Hamburg: Hans Christians Verlag. Riedesser, P. & Verderber, A. (1985). Aufrüstung der Seelen – Militärpsychiatrie und Militärpsychologie in Deutschland und Amerika.
Freiburg im Breisgau: Dreisam-Verlag.
Riedesser, P. & Verderber, A. (1996) Maschinengewehre hinter der Front – Zur Geschichte der deutschen Militärpsychiatrie. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag.
Scholz, L. (1920). Seelenleben des Soldaten an der Front. Tübingen: Paul Siebeck.
Shay, J. (1998). Achill in Vietnam – Kampftrauma und Persönlichkeitsverlust. Hamburg: Hamburger Edition.
Shorter, E. (1994). Moderne Leiden – Zur Geschichte der psychosomatischen Krankheiten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag. 22
Combat Stress
und seine kurz- und
langfristigen Folgen*
Rolf Meermann
Kurzfassung
Ausgehend von den Erkenntnissen der Verhaltensforschung (Ethologie) und der Psychobiologie kann Combat Stress als Streßreiz (Stressor,
Streßauslöser) beschrieben werden, welcher in Abhängigkeit von biologischem Programm des Organismus und subjektiver individueller
Bewertung eine Streßreaktion hervorrufen kann. Abhängig von z.B. Dauer und Intensität des Traumas, aber auch getriggert durch z.B.
Primärpersönlichkeit, Komorbiditäten und Verlaufsfaktoren können gesundheitliche Folgeschäden (acute stress disorders, generalisierte
Angststörung, sonstige psychiatrische oder psychosomatische Störungen) ebenso auftreten wie langfristige Gesundheitsbeeinträchtigungen
(PTSD, Leistungsminderung, Arbeitsplatzverlust, Berentung). Die Streßreaktion stellt eine ursprünglich biologisch sinnvolle Coping- bzw.
Überlebensstrategie auf außergewöhnliche bzw. bedrohliche Signale oder Situationen dar. Streßbedingte Krankheitsfolgen lassen sich am
besten im Rahmen eines bio-psycho-sozialen Krankheitsmodells beschreiben. Verhaltensmedizinische (verhaltenstherapeutische) Behandlungsansätze sind gut geeignet zur Prävention und Therapie von Streßfolgeschäden.
„We don’t want any damned psychiatrists
making our boys sick“
US General, 1944
zit. n. Shephard (2000)
In diesem Grundsatzreferat will ich mich
bemühen, einige begrifflich-definitori­
sche Klärungen zum Thema Streß bei
militärischen Einsätzen vorzunehmen. ›
Biopsychosoziales
Krankheitsmodell
• Biologie, Humanmedizin, Genetik,
Endokrinologie, Ethologie
• Psychiatrie, Psychologie
• Sozialmedizin
Hier gibt es in der wissenschaftlichen
Literatur und vor allem auch in der
Laienpresse bisweilen Unschärfen, insbe­
sondere zwischen den Begrifflichkeiten
Streß bzw. Streßreaktion. Die Tatsache,
dass psychiatrisch-psychologische
Aspekte im Rahmen der (militärischen)
Einsatzmedizin in der BRD Beachtung
finden, ist ja relativ neu und Sie sehen
am Eingangszitat, welche Schwierig­
keiten nach wie vor bestehen, wenn
Fachleute des nervenheilkundlichen
Gebietes militärische Phänomene kom­
mentieren. Die Doppeldeutigkeit oder
wenn Sie so wollen die hohe Ambivalenz
der Aussage spricht für sich.
Wenn wir über das Phänomen Streß bzw.
Streßreaktion (incl. Combat Stress) reden,
dann immer nur im konzeptionellen Rah­
men des biopsychosozialen Krankheits­
modells (Abb. 1) (Meermann, 1998).
Neben
(1) Erkenntnissen der Biologie, Körper­
medizin, Genetik, PsychoneuroEndokrinologie und PsychoneuroImmunologie sowie der vergleichen­
den Verhaltensforschung (Ethologie)
müssen
(2) an zweiter Stelle die Erkenntnisse der
Psychiatrie und Psychologie sowie
(3) sozialmedizinische Aspekte
Berücksichtigung finden. Medizin
ohne Psychologie bzw. Psychologie
ohne Medizin sind Konzepte ohne
Zukunft. Sozialmedizin bedeutet u.a.,
dass menschliches Erleben und
Verhalten moderiert wird durch gesell­
schaftliche Einflüsse wie Werte und
Normen, durch Ideologien oder auch
durch Fanatismus.
Abb. 1
* Vortrag gehalten auf dem dreitägigen Fachseminar Posttraumatische Belastungsstörung vom 08.-10. Oktober 2001 in der Psychosomatischen Fachklinik Bad Pyrmont.
23
›
Combat Stress
Combat Stress
Soldiers heart (DA COSTA 1871)
Herzneurose
Effort-Syndrom (LEWIS 1917)
GOK
Irritable Heart Syndrome
Shell Shok
Kriegszitterer
Granatschock
Abb. 2
Zum Begriff Combat Stress
(Abb. 2):
Combat Stress ist ein buntschillernder
Begriff, der in der medizinischen
Literatur spätestens seit dem
Sezessionskrieg (1861-65) eine Rolle
spielt. Da Costa (1871) hat als Arzt
Soldaten im Amerikanischen Bürgerkrieg
untersucht und psychovegetative
Symptome und Beschwerden bei seinen
›
Soldaten beschrieben, die wir heute
(ohne organpathologisches Korrelat) am
ehesten dem Formenkreis der Herzneu­
rose bzw. Angststörung zuordnen. In der
Deutschen Literatur finden sich Begriffe
wie Kriegszitterer oder Neurasthenie.
Lewis hat 1917 amerikanische Soldaten
in Europa im 1. Weltkrieg untersucht,
von ihm stammt der Begriff des EffortSyndroms, also Erschöpfungssyndroms.
Die Sanitäter, welche Soldaten nach
Verschüttungen oder Granateinwirkungen
in den rückwärtigen Linien primär versor­
gen mußten, haben an die Verwundeten
kleine Kärtchen geheftet mit einer Be­
handlungsdiagnose. Neben den Statis­
tiken über die Anzahl der Brandverletzten
und der chirurgisch versorgungspflichtigen
oder erblindeten Patienten findet sich bei
manchen dieser Karten die Diagnose GOK
(„God only knows“). Dies zeigt Ihnen das
mangelnde professionelle Verständnis für
die bizarren psychiatrischen Krankheits­
bilder, die unter menschlichen Extrem­
belastungen, unter maximaler Todesangst
entstehen können (Shephard 2000).
Symptomwandel im traumatischen Prozeß
Trauma
Wir unterscheiden in der Streßforschung
3 Ansätze (Nitsch 1981):
a) die Beschreibung der Streßauslöser,
Stressoren oder Streßreize,
b) die Streßreaktion als solche und
c) die subjektive Bewertung und
Verarbeitung der Streßreize, welche
zur Streßreaktion führen.
(a) Der Begriff Streß stammt ursprünglich
aus der Materialforschung und be­
schreibt so etwas wie Belastbarkeit
oder Reißfestigkeit von technischen
Produkten. Neben der Qualität sind
sicherlich Dauer und Intensität von
Streßreizen Bedingungen, um die
Reizschwelle zum Auslösen der Streß­
reaktion zu überschreiten bzw. die
genannten Variablen moderieren das
Ausmaß einer Streßreaktion.
(b) Der 2. Ansatz bezieht sich auf die
Streßreaktion im engeren Sinne, d.h.
auf das, was im Erleben des Men­
schen, im Körper und auf der direkt
beobachtbaren Verhaltensebene
abläuft (Selye 1974). Aus verhaltens­
analytischer Sicht werden 4 Beschrei­
bungsebenen der Streßreaktion unter­
schieden:
„Zuviel“-Symptomatik
•
•
•
•
Alkohol/
Drogen
traumatische Flashbacks/Alpträume
Reaktion
10.1
43.1
Irritierbarkeit
Überregung
Depressive Reaktion
Ängste / Panik
Vermeidung
62.0
43.21
sozialer Rückzug
Kognitive Ebene
Emotionale Ebene
Physiologische Ebene
Verhaltensebene
Ärgerausbrüche
43.0
Depression
Dissoziation
44.8
Verlust der Zukunftsperspektive
Dissoziation
„Zuwenig“-Symptomatik
43.0 akute
Belastungsreaktion
43.1 PTBS
44.8 Dissoziative
Identitätsstörung
43.21 depressive Reaktion
(Anpassungsstörung)
62.0 Persönlichkeitsveränderung
nach Extremtraumatisierung
10.1 Sucht
(Alkohol)
(nach: Post et al. 1997)
Abb. 3
24
Zum Begriff Streß:
(c) Ein 3., besonders aktueller Ansatz der
Streßforschung beschäftigt sich mit
der black box zwischen Auslöser und
dem Ergebnis. Er beschreibt Prozesse
sowohl biologischer als auch psycho­
logischer Natur im Sinne einer sub­
jektiven Bewertung und Verarbeitung
von Streßreizen auf der Grundlage der
Lerngeschichte des Organismus ein­
schließlich genetischer Faktoren, aber
auch negativer „life events“ oder
Werthaltungen. Die subjektive Bewer­
tung einer Streßsituation ist im we­
sentlichen abhängig vom Ausmaß der
Selbstkontrolle, den eigenen Coping­
fertigkeiten und sozialer Unter­
stützung (Lazarus und Launier 1978).
Gerade dieser Ansatz scheint erfolg­
versprechend nicht nur zum Verständ­
›
Adrenalin-Urin-Ausschüttung
ADR.
ng/min
zept der Salutogenese (Schüffel et al
1998). Salutogenese (als Antagonist zur
Pathogenese) ist ein Konzept von Aaron
Antonowsky, welcher dies 1987 publi­
zierte; 10 Jahre später wurde sein Buch
ins Deutsche übersetzt. Die Arbeitsgruppe
um Antonowsky hat versucht, die
Bedingungen herauszuarbeiten, wie die
Wege der Gesundheitsentstehung und
der Gesundheitsaufrechterhaltung kon­
zeptualisiert werden: Der bedeutsamste
salutogenetische Faktor ist ein Sense of
coherence (Kohärenzgefühl). Er wird
bereits in der Kindheit angelegt und
bewirkt, dass wir sowohl mit alltäglichen
Belastungen wie auch mit massiven
Traumata in individual-spezifischer Weise
umgehen. Kohärenz läßt sich auf drei
Ebenen beschreiben:
Vp mit Panikattakke
30
25
20
15
1. Verstehbarkeit:
Auf dieser kognitiven Ebene geht es
darum, Ereignisse im Leben zu struk­
turieren oder als strukturiert zu erle­
ben und auf diese Art und Weise
kognitiv verstehbar und damit vorher­
sehbar zu machen.
10
5
0
Zeit
08 14
20
02
08 14
20
02
08
14
20
02
08 14
Abb. 4
nis von Streßreaktionen, sondern auch
den Schlüssel für therapeutische
Interventionen aller Art incl. Prä­
vention/Prophylaxe darzustellen.
Aus verhaltenstherapeutischer Sicht
ist sodann von Interesse, wie die kurz­
und langfristigen Konsequenzen von
Streß auf einer Zeitachse aussehen.
In Abhängigkeit vom zeitlichen Verlauf
lassen sich unterschiedliche psychiatrisch
klar definierte Krankheitsbilder nach dem
ICD 10 beschreiben (Abb. 3).
Abb. 4 (aus LEVI 1968) zeigt die Adre­
nalin-Urin-Ausschüttung bei 14 Soldaten
in 25 aufeinanderfolgenden 3 Stunden­
Intervallen (Gefechtsübung). Man sieht
deutlich eine exzessive Adrenalin-Ausschüttung bei einer Person mit akuter
Panikattacke. Diese Arbeit ist medizin­
historisch insofern bedeutsam als hier
klar der Begriff Streßreaktion mit Angst­
reaktion synonym gesetzt wird.
Die Streßreaktion stellt als solche zunächst eine biologisch durchaus sinnvolle
ontogenetisch und phylogenetisch be­
deutsame Überlebensstrategie insofern
dar, als unsere Vorfahren bei maximal
angstauslösenden und lebensbedrohli­
chen Reizen, ohne groß nachzudenken,
durch die Streßreaktion in einer stereotypen Weise zur Flucht bzw. zum Angriff
präpariert wurden (Bereitstellungs­
reaktion). Dieses ursprüngliche Streß­
konzept stammt von Cannon (1939) und
wird mit dem Terminus verdeutlicht
„fight or flight“.
In bezug auf die subjektive Bewertung
gibt es ein neueres Forschungskonzept,
welches richtungsweisend für Prävention
bzw. Personalauslese sein kann: das Kon­
2. Handhabbarkeit:
Diese Dimension beschreibt u.a. die
Hilfsquellen, die dem Individuum
selbst oder durch wichtige Bezugspersonen zur Verfügung stehen, aber
auch Werthaltungen und Welt­
anschauungen.
3. Bedeutsamkeit:
Bedeutet die gefühlsmäßige (emotionale) Komponente, etwa mit dem
Gedanken „es lohnt sich für mich und
das was ich hier mache ist wichtig,
wird von der Gesellschaft unterstützt,
wird von der Gesellschaft mitgetragen
und es hat auch für mich subjektiv
eine Bedeutung und einen Wert“.
Die Combat-Streßreaktion wäre dann die
kurzfristige stereotyp ablaufende Reaktion auf der physiologischen, erlebnis­
mäßigen und Verhaltensebene nach
Combat-Ereignissen, also durch Combat­
Streß erzeugte Combat-Streßreaktionen.
Eine kurzfristige Folge (Abb. 5) der
Combat-Streßreaktion kann übrigens
auch Gesundheit (Well being) sein, das
bedeutet, dass nicht zwangsläufig nach
maximaler Streßeinwirkung ein patholo­
25
›
Combat-Stress-Reaktion
Auslöser
Stressor
Streßreiz
Streßauslöser
hier:
Combat-Streß
„Filter A“
„Filter B“
Biologisches
Programm
des Organismus
- Genetik
- Lerngeschichte
z.B. negative
life-events
- Werthaltungen
Subjektive
Bewertung
Stressreaktion
kurzfristige
Folgen
langfristige
Folgen
Well being
Leistungsminderung
acute stress
disorders
Chronifizierung
Combat
Stress
Reaction
abhängig von
- Selbstkontrolle
- Coping
- Social support
Trauma
„Critical Incident“
Arbeitsplatzverlust
generalisierte
Angststörung
Berentung
Sonstige
psychiatrische
oder
psychosomat.
Störungen
PTSD
.....
getriggert durch
- Primärpersönlichkeit
- Komorbidität
- Verlaufsfaktoren
Dauer
Intensität
Abb. 5
gischer Zustand die Konsequenz sein
muß. Hier scheint mir ein wichtiger
Forschungsansatz zu liegen, die
Bedingungen genauer zu erforschen,
unter denen Soldaten trotz maximal
›
belastender Ereignisse seelisch gesund
bleiben (Eustress vs. Disstress).
Abb. 6 gibt ein Beispiel aus dem militärischen Bereich im engeren Sinne, nämlich
Verhaltensreaktion in und nach militärischen
Belastungssituationen
Militärische
Belastungssituation
Adaptives, funktionales
Verhalten
Postitive
Belastungsreaktion
Nichtadaptives, dysfunktionales
Verhalten
Verfehlungen
kriminelle Handlungen
Akute
Belastungsreaktion
Posttraumatische
Belastungsstörung
Andauernde
Persönlichkeitsänderung
nach Extrembelastung
Potentielle kurz-, mittel- und langfristige Verhaltensreaktionen in und nach militärischen
Belastungssituationen. (Nach Leaders‘ Manual for Combat Stress Control, 1994)
Abb. 6
26
aus einem Manual für militärische Füh­
rungskräfte der USA aus dem Jahr 1994.
Bedeutsam in diesem Diagramm ist zum
einen der Hinweis, dass es durchaus
positive (gesunde) Belastungsreaktionen
gibt, zum anderen, dass neben seelischen
Störungen auch forensisch bedeutsame,
dissoziale (kriminelle Handlungen)
Konsequenzen auftreten können
(Stichwort: Mi Lai oder „Fragging“,
d.h. das Töten von Offizieren durch
Soldaten mit Handgranaten im
Vietnamkrieg).
Abb. 7 skizziert die Behandlungsmöglich­
keiten mit den beiden psychotherapeuti­
schen Hauptverfahren, die in der Bundes­
republik krankenkassentechnisch und
wissenschaftlich akkreditiert sind, näm­
lich die psychodynamischen Ansätze
einerseits und die Verhaltenstherapie
auf der anderen Seite. Die Psychoanalyse
im engeren Sinne (Behandlung im
Liegen) ist eigentlich unter Versor­
gungsaspekten eher zu vernachlässigen,
weil sie nicht mehr als 5 % der psycho­
therapiebehandelten Fälle in der Bundes­
republik ausmacht. Ansonsten werden
schätzungsweise die übrigen Patienten
zu 2/3 tiefenpsychologisch und zu 1/3
verhaltenstherapeutisch ambulant oder
stationär versorgt.
›
Psychotherapeutische Behandlungsmöglichkeiten
Abb. 8 gibt eine Definition der Ver­
haltenstherapie, welche insbesondere die
Aspekte der Physiologie und Neurophy­
siologie (also den biopsychosozialen
Ansatz) bereits in einer 30 Jahre alten
Definition impliziert.
Psychotherapie
Psychodynamische
Ansätze
Psychoanalyse
›
Kognitiv behaviorale
Ansätze
Tiefenpsychologie
Verhaltenstherapie
Abb. 7
Definition Verhaltenstherapie
Verhaltenstherapie
Aus der Kritik an den traditionellen Formen der Psychotherapie, insbesondere der
Psychoanalyse, entstandene Psychotherapieform (Eysenck London, Skinner USA,
Wolpe Südafrika).
Grundlage: Lerntheorien, Definition nach Yates 1970 „Versuch, den Bereich empiri­
schen und theoretischen Wissens, der aus der Anwendung der experimentellen
Methode in der Psychologie und angrenzenden Fachbereichen (Physiologie und
Neurophysiologie) hervorgegangen ist, zu nutzen, um die Genese und Aufrechterhal­
tung von abnormen Verhaltensmustern zu erklären; dieses Wissen sollte zur
Behandlung und Prävention dieser Abnormitäten angewendet werden, Beschreibung
und Heilung sollte sich ferner kontrollierter Einzelfallstudien bedienen.“
›
Abb. 8
Definition Verhaltensmedizin
„Verhaltensmedizin ist das interdisziplinäre Feld, das sich mit der Entwicklung und
Integration von verhaltens- und biomedizinischem Wissen und Techniken beschäf­
tigt, die für Krankheit und Gesundheit wichtig sind, sowie mit der Anwendung die­
ses Wissens und dieser Techniken auf Prävention, Diagnose, Behandlung und
Rehabilitation.“
(Schwartz und Weiss 1980)
Abb. 9
›
Dimension psychologischer Gesundheit (aus Lutz & Mark 1995)
Skalen­
nummer
Skalenname
Item­
anzahl
1
Autonomie
17
2
Willensstärke
14
3
Lebensbejahung
4
Natürlichkeit
5
Selbstreflexion
6
Integration
10
7
Sinnfindung
8
8
12
7
Beispielhafte Aspekte zur
Skalenbeschreibung
Selbstverantwortlichkeit
Selbstsicherheit
Normenunabhängigkeit
Durchsetzungsvermögen
Durchhaltevermögen
Entscheidungsfähigkeit
Optimismus
Lebensmut
Bejahung der eigenen Persönlichkeit
Selbstöffnung
Spontaneität
Flexibilität
bewußtes Leben
realistische Selbsteinschätzung
dynamisches Selbstkonzept
soziale intakte Sozialbeziehungen
soziales Engagement
Einfühlungsvermögen
Orientierung an Lebenswerten
innerer Halt
konstruktive Bewältigung von Leid
Das Konzept der Verhaltensmedizin (Abb.
9) wird schwerpunktmäßig in den verhal­
tenstherapeutischen psychosomatischen
Fachkliniken in der BRD erfolgreich prak­
tiziert. Das verfügbare verhaltensthera­
peutische Know-how wird integriert mit
biomedizinischem Wissen und dürfte zu
einem wesentlichen Teil zur Leistungs­
fähigkeit, aber auch zur subjektiven Zu­
friedenheit der Mitarbeiter solcher Kli­
niken beitragen.
Erlauben Sie mir abschließend einen Hin­
weis auf das Konzept der Gesundheits­
psychologie bzw. Präventivmedizin. Die
Dimensionen psychologischer Gesundheit
sollten intensiver beforscht werden. Die
Abb. 10 zeigt verschiedene Dimensionen
psychologischer Gesundheit, wie sie ins­
besondere im Bereich Personalauslese,
Training, Schulung, Fortbildung von
Mitarbeitern praktisch aller streßbelaste­
ten Berufe relevant sein können.
Ich möchte mit 2 Bemerkungen schließen:
Zum einen hatte Generalarzt Neuburger
bereits gestern auf die Bedeutung der
zivilmilitärischen Zusammenarbeit hinge­
wiesen und ich denke, es ist eine Selbst­
verständlichkeit, dass das Know-how aus
Psychiatrie und Psychologie in der Bun­
desrepublik sowohl von niedergelassenen
Psychotherapeuten als auch in den ent­
sprechenden Psychosomatischen Fach­
kliniken auch zur Behandlung von Pa­
tienten mit Combat-Streß-Folgen zur
Verfügung gestellt wird. Viele schwerwie­
gende psychiatrische Krankheitsbilder
lassen sich nur unter stationären Bedin­
gungen erfolgreich therapieren. Auch
stellen die neuen Krankheitsbilder häufig
gutachterliche Herausforderungen dar,
die meines Erachtens nur im Rahmen
einer mindestens dreitägigen stationären
Verhaltensbeobachtung möglich sind
(Meermann 1996). Bei den Fachkliniken
ist es sicherlich wichtig, unter Qualitäts­
sicherungsaspekten (Meermann 1995)
die Spreu vom Weizen zu trennen. Fach­
psychotherapie bei solch komplexen
Abb. 10
27
Störungsbildern wie der Posttraumatischen Belastungsstörung benötigt fundierte psychiatrische und psychologische
Kompetenz und ist nicht in unspezifischen Drei – Wochen – Kuren mit marginaler psychologischer Unterfütterung
durch einige Einzelgespräche oder Entspannungsverfahren seriös zu behandeln.
Gefragt sind spezialisierte Einrichtungen
auf kognitiv-verhaltenstherapeutischer
Basis, die unter Qualitätssicherungsaspekten (etwa dem Wissens- und Weiterbildungsstand der Mitarbeiter) dem
gegenwärtigen Stand der Forschung
entprechen müssen.
›
Eine zweite abschließende Frage wäre,
ob wir aus psychiatrisch-psychologischer
Sicht mit dem Begriff der posttraumatischen Belastungsstörung unter therapeutischen und gutachterlichen
Aspekten eine glückliche Wahl getroffen
haben. Der Begriff der PTSD wurde auf
Druck von Vietnamveteranen bzw. deren
juristischer Vertretungen 1980 in das
diagnostische und statistische Manual
der Amerikanischen Psychiatrischen
Gesellschaft (APA) aufgenommen (DSM
III, 1980). Auch 20 Jahre später ist die
Diskussion um die medizinische Notwen­
digkeit bzw. Wissenschaftlichkeit dieses
Syndroms noch nicht erloschen (Shorter
1999, Shephard 2000). Eine distanziert
vergleichende Betrachtung der Syndrome, die im ICD 10 bzw. DSM IV unter
der Begrifflichkeit PTSD aufgelistet wer­
den, zeigt ein weites Spektrum verschie­
denartiger seelischer Störungen, welches
möglicherweise einer klaren definitorischen bzw. sozialrechtlichen Klärung in
Richtung Berufskrankheit oder Wehrdienstbeschädigung eher im Wege steht.
Literatur
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LAZARUS, R. S. & LAUNIER, R. (1978). Stress-related transactions between person and environment. in: PERVIN, L. A & LEWIS, M. (Hrsg).
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YATES, A. (1970) Behavior Therapy. New York: Wiley
28
Präventive Aspekte
bei der Personalauswahl und
Schulung von KSK-Soldaten*
Günther Kreim, Rolf Meermann
Kurzfassung
Stressbelastbarkeit (Stressresistenz) stellt ein Anforderungs- bzw. Auswahlkriterium im Rahmen des Eignungsfeststellungsverfahrens für
Soldaten des Kommandos Spezialkräfte dar. Der Bewerber soll beweisen, dass er auch unter enormer körperlicher Belastung handlungsfähig
bleibt und dass er Denken, Fühlen und Handeln auch in Ausnahmesituationen koordinieren kann. Tests, Fragebogen, Interviews und video­
gestützte Rollenspiele („Verhaltenstests“) sind die Informationsquellen im Rahmen der Psychodiagnostik. Leitlinie der Personalauslese ist
ein ressourcenorientierter Ansatz und die Betonung des Auswahlverfahrens als „dynamischer Prozess“, d.h. als Erkenntnis- und
Bewertungsdialog, bei dem der Bewerber über sein Leistungsbild informiert wird und seine Stärken und Schwächen durchgesprochen sowie
Entwicklungsperspektiven und Trainingsmöglichkeiten gemeinsam mit ihm diskutiert werden.
Stressmanagement beim Kommando Spezialkräfte ergänzt das allgemeine Stresskonzept der Bundeswehr und umfasst Seminare, schriftli­
che Informationsmaterialien, audiovisuelle Hilfsmittel und Workshops. Sportlehrer und Militärgeistliche werden neben Kommandoarzt und
Kommandopsychologe in die Schulung mit einbezogen. Die Themen eines einwöchigen Seminars behandeln u.a. Ruheübungen, Imagi­
nationsverfahren, positives Denken, Konzentrationsübungen, autogenes Training, progressive Muskelrelaxation, Yoga.
Für die Fortschreibung des Stressmanagement-Konzeptes beim KSK sind insbesondere Ansätze der Gesundheitspsychologie, des salutoge­
netischen Paradigmas und der Präventivmedizin richtungweisend.
1. Entwicklung / Entstehung
Im Sommer 1995 wurden in einer inter­
national und querschnittlich angelegten
Studie die notwendigen und erwünschten
Fähigkeiten erfasst, welche hochqualifi­
zierte Polizisten und Soldaten auszeich­
nen. Danach wurde aus den Ergebnissen
des Fragebogens zur Arbeitsanalyse
(FAA) das Anforderungsprofil erstellt.
Dieses Profil umfasst 32 Eignungsdimen­
sionen, die sich wiederum in zwei Grob­
kategorien einteilen lassen, 18 Fähig­
keitsdimensionen wie bspw. Hörsensibilität oder Reaktionsfähigkeit, die durch
einen Testwert repräsentiert sind und
14 Persönlichkeitseigenschaften oder
Verhaltensstile, wie bspw. Zuverlässigkeit,
Belastbarkeit oder Soziale Kompetenz,
welche mit erheblichem Aufwand, in der
Regel multimethodal, erfasst werden
müssen.
2. Methoden
Die psychologische Datenerhebung ge­
schieht in einem sorgfältig konzipierten
methodisch variablen Assessment-CenterVerfahren (JESERICH, 1981, Sarges, 1996,
Kleinmann, 1997): Tests, Fragebogen und
Verhaltensbeobachtung, jeweils in Situationen mit und ohne Belastung, wechseln ab
mit Selbstauskunft in freier Form und teil­
standardisiertem Interview (Schuler, 1986).
3. Bewerber
Der ideale Bewerber ist Feldwebel oder
Offizier in stabiler Beziehung mit vielsei­
tigen Interessen und gradliniger Lebens­
planung. Er sollte notwendige Lehrgänge
bereits absolviert haben. Unteroffiziere
werden bis zum Alter von 32 Jahren,
Offiziere bis zum Alter von 30 Jahren
akzeptiert. Es ist eine Verwendungsdauer
von mindestens 6 Jahren notwendig
(Berufsförderungszeit im Anschluss).
Folgende Kerneigenschaften müssen sich
zeigen:
• lernbereit
• teamfähig
• körperlich leistungsfähig
* Vortrag gehalten auf dem dreitägigen Fachseminar Posttraumatische Belastungsstörung vom 08.-10. Oktober 2001 in der Psychosomatischen Fachklinik Bad Pyrmont.
29
• psychisch belastbar und willensstark
• geistig beweglich
• verantwortungsbewusst und
verschwiegen
Die Soldaten müssen sich dienstlich be­
währt haben und in geordneten Verhält­
nissen leben.
4. Der dynamische Auswahl­
prozess mit Rückkopplung
Potentielle Bewerber werden durch den
Personalwerbetrupp des KSK angespro­
chen, erfahren von Kameraden, durch
Medien und Zeitschriften oder das Inter­
net, wo sie sich für eine erste Kontakt­
aufnahme hinwenden können. Die Be­
werbungsunterlagen werden dann zuge­
sandt oder können aus dem Internet her­
untergeladen werden. Vom KSK erhält
der Bewerber eine schriftliche Eingangs­
bestätigung mit den Regularien und
Bestimmungen des Eignungsfeststell­
ungsverfahrens (EFV) sowie einen Trai­
ningsplan des Sportlehrers, damit die
notwendige körperliche Fitness bis zum
Prüfungstermin sichergestellt werden
kann. Rechtzeitig wird ihm der Termin
für die psychologische Vorauswahl beim
Psychologischen Dienst KSK mitgeteilt.
4.1
Im computergestützten Vortest wird ein
differenziertes kognitives Leistungsprofil
des Bewerbers erhoben, wozu auch aus­
gesuchte Persönlichkeitsdimensionen
und der Stressverarbeitungsfragebogen
von JANKE gehören. Die Reihenfolge der
Prüfaufgaben ist mit der Tagesleistungs­
kurve (Birbaumer, 1996) abgestimmt
›
und stellt allein schon durch den Umfang
eine hohe Anforderung an die Konzen­
trationsfähigkeit und Belastbarkeit der
Prüfungsteilnehmer im kognitiven Be­
reich.
4.2
Im nächsten Schritt erfolgt die Bewer­
tung und Einschätzung der Verhaltens­
potentiale des Bewerbers durch Psycho­
logen und erfahrene Einsatzkräfte. Dabei
liegt der Schwerpunkt auf der Bewertung
von Verhaltensmustern in belastenden
Situationen, von Bewältigungsstrategien
in emotional fordernden Gegebenheiten
und der Einschätzung von Entwicklungs­
perspektiven. Zunehmend wurde in der
Weiterentwicklung der Verfahren dabei
mehr Gewicht auf die Verhaltensprobe
gelegt, da bei diesem Verfahren die
Möglichkeit der Beobachtung unter­
schiedlicher Verhaltensebenen besonders
gegeben ist (Schuler und Funke, 1991).
Hier kann man am ehesten erkennen, ob
das Gesamtverhalten ein in sich stimmi­
ges Bild ergibt. Parallel dazu wird die
sportliche Eignungsprüfung abgenom­
men. Es scheidet aus, wer die definierten
Standards nicht erfüllt. Alle Teilnehmer
erhalten eine differenzierte Rückmeldung
über die von Ihnen erzielten Leistungen.
Stärken werden diskutiert, Schwächen
angesprochen und, wo sinnvoll, Trainings­
programme erarbeitet und aufgegeben.
Die bis dahin erfolgreichen Bewerber
bereiten sich in der Ausbildungs- und
Trainingswoche intensiv auf den Umgang
mit Karte und Kompass, das Arbeiten mit
Skizzen, das Marschieren, Orientieren
und Leben im Felde vor. Eine systemati­
Ergebnisse des Eignungsfeststellungsverfahrens (EFV) in Prozent
50
40
30
20
10
4.3
Den dritten Schritt bildet die Härte- und
Durchschlageübung, bei der es von Mon­
tag- bis Freitagabend gilt, überwiegend
nachts in zahlreichen Teamaufgaben und
einer Marschleistung von über 100 km
unter Beweis zu stellen, dass die mentale
und körperliche Vorbereitung umfang­
reich und vielseitig war und der Wille
dabei zu sein über die mit Sicherheit
aufkommenden Zweifel siegt. Der Leiter
der Auswahlkonferenz eröffnet dem
Bewerber den Eignungsgrad und teilt ihm
festgestellten Förder- und Entwicklungs­
bedarf mit.
4.4
Für die nichterfolgreichen Bewerber fin­
det durch den Personalwerbetrupp ein
Debriefing statt. Gegebenenfalls wird den
Soldaten, die zu einer weiteren Prüfung
zugelassen sind, mit dem Sportlehrer KSK
ein auf ihn zugeschnittener individueller
Trainingsplan erarbeitet, um Defizite ge­
zielt zu beheben.
5. Bewertung des Verfahrens
Das Eignungsfeststellungsverfahren im
Kommando Spezialkräfte ist ein transpa­
rentes Untersuchungsverfahren, bei des­
sen Zusammenstellung großer Wert auf
unabhängige, psychologisch-wissen­
schaftliche Personalauswahl gelegt
wurde. Qualitätssicherung wird für das
eingesetzte Personal und die Methoden
kontinuierlich durchgeführt.
Bewährungsdaten, bis hin zur differen­
zierten Vorgesetztenbewertung nach drei
Jahren, helfen die Gültigkeit der
Eignungsprognose abzusichern (Wottawa,
1983).
6. Ergebnisse
Ausfälle vor
Beginn
Statistische Berechnungen wurden mit
dem Programmpaket STATISTICA der
Firma StatSoft durchgeführt. (Abb. 1) Ausfälle
während des
EFV
Wie leicht zu erkennen ist, überwinden 20 % der Bewerber die Eingangsschwelle.
Nach dem Überlebenslehrgang scheiden
im weiteren Verlauf der Ausbildung
weniger als 1% der Soldaten aus. Es
Bestanden
0
Abb. 1
30
sche Beobachtung der Teilnehmer findet
in dieser Phase nicht statt.
ergibt sich, dass Motivation, Willens­
stärke und Durchhaltevermögen ein guter
Prädiktor für die Eignung zum Komman­
dosoldaten sind. Wer auch die dritte
Woche erfolgreich übersteht, hat in der
Regel die gewünschten Eigenschaften.
Nur ein sehr kleiner Anteil dieser Be­
werber wird dann noch wegen fehlender,
aber nicht kompensierbarer Eigenschafts­
mängel nicht angenommen.
Andersherum betrachtet ist unter denen,
die von sich aus aufgeben oder an der
Belastung scheitern, der Anteil deutlich
höher, der die allgemeinen Eignungs­
kriterien nicht erfüllen würde.
Die Bewerber können grob in zwei Grup­
pen eingeteilt werden: Bewerber, die mit
der Absicht kommen, in ihrem bereits
eingeschlagenen Berufsweg die höchste
Stufe zu erreichen, was für sie gleichbe­
deutend mit der Ausbildung im KSK ist,
und solche Bewerber, die nach oder
wegen Veränderungen in ihrem Lebens­
vollzug eine neue Orientierung suchen
und/oder es noch einmal wissen wollen.
Sie unterscheiden sich wenig in Bezug
auf das Antwortverhalten im Persönlich­
keitsinventar. In Punkto Leistungsbereit­
schaft, Ausdauer und gesundheitliche
Sorgen würden die jeweiligen End­
ausprägen genügen, um unsere Klientel
hinreichend zu beschreiben. Erstaunlich
aber ist schon, dass das Gros der ausge­
schiedenen Bewerber sich in den Per­
sönlichkeitsfragebogen nicht signifikant
von den geeigneten unterscheidet.
Signifikante Unterschiede konnten wir
auf dem 5%-Niveau in Bezug zu Präven­
tion und Stress im Stressverarbeitungs­
fragebogen in den Dimensionen:
Aggression, Pharmakaeinnahme und
Reaktionskontrolle feststellen. Wer sich
besser im Griff hat, keine Medikamente,
Alkohol oder ähnliches benötigt um ruhig
zu bleiben und weniger mit seinen eige­
nen Reaktionen beschäftigt ist, hat die
Nase auch unter extremer Belastung
vorn, könnte man diese Ergebnisse zu­
sammenfassen. Nun ist es nicht uninter­
essant zu wissen ob Testverfahren, die
vorgeben Leistung unter Belastung zu
messen, sich auch in unserer Gruppe als
tauglich erweisen. Wir führen den Kon­
zentrationsbelastungstest von KIRSCH
(KBT) durch und stellen fest, dass
Teilnehmer mit guter Konzentrations­
leistung signifikant weniger Pharmaka
einnehmen und signifikant weniger zum
Stressbewältigungsmittel „Ersatzbefrie­
digung“ greifen.
7. Problembereiche
Aus den vorhandenen Interessenten wer­
den zu wenig ernsthafte Bewerber ge­
wonnen. Dies liegt zum einen an der
unzureichenden körperlichen Leistungs­
bereitschaft und Willensstärke, zum
anderen aber an der zu geringen Attrak­
tivität der Verwendung. So beträgt die
Zulage für Kommandosoldaten netto ca.
70.-- €, die weiteren beruflichen
Perspektiven sind noch zu undeutlich und
es fehlt ein durchgängiges Karriere­
konzept. Die Ausbildungs- und Auftrags­
dichte im KSK steht einem geordneten
Familienleben entgegen. So ist es nicht
verwunderlich, dass Trennung vom Le­
benspartner als häufige Reaktion auf die
außerordentliche dienstliche Belastung
festzustellen ist.
Besondere Aufgaben erfordern besondere
Charaktere. Spezialisten sind nicht von
der Stange zu haben. Gelegentlich
bedeutet fachliche Spezialisierung auch
eine allgemeine Verengung der Wahrneh­
mungs- und Interessenlage. Der eigene
Lebensentwurf kann nicht zur Deckung
gebracht werden mit dem Anforderungs­
profil (Auftrag) oder mit anderen Lebens­
entwürfen (Teamfähigkeit, soziale Kom­
petenz, Leadership). Solche einseitigen
persönlichen Schieflagen zu erkennen
und zu analysieren, ist mit die heikelste
Aufgabe der Selektion und führt oft zu
unbefriedigenden Urteilen. Dabei befin­
den wir uns in dem Dilemma, geeignete
Bewerber fälschlicherweise abzulehnen
(wird in der Statistik als Fehler erster Art
bezeichnet), um die Wahrscheinlichkeit
zu minimieren ungeeignete Bewerber
einzustellen.
8. Stressmanagement
Stressmanagement ist bei zeit- und res­
sourcenkritischen Führungsaufgaben ein
zentrales Problem und gewinnt mit
wachsender Aufgabenvielfalt für die
deutschen Soldaten an Bedeutung
(Materialien, Zentrum Innere Führung,
1990). Die Bewältigung dieser neuen
Aufgaben verlangt auch neue Wege in
der Aufgabenbegleitung. Neben dem all­
gemeinen Stresskonzept der Bundeswehr
hat das KSK erkannt, dass die besondere
Aufgabenstellung ein gesondertes Kon­
zept zur Prävention und Betreuung ver­
langt. Im Hinblick auf Stressbewältigung
kann man prinzipiell auf zweifache Weise
einwirken: auf sich selbst und auf die
Umstände. So kann man selbst seine
Belastbarkeit erhöhen: Körperlich, indem
man Sport betreibt, physiologisch durch
eine Umstellung der Ernährung, mental
durch Gehirnjogging oder sozial durch
intensivere Kontakte im Freundeskreis.
Die Belastung kann man reduzieren
durch eine klare Zeit- und Aufgaben­
struktur, durch gewichten, delegieren,
ablehnen, durch das Ausnutzen aller
Ressourcen und den Aufbau eines sozia­
len Netzwerkes. So zum Beispiel in:
(Sicherheitsreport 4, 1994) oder (Man­
gelsdorff, 1993, Meichenbaum, 1993).
Wir haben in diesem Zusammenhang
eine begleitende Untersuchung zum
Thema Informationsverarbeitung unter
Belastung durchgeführt und erstaunliche
Resultate erhalten. Es wurden fünf typi­
sche Aufgabengebiete für je sechs Kom­
mandosoldaten untersucht: Taktischer
Marsch in schwierigem Gelände, An­
näherung im Boot bei Wellengang, ein­
satzmäßige Schießausbildung, Zugriff bei
einer Geisellage und Aufstieg im Fels. Für
jede dieser fünf Gruppen gab es dazu
eine Vergleichssituation „Ruhe“, in wel­
cher die Soldaten lediglich zu warten
hatten. Die Aufgabenstellung bestand
nun darin, einen typischen militärischen
Auftrag aufzunehmen (in 3 Minuten aus­
wendig zu lernen) und diesen etwa eine
Stunde später an seine Einheit (darge­
stellt durch ein Tonbandgerät) weiterzu­
geben. Die Fehler in der Informations­
übermittlung wurden als abhängige
Variable erfasst. Zum besseren Ver­
ständnis kann man sich dies in etwa so
vorstellen, als ob man in einer völlig
fremden Stadt einen Plan erhält und sich
in drei Minuten einen bestimmten Weg
anhand von vier genau bezeichneten
Punkten, drei Anschriften, vier Tele­
fonnummern, drei Codezahlen und zwei
Datumsangaben, einprägen muss, welche
eine Stunde später ohne Unterlagen
exakt wiederzugeben sind.
31
›
Informationsverlust bei fünf Aufgaben unter Ruhe- und
Belastungsbedingungen
9. Ausblick und
Schlussbemerkung
Der leistungsfähige, hochspezialisierte
Mensch als „Ressource“ für außerge­
wöhnliche Tätigkeiten ist begrenzt und
so stellt sich regelmäßig die Frage, ob
nicht über der intensiven Suche nach
dem Besten, die Hege und Pflege des
Nachwuchses vergessen wird. Das neue
Personalkonzept wird genau in diesem
Punkt Neuerungen bringen und Soldaten
vor dem Eintritt in das KSK rechtzeitig in
der Ausbildung und Qualifikation an
diese besondere Aufgabe heranführen.
Anzahl Fehler
9
6
3
0
Marsch
Wasser
Zugriff
Belastung
Schießen
Gebirge
Ruhe
Abb. 2
Die Ergebnisse dieser Untersuchung sind
in Abb.2 dargestellt. Die Verrechnung
erfolgte wieder mit Statistica Vers. 6.0 im
zweifaktoriellen varianzanalytischen
Design. Der Haupteffekt (Ruhe/Belastung)
ist signifikant. Knapp das 10%-Niveau
verfehlt haben die Mittelwertsunter­
scheide bei den Bedingungen „Wasser“
und „Gebirge“. Dies aber sind genau jene
Lagen, in denen mit den meisten unkal­
kulierbaren Risiken zu rechnen ist. Ein
Fehltritt kann unmittelbar lebensgefähr­
dende Folgen haben: einen Sturz ins
Wasser oder den Absturz am Berg. Die
andern Situationen sind weitgehend
standardisiert und vielfach geübt worden.
Zwar nur ein statistischer Trend, der aber
für weitere Untersuchungen viel ver­
spricht.
Wir können daraus entnehmen, dass mit
steigender Belastung die Behaltensleis­
tung abnimmt und dürfen vermuten, dass
Übung und Automatisierung von Verhal­
tenssequenzen, wie im Stresskonzept
vermutet, kognitive Kapazität für das Be­
halten von relevanter Information frei­
setzt.
Das sportliche Trainingskonzept KSK
(Kommandotraining) wurde also so aus­
gerichtet, dass die Soldaten lernen, viele
Handlungssequenzen in den Bereich der
automatisierten Handlungen zu verlagern
um damit mehr Kapazität für neue Gege­
benheiten zur Verfügung zu haben. Die
Zeitansätze für Sport- und Leistungstrai32
ning sind entsprechend großzügig. Die
Ernährung wird in besonderer Weise zu­
sammengestellt und trägt zur Leistungs­
stabilisierung bei.
In Seminaren erlernen die Soldaten das
Konzept des Debriefings im Stressma­
nagementmodell nach Mitchell (Everly
und Mitchell,1994, Igl und Müller-Lange,
1998). Sie setzen sich aktiv mit verschie­
denen Entspannungsverfahren auseinan­
der, erlernen das Verfahren der progressi­
ven Muskelrelaxation (PMR) nach
Jacobson (Jacobson,1978) und haben die
Gelegenheit, die für ihre Tätigkeit opti­
mierten Ruhe-, Konzentrations- und
Imaginationsübungen einzuüben. Die
wesentlichen Punkte stehen auf Falt­
karten zur Verfügung und können auch
im Einsatz jederzeit nachgeschlagen wer­
den (Field Manual,1994, Mangelsdorff,
1993). Die Unterweisungen werden in
regelmäßigem Turnus bzw. vor Einsätzen
wiederholt. Zeit zur Kontemplation bietet
vor allem die Militärseelsorge. Dort wird
für ethisch sinnstiftenden Gedankenaus­
tausch Raum gegeben, den Familien wird
abseits des dienstlichen Alltags Zeit zur
Entspannung geboten und es wird durch
interessante Angebote z. B. zur Medita­
tion und Selbstfindung zur Persönlich­
keitsentwicklung beigetragen. Der einzel­
ne Soldat ist aktiv an dieser Ausbildung
beteiligt, er muss lediglich das für seine
Bedürfnisse passende Stressvermeidungs­
repertoire zusammenstellen.
Jede Auswahl zielt auf die jeweils Besten.
Jede Testsituation ist insofern künstlich
als sie hinter der Realität zurück bleibt.
Wie in jedem risikoreichen Beruf gefähr­
det unkontrolliertes Handeln des Kom­
mandosoldaten den Auftrag und Men­
schen. Unser Ziel muss es also sein, mit
der Vorhersage die Verhaltensmuster der
Realität so gut wie möglich zu erreichen
ohne dabei ethische Grenzen zu verletzen
oder wissenschaftliche Standards zu
missachten. Die Prüfung muss einerseits
fordernd und realitätsnah stattfinden,
andererseits aber, bei größtmöglicher
Rückmeldung, fair und transparent für
den Bewerber sein. Wir hoffen, dass
unser Bemühen, das Eignungsfeststellungs­
verfahren im Kommando Spezialkräfte an
diesen Kriterien auszurichten, deutlich
wurde.
›
Literatur
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Arbeitspapier (1997). Stressmanagement – oder: Wie bleibe ich stark? Koblenz: Zentrum Innere Führung.
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Birbaumer, N., Schmidt, R. F. (1996). Biologische Psychologie. Berlin: Springer.
Everly, G. S., Mitchell, J. T. (1994) Human Elements Training For Emergency Services, Public Safety and Disaster Personnel. Ellicott City:
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Kleinmann, M. (1997). Assessment-Center: Stand der Forschung – Konsequenzen für die Praxis. Göttingen: Verlag für Angewandte
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Meichenbaum, D. (1993). Application Of Stress Inoculation Training To Military Population: A Cognitve-Behavioral Approach. Reader,
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33
Präventions- und
Behandlungskonzept
zur Bewältigung einsatzbedingter psychischer
Belastungen bei Soldaten der Bundeswehr
Hans-Heiner Hahne, Karl-Heinz Biesold
Kurzfassung
Auf der Basis jahrzehntelanger Erfahrungen anderer Armeen in Kriegs- und humanitären Einsätzen, in Verbindung mit eigenen Erfahrungen
und Untersuchungen, wurde in der Bundeswehr ein Rahmenkonzept zur Prävention und Behandlung einsatzbedingter psychischer
Belastungen entwickelt, das in seinen Einzelheiten (drei Phasen – drei Ebenen) erläutert wird. Es wird auf die spezifischen Stressoren in
humanitären Einsätzen hingewiesen und Untersuchungsergebnisse des Sozialwissenschaftlichen Institutes der Bundeswehr vorgestellt.
Vorliegende Erfahrungen
Mit dem Beginn der Auslandseinsätze der
Bundeswehr in Kambodscha (1992),
Somalia (1993-94), aber insbesondere
dann in Bosnien (IFOR; SFOR seit 1995)
und schließlich im Kosovo (KFOR seit
1999) mussten vorher angestellte Überle­
gungen zu psychischen Belastungen der
Soldaten und dadurch möglicherweise
bedingten Ausfällen vor dem Hintergrund
der Erfahrungen aus den großen Kriegen
des 20. Jahrhunderts (1. Weltkrieg 1914­
18, 2. Weltkrieg 1939-45), aus dem KoreaKrieg (1950-53) und Vietnam-Krieg (1965­
75), aus den Kriegen im Nahen Osten
(Yom-Kippur-Krieg 1973, Libanonkrieg
1982) und dem Golfkrieg „Desert Storm“
(1991) auch in der Bundeswehr zu einem
Konzept zur Bewältigung einsatzbedingter
psychischer Belastungen führen.
Seit 1995 wurden verschieden Konzepte
vorgelegt, die letztlich in dem vorläufig
endgültigen „Rahmenkonzept zur Bewäl­
tigung psychischer Belastungen bei Sol­
daten“ vom 07.03.2000 (BMVg, 2000)
zusammengefasst wurden.
Auf welche Erfahrungen konnte zurück­
gegriffen werden?
Für den 1. und 2. Weltkrieg nimmt man
je nach Literaturquelle Ausfallraten bis
zu 40 % an, die durch psychische Kampf­
reaktionen bedingt waren; die
Amerikaner gehen hier von 23 % für den
2. Weltkrieg aus.
Für den Korea- und Vietnam-Krieg nen­
nen die Amerikaner 12 % psychisch Ver­
wundete (psychiatric casualties) nach­
dem man die „one-year-rotation of com­
bat troops“ etabliert hatte, sowie eine
Repatriierungsrate (evacuation rate) auf­
grund psychischer Symptome – ein­
schließlich Drogenmissbrauch – von 6 %.
Die Israelis geben für die beiden Kriege
im Nahen Osten (Yom-Kippur 1973,
Libanon 1982) an, dass bis zu 30 % der
Ausfälle auf psychische Verwundungen
zurückzuführen waren (Solomon 1997).
Es zeigte sich, dass eine frontnahe
Behandlung wichtig war, bei der 60 %
der Soldaten zu ihren Einheiten und in
ihre frühere Funktion zurückkehrten,
gegenüber nur 22 % derer, die in
Zivilkrankenhäusern behandelt wurden.
Bei frontnaher Behandlung entwickelten
später 40 % der Soldaten eine posttrau­
matische Belastungsstörung (PTBS)
gegenüber 71 %, die in Zivilkranken­
häusern behandelt wurden.
Ähnliche Ergebnisse hatte es schon im 1.
Weltkrieg gegeben: Die britische Armee
in Frankreich evakuierte zunächst die
Soldaten mit „shell-shock“ und Kriegs­
neurosen als Diagnose nach England,
wodurch die psychischen Störungen
chronifizierten, sodass dadurch 30 % der
Entlassungen aus der Armee bedingt
wurden. Erst als die deutschen U-Boote
die Repatriierung nicht mehr erlaubten,
wurde frontnah behandelt, wodurch
66 % nach 6-tägiger Behandlung wieder
kampffähig wurden. Ebenso verhielten
sich die Franzosen: von den 91 % front­
nah behandelten Soldaten wurde über
70 % wieder kampffähig.
Bei UN-Einsätzen wird die Häufigkeit ein­
satzbedingter posttraumatischer Belas­
tungsstörungen heute zwischen 1,6 und
8 % angegeben (Weisaeth, 1997), allge­
meine psychische Probleme erreichen je
nach Einsatz sogar Werte bis zu 45 %.
35
Bei Repatriierung (evacuation) in den UNEinsätzen spielen in über 30 % psychi­
sche Probleme eine bestimmende Rolle.
Behandlungsgrundsätze für
die Combat-Stress-Reaction
Aus allen Erfahrungen konnten die fol­
genden fünf – heute unbestrittenen –
Grundsätze der Behandlung von CombatStress-Reaction abgeleitet werden (IPESS):
1. Immediacy = sofort eingreifen,
Zuwarten führt zur
Chronifizierung
2. Proximity = frontnah behandeln,
nicht abschieben, nicht
aus dem militärischen
Milieu entfernen
3. Expectancy= zuversichtliche Hal­
tung vermitteln „gute
Prognose“
4. Simplicity = einfache Methoden anwenden (food, sleep, exer­
cise, hopefull attitude)
5. Shortness = kurzes Behandlungs­
programm im militäri­
schen Rahmen
Das Einhalten dieser Grundsätze im Sinne
einer abgeschlossenen Endbehandlung ist
auf jeder Ebene (Kameradenhilfe, Vorge­
setztenführung, Truppenarzt,
Feldlazarett) erforderlich!
›
›
Erst wenn ein solches Vorgehen in einer
angemessenen Frist (4-6 Tage) keinen
Erfolg erbringt, darf und sollte der
Patient repatriiert werden!
Stressoren in humanitären
Einsätzen
Mit welchen Belastungen (Stressoren) ist
im Rahmen von Einsätzen der UN bzw.
der NATO zu rechnen? Sicher sind die
Soldaten solcher Missionen in der Regel
keinen heftigen Krampfhandlungen wie
zuletzt 1991 im Golfkrieg (Crago, 1997)
ausgesetzt, dennoch bestehen gewichti­
ge, spezifische Stressoren (Wothe, 2001):
- Antizipation von Tod und Verwundung
- Gefahr durch Geiselnahme und
Gefangenschaft
- Bindung an Einsatzgrundsätze, die
keine angemessene Lösung der aktuel­
len Situation zulassen („rules of enga­
gement“), dadurch erforderte Passi­
vität, Gefühle der Ungeschütztheit
- Erleben von Gräueltaten, Konfrontation
mit verletzten oder toten Zivilisten,
insbesondere mit Kindern
- Unsicherheit bei mangelhafter Infor­
mation, unbekanntem soziokulturellem
Umfeld, mangelnde Sprachkenntnisse
(Sprachbarriere)
- Unsicherheit bei schnell wechselnden
Lagen, sich widersprechenden
Stressoren / Bedrohungen bei humanitären Einsätzen
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
Minengefahr
Versagen von Vorgesetzten in gefährlichen Situationen
Gefährliche Situationen außerhalb des Lagers
Unberechenbares Verhalten von Kameraden
Unfall oder Krankheit
Unfall mit Waffen
Selbst Waffengewalt einsetzen zu müssen
Aufgaben nicht gewachsen zu sein
Bewaffnete Übergriffe auf das Lager
Tod
83
46
37
36
35
24
13
9
6
5
%
%
%
%
%
%
%
%
%
%
Bei der überwiegenden Zahl der psychi­
schen Belastungen, die zur Beratung,
zum ärztlichen oder psychologischen
Gespräch oder gar zur nervenärztlichen
Intervention führen, steht heute bei frie­
denserhaltenden Missionen nicht die
akute Kampfreaktion (Combat-StressReaction) im Vordergrund, sondern viel­
mehr einzelne oder additiv traumatisie­
rend wirkende Stressoren.
Eine Untersuchung des Sozialwissen­
schaftlichen Institutes der Bundeswehr
hat 1998/99 die in Tab. 1 aufgeführten
Ergebnisse bei Befragungen von Soldaten
des V. Kontingent SFOR (Sarajevo/
Bosnien) hinsichtlich der Stressoren bzw.
konkreter Bedrohung erbracht (SOWI, in
Vorbereitung).
Am meisten bedrückte die Soldaten der
Hass zwischen den Bevölkerungsgruppen,
die Situation der Kinder und die Bilder
der Zerstörung und des Terrors. Die
Häufigkeit, mit der „psychisch sehr bela­
stende Situation“ in dieser Untersuchung
in den einzelnen Dienstgradgruppen
genannt wurden, war im Mittel 29,6 %.
Diese Daten zeigen, dass es notwendig
ist, auch bei UN-Einsätzen und NATO­
peace-keeping-Maßnahmen Prävention
zu betreiben und auf die Behandlung
psychisch traumatisierender Belastungen
und Ereignisse vorbereitet zu sein.
Das Konzept zur Bewältigung
psychischer Belastungen
Tab. 1
Clausewitz-Zitat
„Es ist unendlich wichtig, dass der Soldat, hoch oder niedrig, auf welcher Stufe er
auch stehe, diejenigen Erscheinungen des Krieges, die ihn beim erstenmal in
Verwunderung und Verlegenheit setzen, nicht erst im Krieg zum erstenmal sehe;
sind sie ihm früher nur ein einziges Mal vorgekommen, so ist er schon halb damit
vertraut.“
Clausewitz
Abb. 1
36
Aufträgen, unklare Rollenzuweisung
- Gefahr durch Minen
- Trennung von Partnerin/Partner/Familie
- Einschränkung der Intimsphäre,
Einschränkung der Sexualität
Das „Rahmenkonzept zur Bewältigung
psychischer Belastungen bei Soldaten“ ist
aus dem „Medizinisch-psychologischen
Stresskonzept der Bundeswehr“ hervor­
gegangen (BMVg, 2000).
Die Grundannahmen sind, dass
• (Combat) Stress reaction eine nor­
male Reaktion auf ein nicht normales
Ereignis bzw. auf eine nicht normale,
außergewöhnliche Situation ist.
• Jeder kann unabhängig von Stellung
und Dienstgrad davon betroffen sein.
• Sie ist kein Anzeichen von Feigheit
oder für eine Charakterschwäche oder
›
(= Phasen) des Einsatzes: Einsatzvor­
bereitung, Einsatzdurchführung und
Einsatznachbereitung.
Drei Phasen des Einsatzes
Phase 1
Vor dem Einsatz
(Vorbereitung)
Phase 2
Im Einsatz
(Begleitung)
Auseinandersetzung mit
den zu erwartenden
Belastungen
Erkennen akuter psychi­
scher Belastungen
und Stressreaktionen
Maßnahmen zur
Stärkung des inneren
Gleichgewichts
Sofortmaßnahmen (z.B.
CISM nach Mitchell) zur
Vermeidung von
Folgeschäden (PTBS)
Phase 3
Nach dem Einsatz
(Nachbereitung)
Reintegration
Erkennen und Behandeln
von Folgeschäden (PTBS)
Einsatzvorbereitung
Der Schwerpunkt liegt bei den Auslands­
einsätzen der Bundeswehr auf der Vor­
bereitung, d.h. in der Phase I, d.h. auf der
Prävention, die sehr sorgfältig und um­
fangreich durchgeführt wird:
Organisatorische und
administrative
Maßnahmen zur
Minimierung von
Stressoren
Abb. 2
›
Drei Ebenen psychischer Betreuung
Phase 1
Vor dem Einsatz
(Vorbereitung)
Phase 2
Im Einsatz
(Begleitung)
Phase 3
Nach dem Einsatz
(Nachbereitung)
Ebene 1
Selbst- und Kameradenhilfe; Hilfe durch Vorgesetzte; Peers
Ebene 2
Truppenarzt, Truppenpsychologe
(unterstützt durch Militärpfarrer, Sozialarbeiter, Peers)
Abb. 3
Es ist wichtig, dass jeder Soldat diese
Grundannahmen verinnerlicht hat, des­
halb ist ihre Vermittlung ein essentieller
Baustein in der Vorausbildungsphase.
Eine wesentliche Präventivmaßnahme ist
- Personalauswahl (persönliche Fitness,
emotionale Stabilität),
- Reduzierung trennungsbedingter Fak­
toren, Herstellen von Kommunikations­
möglichkeiten,
- Informationen über Auftrag, Gefähr­
dungsrisiko, Lebensbedingungen im
Einsatz,
- gezielte Vorbereitung auf Critical
Incidents (Training in Rollenspielen),
- Lernen, Stress-Symptome zu erkennen,
- Erlernen von Stressbewältigungs­
strategien,
- Ausbildung der Führer (Führen unter
Belastung, Gesprächsführung, Stress­
bewältigung).
In der Einsatzbegleitung muß beachtet
werden:
Ebene 3
Psychiater, Ärztlicher / Psychologischer Psychotherapeut
für eine mit Defiziten behaftete Person
(wie noch von der Militärpsychiatrie
im 2. Weltkrieg behauptet).
• Man kann sich vorbereiten, Strategien
gegen Stress-Reaktionen lernen:
Stress-Desensibilisierung, d. h. Stär­
kung der psychischen Belastbarkeit
vor dem Einsatz ist möglich.
Das Drei-Ebenen-Konzept umfasst die
Stufen (= Ebenen) der Hilfen bei psychi­
schen Belastungen im Einsatz entspre­
chend der Behandlungsgrundsätze
(IPESS) je nach Ausmaß und Notwen­
digkeit. (Abb.3)
natürlich eine realitätsnahe militärische
Vorbereitung auf die Einsätze, wie sie in
der Vorausbildung umgesetzt wird
(Matyschock 2001; Folkerts 2001; Bucher
2001), gemäß dem alten ClausewitzZitat: (Abb.1)
Die tragenden Säulen des medizinisch­
psychologischen Stress-Konzeptes sind
das Drei-Phasen-Modell und das DreiEbenen-Konzept. (Abb.2)
Das Drei-Phasen-Modell regelt die Maß­
nahmen in den verschiedenen Stadien
- Erkennen und Reagieren auf akute
psychische Stressreaktionen
- Prävention von Folgeschäden
(Debriefing, Psychiater, ggf. Kriseninter­
ventionsteam)
- Erholungsphasen schaffen
- allgemeine Betreuung (Sport, Unter­
haltungsangebote, Betreuungsfahrten,
Kurzurlaub)
- Angehörigenbetreuung im Heimatland
(Familienbetreuungszentren)
In der Einsatznachbereitung ist
wichtig:
- Beginn schon im Einsatzland
(Informationen, Gesprächsrunden)
- Urlaub nach Einsatzende
- Reintegrationsphase mit
Reintegrationsseminaren.
37
›
Gesamtkonzept der Einsatzbegleitung
EINSATZBEGLEITUNG
ZInFü
1)
Im Einsatz
PEERS
Psychol. Selbstu. Kameradenhilfe
Prävention:
- Vorbereitung
- Ausbildung
Nachbereitung
„Defusing“
(Konfliktbewältigung)
örtlich ENG
BwKrHs 3)
2)
ggf. Psychotherapie
Truppenarzt
Psychologe
Psychiater
im
Einsatz
FAMILIEN- UND ANGEHÖRIGENBETREUUNG
Sozialpädagogen / -arbeiter, Militärpfarrer, Psychologen, militärisches Personal
In Planung:
- Unfälle im Inland
- Katastrophen im Inland
1) Zentrum Innere Führung der Bundeswehr
2) Einsatznachbereitungsgruppe
3) Bundeswehrkrankenhaus
ggf.
ZWEI KRISENINTERVENTIONS-TEAMS
(für Psychotraumata befähigte Debriefer)
1 Psychiater / Psychotherapeut
1 Psychologe
2 kompetente Helfer (Uffz)
Abb. 4
Reintegrationsseminare werden für alle
Soldaten über 1 – 2 Tage in Gruppen von
ca. 20 Teilnehmern durch dafür ausge­
bildete „Moderatoren“ durchgeführt, die
von Militärseelsorgern, Sozialarbeitern,
Psychologen, ggf. auch Psychiatern,
unterstützt werden.
Ziele sind:
- emotionale Spannungen abbauen
- erlebte Störungen und Belastungen
offen ansprechen
- sich auf die weitere Zukunft einzustel­
len (Dienst in der Heimat)
- Angebot von Einzelgesprächen oder
Partnerberatung, wenn erforderlich
- Erkennen von Behandlungsbedarf, vor
allem von posttraumatischen
Belastungsstörungen.
Das umfassende Konzept soll sicher stel­
len, dass durch eine intensive Vorberei­
tung psychische Belastungen primär bes­
ser antizipiert werden, sekundär rechtzei­
38
tig erkannt und richtig abgebaut werden
und tertiär – soweit erforderlich – einer
adäquaten Behandlung zugeführt wer­
den, sodass selbst bei Auftreten von
posttraumatischen Belastungsstörungen
die Prognose für die seelische Gesundheit
der Soldaten insgesamt als positiv einge­
schätzt werden darf. (Abb.4)
›
Literatur
BMVg – Bundesministerium der Verteidigung, Fü S I 3 (2000). Rahmenkonzept zur Bewältigung psychischer Belastungen bei Soldaten.
Bonn.
Bucher, E. (2001). Truppenpsychologische Aspekte der Kontingentausbildung am VN-Ausbildungszentrum der Bundeswehr. In K. Puzicha,
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Psychotraumatologie im humanitären Hilfseinsatz (S.13-35). Beiträge Wehrmedizin und Wehrpharmazie, Bonn: beta-Verlag.
Folkerts, H.-J. (2001). Die VN-Ausbildung in Hammelburg. In K. Puzicha, D. Hansen & W. Weber (Hrsg.), Psychologie für Einsatz und Notfall
(S.128-134). Bonn: Bernard & Graefe Verlag.
Matyschock, A. (2001). Stressimpfungsprogramme der Bundeswehr. In K. Puzicha, D. Hansen & W. Weber (Hrsg.), Psychologie für Einsatz
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Solomon, Z. (1997). Akute Kampfreaktion und PTSD – Die israelische Erfahrung. In T. Sporner (Hrsg.), Stressbewältigung und
Psychotraumatologie im humanitären Hilfseinsatz (S.92 – 112). Beiträge Wehrmedizin und Wehrpharmazie, Bonn: beta-Verlag.
SOWI – Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr, Strausberg – Studie: Nikutta-Wasmuth, U., Konfliktbewältigungsstrategien,
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Weisaeth, L. (1997). Streß bei friedenserhaltenden UN-Einsätzen. In T. Sporner (Hrsg.), Stressbewältigung und Psychotraumatologie im
humanitären Hilfseinsatz (S.113-125). Beiträge Wehrmedizin und Wehrpharmazie, Bonn: beta-Verlag.
Wothe, K. (2001). Belastungsfaktoren im Einsatz. In K. Puzicha, D. Hansen & W. Weber (Hrsg.), Psychologie für Einsatz und Notfall
(S.65-71). Bonn: Bernard & Graefe Verlag.
39
Therapie psychischer
Traumatisierungen
bei Soldaten der Bundeswehr
Klaus Barre, Karl-Heinz Biesold
Kurzfassung
Traumatherapie ist eine spezifische Form der Psychotherapie. Sie orientiert sich schulübergreifend am Drei-Phasen-Modell von P. Janet. Im
Bundeswehrkrankenhaus Hamburg werden seit 1994 Soldaten mit einsatzbedingten und einsatzunabhängigen psychotraumatischen
Syndromen behandelt. Dabei wird im Rahmen eines integrativen Therapieansatzes insbesondere Eye-Movement-Desensitization-andReprocessing (EMDR) als therapeutische Methode eingesetzt. Der therapeutische Ansatz wird erläutert. Auf die spezifischen Bedingungen
im soldatischen Umfeld und anderen Gefahrenberufen wird eingegangen.
Einleitung
Heute wird im Umfeld von „Gefahren­
berufen“ vielerorts immer noch wie selbst­
verständlich davon ausgegangen, dass
Helfer auch mit den schrecklichsten und
grausamsten Erlebnissen umgehen kön­
nen, als wären sie wie Siegfried in der
Nibelungensage (seelisch) in Drachenblut
gebadet und daher unverletzbar. Dabei
lehrt gerade der Siegfried-Mythos, dass
Unverwundbarkeit für Menschen nicht zu
haben ist: Trotz aller Abhärtung durch das
Meistern von Notsituationen bleibt doch
immer eine verwundbare Stelle. Viele
Soldaten, Feuerwehrleute, Polizisten und
Notfallhelfer habe diese bittere Erfahrung
machen müssen, wenn die Bilder von
Grauen und Entsetzen auch nachts nicht
weichen wollen und die Fähigkeit, dienst­
lich und privat ein normales Leben zu
führen mehr und mehr zerstört wird.
Traumatherapie ist eine spezielle Form
der Psychotherapie, mit dem Ziel, den Er­
holungsprozess und die Transformation
der traumatischen Erfahrung in Gang zu
setzen, zu unterstützen und zu beschleu­
nigen, wenn die natürliche Verarbeitung
des Traumas (Fischer & Riedesser,1998)
steckengeblieben ist.
Pharmakotherapie
Pharmakotherapie kann die Psychothera­
pie nur unterstützen und ist auf die je­
weils im Vordergrund stehenden Symp­
tome auszurichten. Posttraumatische
Störungen sind pharmakotherapeutisch
nur schwer zu behandelnde Erkrankun­
gen. Ein Spezifikum zur Behandlung aller
Symptome der PTBS gibt es nicht.
Therapieerfahrungen liegen mit der An­
wendung antidepressiv wirksamer selek­
tiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer
(SSRI), Serotonin-Noradrenalin-Wieder­
aufnahmehemmer (SNRI) und MAO-
Hemmer Typ A, sowie Tranquilizern,
Anxiolytika, Antikonvulsiva, Lithium, aty­
pischen Neuroleptika und OpiatAntagonisten vor. Die SSRI gelten heute
als Mittel der ersten Wahl.
Der Einsatz von Psychopharmaka sollte
nur bei PTB-Syndromen mit ausgeprägter
klinischer Symptomatik in Betracht gezo­
gen werden, bzw. wenn bisherige psycho­
therapeutische Bemühungen erfolglos
geblieben sind oder eine Psychotherapie
momentan nicht möglich ist.
Psychotherapie
Das Stufenmodell von P. Janet gilt heute
als Standard der Psychotraumatherapie.
Danach hat die Therapie in mehreren
Schritten zu erfolgen (Abb. 1):
- Stabilisierung
- Traumabearbeitung
- Integration
- Neuorientierung
41
›
Schritte der Traumtherapie
Vertrauens- und
Beziehungsaufbau
Stabilisierung
• Herstellen von Sicherheit
• Erklärung der postexpositorischen Symptome als normale Folge
der anomalen Situation („Psychoedukation“)
• Erlernen von Entspannungs- und Stabilisierungstechniken,
Imaginativen Verfahren
Trauma-Bearbeitung durch
• psychodynamisch eingebettetes EMDR (Eye Movement
Desensitization and Reprocessing) nach Francine Shapiro oder
• MPTT (mehrdimensionale psychodynamische Traumatherapie)
nach G. Fischer
• traumaorientierte Verhaltenstherapie
Neuorientierung
• Wiedergewinnung des Vertrauens in zwischenmenschliche
Hilfe und Zuverlässigkeit, Aufbau gestörter Beziehungen
• Wiederherstellung der Identität und des Selbstverständnisses
• Transformation des Traumas (Sinnfindung) – z. B. soziales
Engagement
Abb. 1
Ein wesentlicher Gesichtspunkt ist dabei,
die Vermeidung von Reizen, die mit dem
Trauma in Verbindung stehen, aufzuhe­
ben und durch eine Bewältigungserfah­
rung zu ersetzen (Maercker,1997).
1. Phase: Stabilisierung
Die exzessive Vermeidung aller Reize, die
an Traumaerfahrung erinnern, kann ein­
geordnet werden als Ergebnis eines Ab­
gleichs zwischen befürchteter Belastung
und individuellen Bewältigungsmöglich­
keiten. Ist die Traumaerfahrung zu
intensiv, und/oder sind die Bewältigungs­
möglichkeiten zu gering, müssen zu­
nächst Maßnahmen der Stabilisierung
eingeleitet werden, damit eine Durch­
arbeitung des Traumas nicht am Wider­
stand des Patienten scheitert (Redde­
mann &. Sachsse 1997). Die Stabilisie­
rung hat den Sinn, den Patienten soweit
zu stärken, dass es in der nachfolgenden
Konfrontationsphase nicht zu einer Über­
flutung mit Traumaerinnerungen kommt.
Dies käme einer Retraumatisierung
gleich, die u.U. zu einer erheblichen
Symptomverschlechterung führen kann
und eine häufige Ursache für Therapie­
abbrüche darstellt.
42
Als Folge einer traumatischen Erfahrung
stellt sich ein verändertes Erleben ein,
das als „disorder of arousal“, als ein Zu­
stand fast ständig erhöhter Erregung und
Anspannung treffend charakterisiert wor­
den ist (Mitchell & Everly, 1998).
Betroffene erleben dies mit großer Beun­
ruhigung, besonders, wenn sie sich ihren
Zustand nicht erklären können. Gerade
Angehörige von Hoch-Risiko-Berufen emp­
finden dies gemeinhin als beschämenden
Verlust der Kontrolle über sich selber und
ihre Lebenssituation. Sie verlieren das
Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und
leben daher oft in der Befürchtung, Kame­
raden könnten ihren labilen Zustand be­
merken und die Achtung vor Ihnen ver­
lieren. Die Angst, „nicht mehr normal“ zu
sein, schleicht sich ein. Große Energie
wird darauf verwendet, die Fassade der
„Normalität“ aufrecht zu erhalten und
die aufdrängenden Erinnerungen an das
Erlebte zu unterdrücken – nicht selten
durch Alkohol. In einem Teufelskreis fehl­
geschlagener Bewältigungsversuche ge­
raten viele Betroffene immer tiefer in
einen Symptomstrudel, aus dem sie sich
allein nicht mehr zu befreien vermögen.
Dem Aufbau einer tragfähigen, vertrau­
ensvollen Beziehung gleich zu Beginn
kommt daher besonders in diesem Um­
feld eine zentrale Bedeutung zu. Sie ori­
entiert sich an dem Modell einer „distan­
zierten Parteilichkeit“ (Reddemann &
Sachsse, 1997). Der Patient muss das
Gefühl von Schutz und Sicherheit ent­
wickeln können. Es wird alles vermieden,
was zu einer Retraumatisierung führen
könnte, insbesondere jede Form von
Sensationslust und Voyeurismus. Die the­
rapeutische Haltung sollte von empathi­
scher Sachlichkeit getragen sein. Ganz
bewusst wird dem Traumatisierten ein
aktiver Part im therapeutischen Prozess
überlassen. Die Metapher eines LKWFahrers, der beim rückwärts rangieren
einen Einweiser beizieht, nicht weil die­
ser besser fahren kann, sondern weil er
einen anderen Blickwinkel hat, wird von
den Betroffenen schnell verstanden und
oft erleichtert angenommen.
Selbstverständlich darf nicht aus dem
Blickfeld geraten, dass die Arbeit im
Bundeswehrkrankenhaus für Soldaten
innerhalb eines „betriebsärztlichen“
Systems erfolgt, dem der Patient deshalb
eventuell mit Misstrauen begegnet.
Tranzparenz, Aussprache darüber und
verlässliche Solidarität mit dem
Betroffenen sind daher umso wichtiger.
Auf dieser Basis hat sich in der
Zusammenarbeit mit vielen Soldaten
erwiesen, dass in der Wahrnehmung der
Betroffenen dieser anfängliche Nachteil
durch den Vorteil der Vertrautheit der
Therapeuten mit den technischen, ma­
teriellen, strukturellen und soziokulturel­
len Gegebenheiten in der Bundeswehr
mehr als wett gemacht wird. Gerade
Soldaten, die sowohl in zivilen wie auch
Bundeswehr-Institutionen behandelt
worden sind haben dies nachdrücklich
bestätigt.
Normalisierung und
Psychoedukation
Dem Betroffenen wird vermittelt, dass es
sich bei seiner Störung um eine „normale
Reaktion“, einer „normalen Person“ auf
eine unnormale, d.h. krankmachende
Situation handelt (Mitchell & Everly,
1998). Die Zusammenhänge zwischen
Extremsituation, Psychologie und
Psychophysiologie der Stressreaktion
werden dabei adressatengerecht ver­
ständlich vermittelt. Diese
„Psychoedukation“ ist ein unverzichtbarer
Schritt, um Information, Orientierung
und Struktur zu vermitteln. Allein dies
wirkt meist angstreduzierend und entlas­
tet vom „Symptomdruck“.
Addressieren der Besonder­
heit des Berufes
Es hat sich in unserer Arbeit als günstig
erwiesen, das Besondere der Berufssitu­
ation anzusprechen, indem wir hervorhe­
ben, dass der Betroffene seine Trauma­
tisierung gerade deshalb erfahren hat,
weil er standhält und handelt, wo andere
Menschen weglaufen oder gelähmt rea­
gieren. Oft führt dies zu einer spontanen
Entlastung von Scham und Versagens­
gefühlen, weil es die Störung in einen
positiven, wenn man so will „starken“
Kontext einbindet, mit dem sich die
Patienten identifizieren, der zu ihrer
„corporate identity“ gehört.
Würdigen der Bewältigungs­
versuche
Sehr früh werden auch die bisherigen
Bewältigungsversuche angesprochen und
auch dann positiv bewertet, wenn sie
von außen gesehen nicht gelungen
erschienen. Diese Reaktionen sind
Versuche, den verlorenen Zustand „vor
dem Trauma“ wieder herzustellen. So ist
es durchaus funktional, wenn ein Soldat,
der während des Einsatzes im Schlaf ver­
letzt worden ist, mit Überwachheit,
Unruhe bei Dunkelheit und
Schlafstörungen reagiert. Es hat die
Funktion, ihn vor erneuter Gefahr zu
schützen.
stark (Shapiro, 1998a). Ganz allgemein
kommt dem Aspekt der Fürsorge durch
die Truppe eine eminent wichtige
Bedeutung zu. Jeder Soldat
(Feuerwehrmann, Polizist) vertraut dar­
auf, dass er von seinem Dienstherrn
unterstützt wird, wenn er bei der
Ausübung seines Dienstes Schaden
nimmt. Wird diese Erwartung enttäuscht,
weil Entscheidungsträger in diesen Orga­
nisationen oder Kameraden/Kollegen die
Bedeutung des Traumas für den/die Be­
troffene unterschätzen, kommt es nicht
selten zu tiefer Verbitterung, die die
Chronifizierung der PTBS erst bewirkt.
Der Betroffene empfindet dann seinen
Einsatz und damit seine Person entwer­
tet, reagiert mit Depression, Hass und
psychosomatischen Störungen. Zu der
Belastung der traumatisierenden
Situation addiert sich das bittere Gefühl,
verraten worden zu sein (Shay, 1998).
Therapieziel
Stabilisierungsverfahren
Imaginative und Entspannungsverfahren
sind zentraler Bestandteil unserer Sta­
bilisierungsarbeit. Sie haben das Ziel, die
Verarbeitungskapazität des Patienten zu
stützen oder zu verbessern. Hierzu ge­
hören Selbstkontrolltechniken und Ent­
spannungsverfahren zur Erregungskon­
trolle (Autogenes Training, Jacobsenent­
spannung, Lichtstromtechnik, Selbstin­
struktionstechniken etc.), aber auch ima­
ginativer Ressourcenaufbau (Innere Hel­
fer, Baumübung, etc.) (Reddemann,
2001). Diese Fähigkeiten und Fertigkeiten
können z.T. in Gruppenarbeit geübt wer­
den. Bei leichteren Akuttraumata und
sehr stabilen Rahmenbedingungen kann
die Stabilisierungsphase deutlich
abgekürzt werden.
Traumabearbeitung –
Konfrontation
Äußere Belastungsfaktoren
Bei der Regelung äußerer Belastungs­
faktoren (Beerdigung, anstehende Ge­
richtsverfahren, Straferwartung, finanzi­
elle Not, unversorgte Angehörige etc.)
können die Sozialdienste und Militär­
seelsorge, aber in hohem Mass auch die
Kooperationsbereitschaft von Vorge­
setzten und Kameraden von großer Be­
deutung sein. Ungelöste Sorgen und Nöte
belasten sonst den Therapieprozess sehr
angemessene Form der Konfrontation mit
inneren und äusseren Aspekten des Trau­
mas gesucht.
Die eigentliche Trauma-Bearbeitung er­
folgt im Bundeswehrkrankenhaus Ham­
burg in Einzeltherapie und bedient sich
dabei unterschiedlicher Verfahren (insbe­
sondere EMDR (Shapiro, 1998a,b;
Hofmann, 1999), kognitive Verhaltens­
therapie (Heiland & Maercker, 2000;
Maercker, 1997), imaginative Distanzie­
rungs- und Dosierungstechniken
(Reddemann, 2001).
Das Therapieprogramm beinhaltet darü­
ber hinaus Körpertherapie und Ergo­
therapie (Ausdruck und Verarbeitung
durch Gestaltung), Entspannungsver­
fahren, sowie meditative Übungen wie
Chi-Gong (Selbstkontrolle), Massage und
Aromatherapie (Vermittlung „Guter
Erfahrungen“).
In der Verarbeitungsphase kommt es dar­
auf an, auf der Basis der Stabilisierung
eine Konfrontation mit den belastendsten
Aspekten des Traumas zu ermöglichen,
die Vermeidung zu überwinden und
durch eine Bewältigungserfahrung zu er­
setzen. Während also in der ersten Phase
zunächst die Arbeitsvoraussetzungen wie
Beziehung, Vertrauen, Sicherheit und
Kompetenzerweiterung geschaffen wer­
den, wird in der zweiten Phase eine
Eine traumatische Erfahrung führt nicht
zu konstruktivem Lernen, sondern im all­
gemeinen zu einem Verlust von Kompe­
tenz, Entscheidungs- und Handlungs­
autonomie. Das Erlebens- und Verhal­
tensrepertoire wird nicht erweitert son­
dern eingeengt. Das Ziel der Therapie bei
einem psychischen Trauma besteht des­
halb darin:
• Destruktiv verarbeitete Erlebnisse in
konstruktive Erfahrung zu verwandeln.
• Die schmerzliche und quälende
Erfahrung in eine neue, angemessene
Perspektive zu integrieren (z.B.: „vor­
bei“, „ich bin in Sicherheit“, „ich habe
getan, was ich konnte“).
• Belastende Affekte (z.B. Angst) zu ent­
laden.
• Psycho-vegetative und motorische
Reaktionen zu löschen
• Neue Handlungsmöglichkeiten aufzu­
bauen.
Welche Ziele sich ein Patient inhaltlich
im Einzelnen setzt muss selbstverständ­
lich individuell erarbeitet werden.
Exkurs: EMDR
(Eye Movement Desensitization and
Reprocessing nach Francine Shapiro)
In unserer traumatherapeutischen Arbeit
setzen wir seit 1994 EMDR ein. Die
43
Methode wurde seit 1987 von F. Shapiro
in Palo Alto (USA) entwickelt und mit
Beginn der 90er Jahre zunächst in der
Behandlung von Vietnam-Veteranen mit
eindrucksvollen Ergebnissen eingesetzt.
Obwohl der Wirkmechanismus bis heute
nicht geklärt ist, gilt EMDR z.Zt. als eine
der empirisch am besten evaluierten
traumatherapeutischen Methoden
(Flatten et al., 2001).
Eine zentrale Modellvorstellung von
F. Shapiro ist das Postulat eines
„Accellerated Information ProcessingSystems“. Danach besitzt jeder Mensch
ein Informations-Verarbeitungs-System
(IVS). Es ist darauf abgestimmt, seelische
Störungen und Irritationen in einen Zu­
stand der Gesundheit zu überführen.
Analog den Selbstheilungskräften des
Körpers arbeitet dieses IVS in Richtung
einer positiven Auswertung von Ereig­
nissen. Erlebtes wird als Erfahrung verar­
beitet und gespeichert, um in der Zu­
kunft effektiv benutzt werden zu können.
Dabei wird Brauchbares verinnerlicht,
und mit den dazu passenden Affekten
gespeichert, dysfunktionales wird ver­
worfen. Bei einem Trauma kommt das
IVS in ein Ungleichgewicht: Erlebtes wird
zustandsspezifisch (unverarbeitet)
gespeichert. Ein Lernprozess findet nicht
statt. Es kommt zu keiner Verknüpfung
mit etwas angemessenem.
Im Ergebnis bewirkt die EMDR-Methode
nach diesem Modell, dass zwei neuronale
Informations-Netzwerke (ein destruktiv­
traumatisches und ein konstruktiv-kom­
petentes) miteinander verbunden werden,
wobei es zu einer beschleunigten Assi­
milation des schmerzlichen Materials in
eine neue, distanzierte Perspektive
kommt (z.B. dass das Erlebnis der
Vergangenheit angehört). Damit einher
geht eine Entladung der belastenden
Affekte und vegetativen Reaktionen und
es stellt sich eine Generalisierung positi­
ver Gedanken über die bis dahin isolier­
ten Gedächtnisinhalte ein (z.B. „ich bin in
Sicherheit“). Der Klient ist dann fähig,
traumatische Erinnerungen aufzurufen,
die nun aber keinerlei oder nur geringfü­
gige Belastung mehr erzeugen. Eine cha­
rakteristische Formulierung am Ende
eines solchen Verarbeitungsprozesses ist:
„Ich weiß, dass es geschehen ist, aber es
belastet (überflutet) mich nicht mehr.“
Sie geht meist mit einer deutlichen
Beruhigung einher.
44
Vorgehen
1. Während einer EMDR-Sitzung sitzen
sich Klient und Therapeut seitlich ver­
setzt gegenüber.
A. Vorbereitung:
2. Nach einer angemessenen Erklärung
des Vorgehens fordert der Therapeut
den Klienten auf, seine Aufmerksam­
keit auf eine (meist) bildliche Wieder­
errinnerung des beunruhigenden
Erlebnisses zu richten und zugleich zu
achten auf:
• damit verbundene Affekte ( z.B. Angst, Scham, Wut)
• Körperempfindungen (z.B. Schwitzen,
Herzklopfen)
• (negative) Kognitionen (z.B. „ich bin
in Gefahr“)
B. Desensitisierung
3. Währenddessen führt der Klient
schnelle saccadische Augenbewegun­
gen durch, in dem er der wiederholten
Finger-Handbewegung des Therapeu­
ten vor seinen Augen folgt .
4. Nach einem Satz von Augenbewegun­
gen, gewöhnlich ca. 20 Sek., berichtet
der Klient kurz jede Veränderung der
bildhaften Erinnerung oder andere
Wahrnehmungen.
5. Er stellt sich dann dem nächsten Satz
von Augenbewegungen und konzen­
triert sich währenddessen auf das
neue, spontan aufgetauchte Material.
6. Der Zirkel von Vorstellungskonfron­
tation in Verbindung mit Augenbewe­
gungen und anschließendem feed­
back durch den Klienten wird fortge­
setzt, bis der Klient
• keine bedeutsamen Assoziationen
mehr hervorbringt,
• sich ruhig und ausgeglichen fühlt,
• die ursprüngliche Ereigniserinnerung
keinen unangenehmen (Körper-)
Zustand mehr hervorruft.
C. Installation / Verarbeitung
7. Zu diesem Zeitpunkt wird eine positive
Vorstellung mit der Originalszene ge­
paart, indem der Pat. aufgefordert
wird, die belastende Erinnerung und
eine positive Vorstellung (z.B. „ich bin
in Sicherheit“) im Bewusstsein zu hal­
ten und dabei wiederum Augen­
bewegungen durchzuführen.
8. Die Prozedur wird solange fortgeführt,
bis der Grad der subjektiven Belastun­
gen bei dem Pat. deutlich gesunken ist
und er gleichzeitig die positive Vorstel­
lung für sich ohne Vorbehalte mit den
Erinnerungen verbinden kann.
Fallbeispiel
Traumatisches Erlebnis:
Der Patient, Stabsunteroffizier, 23 J.,
wurde wegen einer Belastungsstörung
vorgestellt , die sich in seinem Einsatz in
Kroatien 1996 nach dem Erleben eines
Minenunfalls eingestellt hatte, bei dem
ein kleines Mädchen schwer verletzt
wurde und innerhalb weniger Minuten
verstarb. Der Patient befand sich auf ei­
nem Konvoi und wurde aus sicherer Ent­
fernung von seinem Fahrzeug aus Zeuge
des Unglücks.
Erlebnisverarbeitung:
Der Patient war geschockt. Er fühlte sich
hilflos und schuldig, weil auf Grund der
Minenlage ein Eingreifen der Konvoisol­
daten nicht möglich war.
Symptome:
Es stellten sich über 4 Wochen
Alpträume ein, in denen sich das
Geschehen immer wiederholte. Dabei
erlebte der Patient das Ereignis jedoch
nicht aus großer Entfernung, sondern
immer aus nächster Nähe.
Vor Ort hatte der Pat. Aussprache mit
einem Militärgeistlichen gesucht und
darin zunächst auch Hilfe gefunden.
Entwicklung:
Nach ca. 1 Jahr Latenzzeit stellten sich
die vorübergehend nicht mehr vorhande­
nen plastischen Alpträume wieder ein.
Die Exploration ergab, dass er sich zu
dieser Zeit in einer belastenden dienstli­
chen Situation befand. Er war versetzt
worden, fühlte sich durch die
Verantwortung als stellvertretender
Zugführer sehr gefordert und litt unter
dem konfliktbelasteten Verhältnis zu sei­
nem Vorgesetzten . Einen erneuten
Einsatz fürchtete er aus Angst, ein ähnli­
ches Erlebnis nicht aushalten zu können.
Therapie:
Obwohl der Patient Schwierigkeiten hatte,
sich auf die besondere EMDR-Therapie­
methode einzustellen kam es schon wäh­
rend der ersten Sitzung zu einer schnel­
len Abnahme der subjektiven Belastung.
Die Erinnerungsbilder verblassten und die
positive Selbstvorstellung: „Ich habe
getan, was ich konnte“ etablierte sich für
den Pat. überzeugend. Verzweiflung,
Schuldgefühle und Körperreaktionen
schwanden.
Katamnese:
Der Therapieerfolg stellte sich als stabil
heraus. Der Pat. war 1 Jahr später in der
Lage, sein Erleben ohne Belastung in einem Fernsehbeitrag darzustellen. Er hatte
sich für einen erneuten Einsatz gemeldet
und fühlte sich diesem gewachsen.
Stellenwert, jedoch verschiebt sich der
Schwerpunkt im Prozess von der
Stabilisierung über die Konfrontation zur
Integration.
Ablauforganisation der
Traumatherapie im
Bundeswehrkrankenhaus
Hamburg
3. Phase: Trauma-Integration
Traumatisierte Soldaten werden in der
Regel durch den Truppenarzt angemeldet.
Besteht eine begründete Annahme, dass
es sich um eine belastungsbezogene
Störung handelt, wird der Betreffende
direkt einem Traumatherapeuten vorge­
stellt, der dann abklärt, ob
• die Aufnahme zu einer stationären
Therapie
• eine ambulante Kurzintervention
(2-6 Termine)
• eine einmalige Diagnostik mit inte­
grierter Beratung
angemessen ist.
In dieser Phase kommt es darauf an, die
Bedeutung des Geschehenen für das
eigene Leben zu erarbeiten, daraus neue
Perspektiven für die Zukunft zu ent­
wickeln und die Bedeutung des Traumas
für das Selbst- und Weltbild zu überden­
ken. Lebensplanungen, berufliche und
familiäre Folgen werden im Gespräch
erörtert und Angehörige soweit wie möglich einbezogen.
In der Integrationsphase wird versucht,
die Vermeidung in einem weit allgemei­
neren Sinne aufzulösen. Während die
Vermeidungsreaktion darauf abzielt, das
Trauma aus dem Leben zu verbannen
(mit dem paradoxen Ergebnis, dass es
gerade deshalb nicht weicht), zielt die
Traumatherapie auf Integration der trau­
matischen Erfahrung in das Leben des
Opfers. Dabei muss der Pat. darin unterstützt werden, Verlust zu akzeptieren,
Trauer zuzulassen, neuen Sinn zu finden,
Vergebung und Selbstvergebung Raum zu
geben, neue Verhaltensweisen zu erlernen etc.
Selbstverständlich werden die drei
Hauptphasen der Traumatherapie nicht
linear durchlaufen. Alle drei Aspekte
haben zu jeder Zeit im Prozess einen
Traumbedingte psychische Störungen BwK HH 1995 - 2000
60
53
50
Patientenzahl
›
Im stationären Setting hat es sich be­
währt, die Patienten zu einem einwöchigen diagnostischen Aufenthalt einzube­
stellen. Dabei wird den diagnostischen
Maßnahmen der therapeutische Aufwand
abgeschätzt, der Aufbau einer belastbaren Vertrauensbeziehung eingeleitet,
sowie das Krankheitsmodell erklärt. Der
Betroffene erhält eine Einweisung in das
therapeutische Vorgehen. Für die eigentliche Therapiephase wird ein ca.
6-wöchiger Aufenthalt eingeplant, der je
nach Therapieverlauf verkürzt, verlängert
oder durch eine oder mehrere weitere
42
40
30
20
21
13
10
18 16
14
10
1
3
2
1997
1998
stationäre Therapiesequenzen ergänzt
werden kann. Eine ambulante Nachbe­
treuung wird angeboten oder vermittelt.
Dabei hat es sich als günstig erwiesen,
durch Verlängerung der ambulanten
Sitzungsintervalle ein behutsames
Ausschleichen zu gewähren. Ein wichti­
ger Gesichtspunkt in dieser Phase ist
der Umgang mit Rückschlägen. Es kommt
ganz wesentlich darauf an, realistische
Erwartungen hinsichtlich der weiteren
Entwicklung zu unterstützen. Dies ist
besonders bei Traumata mit bleibenden
Körperschäden, bei Verlusten (z.B. durch
Tod) sowie bei stark veränderten
(eingeschränkten) Lebensperspektiven
der Fall.
Eigene Erfahrungen im
Bundeswehrkrankenhaus
Hamburg
Wir haben seit 1994 praktisch-therapeu­
tische Erfahrung mit ca. 200 Patienten
gewonnen, die wir bis jetzt stationär un­
tersucht und behandelt haben. Darüber
hinaus wurde in dieser Zeit eine große
Anzahl von PTBS-Patienten ambulant
untersucht, zur Therapie weitervermittelt
oder begutachtet.
Anfänglich spielten die einsatzbedingten
psychischen Störungen zahlenmäßig nur
eine untergeordnete Rolle. Seit Beginn
des Kosovo-Einsatzes im Juni 99 hat
dieser Anteil aber deutlich zugenommen
und in den ersten 4 Monaten 2000
haben wir mehr einsatzbedingte psychi­
sche Störungen gesehen als insgesamt
in den 5 Jahren zuvor. Fast alle 53 ein­
satzbedingten PTBS-Fälle des Jahres
2000 stammten aus dem Kosovo-Einsatz.
(Abb. 2)
Obwohl die Situation im Kosovo stabiler
geworden ist als zu Beginn der Invasion,
ist auch weiterhin mit einer hohen Pati­
entenzahl zu rechnen, da die psychotrau­
matische Störungen erst mit einer
Latenz von Monaten bis Jahren auftreten
können, bzw. Betroffene sich erst mit
großer Verzögerung in Behandlung
begeben.
0
1995
1996
einsatzunabhängig
1999
2000
einsatzbedingt
Die Therapiedauer ist sehr unterschied­
lich und variiert zwischen wenigen The­
rapiestunden und monatelanger statio­
närer Behandlung. (Abb. 3)
Abb. 2
45
Durchschnittliche Therapiesitzungen und Traumatyp1
40
Anzahl Sitzungen
›
30
20
10
0
1995
1996
1997
Trauma Typ I
1998
Trauma Typ II
Abb. 3
Eine geplante Evaluierung in einer Therapiestudie steht noch aus, kann aber momentan aufgrund der nicht ausreichenden personellen Ausstattung nicht durchgeführt werden.
Traumatherapie ist eine sehr zeit- und
personalintensive Arbeit, für die die psychiatrischen Abteilungen der Bundeswehrkrankenhäuser mit ihrer traditionell
diagnostisch-gutachterlichen Orien-
1
›
tierung nur unzureichend eingerichtet
sind. Dies betrifft sowohl Ausbildung und
Anzahl des Personals als auch Art und
Gestaltung der räumlichen Gegebenheiten.
In einem Bericht (Süddeutsche Zeitung,
2000) über das Schicksal des kanadischen Oberbefehlshabers der UN-Mission
in Ruanda, General Dallaire, der schwer
psychisch traumatisiert dienstlich und
privat nicht wieder Fuß fassen konnte,
wird dieser mit den Worten zitiert: „Der
Zorn, die Wut, der Schmerz und die kalte
Einsamkeit, die einen von der Familie,
Freunden und von der täglichen Routine
der Gesellschaft trennen, sind so macht­
voll, dass die Option, sich selber zu zer­
stören, real und attraktiv ist.“ Weiter
heißt es: „In Kanada beginnt man zu
begreifen, welchen Preis die Friedens­
soldaten für ihren Einsatz gezahlt haben.
Die Armee steckt mehr Geld in Thera­
piekliniken, die den seelisch verwundeten
Soldaten helfen sollen ...“ Mittlerweile
haben die Kanadischen Streitkräfte über
das Land verteilt 5 Traumazentren einge­
richtet.
Unsere Bemühungen zielen darauf, den
deutschen Soldaten, die traumatisiert aus
dem Einsatz zurückkehren effektive Hilfe
dabei zu leisten, in die „Normalität“
zurück zu finden. Die bisherigen Erfah­
rungen belegen, dass dies möglich ist,
wenn die notwendige personelle, materi­
elle und organisatorische Unterstützung
gewährleistet wird.
Typ-I-Traumen sind kurzdauernde traumatische Ereignisse, die meist durch akute Lebensgefahr, Plötzlichkeit und Überraschung gekennzeichnet sind.
Typ-II-Traumen sind längerdauernde, wiederholte Traumen mit Serien verschiedener traumatischer Einzelereignisse und geringer Vorhersagbarkeit des weiteren
traumatischen Geschehens.
Literatur
Fischer, G., Riedesser, P. (1998): Lehrbuch der Psychotraumatologie, UTB (Reinhardt) München .
Fischer, G., (2000) Mehrdimensionale Psychodynamische Traumatherapie: MPTT, Asanger, Heidelberg.
Flatten et. al. (Hrsg) (2001) Posttraumatische Belastungsstörung, Reihe Leitlinien Psychosomatische Medizin und Psychotherapie,
Schattauer, Stuttgart.
Heiland, T., Maercker A. (2000) Konfrontation und kognitive Umstrukturierung – Kognitive VT in der Verarbeitung von Gewalterfahrungen,
Psychotherapie im Dialog 1 , 21-27.
Hofmann, A. (1999) EMDR in der Therapie psychotraumatischer Belastungssyndrome, Thieme Stuttgart.
Maercker A. (Hrsg.) (1997) Therapie der posttraumatischen Belastungsstörungen. Springer, Berlin.
Mitchell, J. T. & Everly G. S. (1998). Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen. Stumpf und Kossendey, Edewecht.
Reddemann, L., (2001) Imagination als heilsame Kraft, Reihe: Leben lernen 141, Pfeiffer bei Klett-Cotta, Stuttgart.
Reddemann, L., Sachsse, U. (1997) Stabilisierung, Persönlichkeitsstörungen 1997 ; 3 : 113 – 147 .
Shapiro, F. (1998a) EMDR – Grundlagen und Praxis, Junfermann, Paderborn.
Shapiro, F. (1998b) EMDR in Aktion, Junfermann, Paderborn.
Shay, J. (1998) Achill in Vietnam: Kampftrauma und Persönlichkeitsverlust, Hamburger Edition HIS, Hamburg.
Süddeutsche Zeitung vom 10.August 2000, Seite 8
46
Auswirkungen von
Stress und
Traumatisierungen
bei Soldaten der Bundeswehr
Karl-Heinz Biesold, Klaus Barre
Kurzfassung
In der Abteilung Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie des Bundeswehrkrankenhauses Hamburg beschäftigen wir uns seit Beginn der
internationalen Einsätze in Kambodscha, Somalia und jetzt auf dem Balkan schwerpunktmäßig mit der Diagnostik und Therapie einsatzbe­
dingter psychischer Störungen. Dabei handelt es sich vom Erscheinungsbild und Verlauf her um vielgestaltige Krankheitsbilder. Sie äußern
sich nicht nur in der Symptomatik, die in der ICD-10 als Posttraumatische Belastungsstörung beschriebenen ist. Es treten zahlreiche
Symptomüberlappungen, bzw. Komorbiditäten mit anderen psychiatrischen Erkrankungen auf. Die differentialdiagnostischen Probleme wer­
den erörtert und ein neurophysiologisches Modell vorgestellt.
Einleitung
Die besonderen Bedingungen friedens­
schaffender oder -sichernder internationa­
ler Einsätze im Rahmen von UN- und
NATO-Missionen stellen außergewöhnliche
Anforderungen an die Soldaten der
Bundeswehr. Sie werden mit Leichen und
Verstümmelungen, mit Chaos und Zer­
störung, unklaren Konfliktlagen, evtl.
Gefangenschaft, mit fremden Kulturen,
langdauernder Trennung von zu Hause,
permanenter Überforderung aber auch
Langeweile und Unterforderung konfron­
tiert. Oft und nicht zuletzt besteht die
Belastung in dem Gefühl totaler Hilflosig­
keit gegenüber Not und Elend im Einsatz­
land (Wothe, 2001; Weerts, 2001).
Gesellschaftlicher Auftrag (humanitärer
Einsatz) und persönliche Motivation (hel­
fen wollen) stehen mitunter in deutlichem
Gegensatz zu Einstellung und Haltung der
Bevölkerung in den Hilfsgebieten.
Manchmal werden die Soldaten als Be­
satzer gesehen oder geraten zwischen die
Fronten rivalisierender Gruppen. Nicht sel­
ten schlagen ihnen Ablehnung und Hass
entgegen.
Aber auch im Heimatland treffen Soldaten
der Bundeswehr oft auf Zweifel, Unver­
ständnis, Gleichgültigkeit, ja Ablehnung
ihres Einsatzes. Nicht einmal bei den eige­
nen Kameraden zu Hause können sie
immer auf Verständnis zählen, da die ihre
Arbeit in den Heimatverbänden mit erledi­
gen mussten. Sie waren deshalb oft genug
ebenfalls stark belastet, ohne dafür öffent­
liche Anerkennung in der Presse, Orden
oder eine besondere Bezahlung zu erhal­
ten. Und auch die eigene Partnerin oder
die Familie können manchmal kaum ver­
stehen und akzeptieren, was der Einzelne
erlebt und wie sehr ihn dies verändert hat.
In kurzfristigen oder länger dauernden
Extremsituationen wird die Fähigkeit zur
Belastungsverarbeitung von Menschen oft
überfordert, eine intensive, überwältigende
und desorganisierende Erfahrung bzw.
Erleben zerstört Orientierungen und halt­
gebende Selbst- und Weltbilder. In der
Folge kommt es u.U. zur Entwicklung einer
seelischen Störung, die sich schleichend
(bei Dauerbelastung) oder akut (bei
Extremerlebnissen) entwickeln kann. Sie
tritt nicht selten verzögert auf und entfal­
tet ihre schädigende Wirkung möglicher­
weise auch dann weiter, wenn der Einsatz
oder das schädigende Ereignis längst vor­
bei sind.
Im Bundeswehrkrankenhaus Hamburg
(BwK HH) haben wir seit 1994 kontinuier­
lich einen Behandlungsschwerpunkt für
psychotraumatische Störungen mit einem
spezifischen Therapieangebot aufgebaut.
Die Behandlungserfahrungen machten
deutlich, dass herkömmliche Kriseninter­
ventionsmaßnahmen und allgemeine
Psychotherapie oft nicht ausreichen, um
schwer traumatisierten Menschen ange­
messen und wirksam zu helfen. Es war
deshalb erforderlich, spezifische trauma­
therapeutische Kompetenz zu erwerben
und im Bundeswehrkrankenhaus Hamburg
zu etablieren.
47
›
Faktoren bei der Entwicklung posttraumatischer
psychischer Prozesse
Ereignisfaktoren
Risikofaktoren
•
•
•
•
• Alter zum Zeitpunkt der Traumatisierung
(sehr jung, sehr alt)
• frühere belastende Erfahrungen
• frühere psychische Störungen
• niedrige sozioökonomische Schicht
Traumaschwere
Unerwartetheit
mangelnde Kontrollierbarkeit
peritraumatische Dissoziation
-
Posttraumatische
psychische Prozesse
-
+
Schutzfaktoren
• Kohärenzsinn
• soziale Unterstützung
• Bewältigungsprozesse
modifiziert nach A. Maercker
Abb. 1
Diagnostik
Die akute Belastungsreaktion
Differentialdiagnostisch müssen wir un­
terscheiden zwischen einsatzbedingten
psychischen Störungen, entstanden durch
die allgemeinen Stressoren des Einsatzes
und den psychotraumatischen Störungen
im engeren Sinne, die an das Erleben be­
sonders belastender Ereignisse gebunden
sind.
Zunächst kommt es nach einem „Psycho­
trauma“ häufig zu einer vorübergehen­
den Störung von beträchtlichem
Schweregrad. Auch bei einem psychisch
gesunden Menschen entwickelt sie sich
als „Extrem-Stress-Reaktion“ auf die
außergewöhnliche Belastung. Es tritt ein
gemischtes und gewöhnlich wechselndes
Bild auf: nach dem anfänglichen Zustand
von „Betäubung“ werden Depression,
Angst, Ärger, Verzweiflung, Überaktivität
und Rückzug beobachtet. Diese Reaktion
klingt meist ohne weitere Maßnahmen
innerhalb von Stunden oder Tagen wieder
ab, was man als eine Art
„Selbstheilungsprozess“ versteht (Fischer
& Riedesser, 1998).
Untersuchungen zum Spontanverlauf von
psychischen Traumatisierungen haben
gezeigt, dass nach einer Woche noch
94% der Betroffenen Symptome zeigten,
es dann aber im Verlauf der ersten 3 – 6
Monate bei Zweidrittel bis Dreiviertel
ohne therapeutische Maßnahmen zu
einer Besserung kam und danach die
Zahl der symptomatischen Fälle fast sta­
bil blieb. Dies sind die Fälle, die den
psychotraumatologisch tätigen
Psychotherapeuten beschäftigen.
In der Internationalen Klassifikation psy­
chischer Störungen der Weltgesundheits­
organisation ICD-10 (International
Classification of Diseases) von 1991 sind
die „Reaktionen auf schwere Belastungen
und Anpassungsstörungen“ in der Kate­
gorie F 43 erfasst (Dilling et al., 1991).
Zu diesen Krankheitsbildern wird einlei­
tend ausgeführt: „Zusammen gefasst
handelt es sich um Reaktionen, die als
direkte Folge einer akuten schweren Be­
lastung oder eines kontinuierlichen Trau­
mas entstehen. Das belastende Ereignis
oder die andauernde bedrohliche Situa­
tion sind der primäre und ausschlagge­
bende Kausalfaktor, und die Störung
wäre ohne seine Einwirkung nicht ent­
standen.“
Es werden folgende Reaktionsbilder
unterschieden:
F 43.0
F 43.1
48
akute Belastungsreaktion und
posttraumatische
Belastungsstörung (PTBS) .
Der weitere Verlauf, d.h. ob es zu einer
Stabilisierung im psychischen Befinden
des Betroffenen kommt oder ob sich eine
posttraumatische Belastungsstörung ent­
wickelt, ist von verschiedenen Faktoren
abhängig, die den Heilungsprozess för­
dern oder behindern können. Sowohl
traumaabhängige, wie auch persönliche
und insbesondere soziale Faktoren spie­
len dabei eine Rolle (Maercker, 1997).
(Abb.1)
Ereignisfaktoren:
Die Schwere des Traumas und das Aus­
maß der Folgen stehen in direktem Zu­
sammenhang (Dosis-Wirkungs-Bezie­
hung). Die Unerwartetheit oder Plötzlich­
keit ist ein weiterer Faktor, dessen nega­
tive Bedeutung für die Entstehung von
PTBS in der Literatur gut belegt ist. Der
Verlust der Kontrollierbarkeit, das heißt
das Gefühl, während des Traumas völlig
ausgeliefert zu sein und die Autonomie
verloren zu haben, verschlechtert die
Prognose des Verarbeitungsprozesses
ebenfalls. Auch das Auftreten bzw. die
Ausprägung peritraumatischer Dissozia­
tionen korrelieren mit dem Risiko eine
PTBS zu entwickeln.
Risikofaktoren:
Jugendliches und sehr hohes Lebensalter,
frühere belastende Erfahrungen, psychi­
atrische Störungen in der Vergangenheit
sowie niedrige sozioökonomische
Schichtzugehörigkeit sind Risikofaktoren,
die die Folgen der Extrembelastungen
verstärken, bzw. ihnen erst zur Mani­
festation verhelfen.
Ob vor dem Trauma bestehende Persön­
lichkeitseigenschaften, bzw. -merkmale
eine Rolle spielen, bzw. einen Prädiktor
für die Entwicklung von PTBS darstellen,
ist wiederholt untersucht worden, ohne
dass sich Hinweise für diese Annahme
ergeben haben. Nach Untersuchungen
des Psychologischen Instituts der Uni­
versität Köln und des Deutschen Instituts
für Psychotraumatologie (DIPT) an Ge­
waltopfern ist der „Kölner-Risiko-Index“
– Bewertungsbogen entwickelt worden,
der Ereignis- und Risikofaktoren erfasst
und der Früherkennung besonderer
Risikogruppen dient, die später nach
einer akuten Belastungsreaktion eine
PTBS entwickeln. Hier wird von 1/3
Risikopatienten, 1/3 Selbsterholern und
1/3 Wechseltypen gesprochen (Fischer &
Becker-Fischer & Düchting, 1998). Es
laufen zur Zeit im Auftrag des Psycho­
logischen Dienstes der Bundeswehr ent­
sprechende Untersuchungen zur
Erstellung eines Risiko-Fragebogens für
Soldaten, um danach differenzierte frühe
Interventionsmaßnahmen zu entwickeln.
Schutzfaktoren:
Der Kohärenzsinn, d.h. die Fähigkeit, das
Geschehene geistig einordnen, verstehen
und ihm einen Sinn geben zu können,
hat einen günstigen Einfluss darauf,
Extrembelastungen ohne psychische
Störungen zu überstehen. Auch der Grad
sozialer Unterstützung ist maßgeblich,
wenn es darum geht, das Risiko PTBS zu
entwickeln gering zu halten. Mit
Bewältigungsprozessen, die ebenfalls
Schutzfaktoren sind, sind die Fähigkeit
und Möglichkeit über das Trauma zu
reden, Arztbesuche oder andere Hilfe in
Anspruch zu nehmen gemeint.
Nach jetzigen Erkenntnissen scheint der
Verlauf vor allem auch von den getroffe­
nen Erstmaßnahmen abhängig zu sein.
Zur frühzeitigen Intervention (early inter­
vention) nach belastenden Ereignissen,
die bei der Bundeswehr ja nicht nur im
Rahmen der Auslandseinsätze auftreten
können, sondern z.B. auch bei inländi­
schen Katastrophen (z.B. Helfer beim
ICE-Unglück von Eschede), wurden
Einsatznachbereitungsgruppen (ENG)
gebildet, die mit Betroffenen Debriefings
auf der Basis des Critical-IncidentStress-Management (CISM) nach Jeffrey
›
T. Mitchell durchführen können (Mitchell
& Everly, 1998). Die Effektivität dieser
CISM-Maßnahmen ist derzeit allerdings
wissenschaftlich umstritten, da es an­
geblich nicht ausreichend zielgruppenori­
entiert durchgeführt werden könne und
bei 5% der Teilnehmer sogar zu einer
Verschlechterung des Befindens führe.
Eine nachweisbare PTBS-prophylaktische
Wirkung bestehe nach bisherigen Un­
tersuchungen nicht. Dennoch werden
zunehmend solche CISM-Maßnahmen für
Opfer und Helfer bei Katastrophen von
der Öffentlichkeit und den Betroffenen
selbst gefordert, zumindest wenn bei
Großschadensereignissen Individual­
versorgung nicht möglich ist.
Da die Erfahrungen aus der Untersuchung
von Gewaltopfern gezeigt haben, dass
frühe Interventionen (Einzeltherapie)
ausgewählten Risikopatienten hilft, ist es
wichtig, solche Risiko-Gruppen zu erken­
nen. Zusätzlich stellt sich dann natürlich
auch die Frage, welche Interventionsform
zu welchem Zeitpunkt effektiv ist und
unter welchen Bedingungen die
Maßnahmen stattfinden sollen.
Die posttraumatische
Belastungsstörung (PTBS)
Selbst bei optimaler Erstversorgung
Psychotraumatisierter klingen nicht alle
Belastungsreaktionen nach ihrer akuten
Symptome der Posttraumatischen Belastungsstörungen
Wiedererinnerung (Intrusion)
• Wiederholte aufdrängende Erinnerung oder Wiederinszenierungen der Ereignisse
in Gedächtnis (Nachhallerinnerungen, flashbacks), Tagträumen oder Träumen
Erhöhtes Erregungsniveau
• Zustand erhöhter vegetativer Übererregbarkeit mit Vigilanzsteigerung,
übermäßiger Schreckhaftigkeit und Schlaflosigkeit
Rückzug (Konstriktion)
• Andauerndes Gefühl von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit, Gleichgültigkeit und Teilnahmslosigkeit gegenüber anderen Menschen, Anhedonie
• Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das
Trauma wachrufen können,
• Angst und Depressionen mit Suizidgedanken, Alkoholmissbrauch und
Drogenkonsum
• akute Ausbrüche von Angst, Panik, Aggression, ausgelöst durch
Erinnerung / Wiederholung des Traumas, sog. triggern
Phase wieder ab. Es kann sich als verzö­
gerte oder protrahierte Reaktion auf das
belastende Ereignis eine Posttraumati­
sche Belastungsstörung entwickeln.
Unserer Erfahrung nach treten Symptome
nicht selten erst nach vielen Monaten,
gelegentlich auch erst nach vielen Jahren
auf.
Abgesehen davon versuchen die Betrof­
fenen oft lange Zeit mit ihren Problemen
(Symptomen) alleine klar zu kommen. Sie
haben Angst als „verrückt“ zu gelten,
wissen oft auch gar nicht, dass es Thera­
piemöglichkeiten gibt, sodass sie erst
verzögert um Hilfe nachsuchen. Die
Leiden spielen sich dann oft im Verbor­
genen und wenig spektakulär ab.
Schamgefühle und Sprachlosigkeit auch
im sozialen Umfeld (Familie / Kame­
radenkreis) erschweren die Integration in
die „Normalität“. Häufig folgt eine
Ausgrenzung aus dem beruflichen und
familiären Leben, Dienstunfähigkeit,
eventuell Flucht in Alkohol oder Drogen
als Selbstbehandlungsversuch und damit
schließlich auch noch die moralische
Abwertung durch das soziale Umfeld. Die
Suizidrate ist unter psychisch Trauma­
tisierten deutlich erhöht.
Um den Begriff des Traumas nicht infla­
tionär für jeden Zwischenfall zu benut­
zen, definiert die ICD-10 es als „eine
Situation außergewöhnlicher Bedrohung
für die Sicherheit oder körperliche Unver­
sehrtheit des Betroffenen oder anderer
Personen, die bei fast jedem eine tiefe
Verstörung hervorrufen würde (Katastro­
phen, Kampfhandlungen, schwere
Unfälle, Zeuge gewaltsamen Todes, Opfer
von Folterung, Terrorismus, Vergewal­
tigung)“.
Prämorbide Faktoren können den Verlauf
beeinflussen, sind aber weder nötig noch
ausreichend, um das Auftreten der Stö­
rung zu erklären. D.h. jeder auch psy­
chisch stabile, gesunde Mensch kann da­
von betroffen werden, unabhängig von
Dienstgrad, Vorbildung, Ausbildung und
allgemeiner psychischer Belastbarkeit,
wenn die traumatischen und peritrauma­
tischen Verhältnisse entsprechend über­
wältigend sind.
Typisch für die PTBS ist die Symp­
tomtrias: Wiedererinnerung, erhöhtes
Erregungsniveau und Rückzug.
(Abb.2)
Abb. 2
49
Unbehandelt bleiben bei ungefähr der
Hälfte der PTBS-Patienten die Symptome
länger als 1 Jahr bestehen, bei einem
Drittel (das sind 10% aller Traumatisier­
ten) mehr als 10 Jahre. Nach amerikani­
schen Untersuchungen litten noch 15
Jahre nach Ende des Vietnamkrieges so­
gar die Hälfte der 1 Million traumatisier­
ten amerikanischen Soldaten unter dem
Vollbild einer PTBS (Kulka, 1990).
Die klinischen Erscheinungsbilder trau­
mabedingter Störungen sind vielfältig
und gehen über die oben genannte
Symptomkonstellation der „klassischen“
PTBS hinaus. Die Symptomatologie kann
sich im Laufe des traumatischen
Prozesses und der Verarbeitung des
Traumas ändern. Nach dem zunächst
vorliegendem typischen Bild einer PTBS
kann dann z.B. vorübergehend eine
Angstsymptomatik oder eine Depression
im Vordergrund stehen oder eine
Suchtproblematik auftreten. Man muss
also daran denken, dass sich auch hinter
zahlreichen anderen psychiatrischen
Krankheitsbildern durch ein Psycho­
trauma verursachte Störungen verbergen
können. Die Komorbiditätsrate mit ande­
ren psychischen Störungen, insbesondere
mit Depressionen, Angsterkrankungen
und Sucht, beträgt fast 90%.
Mittlerweile ist auch erwiesen, dass dis­
soziative Störungen, die bei 5 – 15 %
›
aller psychiatrischen Patienten auftreten,
fast alle durch psychische
Traumatisierungen verursacht sind
(Fiedler, 2001).
Neurophysiologie des
Traumas
Es ist schon lange bekannt, dass psychi­
sche Traumatisierungen sowohl eine psy­
chische als auch eine organische Genese
haben (Physioneurosis) (Kardiner, 1941),
was sich heute durch den Nachweis neu­
robiologischer und endokrinologischer
Veränderungen belegen lässt.
Die normale Informationsverarbeitung im
Gehirn geschieht durch ständige
Filterung der Hunderte Millionen von
Impulsen, die pro Minute das Gehirn aus
der sensorischen Peripherie erreichen. Im
Thalamus erfolgt eine Wertung in wich­
tig und unwichtig und nur ein kleiner Teil
der Informationen erreicht den Kortex
bzw. das Bewusstsein. Die Zuordnung der
Wichtigkeit – das Setzen der Reiter auf
die Info-Karteikarte – erfolgt im
Mandelkern (Amygdala). Die gefilterten
Informationen werden dann in den sen­
sorischen kortikalen Arealen modalitä­
tenspezifisch verarbeitet, werden aber
nach kurzer Zeit durch neu eintreffende
Informationen überschrieben. Nur wenige
wichtige Informationen werden über das
„hippocampale“ Erinnerungssystem
gespeichert, wo sie aber nicht mehr mit
Informationsverarbeitungsblockade bei psychischer
Traumatisierung
frontaler Kortex
(sensorische und kognitive Integration)
Hippocampus
Amygdala
Emotionale
Bedeutung
Zuordnung von
Signifikanz
„kognitive Weltkarte“
Thalamus
Psychotrauma
Reiz
„Filter“ für
sensorische
Informationen
Visuell akustisch
olfaktorisch
kinästhetisch
gustatorisch
Abb. 3
50
starken Gefühlen belastet sind. Sie sind
zeitlich, räumlich, inhaltlich geordnet
und bilden eine „kognitive Weltkarte“
und stehen für weitere Planungs- und
Entscheidungsprozesse zur Verfügung.
Im Moment der Traumatisierung kommt
es nun zu einer akuten Reizüberflutung
des Gehirns mit massiver Aktivierung
noradrenerger und corticotroper Systeme
sowie endogene Opiate produzierender
Systeme, die den kontinuierlichen Zu­
strom auch solcher eintreffender Infor­
mationen unterbrechen, die für das
Überleben der erlebten akuten Lebens­
gefahr wichtig sind. Die Spätfolgen der
Reizüberflutung und Unterbrechung des
Informationsstroms – das ist die Wunde
nach einer seelischen Traumatisierung –
zeigen sich in Form der PTBS-Symptome.
Die Informationsverarbeitungsprozesse
werden blockiert. Die sensorische Infor­
mation, die auch während eines trauma­
tischen Ereignisses in der Schaltstelle des
Thalamus zum Mandelkern weitergeleitet
wird, bleibt im Umfeld dieses Erinne­
rungssystem praktisch „stecken“. Sie kann
deshalb nicht in die weiteren Verarbei­
tungsmöglichkeiten des Hippocampus
und Frontalhirns einbezogen, deshalb zu
keiner „konstruktiven Erfahrung“ verar­
beitet werden (van der Kolk, 2000;
Hofmann, 1999).
(Abb.3)
Durch diese Blockierung wird der gespei­
cherten traumatischen Erinnerung keine
Zeit- und Raumachse beigefügt. Der
Betroffene erlebt die flash-backs nicht
wie Erinnerungen, sondern wie das akute
Durchleben einer noch bestehenden Ge­
fahrensituation, verbunden mit allen da­
zugehörigen Ängsten, vegetativen Reak­
tionen und Emotionen. Für ihn ist die
traumatisierende Situation nicht vorbei,
sobald erinnernde Umstände fragmen­
tierte Informationen „triggern“. Es fällt
den Betroffenen deshalb so schwer, das
Erlebte „hinter sich zu lassen“, es in
einen biographischen Kontext einzufü­
gen, wie man Bilder in ein Fotoalbum
ordnen würde um sie anzuschauen,
wenn man will. Weiterhin scheint gesi­
chert, dass das traumatische Gedächtnis
nach dem „Alles-oder-Nichts“-Prinzip
arbeitet. Traumatische Erinnerungen wer­
den niemals gelöscht. Die Zeit allein heilt
keine Wunden! Der Blick auf das Erlebte
kann aber spontan oder durch geeignete
therapeutische Maßnahmen in eine heilende, konstruktive Perspektive gerückt
werden.
Traumaopfer zeigen auch entsprechende
messbare psychobiologische Verände­
rungen der Hypothalamus-HypophysenNebennieren-Achse (HHNA), des noradrenergen Systems (Arousals / Schlafstörungen) und der endogenen Opiate.
MRT-Untersuchungen haben gezeigt,
›
dass chronischer Stress zu neuronalen
Zelluntergängen mit einer hippocampa­
len Atrophie (5-26% Volumenvermin­
derung) führt (Hippocampus = Ort komplexer Lernvorgänge: Zuordnung emotio­
naler Bedeutungen zu Ort und Stimuli).
Unter Nutzung der Positronen-EmissionsTomographie (PET) lässt sich der regiona­
le cerebrale Blutfluss (rCBF) messen. Er
zeigt bei PTBS-Patienten unter
Provokationsbedingungen rechtslateral
im Gyrus cinguli und in der Amygdala
eine Erhöhung und linkslateral, insbeson­
dere in der Broca-Region eine
Verminderung (Ehlert, 1999).
Literatur
Dilling, H.& Mombour, W. & Schmidt, M.H. (Hrsg) (1991). Internationale Klassifikation psychischer Störungen ICD-10 Kapitel V (F) Klinisch-diagnostische Leitlinien. Weltgesundheitsorganisation. Bern: Huber.
Ehlert, U. (1999). Psychobiologische Aspekte der PTBS, Nervenarzt 70: 773-779
Fiedler, P. (2001). Dissoziative Störungen und Konversion. Weinheim: Beltz.
Fischer, G.& Riedesser, P. (1998). Lehrbuch der Psychotraumatologie. München: UTB (Reinhardt). Fischer, G. & Becker-Fischer, M. & Düchting, C. (1998). Neue Wege in der Opferhilfe. Ergebnisse und Verfahrensvorschläge aus dem Kölner Opferhilfe Modell (KOM).Hrsg.: Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen.
Hofmann, A. (1999). EMDR in der Therapie psychotraumatischer Belastungssyndrome. Stuttgart: Thieme.
Kardiner, A. (1941). The traumatic neuroses of war. New York: Hoeber
Kulka, R.A.& Schlenger, W.E.& Fairbank, J.A. et al. (1990). Trauma and the vietnam war generation. New York: Brunner & Mazel Maercker A. (Hrsg.) (1997). Therapie der posttraumatischen Belastungsstörungen. Berlin: Springer.
Mitchell, J. T. & Everly G. S. (1998). Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen. Stumpf und Kossendey, Edewecht.
van der Kolk, B.A. & Mc Farlane, A.C.& Weisaeth, L. (Hrsg.) (2000). Traumatic stress, Paderborn: Junfermann.
Weerts, J.M.P. (2001). Studies on Military Peacekeepers. In Danieli, Y. (Hrsg.) Sharing the frontline and the back hills: international protectors and providers (S.31-48). New York: Baywood publishing.
Wothe, K. (2001). Belastungsfaktoren im Einsatz. In K. Puzicha, D. Hansen & W. Weber (Hrsg.), Psychologie für Einsatz und Notfall (S.65-71). Bonn: Bernard & Graefe Verlag.
51
Organisation des
Critical Incident
Stress Managements
in der Bundeswehr*
Wolfgang W. Weber
Kurzfassung
Mit Beginn der Unterstützung von Auslandseinsätzen verstärkte sich der Bedarf an primären Interventionsmaßnahmen, um die Belastung
betroffener Soldaten zu minimieren. Nach der Analyse nationaler und internationaler Modelle bzw. Vorgehensweisen entschied sich der
Bundesminister der Verteidigung zur Anpassung des Critical Incident Stress Managements nach Mitchell und Everly an die nationalen
Bedürfnisse.
Nach einem kurzen Rückblick auf die Entscheidungsgründe werden die bisher realisierten Stationen und ihre organisatorische Einbettung
in bestehende Strukturen der Bundeswehr erläutert und aktuelle wissenschaftliche Begleituntersuchungen dargestellt.
Bisherige Erfahrungen aus Einsätzen im In- und Ausland werden angesprochen.
1 Einleitung
Schon immer haben sich Menschen um
diejenigen gekümmert, die von einem
besonders schlimmen Ereignis, dem Tode
eines Angehörigen, einem Unfall etc.
betroffen waren. Die Hilfe bzw. Unter­
stützung folgt in der Regel bestimmten
Formen und ist häufig (z.B. durch Tragen
von Trauerkleidung) ritualisiert. Zur
Gruppe der von einem Extremereignis
besonders Betroffenen gehören nicht nur
Opfer und Zeugen eines solchen Gesche­
hens sondern auch die Helfer. In militäri­
schem Kontext könnten die „Rollen“ kon­
kret so aussehen: Ein Soldat, der in
Kampfhandlungen verwickelt ist, wird
verwundet. Ein anderer wird Augenzeuge,
wie sein Kamerad getötet wird. Ein Drit­
ter wird dadurch extrem belastet, dass er
die Leichen seiner Kameraden bergen
muss.
Psychologische Krisenintervention bei
derartig Betroffenen dient dem Erhalt
bzw. der Wiederherstellung der individu­
ellen Integrität, der Erlebnis- und Hand­
lungsfähigkeit sowie der Vermeidung von
Spätschäden. Die systematischen Maß­
nahmen, die in einem unmittelbaren Zu­
sammenhang mit der Bewältigung eines
solchen kritischen Ereignisses stehen,
werden im Folgenden unter dem Begriff
des ‚Critical Incident Stress Management’
(CISM) zusammengefasst und betrachtet.
Nach hiesiger Kenntnis wird eine syste­
matische Krisenintervention in der Mili­
tärliteratur erstmalig durch Kardiner &
Spiegel (1947) beschrieben. Diese Auto­
ren sprechen im Hinblick auf den Zeit­
punkt der Anwendung und der Ausge­
staltung zu applizierender Maßnahmen
von einem ‚PIE‘–Modell. Dabei stehen die
einzelnen Buchstaben P für proximity
(Nähe zum Ereignis), I für immediacy
(Unmittelbarkeit) sowie E für expectancy
(Art, Form und Ziel der Unterstützung).
Als Effekte der Krisenintervention stellen
die Autoren heraus, dass das Verfahren
die Würde des Individuums stärke, es
sich positiv auf die Funktionsfähigkeit
der betroffenen Gruppe auswirke und zu
einer raschen Wiederherstellung der Ein­
satzfähigkeit der betroffenen Soldaten
führe. Psychologische Krisenintervention
im zivilen Umfeld (z.B. bei der Polizei, der
Feuerwehr, Rettungs- und Notfalldien­
sten) erfuhr den Durchbruch mit der Ver­
öffentlichung von Mitchell (1983).
2 Critical Incident Stress
Management (CISM) in der
Bundeswehr
Die Unterstützungsmaßnahmen für be­
sonders belastete Soldaten der Bundes­
wehr sind in die Vorgaben des ‚Rahmen­
konzept zur Bewältigung psychischer
Belastungen bei Soldaten’ eingebunden.
Es gilt für den Gesamtbereich der Streit­
* Vortrag gehalten auf dem dreitägigen Fachseminar Posttraumatische Belastungsstörung vom 08.-10. Oktober 2001 in der Psychosomatischen Fachklinik Bad Pyrmont.
53
›
Das Rahmenkonzept zur Bewältigung Psychischer Belastungen
bei Soldaten
Grundsätze
Bewältigung psychischer Belastungen von Soldaten
Phase I
Einsatzvorbereitung
Phase II
Einsatzdurchführung
Phase III
Einsatznachbereitung
Zu erwartende Belastungen
Erkennen akuter psych. Belastungen
Reintegration
Streß Training
Sofortmaßnahmen/
Erfassung d. Sold.
Ebene 1
Selbst-/Kameradenhilfe
Vorgesetzte/
ausgebildete Kameraden
Ebene 2
TrPsych; TrArzt; Sozial­
dienst; MilSeelsorge
Erkennen und Behandeln
von Folgeschäden (PTSD)
Ebene 3
Fachärzte
klinische Psychologen
Abb. 1
kräfte, d.h. die vier Teilstreitkräfte Heer,
Luftwaffe, Marine und Sanitätsdienst.
Aktuell liegt es in seiner neuesten Fas­
sung vom März 2000 vor. Es wird konti­
nuierlich überprüft und fortgeschrieben.
Im Konzept werden drei Phasen eines
Einsatzes angesprochen, in denen unterschiedliche Unterstützungsangebote vorgesehen sind. Diese gliedern sich wiede­
rum in jeweils drei qualitativ unter­
schiedliche Ebenen fachlicher Qualifikation. Daher ist das Konzept auch unter
der Bezeichnung ‚Drei Phasen – Drei Ebe­
nen – Konzept’ bekannt (Abb. 1).
Die drei Phasen sind
• Phase I die Einsatzvorbereitung,
• Phase II die Einsatzbegleitung und
• Phase III die Einsatznachbereitung.
Während der Phase I, der Einsatzvorbe­
reitung – das kann sowohl während der
Allgemeinen Grundausbildung als auch
im Zusammenhang mit einem geplanten
Einsatz sein –, werden die Soldaten ganz
allgemein über zu erwartende Belastun­
gen unterrichtet. Sie werden auf ihre
eigenen Fähigkeiten zur Belastungsbe­
wältigung (fachlich: stress-coping) auf­
merksam gemacht und über die verschie­
denen vorgesehenen bzw. verfügbaren
Unterstützungsmöglichkeiten hingewiesen. Die Tiefe dieser Informationen gliedert
sich – wie vorgesehen – in drei Ebenen:
54
Ebene 1:
Ebene 1 ist die Selbst- und Kameradenhilfe, die Unterstützung durch Vorgesetz­
te und/oder durch ausgebildete Kamera­
den (Peers).
Ebene 2
Je nach Lage und zu erwartender Belas­
tung wird eine Informationsqualität
gefordert, die durch den Truppenarzt, den
Truppenpsychologen, den Sozialdienst
und/oder den Militärpfarrer angeboten
und an die Soldaten herangetragen wird.
Ebene 3
Es kann erforderlich sein, die Soldaten
durch Fachärzte (Psychiatrie und Neuro­
logie) und/oder klinisch arbeitende
Psychologische Psychotherapeuten der
Bundeswehrkrankenhäuser zu unter­
stützen.
Während des Einsatzes, der Phase II, stehen dem besonders belasteten Soldaten
genau die gleichen qualitativ unterschiedlichen Ebenen der Unterstützung
zur Verfügung, wie während der Einsatz­
vorbereitung. Folgende Unterschiede sind
allerdings bemerkenswert: eine Unter­
stützung durch den Sozialdienst ist z.Z.
nicht im Einsatz selbst, sondern nur über
die Familienbetreuungsorganisation im
Heimatland verfügbar. Unterstützungs­
maßnahmen, die die Qualität der Ebene 3
erfordern, werden – wenn erforderlich –
zur Entlastung der Truppe im Einsatz in
Bundeswehrkrankenhäusern durchgeführt.
Die Einsatznachbereitung, die Phase III,
konzentriert sich sowohl auf den kogni­
tiven und auch emotionalen Abschluss
des Einsatzes, der mit ihm verbundenen
Erlebnisse und Erfahrungen als auch auf
das Erkennen und Behandeln von Folge­
schäden, z.B. posttraumatischen Störun­
gen. In Reintegrationsseminaren (Pflicht­
teilnahme) sollen die am Einsatz beteilig­
ten Soldaten in ihren gewachsenen
Kameradschaften Gelegenheit finden,
den Einsatz mental abzuschließen, den
Sinn des Einsatzes, den individuell erleb­
ten Erfolg und Misserfolg sowie ihr ggf.
verändertes soziales Umfeld für sich
selbst und in der Gruppe zu reflektieren,
um sich abschließend auf die Aufgaben
ihrer jeweiligen Stammeinheiten einzu­
stimmen.
3 Grundsätze
Die fachlichen Grundsätze des CISM
werden in einem Konzept (MedizinischPsychologisches Stresskonzept der Bun­
deswehr) zusammengefasst, das das
Zusammenwirken ärztlicher und psycho­
logischer Fachkräfte beschreibt und da­
mit auch festlegt. Es ist entlang der
durch das Rahmenkonzept zur Bewälti­
gung psychischer Belastungen vorgege­
benen Struktur gegliedert und enthält
Festlegungen zu den verschiedenen Aus­
bildungen, die es zu durchlaufen gilt
und zu den angestrebten Qualifikatio­
nen, die erreicht werden sollen (jeder
Soldat, sei er Kamerad, Unteroffizier,
Offizier, Vorgesetzter oder Untergebe­
ner). Als besonders qualifizierte Perso­
nenkreise werden die Peers, die Truppen­
ärzte und -psychologen sowie die Fach­
ärzte für Neurologie und Psychiatrie und
Psychologischen Psychotherapeuten der
Bundeswehrkrankenhäuser definiert. Die
erforderlichen Qualifikationen, Aus­
bildungen und die erreichbaren Zertifi­
zierungen für die Übernahme der ver­
schiedenen Funktionen sind dement­
sprechend gegliedert.
Die erforderlichen Maßnahmen zur
Koordinierung des Sanitäts- und des
Psychologischen Dienstes sowie der Ein­
satz von Einzelmaßnahmen (z.B. der Kri­
seninterventionsteams (KIT) s. Ziff. 4, 5)
werden festgelegt: Zur fachlichen Füh-
rung der Teams, d.h. der Ausbildungs­
steuerung, der Einsatzauswertung und
zur Fortentwicklung ist auf der Ebene
des Bundesministeriums der Verteidi­
gung die Arbeitsgruppe ‚Psychophysische
Stressbewältigung’ (AGPS) eingerichtet,
in der alle am Stressmanagement betei­
ligten Dienste zusammenarbeiten.
Die Arbeitsgruppe Psychophysische
Stressbewältigung (AGPS) plant den Ein­
satz der medizinischen und psychologi­
schen Kräfte vor, während und nach ei­
nem Einsatz. Die AGPS wird grundsätz­
lich über alle Einsätze informiert.
Der Anhang enthält strukturierte Ausbil­
dungspläne sowie eine Reihe von Check­
listen (Anlagen 1-4) zum standardisierten
Einsatz des KIT – Teams.
Das Konzept wird von einem Glossar
abgeschlossen, um ein einheitliches Ver­
ständnis der verwendeten Begriffe und
Maßnahmen zu erreichen.
Wie bereits erläutert sind alle Maßnah­
men des CISM konkrete Umsetzungen
des Rahmenkonzepts und lassen sich gut
als eine Aufeinanderfolge auf der Zeit­
›
achse darstellen (Abb. 2: CISM).
Vor und unmittelbar zu jedem Einsatz
werden alle beteiligten Soldaten wie
bereits ausgeführt über das Konzept des
CISM und der vorhandenen Unterstüt­
zungsmöglichkeiten am Heimatstandort
und im Einsatz unterrichtet.
Geschieht ein belastendes Ereignis, das
die Kriterien eines ‚Critical Incidents’ 1
erfüllt, kommt es zur Krisenintervention,
d.h. zur Einleitung „rasch einsetzender
emotionaler ‚Erster Hilfe’, um den psy­
chischen Zustand des Betroffenen zu sta­
bilisieren und akute Symptome von
Stressbelastung zu reduzieren. Der Be­
troffene wird dabei unterstützt, zu einem
Zustand angemessener Situationsanpas­
sung zurückzukehren“ (Everly & Mitchell,
1997). Nach der Akutversorgung der be­
lasteten Soldaten oder Zivilangehörigen,
zu der die Maßnahmen der Demobilisie­
rung und des Defusing gehören können,
wird durch den Truppenpsychologen zu­
nächst eine Informationsveranstaltung,
ein ‚Psychologisches Briefing’, durchge­
führt, an dem alle Betroffenen teilneh­
men müssen.
Zeitliche Aufeinanderfolge von CISM-Maßnahmen
CISM-Grundsätze
Rahmenkonzept für die Bewältigung von psychischen Belastungen
Peer- und Teamleiter Ausbildung und Training
Demobilization, Defusing, indiv. PTSD – Risiko Analyse
Debriefing (CISD)
One-on-One Beratung, MPTT
(fachliche) Beobachtung
Informationen über
Maßnahmen der
Einsatznachbereitung
Klinisches
Debriefing
2.-3.D 3.D-4W >6W
Während des
weiteren Einsatzes
Vor
Beendigung
des Einsatzes
Im Rahmen dieser Veranstaltung werden
den Betroffenen Inhalte vermittelt, die
denen der TEACHING-Phase nach MIT­
CHELL entsprechen: Die Betroffenen wer­
den über ihre möglichen individuellen
Reaktionen auf das außergewöhnliche
Ereignis unterrichtet (‚normale’ Reaktio­
nen auf ein außergewöhnliches Ereignis)
und über die in der Folgezeit angebote­
nen CISM-Maßnahmen zur Kompensa­
tion des eigenen Erlebens informiert.
Parallel führt der Truppenpsychologe eine
Analyse zur Abschätzung der individuel­
len Risikofaktoren der Betroffenen im
Hinblick auf die Entwicklung einer Post­
traumatischen Belastungsstörung (PTBS
bzw. engl. PTSD 2) durch. Dazu kommt
ein Fragebogen zum Einsatz, der in sei­
ner ursprünglichen Form unter der
Bezeichnung ‚Kölner Risiko-Index’ in der
Literatur bekannt geworden ist (FISCHER,
1998). Die verwendete Form ist ein
Ergebnis eines seit 2000 laufenden For­
schungsprojektes des Bundesministeri­
ums der Verteidigung. Sie wurde an die
spezifischen Bedürfnisse der Bundeswehr
angepasst und evaluiert. Dieses Risiko­
assessment dient dem Ziel, die größere
Zahl Betroffener grob einer von drei
etwa gleichgroßen Gruppen zuzuordnen:
derjenigen der PTSD-Gefährdeten, die der
mit großer Wahrscheinlichkeit weniger
Gefährdeten und diejenige der soge­
nannten Wechsler (FISCHER et al. a.a.O.).
Diese Zuordnung erlaubt es, im weiteren
Verlauf nach dem Ereignis, den Betroffe­
nen die jeweils adäquate Unterstützung
anzubieten, d.h. ein Debriefing, eine
One-on-One Beratung oder eine Mehrdi­
mensionale Psychotrauma Therapie
(MPTT).
In der Folgezeit sind Kameraden und Vor­
gesetzte gefordert, auf Veränderungen
im Verhalten Betroffener zu achten und
kameradschaftlich zu agieren, wenn die
eigenen Möglichkeiten erkennbar nicht
mehr ausreichen.
Im Rahmen der Vorbereitung auf die
Rückkehr in das Heimatland werden die
positiven und auch negativen Erlebnisse
angesprochen und die eigenen wie auch
die möglichen Veränderungen des sozialen
Nach dem
Einsatz
Critical Incident
Abb. 2
1
2
Ein Critical Incident ist dadurch charakterisiert, dass es sich um ein Ereignis handelt, das zu einen akuten Verlust des psychischen Gleichgewichts führt und bei dem die
gewohnten Bewältigungsmechanismen versagen und Symptome von Stressbelastung und funktionaler Beeinträchtigung auftreten (APA, 1994)
Die deutsche Bezeichnung ‚Post-traumatische Belastungsstörung’ (PTBS) ist gleichbedeutend mit der englischen Posttraumatic Stress Disorder (PTSD). Eine weitere
Bezeichnung für diese Art von Störungen ist ‚Post-traumatische Störung’ (PTS)
55
Umfeldes, der Partnerinnen/Partner, Kin­
der und Angehörigen diskutiert. Der
Truppenpsychologe richtet im Rahmen
dieser Maßnahmen seine Aufmerksam­
keit auf die Soldaten und Teileinheiten,
die besonderen Belastungen ausgesetzt
waren: Hat der Truppenpsychologe den
Eindruck gewonnen, dass besonders
belastete Soldaten noch nicht das oder
die kritischen Ereignisse adäquat verar­
beiten konnten, vereinbart er mit deren
Zustimmung und unter Einschaltung des
Truppenarztes ein Gruppengespräch mit
einer Einsatznachbereitungsgruppe (ENG)
eines Bundeswehrkrankenhauses. Diese
besonders und zusätzlich qualifizierten
Gruppen sind in der Lage, das Restrisiko
der Entwicklung einer posttraumatischen
Belastungsstörung oder anderer Formen
abweichenden Verhaltens zu diagnosti­
zieren und den Einzelnen über die wei­
teren Maßnahmen einer Behandlung zu
beraten. Wichtig ist anzumerken, dass
erst jetzt der ‚Fall’ erstmalig eine ärztli­
che Dokumentation erfährt, wenn nach
diesem Gruppen- oder Einzelgespräch
mit der ENG eine Indikation angezeigt ist
und der/die Betroffenen zustimmt.
Eine solche Dokumentation ist im Hin­
blick auf die Geltendmachung etwaiger
Ansprüche an das Gesundheits- und
›
Sozialsystem notwendig und erforderlich,
da so das kritische Ereignis in einen
ursächlichen Zusammenhang mit den
durchgängig beobachteten Verhaltens­
änderungen gebracht wird.
4 Ausbildung /
Standardisierung
Ausbildung und Qualitätsstandards fol­
gen dem seitens der World Health Orga­
nisation (WHO) anerkannten Verfahren
des CISM. Alle Soldaten und zivilen Mit­
arbeiter und Mitarbeiterinnen, die sich
für eine Tätigkeit im Rahmen der CISMMaßnahmen insbesondere in einem KIT
interessieren, werden in Präventions- und
Kriseninterventionstechniken geschult;
sie erhalten eine ausführliche Ausbildung
im Stressmanagement (Abb. 3).
Erfahrungsgemäß sind solche Personen
für die Arbeit in einem KIT besonders
geeignet, die sich durch
•
•
•
•
•
soziale Kompetenz,
Lebenserfahrung,
hohe Akzeptanz im Kameradenkreis,
stabile Persönlichkeit,
Interesse an einer solchen Tätigkeit
und
• Freiwilligkeit auszeichnen.
Trainingsmodule
für alle Soldaten
Stress-Coping Verhalten,
Selbst- und Kameradenhilfe
Stress-Management Techniken
für Vorgesetzte
CISM, Kurse zur Verbesserung der
allgemeinen und besonderen Kompetenz
zur Gesprächsführung
Identifizierung von Stress Symptomen
Defusing
für Peers
CISM, Peer-Unterstützungsmaßnahmen
Peer-Tätigkeit
für Truppen- und Fachärzte & TruppenpPsychologen
CISM- Maßnahmen,
CISD-Team-Leiter-Kompetenz
für Fachärzte (Neurologen, Psychiater, Psychologische Psycho-Therapeuten)
CISM-Maßnahmen,
Traumatologie, Trauma-Therapie
Abb. 3
56
Bei der Bundeswehr werden als Leiter
von Kriseninterventionsteams in der
Regel besonders qualifizierte Ärzte und
Psychologen mit Ausbildung in Stress­
managementverfahren und psycho­
diagnostischer Erfahrung herangezogen.
Aus diesem Grund bauen die Aus­
bildungsinhalte für zukünftige KIT-Leiter
auf dem während des Studiums der
Medizin bzw. der Psychologie erworbenen
Wissen auf. Lerninhalte sind unter ande­
rem: Psychotraumatologie, Psychosoma­
tik, Interventionstechniken, Gesprächs­
führung bei psychosomatischen Erkran­
kungen, stressbedingte Verhaltensstörun­
gen, Verbesserung der eigenen
diagnostischen Kompetenz, spezifische
Behandlungstechniken (insbesondere
Kurzverfahren). Als (eigen-) verantwort­
licher Leiter eines KIT wird ein Arzt oder
Psychologe erst eingesetzt, wenn er an
mindestens vier Debriefings als Peer oder
Co-Leiter teilgenommen hat, er sich die
Aufgabe zutraut und seitens seiner Fach­
vorgesetzten für ausreichend kompetent
gehalten wird.
Eine Heranziehung weiterer Personen­
kreise erscheint denkbar, ist jedoch zur
Zeit nicht geplant.
Der Ausbildung der Peers wird besondere
Aufmerksamkeit gewidmet: Die Bundes­
wehr bildet ihre Peers in Lehrgängen aus,
die 2 Wochen dauern. Die Begründung
liegt darin, dass die ersten Erfahrungen
mit der Peer-Ausbildung gezeigt haben,
dass in den zunächst angebotenen 2 bis 3
Tagekursen die Einübung eines Rollenver­
haltens nur unvollkommen gelang. Aus
diesem Grunde wurde der 14 Tage Lehr­
gang konzipiert, der nun ausreichend Zeit
für die verschiedenen Gruppenübungen
vorsieht. Der Lehrgang ist innerhalb der
Bundeswehr standardisiert. Er wird an
einer Reihe von Dienststellen durchge­
führt. Bei Eignung und Zustimmung des
Lehrgangsteilnehmers wird für ihn die
Vergabe einer eigenen Ausbildungs- und
Tätigkeitsbezeichnung beantragt.
Mittelfristig werden die Namen aus­
gebildeter Peers in einer zentralisierten
Datenbank aufgenommen werden, um im
Bedarfsfall die Personen heranziehen zu
können, die von ihrer Truppengattung als
auch militärischen Funktion her dem
Anspruch an einen Peer genügen. Alle
Militärgeistlichen und eine Reihe von
Mitarbeitern des Sozialdienstes der
Bundeswehr haben zwischenzeitlich eine
Peerausbildung erhalten. Damit ist
sichergestellt, dass an jedem Standort im
Bedarfsfall eine zusätzliche qualifizierte
Unterstützung zur Belastungsbewälti­
gung vorhanden ist.
Peers wie KIT-Leiter haben die Möglich­
keit zu regelmäßiger Supervision. Dazu
können sie auf eine Liste von regional
verfügbaren Supervisoren zurückgreifen.
5 Alarmierung und Einsatz
Die Verfügbarkeit der Krisentinterven­
tionsteams (KIT) der Bundeswehr ist
bedarfsorientiert strukturiert: Drei in der
Bundesrepublik regional verfügbare und
ständig alarmbereite Teams können
sofort eingesetzt und situationsabhängig
und in angemessener Zeit (d.h. ein bis
zwei Tage nach einem Ereignis) durch
eine größere Anzahl weiterer Teams
ergänzt werden.
Ein KIT der Bundeswehr setzt sich aus
einem Arzt oder Psychologen als Leiter
und zusätzlichem geschulten Personal
(Funktions-, Sanitäts- oder psycholo­
gisches Assistenzpersonal, Sozialarbeiter,
Militärgeistlichen, und Peers) zusammen.
Der Teamleiter wird in der Regel von
zwei Peers unterstützt.
Die Teams können im In- und Ausland
überall dort eingesetzt werden, wo Ange­
hörige der Bundeswehr von Extremereig­
nissen betroffen wurden. KIT’s werden
auf Anforderung durch die jeweiligen
Kommandobehörden tätig. Bei zivilen
Katastrophen und Notfällen, zum Beispiel
beim Zugunglück in Eschede oder zuletzt
in New York anlässlich des Attentats auf
das World Trade Center am 11. Septem­
ber 2001, unterstützen Teams der
Bundeswehr im Rahmen der gesetzlichen
Regelungen der zivil-militärischen
Zusammenarbeit und nach Anforderung
auch zivile Einsatzkräfte. Unterstützt
werden nicht nur die eingesetzten oder
betroffenen Soldaten sondern auch zivile
Betroffene, Opfer wie Helfer.
Es ist vorgesehen, dass Inanspruchnahme
und Alarmierung eines Krisentinterven­
tionsteams in den Alarmplänen bzw. einer
Zentralen Dienstvorschrift geregelt werden.
Für die Bundeswehr sind Kriseninterven­
tionsteams nach dem Kriterium einer
gleichmäßigen regionalen Verteilung auf­
gestellt. In jedem der Wehrbereiche wer­
den in Kürze jeweils zwei bis drei Team­
leiter einsatzfähig sein. Militärische Peers
werden im Bedarfsfall durch die Dienst­
stellen/Truppenteile abgestellt. Eine
Reihe von Verbänden verfügt mit ‚ihrem’
Truppenpsychologen über einen eigenen
Teamleiter.
Alle Teamleiter unterstützen bei Bedarf
die drei zentralen Alarmteams.
• Im Norden ist dieses am Schiffahrt­
medizinischen Institut der Marine
(SchiffMed InstM) eingerichtet;
Hauptauftrag ist die Unterstützung
der Marine.
• In Koblenz steht ein Team beim Zen­
trum Innere Führung (ZInFü) zur Ver­
fügung.
• Ein drittes Team wird beim Flugmedi­
zinischen Institut der Luftwaffe
(FlMedInstLw) vorgehalten; dessen
Hauptauftrag ist die Unterstützung
der Luftwaffe sowie der Fliegenden
Verbände aller drei Teilstreitkräfte.
Werden Angehörige der Bundeswehr im
Dienst von einem kritischen Ereignis
betroffen, entscheidet der Einheitsführer
oder seine Vorgesetzten, ob ein Krisenin­
terventionsteam zu alarmieren ist. Zur
Entscheidungsfindung nutzt er die
‚Checkliste Entscheidungshilfe’ (Anhang
1). Die Alarmierung eines der drei ständig
vorgehaltenen Teams erfolgt entweder
durch das Führungszentrum der Bundes­
wehr, die jeweilige Kommandobehörde
oder den Leitenden Sanitätsoffizier des
betroffenen Verbandes.
Es wird angestrebt, dass alle Teamleiter
auf eine aktuelle Liste regional verfüg­
barer Peers zurückgreifen können. Im
Zuge der Alarmierung entscheidet der
erst-alarmierte Teamleiter anhand einer
‚Checkliste Vorbereitung des Teams/der
Teammitglieder’ (Anhang 2), ob das
eigene Team und/oder die ortsnah
verfügbaren Kräfte ausreichen oder durch
regional verfügbare Kräfte verstärkt
werden müssen.
Diese Entscheidung ist abhängig vom
Ausmaß des kritischen Ereignisses,
insbesondere von der Anzahl der Be­
troffenen. Sie wird in aller Regel in
Abstimmung mit den zuständigen Fach­
referaten im Bundesministerium der Ver­
teidigung getroffen.
Der alarmierte Teamleiter beginnt nach
einer ersten telefonischen Absprache mit
der betroffenen Einheit mit den Vorberei­
tungen seines Einsatzes. Dazu informiert
er die Einheit grob über die beabsichtig­
ten Maßnahmen und kündigt ein Fax mit
seinen Fragen zum Unterstützungsbedarf
an (‚Checkliste Vorbereitungen in der
Einheit‘; Anhang 3).
Nach dem Abschluss der Akutversorgung
bearbeitet der Teamleiter die ‚Checkliste
Erfahrungsbericht‘ (Anhang 4). Dieser
Bericht wird auf dem Dienstweg sowohl
dem zuständigen Fachvorgesetzten als
auch der Arbeitsgruppe Psychophysische
Stressbewältigung zugeleitet. Dadurch ist
sichergestellt, dass Stressmanagementein­
sätze nachträglich stets evaluiert werden.
Die Unterstützung bei zivilen Unglücken
kann nur im Rahmen der vereinbarten
zivil-militärischen Zusammenarbeit
(z.B. im Rahmen abgestimmter Katas­
trophenpläne) und dann auch nur mit
ausdrücklicher Genehmigung des
Führungszentrums der Bundeswehr
erfolgen.
6 Zusammenfassung
Das Critical Incident Stress Management
(CISM) ist in das ‚Rahmenkonzept zur
Bewältigung psychischer Belastungen bei
Soldaten’ eingebettet. Es gliedert sich in
drei Phasen eines militärischen Einsatzes
– der Einsatzvorbereitung, -begleitung
und -nachbereitung. Die in jeder Phase
verfügbaren Unterstützungsmaßnahmen
unterscheiden jeweils drei Ebenen fach­
licher Qualifikation:
Selbst- und Kameradenhilfe/Hilfe durch
Vorgesetzte und Peers, Truppenärzte und
Truppenpsychologen/Militärpfarrer/Sozial­
arbeiter und Fachärzte für Psychiatrie/
Psychologische Psychotherapeuten.
Die erforderlichen Maßnahmen werden
in einem medizinisch-psychologischen
Fachkonzept definiert, aufeinander abge­
stimmt und organisatorisch festgelegt. Es
enthält auch die Ausbildungsmodule, die
für eine qualifizierte und standardisierte
Funktionsausübung für erforderlich ge­
halten werden. Dies ermöglicht Betroffe­
nen und dem CISM-Fachpersonal, die
Übersicht über den Sinn und die zeitliche
Aufeinanderfolge der verschiedenen Un­
terstützungsmaßnahmen zu er- und zu
behalten. Abschließend werden die Alar­
mierung und der Einsatzgrundsätze von
Kriseninterventionsteams in der Bundes­
wehr erläutert.
57
›
Literatur
BMVg – Fü S I vom 07. März 2000 – Rahmenkonzept zur Bewältigung psychischer Belastungen bei Soldaten
BMVg – InSan I 1/PSZ III 4 vom April 2000 – Medizinisch-Psychologisches Stresskonzept der Bundeswehr (Entwurf)
Kardiner, A., & Spiegel, H. (1947). War Stress And Neurotic Illness. Paul B. Hörber New York
Mitchell, J.T.(1983): When disaster strikes... The critical incident stress debriefing process. J. of Emergency Medical Services 8(1), S 36-39
Mitchell, J.T. & Everly, G.S. (1994). Human Elements Training for Emergency Services, Public Safety and Disaster Personnel: An Instructural
Guide to Teaching Debriefing, Crisis Intervention and Stress Management Programs. Chevron Publishing Corp., Ellicott City, MD, USA
Everly, G.S. & Mitchell, J.T. (1997). Critical Incident Stress Management: A New Era and Standard of Care in Crisis Intervention. Chevron
Publishing Corp., Ellicott City, MD, USA
Fischer, G., Becker-Fischer, M. & Düchting, C. (1998). Neue Wege in der Opferhilfe. Ergebnisse und Verfahrensvorschläge aus dem Kölner
Opferhilfsmodell (KOM). Hg.: Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales Nordrheinwestfalen.. Schriftenreihe des Ministeriums
58
›
Anhang 1
Checkliste Entscheidungsfindung
(Bei mehr als vier JA-Antworten oder wenn Ziffer 10 mit ,JA‘ beantwortet wird, ist die Anforderung eines Kriseninterventionsteams
fachlich erforderlich)
JA
1
Der Einsatz unterschied sich von der Routine, weil
(Gründe:)
...........................................................................................................................................................................................................
2
Unterstellte Soldaten / Beteiligte waren extremen Belastungen ausgesetzt.
3
Bei dem Ereignis hat es Verletzte / Verwundete / Tote gegeben.
4
Die Art des Geschehens / der Verletzungen war besonders traumatisierend.
5
Soldaten / Zivilisten / Kinder sind / waren vom Vorfall betroffen.
6
Rettung, Bergung und Abtransport der Betroffenen / Verwundeten / Toten / Leichenteile war
besonders schwierig und belastend.
7
Es waren Angehörige zu benachrichtigen.
8
Die Soldaten haben sich jetzt, ................ Stunden nach dem belastenden Ereignis, immer noch
nicht beruhigt
9
Soldaten / Unterstützungspersonal zeigt(en) sich psychisch und / oder körperlich deutlich beeindruckt.
10 Die Betroffenen wünschen eine Betreuung durch Fachpersonal.
Ich entscheide mich GEGEN eine Inanspruchnahme eines Kriseninterventionsteams,
weil:
...................................................................................................................................................................................
59
›
Anhang 2
Checkliste Vorbereitung KIT-Teamleiter/Teammitglieder
...........................................
....................................................
Durchführende Dst
Ort, Datum
Az 66-55-00
Tel.:
Fax:
Post:
Handy:
1
2
2.1
2.2
2.3
Gem. Anforderung vom .............................................................................................................. wird das Kriseninterventionsteam
der/des ........................................................... am ....................................................... ab ........................................................ die
angeforderte/angewiesene Debriefingmaßnahme durchführen.
Das Kriseninterventionsteam
Leiter des Teams ist : ........................................................................................................................................................................
Co-Leiter
: .......................................................................................................................................................................
eingeteilte Peers : .......................................................................................................................................................................
3
Die Einheit wurde am .................................. um ......................... per Fax über die zu treffenden Maßnahmen informiert (FormBl: Checkliste Vorbereitung in der Truppe)
3.1
Zahl der unmittelbar betroffenen Soldaten (Einheit, Anzahl, DstGrd, Funktionen) ............................................................................
3.2
Zahl der mittelbar betroffenen Soldaten ..........................................................................................................................................
3.3
Verletzte/Tote (Verbleib (z.B. Krankenhaus, krank zu Hause etc.) ......................................................................................................
3.4
Verursacher .....................................................................................................................................................................................
3.5
Ist die Trennung von Funktionsträgern/Dienstgraden erforderlich ....................................................................................................
3.6
Angehörige ......................................................................................................................................................................................
3.7
zufällige Zeugen, Beteiligte .............................................................................................................................................................
3.8
Wer/wieviele Personen sind bereits wieder abgereist: ......................................................................................................................
(Zuständigkeit) .................................................................................................................................................................................
3.9
Einsatznachbereitung/TrArzt, BwKrhs ...............................................................................................................................................
3.10 MilPf und/oder Sozialarbeiter ...........................................................................................................................................................
4
6
Was muss vor der Krisenintervention besprochen werden ? .............................................................................................................
.........................................................................................................................................................................................................
Was muss nach der Krisenintervention besprochen/abgestimmt werden? ........................................................................................
.........................................................................................................................................................................................................
Nachbesprechung mit dem Kdr/Einheitsfhr/Arzt erforderlich ............................................................................................................
7
Übernachtung/Verpflegung ..............................................................................................................................................................
8
Sonstige Unterstützung erforderlich (Abholung etc.) ........................................................................................................................
9
Bericht über die Krisenintervention (Formblatt: Bericht über ...) .....................................................................................................
5
..........................................................
Unterschrift
60
›
Anhang 3
Checkliste Vorbereitung durch die Truppe
...........................................
...........................................
Beauftragte Einheit
Ort, Datum
Az 66-55-00
Tel.:
Fax:
Post:
Handy:
An
......................................................
Truppenteil
Betr.:
Vorbereitung der Kriseninterventionsmaßnahme(n) durch die Truppe
Bezug:
1
Gern. Anforderung vorn .............................................................................................................. wird das Kriseninterventionsteam
der/des ......................................................... am ............................................................ ab ..................................................... die
angeforderte/angewiesene Debriefingmaßnahme durchführen. Die Maßnahme wird
zwischen 2 und 3 Stunden dauern. Teilnehmer sind alle unter Ziff. ........................ aufgeführten Soldaten/Angehörige.
2
2.1
2.2
Das Kriseninterventionstearn
Leiter des Teams ist ......................................................................................................................................................................
eingeteilte Peers sind ......................................................................................................................................................................
......................................................................................................................................................................
......................................................................................................................................................................
3
3.1
3.2
3.3
3.4
Bereiten Sie bitte vor (bis zum Eintreffen des oder der Teams).
Liste der unmittelbar betroffenen Soldaten (Einheit, Name, DstGrd, Funktion).
Liste der Angehörigen (soweit erforderlich bzw. zutreffend).
Liste der Verletzten/Toten (Verbleib(z.B. Krankenhaus, krank zu Hause etc.)).
Zusammenstellung der bereits eingeleiteten Maßnahmen.
Bereiten Sie je einen größeren Raum für jeweils 15 Betroffene mit einer Bestuhlung für jeden Teilnehmer zuzüglich mindestens 4 Stüh­
len für das Debriefing-Team. Die Stühle sind kreisförmig anzuordnen.
3.5
Stellen Sie je Interventionsteam 1 Besprechungsraum bereit (Büroraum, Telefon), in dem sich die Teammitglieder vorbereiten
können.
4
Bereiten Sie bitte einen Termin für eine Nachbesprechung mit dem Kdr/Einheitsfhr vor.
5
Bereiten Sie bitte Unterkunft und Verpflegung für ............ Angehörige des Kriseninterventionsteams vor.
Im Auftrag
..........................................................
Unterschrift
61
›
Anhang 4
Checkliste CISD-Erfahrungsbericht
...........................................................................................................................................................
...........................................
Amtsbezg., Name, Vorname
Ort, Datum
Tel.:
Bericht über die CISM – Maßnahme(n) ...........................................................................................................................................................
bei/im ..................................................................... von/bis ........................................................................
Kdr ..................................................................................................................................................................................................................
ChdS/LSO ........................................................................................................................................................................................................
Leitverband / betr. Einheit(en) .........................................................................................................................................................................
Unterstützende / beteiligte Einheiten ..............................................................................................................................................................
I
Zusammenfassung
II
Vorbereitungsphase
II.1
Unterstützung durch die entsendende Dienststelle /Vertretungsregelung
II.2
Vorbereitende Maßnahmen (zentrale/dezentrale Aus- und Fortbildungsmaßnahmen)
II.3
Einsteuerung in die Debriefing-Tätigkeit (Vorteile, Defizite etc.)
III
Einsatzerfahrungen III.1 Herausragende Ereignisse / Debriefings
III.2 Tätigkeitsfelder / Tätigkeitsschwerpunkte
(Fallzahlen, Schätzungen anteiliger Tätigkeiten, Zusammenarbeit/Inanspruchnahme durch andere Stabszellen, TrpVerw, RB, MilPf etc.)
III.3 Akzeptanz, Einbindung, regelmäßige/einmalige Beiträge/Beteiligungen etc.
(Teilnahme an Stabsbesprechungen, Kommunikation etc.)
62
III.4
Erfahrene Unterstützung
IV
Erfahrungen bei der Rückkehr in die Haupttätigkeit (Einsatznachbereitung)
V
Verbesserungs- bzw. Änderungsvorschläge
Konzeptentwicklungen
und klinische
Erfahrungen
zu Posttraumatischen Belastungsstörungen auf
dem Hintergrund der Vietnam-Veteranen*
Alexander Varn
1 Zusammenfassung
Der Artikel gibt zuerst einen kurzen geschichtlichen Überblick zur Evolution der Posttraumatischen Belastungsstörung in Bezug auf Kampf­
handlungen, von den ersten Erwähnungen einer solchen Symptomatik im Sezessionskrieg bis hin zur endgültigen Anerkennung der Störung
durch Aufnahme in das DSM III im Jahre 1980. Es wird aufgezeigt, dass im Vergleich zu vorhergehenden Kriegen die Anzahl der Soldaten,
die im Vietnamkrieg aufgrund akuter psychischer Probleme dienstunfähig wurden, sehr gering war, dass aber die Prävalenzrate der Post­
traumatischen Belastungsstörung bei Veteranen dieses Krieges um ein vielfaches höher war als aus vorhergehenden Kriegen zu erwarten
gewesen wäre. Die möglichen Gründe für diese Entwicklung sowie die Rahmenbedingungen des Krieges in Vietnam, die dieses begünstig­
ten, werden aufgezeigt. Anhand eines Fallbeispieles sowie anhand der einzelnen Symptome der Posttraumatischen Belastungsstörung wird
gezeigt, wie sich diese Störung bei Vietnamveteranen manifestiert. Trotz der hohen Anzahl der Vietnamveteranen, die an dieser Störung lit­
ten und noch leiden wurden erst 1979 von offizieller Seite Wiedereingliederungsprogramme für Vietnamveteranen ins Leben gerufen. Diese
Entwicklung der Hilfs- und Therapieangebote, angefangen von den Selbsthilfegruppen der Veteranen 1971 über die Errichtung staatlicher
Hilfsprogramme und der offiziellen Anerkennung der Störung bis hin zu den Einrichtungen und Programmen, die heute für die Veteranen
bereitstehen, wird aufgezeigt. In einem letzten Abschnitt wird kurz auf die drei Phasen der Therapie der Posttraumatischen Belastungsstö­
rung bei Kriegsveteranen eingegangen und die vier gängigsten Therapieansätze, nämlich die gruppentherapeutische, psychodynamische,
kognitiv-verhaltensorientierte und pharmakologische, kurz erläutert.
2 Einleitung
Die American Psychiatric Association
definiert die Posttraumatische Belastungsstörung als einen Zustand, der bei
Personen beobachtet werden kann, die
einer starken Stresssituation ausgesetzt
waren, die starke Angstgefühle, Hilflosigkeit und Entsetzen in ihnen auslöste.
Obwohl die Symptome der Posttraumatischen Belastungsstörung seit langem
bekannt sind, wurde die Störung erst
1980 in das Diagnostische und Statistische Manual mentaler Störungen (DSM)
aufgenommen. Viele unterschiedliche
traumatische Ereignisse (Naturkatastro-
phen, Vergewaltigungen, Kriege usw.)
können eine solche Störung auslösen.
Krieg als ein traumatisches Erlebnis kann
eine Posttraumatische Belastungsstörung
bei Soldaten auslösen. Insbesondere der
Vietnamkrieg hat bei vielen Soldaten, die
dort im Einsatz waren, eine solche Störung hervorgerufen. Aufgrund des gehäuften Auftretens der Posttraumatischen Belastungsstörung bei diesen Veteranen und aufgrund der Tatsache, dass
diese Betroffenengruppe maßgeblich an
der offiziellen Anerkennung dieser Störung beteiligt war, soll die Posttraumatische Belastungsstörung bei Vietnamveteranen genauer dargestellt werden.
3 Die Evolution der Post­
traumatischen Belastungsstörung in Bezug auf
Kampfhandlungen
Hinweise auf panikbedingte Störungen
gehen bis auf die Mitte des 19. Jahrhun­
derts zurück. Mit dem Aufkommen der
Eisenbahn fanden sich bei Überlebenden
der ersten Bahnunglücke dieselbe Symp­
tomatik – Ängste, Albträume und extreme
Schreckhaftigkeit. Diese Symptomkonstel­
lation wurde unter dem Namen „railway
hysteria“ (Bahnhysterie) in England be­
kannt. Die ersten Hinweise auf eine solche
Störung in Bezug auf Kampfhandlungen
* Vortrag gehalten auf dem dreitägigen Fachseminar Posttraumatische Belastungsstörung vom 08.-10. Oktober 2001 in der Psychosomatischen Fachklinik Bad Pyrmont.
63
finden sich im Amerikanischem Sezes­
sionskrieg. Hier wurde 1876 der Begriff
„soldier’s heart“ (Soldatenherz) eingeführt
um eine Symptomatik, die unter anderen
extreme Schreckhaftigkeit, Herzrasen und
Hypervigilanz umfasste, zu beschreiben,
an der viele Veteranen dieses Krieges lit­
ten (Fillmore, 2001). Im allgemeinen hat
man jedoch vor dem Ersten Weltkrieg psy­
chisch bedingte Dienstunfähigkeit unter
Soldaten als Feigheit oder mangelnde Dis­
ziplin beschrieben. Der starke Artillerie­
beschuss, dem die Soldaten im Ersten
Weltkrieg ausgesetzt waren, führte zur
Überlegung, dass psychisch bedingte
Dienstunfähigkeit auch aufgrund der
Kampfhandlungen auftreten können. Man
glaubte, dass die durch explodierende
Granaten verursachte Druckwelle zu einer
physiologischen Schädigung führe. Diese
Schädigung, die als „Shell Shock“ bezeich­
net wurde, wurde für solche psychischen
Dienstausfälle verantwortlich gemacht
(Glass, 1969).
Im Vergleich zum Ersten Weltkrieg nahm
die Anzahl der psychisch bedingten Aus­
fälle während der ersten Jahre des Zwei­
ten Weltkriegs um 300 Prozent zu,
obwohl bei der Musterung drei- bis vier­
mal mehr Männer aufgrund einer psy­
chiatrischen Indikation abgelehnt wurden
(Figley, 1978). Es gab Zeiten des Krieges,
in denen mehr Soldaten aufgrund psychi­
scher Störungen entlassen wurden als
neue eingezogen (Tiffany and Allerton,
1967).
›
Basierend auf Arbeiten von Albert Glass
(1945) wurde im Koreakrieg eine erste
systematische Intervention vorgenom­
men. Soldaten, die wegen erhöhten
Stresses zusammenbrachen, wurden
sofort behandelt, um ihre Diensttauglich­
keit wiederherzustellen. Dieses Vorgehen
erwies sich als sehr erfolgreich. Nur 6 %
aller Evakuierungen erfolgten aufgrund
psychischer Störungen. Im Vergleich dazu
waren es 23 % im Zweiten Weltkrieg
(Goodwin, 1987).
Während des amerikanischen Einsatzes in
Vietnam verzeichnete man mit 1,2 % die
bisher geringste Anzahl von psychisch
bedingten Ausfällen (Bourne, 1970). Man
nahm an, durch psychologische Betreu­
ung vor Ort und weitere Präventivmaß­
nahmen (die im einzelnen noch erläutert
werden), das Problem gelöst zu haben.
Als der Krieg in Vietnam mehrere Jahre
anhielt, klagte eine zunehmende Anzahl
von Soldaten, die seit längerer Zeit nicht
mehr an kriegerischen Handlungen teilge­
nommen hatten, über eine ähnliche
Symptomatik wie Soldaten, die aufgrund
von akuten psychischen Ausfällen evaku­
iert wurden (Goodwin, 1987). Dieses Phä­
nomen wurde bereits im Zweiten Welt­
krieg beobachtet. Nach dessen Ende klag­
ten manche Soldaten über Schlafstörun­
gen, Ängste, Alpträume, Depressionen und
Aggressionen. Diese Symptome traten
sowohl bei Soldaten auf, die einen akuten
psychischen Zusammenbruch während des
Krieges erlitten hatten, wie auch bei Sol­
Häufigkeiten für das Auftreten einer Posttraumatischen Bela­
stungsstörung unter männlichen Veteranen des Vietnamkrieges
(Kulka et al., 1990)
in %
Gesamtzahl der Männer, die in
Vietnam Dienst taten (ungefähr)
in Zahlen
3,14 Millionen
Veteranen, die zur Zeit an einer
Posttraumatischen Belastungs­
störung leiden
15 %
479.000
Veteranen, die zur Zeit an einer
partiellen Posttraumatischen
Belastungsstörung leiden
11,1 %
348.540
Lebensprävalenz für die Post­
traumatische Belastungsstörung
30,6 %
960.840
Tab. 1
64
daten, die während des Krieges keine psy­
chische Symptomatik gezeigt hatten.
Anhand von Untersuchungen wurden sol­
che Symptome nach fünf Jahren (Futter­
man & Pumpian-Mindlin, 1951) und nach
20 Jahren festgestellt (Archibald & Tud­
denham, 1965). Die Anzahl der Vietnam­
veteranen, die über vergleichbare Sympto­
me klagten, war jedoch wesentlich größer
als bei Veteranen des Koreakrieges und
des Zweiten Weltkriegs. In diesen beiden
Kriegen nahm die Anzahl der psychisch
bedingten Ausfälle mit der Intensität der
Kampfhandlungen zu. Als diese Kriege
ihrem Ende zugingen, nahmen die psy­
chisch bedingten Ausfälle unter den Sol­
daten ab, bis sie in ihrer Häufigkeit das
Niveau vor Kriegsbeginn erreichten (Good­
win, 1987). Die Anzahl der Veteranen, die
unter verspäteten Posttraumatischen
Belastungsreaktionen litten, war so gering,
dass diese Tatsache wenig Beachtung
fand. Im Gegensatz dazu nahm nach
Abzug der amerikanischen Truppen 1973
aus Vietnam die Häufigkeit solcher Belas­
tungsreaktionen unter den Soldaten dras­
tisch zu (President’s Comission on Mental
Health 1978).
4 Prävalenz der Posttrauma­
tischen Belastungsstörung
unter Vietnamveteranen
Seit Anfang der 80er Jahre gibt es ver­
stärkt Studien über die Auftretenshäufig­
keit der Posttraumatischen Belastungs­
störung bei Kriegsveteranen als auch bei
der Gesamtbevölkerung. Jede dieser
Studien bestätigte das Auftreten einer
persistenten psychologischen Störung bei
einigen Personen, die ein traumatisches
Ereignis durchlebten. Die Studien diver­
gieren jedoch sehr stark im Hinblick auf
die Auftretenshäufigkeit der Posttrauma­
tischen Belastungsstörung, sogar bei
Personengruppen, die das gleiche Ereignis
durchlebten. Diese unterschiedlichen
Ergebnisse sind in aller Wahrscheinlich­
keit auf methodische Unterschiede
zurückzuführen, wie zum Beispiel unter­
schiedliche Fragestellungen oder Daten­
erhebungsverfahren (Keane, 1990).
Die National Vietnam Veterans Readjust­
ment Study (NVVRS) von Kulka et al.
(1990) dürfte die methodisch einwand­
freieste Studie mentaler Störungen sein
(Keane, 1990). Diese Studie hat, wie von
Dohrenwend und Shrout (1981) vorge-
schlagen, einen Multimethod-Ansatz zur
Fallidentifizierung verwendet. Anhand
eines zweistufigen Prozesses wurden
Fälle ermittelt. Zuerst wurden Interviews
durch hierfür ausgebildete Laien durch­
geführt. Die so ermittelten Daten wurden
dann verwendet, um diejenigen Personen
auszuwählen, die in einem zweiten
Schritt von erfahrenen Klinikern inter­
viewt wurden. Weiterhin wurden multiple
Maße verwendet, um das Vorhandensein
einer Posttraumatischen Belastungsstö­
rung bei einer Person zu ermitteln. Diese
Maße umfassten standardisierte Inter­
views sowie psychologische Tests. Will
man die Auswirkungen des Vietnam­
krieges auf die beteiligten Soldaten
betrachten, sollte man dieser Studie den
Vorrang geben (Keane, 1990). Diese Stu­
die gibt die folgenden Häufigkeiten für
das Vorhandensein einer Posttraumati­
schen Belastungsstörung unter Vietnam­
veteranen an (siehe Tab. 1).
Die Prävalenz der Posttraumatischen
Belastungsstörung sowie anderer psycho­
logischer Störungen nach dem Krieg war
signifikant höher unter denjenigen, die
verstärkt Kampfhandlungen und anderen
Kriegsstressoren ausgesetzt waren im
Vergleich zu Veteranen, die weniger mit
solchen Stressoren belastet wurden.
Weiterhin war die Prävalenz unter Viet­
namveteranen signifikant höher im Ver­
gleich zu Soldaten, die nicht in Vietnam
dienten sowie zu Zivilisten (Kulka et al.,
1990).
5 Mögliche Gründe für das
verstärkte Auftreten von
Posttraumatischen
Belastungsreaktionen unter
Vietnamveteranen
Die geringe Anzahl von Soldaten, die
während des Vietnamkrieges an akuten
psychischen Ausfällen litten, sowie die
hohe Prävalenzrate für eine verspätet
auftretende Posttraumatische Belas­
tungsreaktion wirft die Frage auf, warum
sich dieser Krieg so stark von anderen
Kriegen unterscheidet. Dieser Abschnitt
versucht mehrere Faktoren darzustellen,
die möglicherweise für diese Entwicklung
verantwortlich waren.
5.1 DEROS (date of expected return
from overseas)
Als klar wurde, dass die Amerikaner in
Vietnam einmarschieren würden, stellte
das Militär Überlegungen an, wie mögli­
che psychische Dienstausfälle unter den
Soldaten zu verhindern seien. Die Erfah­
rung aus vorhergehenden Kriegen hatte
gezeigt, dass die Wahrscheinlichkeit
eines psychischen Ausfalls mit der zeit­
lichen Dauer, in der ein Soldat an kriege­
rischen Auseinandersetzungen teilnimmt,
ansteigt. In Korea wurde aus diesem
Grund ein Punktesystem eingeführt wur­
de, in dem jeder Soldat eine gewisse
Anzahl von Punkten für jede Ausein­
andersetzung, an der er beteiligt war,
bekam. Die gesammelten Punkte dienten
als Indikator für die Belastung, der ein
Soldat bisher ausgesetzt war. War eine
bestimmte Punktzahl erreicht, wurde der
Soldat unabhängig vom Kriegsverlauf
nach Amerika versetzt. In Vietnam wurde
dieses System durch die Einführung von
DEROS (date of expected return from
overseas) ersetzt. Die Zeitdauer des Dien­
stes in Vietnam wurde auf 12 Monate
beschränkt, außer bei den Marines, die
13 Monate abzuleisten hatten. Jeder Sol­
dat, der nach Vietnam versetzt wurde,
kannte den genauen Termin, an dem er
wieder in die Heimat zurückkehren wür­
de (Goodwin, 1987).
Durch DEROS wussten die Soldaten, dass
sie nicht eine unbegrenzt lange Zeit an
Kampfhandlungen teilnehmen würden.
Sie hatten auch ohne körperliche Ver­
wundung oder psychischen Zusammen­
bruch einen vorzeitigen Ausweg aus dem
Krieg. Dieses System dürfte für die gerin­
ge Anzahl an akuten psychischen Ausfäl­
len während des Vietnamkrieges mitver­
antwortlich gewesen sein. Der einzelne
Soldat musste sich nur für 12 bzw. 13
Monate „zusammenraufen“, um dann in
die sichere Heimat entlassen zu werden.
Die Vorstellung der Heimkehr hat somit
manchem Soldaten ermöglicht, weiterzu­
machen, obwohl er unter anderen
Umständen einen psychischen
Zusammenbruch erlitten hätte (Goodwin,
1987).
Die Nachteile dieses Systems kamen erst
wesentlich später zum Vorschein. Auf­
grund der Tatsache, dass jeder einzelne
Soldat sein eigenes Versetzungsdatum
hatte, wurde der Krieg als sehr indivi­
duell und einsam erlebt. Der Krieg
begann für jeden einzelnen am Tag der
Ankunft und endete am Tag der Abreise.
Die Soldaten fühlten keine Zugehörigkeit
zu anderen, die ein anderes Versetzungs­
datum hatten (Bourne, 1970).
Dies führte zu einer geringeren Identifi­
kation mit der eigenen Einheit und somit
zu einem verminderten Zugehörigkeits­
gefühl und einer geringeren Truppenmo­
ral (Kormos, 1978). Studien haben jedoch
gezeigt, dass gerade dieses Zusammen­
gehörigkeitsgefühl als Puffer dient, um
den erlebten Stress während der Kampf­
handlungen abzuschwächen (Grinker &
Spiegel, 1945).
Die Heimreise, die alleine und in sehr
kurzer Zeit beendet wurde, war ein wei­
terer Nachteil. Während des Zweiten
Weltkriegs waren die Einheiten als Ganze
heimgekehrt. Die Heimreise dauerte per
Schiff mehrere Wochen, wodurch die
Soldaten Zeit hatten, ihre Erlebnisse in
der Gruppe zu verarbeiten. Die Heimkeh­
rer aus Vietnam waren nach spätestens
48 Stunden wieder zu Hause. Aufgrund
dieser kurzen und einsamen Heimreise
hatten sie nicht die Möglichkeit einer
solchen Verarbeitung (Goodwin, 1987).
5.2 Schuldgefühle
In den letzten zwei Monaten vor ihrer
Versetzung versuchte man die Soldaten
weitestgehend aus Kampfhandlungen
herauszuhalten. Da die Kameraden
weiterhin im Feld bleiben mussten,
kamen neben der Freude auf die baldige
Heimkehr auch Schuldgefühle auf. Man
überließ seine Kameraden einem unge­
wissem Schicksal und konnte ihnen nicht
mehr mit den eigenen Fähigkeiten bei­
stehen. Es kam nur selten vor, dass Sol­
daten nach ihrer Heimkehr den zurück­
gebliebenen Kameraden in Vietnam Brie­
fe schrieben, was auf mögliche Schuld­
gefühle hindeutet (Howard, 1976).
5.3 Fehlende ideologische Basis
Während des Zweiten Weltkrieges gab es
einen klar erkennbaren Feind. In Vietnam
war dies nicht der Fall. Der Vietnamkrieg
war ein Guerillakrieg. Der Feind, in Form
der Viet Cong, trug keine Uniform und
erschien z.T. in Gestalt von Frauen und
Kindern. Es gab keine klare Front, und
jeder Ort konnte das Ziel eines Angriffs
65
werden. Aus diesem Grund erschien dem
Soldaten das ganze Land feindlich
(Goodwin, 1987).
Die amerikanischen Truppen waren für
einen konventionellen Krieg ausgebildet
und somit für den Vietnamkrieg nicht
vorbereitet. In einem konventionellem
Krieg wird ein Feind angegriffen um ein
Gebiet zu erobern. In Vietnam war der
Feind selten sichtbar. Die meisten Solda­
ten wurden Opfer von Heckenschützen
und Fallen. Wegen des Fehlens einer kla­
ren Front hatten die Soldaten das Gefühl,
keine Fortschritte zu machen, sondern
nur Verluste (Goodwin, 1987).
Viele Soldaten zweifelten an dem Sinn
ihrer Aufgabe in diesem Krieg und an den
Gründen, aus denen sie kämpfen und
möglicherweise sterben sollten. Dieses
stand in einem starken Gegensatz beispielsweise zu den Soldaten im Zweiten
Weltkrieg, die von der Richtigkeit ihres
Handelns überzeugt waren (Goodwin,
1987).
5.4 Das Alter der Truppen
Das Durchschnittsalter der Truppen in
Vietnam betrug 19 Jahre (Wilson, 1980).
In diesem Alter durchlaufen Jugendliche
das Moratorium (Erickson, 1968). In die­
ser Phase versucht der Jugendliche eine
stabile und überdauernde Persönlich­
keitsstruktur zu entwickeln. Durch den
Vietnamkrieg wurde bei vielen der jungen
Soldaten diese Entwicklungsphase massiv
beeinträchtigt, was eine der Ursachen für
später auftretende Probleme darstellt
(Wilson, 1980).
5.5 Fehlendes Verständnis der Zivilbevölkerung für die Veteranen
Im Zweiten Weltkrieg wurde die Zivilbe­
völkerung auf die heimkehrenden Vetera­
nen vorbereitet. Man hat sie beispiels­
weise durch Filme (z.B. The Man In The
Grey Flannel Suit, The Best Years of Our
Lives, Pride of the Marines) auf mögliche
Probleme der Veteranen bei der Anpas­
sung an das zivile Leben sensibilisiert
(DeFazio, 1978). Weiterhin wurden in
Hotels Heimkehrerzentren eingerichtet,
wo die Veteranen zwei Wochen mit ihren
Familien verbringen konnten. Dies sollte
die erste Anpassung erleichtern (Boros,
1973). Im Gegensatz dazu bekam die
Zivilbevölkerung während des Vietnam66
krieges jeden Abend in den Sechs-Uhr­
Nachrichten die Grausamkeiten dieses
Konfliktes vorgeführt. Dies hat bei gro­
ßen Teilen der Zivilbevölkerung zu Unverständnis, Abstumpfung und zum Teil
auch Wut über diesen Krieg geführt, was
die Heimkehrer auch zu spüren bekamen.
Diese Abneigung der Zivilbevölkerung
ging teilweise soweit, dass sie aktiv
gegen diesen Krieg protestierte.
und gehe dann. Manchmal werde ich
wegen den kleinsten Dingen sehr
wütend. Früher habe ich dann meine
Frau geschlagen, aber in letzter Zeit
schlage ich einfach gegen die Wand
oder verlasse das Haus und fahre mit
dem Auto einfach drauflos. Manchmal
verbringe ich mit ziellosem Herumfahren im Auto mehr Zeit als ich zu Hause
bin.“
5.6 Frühzeitige Entlassung als Grund
für die geringe Anzahl von akuten,
psychisch bedingten Ausfällen
„Ich habe eigentlich keine Freunde und
bin in der Auswahl meiner Freunde
sehr wählerisch. In dieser Welt muss
der einzelne sehen, wo er bleibt, und
niemand scheint sich um andere zu
kümmern. Soweit es mich betrifft,
fühle ich mich nicht als Teil dieser
verkorksten Gesellschaft. Was mir
gefallen würde, wäre ein Haus in den
Bergen, weit weg von anderen Menschen. Manchmal rege ich mich so sehr
darüber auf, wie die Dinge laufen, dass
ich am liebsten die Verantwortlichen
in die Luft sprengen würde. Ein paar
mal im Jahr werde ich in Kneipen­
schlägereien verwickelt. Ich weiß zwar
nicht warum, aber ich suche mir
immer den größten Typen aus. Normalerweise werde ich dann platt ge­
macht. Manchmal fahre ich auch ganz
verrückt und schreie herum und
beschimpfe die anderen Autofahrer.“
Soldaten, die während ihrer Zeit in Viet­
nam Drogenprobleme oder Verhaltens­
störungen zeigten, wurden wegen ihrer
militärischen Untauglichkeit entlassen.
Die Entlassung ging zumeist mit der Dia­
gnose einer Persönlichkeitsstörung einher. Soldaten, die z.B. aufgrund von
Stresssymptomen zur Selbstmedikation
griffen, wurden somit in den Statistiken
nicht aufgeführt. Diese Praxis dürfte
neben DEROS mitverantwortlich für die
geringe Anzahl der akuten psychischen
Ausfälle gewesen sein (Kormos, 1978).
6 Symptome der Posttrauma­
tischen Belastungsreaktion
unter Vietnam-Veteranen
Um eine Vorstellung davon zu erhalten,
wie sich eine Posttraumatische Belas­
tungsreaktion bei Vietnamveteranen
äußert, beginnt dieses Kapitel mit der
von Goodwin (1987) aufgeführten Schil­
derung eines Vietnamveteranen über sein
Leben 10 Jahre nach dem Krieg. Nach der
Schilderung werden die typischen Symp­
tome dieser Störung, unter denen Vietnamveteranen verstärkt leiden, näher
erläutert.
„Meine Ehe ist am Zerbrechen. Wir
reden einfach nicht mehr. Verdammt,
ich glaube wir haben niemals über
irgend etwas geredet, nie. Ich verbrin­
ge die meiste Zeit zu Hause alleine im
Keller. Natürlich reden wir über die
Lebensmittel, die eingekauft werden
sollen, oder wer das Auto volltanken
soll, aber das ist auch alles. Sie versucht mir manchmal zu sagen, dass sie
viel für mich empfindet, aber ich fühle
mich bei solchen Gesprächen unwohl
„Ich fühle mich oft ziemlich niedergeschlagen. Das ist schon jahrelang so. Es
gab Zeiten, da war ich so depressiv,
dass ich den Keller nicht mehr verlas­
sen habe. In solchen Situationen trinke
ich sehr viel Alkohol. Manchmal denke
ich dann an Selbstmord. Ich habe eine
Pistole, die ich aus Vietnam zurückge­
schmuggelt habe. Ich habe mir öfters
die geladene Waffe in den Mund ge­
steckt. Ich habe es aber nicht
geschafft abzudrücken. Ich sehe dann
immer meinen Freund Smitty in Vietnam und wie sein Gehirn auf den Bunkerwänden verteilt war. Verdammt! Ich
habe einfach zu hart gekämpft, um
wieder heil nach Hause zu kommen.
Ich kann das doch jetzt nicht einfach
wegwerfen. Warum habe ich überlebt
und er nicht? Es muss doch irgend ein
Sinn dahinter stecken.“
„Manchmal spielen sich die Erlebnisse
in Vietnam in meinem Kopf ab. Egal
was ich auch versuche, die Gedanken
schleichen sich immer wieder ein. Es
ist unheimlich schwer, sie wieder zu
verdrängen. Es sind Gedanken über
alte Freunde, ihre Gesichter, den
Hinterhalt, ihre Schreie, ihre Gesich­
ter.... Wissen Sie, jedes Mal, wenn ich
einen Hubschrauber höre oder eine
Baumlinie sehe, laufen mir kalte
Schauder den Rücken runter, und ich
erinnere mich. Wenn ich wandern
gehe, vermeide ich starke Vegetation
und bleibe oberhalb der Baumgrenze.
Wenn ich die Straße entlang laufe,
fühle ich mich unwohl, wenn Menschen hinter mir sind und ich sie nicht
sehen kann. Wenn ich mich setze,
suche ich einen Stuhl aus, hinter dem
etwas Großes und Stabiles steht. Am
wohlsten fühle ich mich in der Ecke
eines Zimmers, da mich Wände an bei­
den Seiten umgeben. Laute Geräusche
gehen mir auf die Nerven, und plötzli­
che Bewegungen oder Geräusche brin­
gen mich aus der Fassung.“
„Nachts ist es für mich am schwersten.
Ich gehe erst lange nach meiner Frau
schlafen. Es scheint Stunden zu dauern, bis ich endlich einschlafe. Nachts
muss ich sehr viel an meine Erlebnisse
in Vietnam denken. Manchmal weckt
mich meine Frau und schaut mich ganz
entsetzt an. Ich bin dann schweißge­
badet und verspannt. Manchmal greife
ich nach ihrem Hals, bis ich merke, wo
ich bin. Ab und zu kann ich mich an
den Traum erinnern; z.T. ist es Viet­
nam, manchmal nur Leute, die hinter
mir her sind und ich nicht mehr weg­
laufen kann.“
„Ich weiß nicht, aber es geht schon
lange so. Ich glaube, es wird immer
schlimmer. Meine Frau spricht davon,
mich zu verlassen. Ich glaube, das wäre
nicht so schlimm, aber ich bin einsam.
Ich habe ja sonst niemanden. Warum
bin ich der einzige, der so ist? Was
zum Teufel ist mit mir los?“
Diese Beschreibung ist typisch für die
Art und Weise wie sich eine Posttrauma­
tische Belastungsreaktion bei Vietnam­
veteranen äußert. Die folgenden
Abschnitte werden die einzelnen Symp­
tome unter denen diese Veteranen leiden
näher schildern.
6.1 Depressionen
Viele Vietnamveteranen leiden unter
Depressionen. Sie zeigen die klassischen
Symptome (DSM III, 1980) wie Schlafstö­
rungen, psychomotorische Beeinträchtigungen, Gefühle von Wertlosigkeit, Kon­
zentrationsschwierigkeiten usw. (Goodwin, 1987). Die meisten Veteranen haben
Situationen im Krieg erlebt, in denen ein
oder mehrere ihrer Kameraden ums
Leben kamen. Aufgrund der besonderen
Erfordernisse der Kriegssituation fand
meistens keine Verarbeitung solcher
Ereignisse statt. Im Krieg blieb den Soldaten wenig Zeit zur Trauer, da ihr Leben
von ihrer ständigen Bereitschaft abhing.
Nach dem Krieg versuchten die meisten,
diese Ereignisse zu verdrängen. Die Vete­
ranen hatten das Gefühl, nicht darüber
reden zu können. Sie glaubten, dass nur
jemand, der das gleiche durchgemacht
hat, sie verstehen könnte (Howard,
1976).
Mit dieser Depression geht oftmals ein
Gefühl der Hilflosigkeit oder eines, nichts
an dem Zustand ändern zu können, ein­
her. Aufgrund der Tatsache, dass der
Vietnamkrieg ein Guerillakrieg ohne
erkennbaren Feind und ohne Bodenge­
winn war, hatte es für den Soldaten den
Anschein, keine Fortschritte zu machen.
Man kämpfte, sah Kameraden sterben
und hatte das Gefühl, die ganze Sache
bringe nichts. Dieses Gefühl, nichts an
einer unangenehmen Situation ausrich­
ten zu können, führt nach Seligman
(1967) zu einer erlernten Hilflosigkeit.
6.2 Einsamkeit
Die meisten Veteranen haben nur wenige
Freunde. Sie haben das Gefühl, dass die
Dinge, die sie im Kampf tun mussten und
die Ereignisse, die sie gesehen haben, bei
anderen Unverständnis oder Ekel hervor­
rufen würden. Dieses führt bei vielen zu
der Annahme, von Peers nicht akzeptiert
zu werden. Viele berichteten, sich wie ein
alter Mann in einem jungen Körper zu
fühlen.
Die fehlende positive Unterstützung
durch die amerikanische Öffentlichkeit
während des Krieges ist ein weiterer Fak­
tor für den sozialen Rückzug vieler Vete­
ranen. Nach ihrer Heimkehr wurden
Veteranen von einem nicht unbeträchtli­
chem Teil der Bevölkerung als Kinder­
mörder und Schlächter beschimpft
(DeFazio, 1978). Aus diesem Grund ver­
suchen manche Veteranen, sich und ihre
Familie zu isolieren. Dieses äußert sich
auch in Phantasien über ein Leben als
Einsiedler in der Wildnis, weit weg von
anderen Menschen.
6.3 Wut
Viele Veteranen haben starke Wutaus­
brüche. Oftmals sind sie selbst genauso
überrascht und verängstigt darüber wie
die Personen in ihrer Umgebung. Diese
Wutausbrüche haben viele Gründe. In der
militärischen Ausbildung wurde Aggres­
sion als positiv und männlich dargestellt
(Egendorf, 1975). Während der Kampf­
einsätze in Vietnam kam diese Wut und
Aggression hoch, es gab jedoch oftmals
keinen Gegner, an dem man sie ausleben
konnte. Aus diesem Grund wurde die
Wut oftmals an Unbeteiligten ausgelas­
sen, da keine geeigneteren Ziele vorhan­
den waren (Shatan, 1978).
Nach ihrer Rückkehr wurde diese Wut
oftmals gegen die Obrigkeit gerichtet,
also gegen die Personen, die dafür ver­
antwortlich waren, dass sie nach Viet­
nam mussten und ebenso gegen Perso­
nen, die die Soldaten nicht unterstützten
(Howard, 1976). Diese Wut äußert sich
auch in einem Gefühl des Misstrauens
gegenüber Autoritäten und dem System
im allgemeinen. Viele Veteranen, die an
einer posttraumatischen Belastungsreak­
tion leiden, haben z.B. eine Reihe von
Arbeitsplatzwechsel hinter sich. Dies liegt
an einem Misstrauen gegenüber dem
Arbeitgeber, sowie dem Glauben, ausge­
nutzt zu werden.
6.4 Affektvermeidung
Viele Veteranen beschreiben sich als
emotional tot. Diese Emotionslosigkeit
begann in der Grundausbildung. Hier
haben sie gelernt, dass Vietnamesen kei­
ne Menschen seien, sondern "gooks" und
"dinks" usw.. Diese Entmenschlichung des
Gegners sollte es den Soldaten leichter
machen zu töten. Sie wurde während des
Krieges jedoch generalisiert und auch auf
die eigenen Truppen bezogen (Shatan,
1973). Die verwendeten Pseudonyme
dienten dazu, den Schrecken des Kamp­
fes zu dämpfen (DeFazio, 1978). Die
emotionale Abstumpfung erhöhte die
67
Coping-Fähigkeiten der Soldaten und
diente somit zum Überleben (Lifton,
1976). Sie ist ein Schutzmechanismus.
Problematisch wird es, wenn dieser
Effekt weiter bestehen bleibt, nachdem
das Trauma vorüber ist.
Viele Veteranen empfinden Emotionen
wie Liebe und Mitgefühl als bedrohlich.
Aufgrund ihrer verdrängten Emotionen
haben sie Angst davor, solche Empfindungen zuzulassen, da diese dann eben­
falls durchbrechen könnten.
verfolgt oder beschossen werden. Es wird
auch häufig über Träume, in denen stän­
dig das gleiche Ereignis wiederholt wird,
berichtet. Beispiele hierfür sind Träume
über den Tod eines Freundes oder das
Töten eines Feindes. Oftmals beschreiben
die Ehepartner den Schlaf des Veteranen
als unruhig. Auch Angriffe auf den Ehepartner in den ersten orientierungslosen
Momenten nach dem Aufwachen werden
häufiger beschrieben.
6.8 Wiederkehrende Gedanken
6.5 Schuldgefühle
In Situationen, in denen Menschen ihr
Leben lassen müssen, fragen sich die
Überlebenden häufig, warum ausgerechnet sie verschont geblieben sind (Lifton,
1973). Die Schuldgefühle, die hierbei
auftreten, können zu einem selbstzerstö­
rerischen Verhalten führen. Laut Shatan
(1973) sind sie beispielsweise häufig in
Autounfälle ohne Fremdbeteiligung ver­
wickelt. Häufige Schlägereien gegen
überlegene Gegner sind ein weiteres
Beispiel.
6.6 Angstreaktionen
Viele Veteranen beschreiben sich selbst
als äußerst wachsam. Aufgrund der stän­
digen Bedrohung im Krieg haben sie
Reaktionen und Verhaltensweisen
gelernt, die ihr Überleben sichern sollten.
Veteranen, die an posttraumatischen
Belastungen leiden, zeigen solche Reak­
tionen immer noch, obwohl die Situationen, in denen sie angebracht waren,
längst vorüber sind. Beispiele solcher
Reaktionen sind das Erschrecken bei
plötzlichen Geräuschen oder ein Gefühl
des Unwohlseins, wenn Personen nicht
im Blickfeld sind.
6.7 Schlafstörungen und Alpträume
Die wenigsten Veteranen, die an einer
Posttraumatischen Belastungsstörungen
leiden, empfinden die letzten Stunden
vor dem Schlafengehen als angenehm.
Viele versuchen so lange wie möglich
wach zu bleiben oder nehmen Betäubungsmittel. Der Grund für dieses Verhal­
ten ist die Angst vor ungewollten Erinne­
rungen, die in Phasen der Unaufmerksamkeit auftreten können.
Viele berichten über Träume, in denen sie
68
Im Alltag können Geschehnisse oder
Gegenstände, die von dem Veteranen mit
dem Krieg in Verbindung gebracht wer­
den, traumatische Erinnerungen auslö­
sen. Beispiele sind Hubschrauber, der
Geruch von Urin, Fehlzündungen oder ein
verregneter Tag. Manche empfinden die
Erinnerungen, die dadurch wachgerufen
werden, als so unerträglich, dass sie sol­
che Geschehnisse oder Dinge aktiv mei­
den.
Im Extremfall können solche Erinnerun­
gen "Flashbacks", d.h. eine Art Trance
verursachen, in denen der Veteran die
Kriegsgeschehnisse nochmals durchlebt,
ohne die Welt um sich herum richtig
wahrzunehmen.
7 Hilfe für Vietnamveteranen, die an einer
Posttraumatischen
Belastungsstörung leiden
Die steigende Zahl von Soldaten, die
nach ihrer Heimkehr an einer Posttraumatischen Belastungsreaktion litten,
führte 1971 zur Organisation sogenann­
ter "Rap Groups" durch die Gruppierung
"Vietnam Veterans Against the War"
(VVAW). Diese Gruppen waren eine Art
der Selbsthilfe, in denen es Veteranen
möglich war, über ihre Kriegserlebnisse
und Schuldgefühle offen zu sprechen
und wo sie somit auch diese Erlebnisse
verarbeiten konnten. Der Psychiater
Robert Lifton half bei der Bildung dieser
Gruppen. Diese haben über einen Zei­
traum von zwei Jahren erfolgreiche
Arbeit geleistet. Viele der Veteranen, die
an diesen Gruppen teilgenommen haben,
sind danach dazu übergegangen, selbst
Veteranen Hilfestellung zu leisten. Sie
haben sich weitergebildet, sie sind
öffentlich aufgetreten, haben Artikel ver-
fasst, oder haben beratende Tätigkeiten
übernommen (Brende and Parsons, 1986).
Einer der Gründe für die Entstehung
dieser Gruppen, war die Tatsache, dass
die Veterans Administration (VA) nicht
bereit war, sich den Problemen dieser
Veteranen anzunehmen, obwohl diese
Organisation hierfür zuständig wäre, wie
die Selbstdarstellung ihrer Mission zeigt.
To serve America’s veterans and their
families with dignity and compassion
and be their principle advocate in
ensuring that they receive medical
care, benefits, social support, and lasting memorials promoting the health,
welfare, and dignity of all veterans in
recognition of their service to this
nation (VA website at
http://www.va.gov/about_va/mission.htm).
Die VA argumentierte, dass neuropsychi­
atrische Probleme, die mehr als ein Jahr
nach der Entlassung aus dem Militär­
dienst auftreten, nichts mit der Dienst­
zeit zu tun haben können und erkannte
sie somit nicht an. Eine Behandlung über
die VA war somit schwer zu erhalten und
es war völlig unmöglich, für solche Pro­
bleme Kompensation oder eine Behindertenrente zu erhalten (Goodwin, 1987).
1973 hat die Organisation der Disabled
American Veterans das Forgotten Warrior
Projekt finanziert. Diese Studie, durchge­
führt von John P. Wilson, Ph.D., war
bahnbrechend (Williams, 1987). Es war
die erste großangelegte nationale Studie,
die sich mit Vietnamveteranen befasste,
und dauerte bis 1980. Während dieser
Zeit war Dr. Wilson für Präsident Carter
beratend tätig und wurde Max Cleland,
dem damaligen Präsidenten der Veterans
Administration und Vietnamveteran, zur
Seite gestellt. Präsident Carter war gera­
de dabei, eine landesweite Initiative ins
Leben zu rufen, um Vietnamveteranen
bei der Wiedereingliederung zu assistieren. Dr. Wilson hat bei der Entwicklung
dieses Programms, das 1979 fertigge­
stellt wurde, eine sehr wichtige Rolle
gespielt (Volpe, 1979). Das Department
of Veterans Affairs hat aufgrund dieser
Initiative "Vietnam Veterans Outreach
Programme", die von ehrenamtlichen
Helfern betreut wurden, in 90 Städten
der USA eröffnet. Da sich das Konzept
als erfolgreich erwies, hat der Kongress
das "VA Vet Center Program" ins Leben
gerufen (Williams, 1987).
Diese Veterans Outreach Centers (Vet
Centers) wurden entwickelt, um Vetera­
nen mit allgemeinen Problemen der
Wiedereingliederung zu helfen. Sie waren
auch die ersten offiziellen Behandlungs­
programme, die von der Department of
Veterans Affairs ins Leben gerufen wur­
den, um Posttraumatische Belastungsstö­
rungen zu behandeln. Die Vet centers
haben eine einzigartige Rolle innerhalb
des Gesundheitsprogramms der VA inne.
Sie befinden sich direkt in den Kommu­
nen und somit nicht in räumlicher Nähe
der medizinischen Zentren und Kliniken
der VA. Eines ihrer Hauptaufgaben ist es,
die Vietnamveteranen zu erreichen, die
Unterstützung und Beratung benötigen,
aber zu wütend auf die Gesellschaft oder
die Regierung sind, um diese Hilfe in den
traditionellen Einrichtungen der VA in
Anspruch zu nehmen. Die Vet centers be­
gannen, Vietnamveteranen als Therapeu­
ten und Berater einzusetzen, da es diesen
leichter fiel, ein Vertrauensverhältnis mit
ihren Klienten aufzubauen (Lehmann,
2000). Die Aufgabe dieser Wiedereinglie­
derungsberatung ist wie folgt:
(a) Vietnamveteranen und Veteranen
anderer Kriege zu erreichen; (b) Vete­
ranen und ihren Familien bei persön­
lichen, arbeitsbedingten und familiären
Problemen zu beraten; (c) Beziehungen
mit anderen öffentlichen Einrichtun­
gen aufzubauen um sie bei Wiederein­
gliederungsproblemen von Veteranen
einzubinden; und (d) Therapeuten und
therapeutische Einrichtungen bei der
Erkennung und Behandlung von
kriegsbedingten Wiedereingliederungs­
problemen beratend zur Seite zu ste­
hen (Gelsomino, 2000).
Mitte der 80er Jahre gab der Kongress
eine nationale Studie (National Veterans
Readjustment Study (NVVRS)) in Auftrag,
um die Prävalenz der Posttraumatischen
Belastungsreaktion unter Vietnamvetera­
nen zu ermitteln. Die Ergebnisse dieser
Studie führten zu entschiedenem Ein­
greifen sowohl von der Department of
Veterans Affairs wie auch vom amerika­
nischem Kongress. Verschiedene Pro­
gramme zur Behandlung und zur Errei­
chung von Veteranen wurden landesweit
in stationären und ambulanten Kliniken
der Veterans Administration eingerichtet.
Durch diese Initiativen wurden die Män­
ner und Frauen, die in Vietnam dienten,
wesentlich besser versorgt. Klinische
Behandlungsteams, spezialisiert auf Post­
traumatische Belastungsstörungen, kom­
binierte Behandlungsprogramme für Dro­
genmissbrauch und Posttraumatische
Belastungsstörungen, und spezielle sta­
tionäre Programme für Drogenmiss­
brauch und Posttraumatische Belas­
tungsstörungen wurden entwickelt, um
die Vet Center Programme und bereits
vorhandene Behandlungsprogramme für
Posttraumatische Belastungsstörungen
zu ergänzen. Diese Initiativen halfen lan­
desweit sicherzustellen, dass Veteranen,
die aufgrund von Kriegsgeschehnissen
psychologischer Hilfe bedurften, diese
auch bekamen (Keane, 1990).
Als Reaktion auf eine Entscheidung des
Kongresses hat die Veterans Administra­
tion 1989 die National Center for PTSD
gegründet, um den Bedürfnissen von
Veteranen mit kriegsbedingter Posttrau­
matischer Belastungsstörungen gerecht
zu werden. Diese Institution wurde ent­
wickelt, um Informationen über alle For­
schungs- und Ausbildungsaktivitäten der
Veterans Administration und anderer
staatlicher und nicht-staatlicher Organi­
sationen in Bezug auf Posttraumatische
Belastungsstörungen bereit zu stellen.
Die Mission der National Center for PTSD
lautet wie folgt:
To advance the clinical care and social
welfare of America’s veterans through
research, education, and training in
the science, diagnosis, and treatment
of PTSD and stress-related disorders.
Obwohl das Center keine direkten klini­
schen Aufgaben übernimmt, hatten seine
Forschungsergebnisse, Weiterbildungs­
maßnahmen und Beratungstätigkeiten
eine positive Auswirkung auf die klini­
sche Behandlung von Veteranen mit
Posttraumatischen Belastungsstörungen.
Weiter-hin hat das Center signifikant zur
Literatur über diese Thema beigetragen
(NCPTSD website at
http://www.ncptsd.org/about/history/inde
x.html).
Heute hat die Veterans Health Adminis­
tration, welche einen Teil der VA darstellt
und für die Behandlungsprogramme in
Bezug auf Posttraumatische Belastungs­
störungen zuständig ist, ein Etat von
mehr als $20 Mrd.. Medizinische Versor­
gung für Veteranen wird durch 173
medizinische Zentren, 771 ambulante
kommunale Kliniken, 134 Pflegeheime,
206 Wiedereingliederungszentren, sowie
durch viele weitere Einrichtungen sicher­
gestellt. (VA website at
http://www.va.gov/about_va/orgs/vha/ind
ex.htm).
8 Behandlung
Die Behandlung von kriegsbedingten
Posttraumatischen Belastungsstörungen
unterscheidet sich nicht wesentlich von
der Behandlung anderer Posttraumati­
scher Belastungsstörungen. Im allgemei­
nen kann die Therapie für diese Störung
in drei Phasen unterteilt werden (Fried­
man, 1996).
1. In der ersten Phase wird eine durch
Sicherheit und Vertrauen geprägte
Umgebung mit dem Patienten aufge­
baut. Somit erarbeitet sich der Thera­
peut das Recht auf Zugang zu trauma­
tischen Inhalten.
2. Die zweite Phase beinhaltet die auf
das Trauma gerichtete Therapie. Wäh­
rend dieser Phase werden die trauma­
tischen Inhalte genauestens beleuchtet
und vom Patienten verarbeitet.
3. Die dritte Phase hilft dem Patienten,
sich vom Trauma zu lösen und neuen
Anschluss an Familie, Freunde und
Gesellschaft zu finden. In dieser Phase
haben die Patienten die posttraumati­
schen Ereignisse bereits integriert und
können sich somit auf aktuelle Proble­
me z.B. in der Familie, in der Ehe, usw.
konzentrieren.
Psychodynamische, gruppentherapeuti­
sche, kognitiv-verhaltensorientierte,
pharmakologische und kombinierte
Ansätze werden zur Behandlung von
Posttraumatische Belastungsstörungen
eingesetzt (Friedman, 1996). Jeder dieser
Ansätze soll im folgenden kurz darge­
stellt werden.
8.1 Gruppentherapie
Gruppentherapie wird seit vielen Jah­
ren erfolgreich von den Vet Centers zur
Behandlung von Veteranen, die an
Posttraumatischen Belastungsstörun­
gen leiden, angewandt. Die positive
69
Peer-Group-Atmosphäre ist ideal für
Traumapatienten, da eine Umgebung
geschaffen wird, in der die posttraumati­
schen Emotionen, Erinnerungen, und Verhaltensweisen des Patienten validiert,
normalisiert, verstanden und entstigmatisiert werden. Die Gruppenkohäsion,
Empathie und Sicherheit, die eine solche
Umgebung bietet, erleichtert das Offen­
legen von traumatischen Inhalten. Oftmals ist es einfacher für Traumapatienten, eine Konfrontation durch andere
Überlebende, die gleiches oder ähnliches
durchgemacht haben, zu akzeptieren, als
eine Konfrontation durch einen profes­
sionellen Therapeuten, der nie solche
Ereignisse durchlebt hat. Das Teilen der
eigenen Erlebnisse mit der Gruppe, sowie
das Feedback, das der Patient durch die
anderen Gruppenmitglieder bekommt,
ermöglichen ihm, sein eigenes Trauma
besser zu verstehen und zu verarbeiten.
Somit werden die durch das traumati­
sche Erlebnis bedingten Gefühle der
Scham, der Wut, des Ärgers, der Angst,
des Zweifels und der Selbstkasteiung
abgeschwächt und die Patienten können
sich zunehmend auf das Hier und Jetzt
konzentrieren anstatt auf die Vergangen­
heit (Scurfield, 1993).
8.3 Kognitv-verhaltensorientierte
Ansätze
8.2 Psychodynamische Psychotherapie
Das zunehmende Wissen über die vielen
neurobiologischen Abnormalitäten, die
mit der Posttraumatischen Belastungsre­
aktion in Verbindung gebracht werden
können, macht den Einsatz von Medika­
menten zur Behandlung dieser Störung
immer vielversprechender. Symptome, die
mit einer Posttraumatischen Belastungs­
reaktion einhergehen, wie z.B. Angst,
Depressionen und Schlaflosigkeit, können
mit Medikamenten bekämpft werden. Die
Effektivität von Medikamenten zur
Behandlung der zentralen Symptome der
Posttraumatischen Belastungsreaktion
wie z.B. Intrusion und Vermeidung ist
jedoch noch nicht genau bekannt. Man­
che Studien zeigen diesbezüglich eine
positive Wirkung von Pharmaka. Die von
Southwick et al. (1992) durchgeführte
quantitative Analyse zeigte, dass trizykli­
sche Antidepressiva und Monoaminoxi­
dase-Inhibitoren bei den Symptomen der
Intrusion und Vermeidung wirkungsvoll
eingesetzt werden können. Fluoxetine,
Amitriptyline und möglicherweise
Valproate haben bei Vermeidungssympto­
men Wirkung gezeigt (Fesler, 1991;
Psychodynamische Psychotherapie kon­
zentriert sich auf das traumatische Ereig­
nis. Der Patient erzählt wiederholt das
traumatische Ereignis zu einem ruhigen,
empathischen, mitfühlenden und nicht
verurteilenden Therapeuten. Dies hilft
angepasste Schutzmechanismen und
Coping-Strategien, sowie ein besseres
Selbstverständnis zu entwickeln. Die
Technik hilft auch bei der Modulation
von starken Emotionen, die während den
Sitzungen aufkommen können (Marmar,
et al., 1995). Während der Therapie wird
immer wieder auf die Beziehung zwi­
schen Posttraumatischen Belastungsreak­
tionen und aktuellem Lebensstress hinge­
wiesen. Der Patient lernt die derzeitigen
Lebenssituationen zu identifizieren, die
traumatische Erinnerungen auslösen und
somit die Symptome der Posttraumati­
schen Belastungsstörung verstärken.
70
Es gibt zwei kognitiv-verhaltensorien­
tierte Ansätze, die Exposure Therapy und
die Kognitive Verhaltenstherapie. Exposu­
re Therapy verwendet systematische
Desensibilisierung, sowie invivo-Techniken und imaginale Techniken, wie z.B.
Flooding. Im allgemeinen hat sich die
Technik des Floodings als effektiver
erwiesen als systematische Desensibilisierung (Friedman, 1996). Der zweite
Ansatz, die Kognitive Verhaltenstherapie,
verwendet Strategien des Anxiety
Managements, um die Angst, die Patienten verspüren, zu reduzieren. Dieses wird
durch den Einsatz von Techniken, wie z.B.
Relaxionstechniken, Stressresistenztrainings, kognitive Restrukturierung, Atemtechniken, Biofeedbacks, die Vermittlung
von sozialen Fertigkeiten, und Ablen­
kungstechniken (Foa, et al., 1995). Es
wird angenommen, dass eine Kombina­
tion von Flooding und Anxiety Manage­
ment Strategien effektiver sind als die
jeweiligen Ansätze für sich alleine (Foa,
et al., 1991).
8.4 Pharmakologische Therapien
Davidson, et al., 1990; Van der Kolk, et
al., 1994). Bisher hat kein Medikament
sich als definitive Therapie für die Post­
traumatische Belastungsreaktion hervor­
getan. Der Einsatz von Pharmaka ist
jedoch hilfreich, um Symptome einzu­
dämmen, damit Patienten an Gruppen-,
Psychodynamischen-, kognitiv-verhaltensorientierten, oder anderen Psycho­
therapien teilnehmen können (Friedman,
1996).
Mein besonderer Dank gilt
Chrys Harris, PhD.
Family Therapy and Trauma Center
311 Bennett Center Drive
Greer, SC 29650
USA
der mich an seiner langjährigen Erfahrung in der Therapie traumatisierter Viet­
namveteranen teilhaben ließ und an meinen Vater Douglas Varn, SSG US-Army
Ret., der selbst von 1968-1969 mit Spe­
cial Forces in Vietnam diente und mich
als erster auf die Problematik der Viet­
namveteranen aufmerksam machte.
›
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72
Der Sozialwissen­
schaftliche Dienst
der Polizei Niedersachsen*
Achim Grube
Kurzfassung:
In diesem Artikel wird die Arbeit des Sozialwissenschaftlichen Dienstes der Polizei bezogen auf die Unterstützung bei der Bewältigung von
besonders belastenden dienstlichen Ereignissen von Polizeibeamten dargestellt.
1. Der Sozialwissenschaftliche
Dienst (SWD) der Polizei
des Landes Niedersachsen.
Dem SWD wurden per Erlass 6 Aufga­
benbereiche, die hier kurz skizziert dargestellt werden, übertragen.
1991 wurde der Sozialwissenschaftliche
Dienst der Polizei in Niedersachsen
gegründet. Mit dem SWD wurde erstma­
lig eine Dienststelle eingerichtet, die mit
der Betreuung der Personals beauftragt
wurde. Der SWD ist heute als Zentraler
Dienst (ZD 1) in das Bildungsinstitut der
Polizei Niedersachsen integriert. Das Bil­
dungsinstitut selbst ist für die gesamte
Fortbildung von über 20.000 Mitarbei­
tern/innen zuständig.
Im SWD arbeiten 7 Mitarbeiter/innen:
zwei Dipl.-Päd. (ehemalige Polizeibeamte), ein Dipl.-Sozialarbeiter, eine Dipl.­
Psychologin, ein Kriminalkommissar mit
sozialwissenschaftlichem Studium, ein
Dipl.-Sozalarbeiter und Dipl.-Supervisor
und eine Verwaltungsangestellte.
Bis auf die Verwaltungsangestellte und
die Psychologin haben alle Mitarbeiter
eine Supervisionsausbildung, ein Mitar­
beiter besitzt eine psychotherapeutische
Ausbildung.
1.1 Einsatzberatung
- Castortransport – Beratung des
Gesamteinsatzleiters; Entwicklung
eines Konfliktmanagementsystems
- Moko (Mordkommission) – Beratung der
Kommission, Methodenunterstützung
- Soko (Sonderkommissionen) Metho­
denunterstützung
1.2 Entwicklung sozialwissenschaft­
licher Konzepte
- Soziale Ansprechpartner innerhalb der
Polizei
1.3 Supervision
- Einzelsupervision
- Teamsupervision
- Gruppensupervision (Sachbearbeiter
Sexualdelikte und Tötungsdelikte)
- Coaching für Führungskräfte
1.4 Methodenunterstützung
- Entwicklung sozialwissenschaftlicher
Meßinstrumente
- Fachartikel
- Traumatherapie und Kurzzeittherapie
(nur in besonderen Fällen)
- Konzeption und Durchführung von
Mitarbeiterbefragungen
- Konzeption und Durchführung von
Kundenbefragungen
- Prozessbegleitung bei Veränderungs­
prozessen (OE und PE)
- Entwicklung von methodisch-didakti­
schen Konzepten
- Durchführung und Auswertung von
Vorgesetzteneinschätzungen
- Evaluation
- Durchführung von Debriefings
- Erstellen und Durchführen von Auswahlverfahren für Spezialeinheiten
- Mentales Training für Angehörige von
Spezialeinheiten
- Erstellen von Täterprofilen
- Konfliktmanagement
* Vortrag gehalten auf dem dreitägigen Fachseminar Posttraumatische Belastungsstörung vom 08.-10. Oktober 2001 in der Psychosomatischen Fachklinik Bad Pyrmont.
73
1.5 Unterstützung der zentralen
Fortbildung
- Fortbildung von SET-Trainern (Systemi­
sches Einsatztraining)
1.6 Koordination der Regionalen Bera­
tungsstellen (RBS)
Seit dem 01.01.2000 ist die Zuständigkeit
des SWD neu geregelt und die Imple­
mentierung von Regionalen Beratungsstel­
len in den Bezirksregierungen und
Polizeidirektionen des Landes Nieder­
sachsen festgeschrieben worden. In die­
sem Rahmen übernimmt der SWD u.a.
folgende Aufgaben:
- Koordinierung und Durchführung von
RBS-Treffen
- Durchführung von Fortbildungsmaß­
nahmen von Mitarbeitern und Mitar­
beiterinnen der RBS
- Unterstützung allgemein
Folgende Aufgaben, die bisher vom SWD
zentral wahrgenommen wurden, werden
jetzt von den RBS dezentral wahrgenom­
men:
- Einsatzberatung auf Bezirksebene
- Krisenintervention im polizeilichen All­
tag nach traumatischen Erlebnissen
- Beratung in besonderen persönlichen
Problemsituationen
- Unterstützung bei Konfliktmanage­
ment/ Coaching
- Unterstützung der dezentralen Fortbil­
dung
Die Regionalen Beratungsstellen sind
unterschiedlich stark besetzt. In der Poli­
zeidirektion Hannover sind 7 Sozialarbei­
ter, in der Bezirksregierung Braunschweig
6 Polizeibeamte und in den anderen Be­
zirken 3 Polizeibeamte/innen eingesetzt
2. Prävention und
Öffentlichkeitsarbeit
Im Folgenden werden in Stichworten
Präventionsmaßnahmen und Maßnah­
men der Öffentlichkeitsarbeit dargestellt,
die dazu dienen und dienten, innerhalb
der Polizei in Niedersachsen ein Bewußt­
sein für die Themen akute Belastungsre­
aktion und PTBS zu schaffen.
• Vortrag für Ltd. Polizeidirektoren zum
Thema Krisenintervention bei "Akuten
Belastungsstörungen und PTBS" (1995)
74
• Aufklärung zum Thema PTBS mit Bera­
tungsangebot per Fernschreiben
• Info-Material zum Thema und mit Tele­
fonnummern an alle Polizeidienststellen
• Durchführung von Fortbildungsveran­
staltungen für
- Schiessausbilder
- Trainer SET (Systemisches Ein­
satztraining)
- SEK und MEK
- u.a.
• Einführung des Systemischen Einsatz­
trainings
• Unterrichtseinheiten zum Thema PTBS
• Im Rahmen der Fachhochschulausbil­
dung
• Im Rahmen des Aufstiegslehrganges
zum gehobenen Dienst (AlgD)
• Informationsveranstaltungen
• Z.B. nach dem ICE Unglück
• Debriefings
• Einzelberatung
• Beratung von Vorgesetzen
• Stress- und Konfliktbewältigungs­
seminare
(Zeitdauer 1 bis 3 Wochen, durchge­
führt von Trainern und Trainerinnen
des Bildungsinstitutes)
• Betreuung vor und nach Rehamaß­
nahmen
• Supervision für Sachbearbeiter
Tötungs- und Sexualdelikte
• Pilotprojekt: Supervisonsangebot zum
Thema „Überbringen von Todes­
nachrichten"
3. Krisenintervention nach ex­
tremen Ereignissen im po­
lizeilichen Aufgabenvollzug
Der polizeiliche Alltag ist geprägt von
Situationsabläufen, die mit polizeilichen
Mitteln bewältigt werden können.
Allerdings kommt es vor, daß diese
erlernten Handlungsmuster nicht ausrei­
chen. Das ist besonders bei der Verarbei­
tung extremer Ereignisse polizeilicher
Aufgabenwahrnehmung der Fall.
Beispielhaft seien hier genannt:
• Schusswaffengebrauch gegen Personen
• Ernste Bedrohung gegen Leib oder
Leben oder Körperverletzung durch
Straftäter
• Verkehrsunfall mit schwer oder tödlich
Verletzten
Dabei ist die Art der Beteiligung nicht
von Belang, die Überforderung trifft den
Zeugen bzw. die Zeugin genauso wie die
handelnde Person.
Die Folgen dieser unverarbeiteten Ereig­
nisse äußern sich u.U. in akuter Belas­
tungsreaktion, wie z.B.
- anhaltende Angst
- Zustand der Betäubung
- Ärger
- Hilflosigkeit, Ohnmacht
- Überaktivität
- Rückzug
Zumeist sind die Symptome innerhalb
weniger Stunden, manchmal aber auch
erst nach Tagen wieder verschwunden
bzw. nur noch stark eingeschränkt vor­
handen. Entscheidend ist, in welcher
zeitlichen Unmittelbarkeit dieses Erlebnis
verarbeitet und bewältigt wird.
Um einer Posttraumatischen Belastungs­
störung vorzubeugen, stehen
Vertreter/innen des Sozialwissenschaft­
lichen Dienstes (SWD), der Regionalen
Beratungsstellen (RBS) und/oder des
Medizinischen Dienstes bereit, um vor
Ort zeitnah Gespräche mit Betroffenen
und/oder Angehörigen anzubieten.
3.2 Zur Ablauforganisation:
3.2.1 Der/die Betroffene, die Dienststelle
und/oder die Einsatzleitstelle
benachrichtigen den SWD,
Hannover, Tannenbergallee 11,
Tel. 0511 - 9695-2443.
Der SWD richtet keine Rufbereit­
schaft ein, ist allerdings auch
außerhalb der Dienstzeit grundsätz­
lich über Mobilfunktelefon erreichbar.
3.2.2 Der SWD benachrichtigt bei Bedarf
den Medizinischen Dienst.
3.2.3 Ein Kriseninterventionsteam begibt
sich vor Ort und macht den Betrof­
fenen, bei Bedarf den Angehörigen
wie auch den Führungskräften, ein
Gesprächsangebot.
3.2.3 Das Kriseninterventionsteam
entscheidet über weitere Maß­
nahmen
- Angebot zu weiteren Gesprächen
- Angebot zum Debriefing für
alle Situationsbeteiligten
- Angebot zur Therapievermittlung
- Angebot zur speziellen Schießausbildung
- Vermittlung von Seminarplät­
zen zur Stressbewältigung
•
4. Therapiekonzept – was
hat sich bewährt?
In der Arbeit mit Polizeibeamten/innen,
die besonders belastende Situationen
durchlebt haben sind folgende Faktoren
besonders förderlich
• Die Herstellung einer vertrauensvollen
Beziehung ist wesentliche Vorausset­
zung einer erfolgreichen Kriseninter­
vention oder Traumatherapie.
• Eine Feldkompetenz bezogen auf
Arbeitsinhalte, Rahmenbedingungen
sowie Kenntnisse über die Aufbau- und
Ablauforganisation der Berufsgruppe
ist förderlich. Der Klient gewinnt das
Gefühl, dass der Therapeut ihn versteht,
sich in seiner Berufswelt auskennt.
• Die Bearbeitung der zum Teil erschüt­
ternden Erlebnisse der Betroffenen
setzt zum Selbstschutz des Therapeu­
ten eine professionelle Distanz voraus.
Darunter verstehe ich die Fähigkeit
sich einerseits abzugrenzen, die belas­
tenden Inhalte nicht zu dicht an sich
herankommen zu lassen. Die Empathie
darf andererseits nicht durch die Dis­
tanz verloren gehen. Ein warmes an­
nehmendes Arbeitsverhältnis ist anzustreben.
• Hilfreich ist das Erzählen von „Ge­
schichten" anderer Polizeibeamter/
innen: „Es gibt viele Polizeibeamte/
innen, denen es genauso erging und
die jetzt wieder ganz normal ihren
Dienst versehen." Damit wird den
Betroffenen die Angst genommen, sie
seien nicht normal und hätten jetzt
eine „psychische Macke."
• Der Erfolg der ersten Sitzung ist von
entscheidender Bedeutung für den
Therapieverlauf. Der Klient geht mit
einem Gefühl der Entlastung und
hofft, wieder „ganz normal" sein zu
können.
• Der Klient lernt einen „gesunden"
inneren Dialog, ein hilfreiches Gesprä­
che mit seiner Angst zu führen. Die
Angst als Freund/Freundin zu verstehen, die sein Leben retten will. Eben
als Wegbegleiter, als Teil seines
•
•
•
•
•
Wesens und damit auch als jene
Instanz, die ihn rechtzeitig auf lebens­
bedrohliche Situationen hingewiesen
hat ohne die er vielleicht heute nicht
mehr „anwesend" sein würde.
In diesem Zusammenhang lernt der
Klient durch die Methode Focusing, die
Angst auf einen angenehmen Raum zu
reduzieren und anderen hilfreichen
Kräften, wie dem Mut, der Zuversicht
und der Hoffnung ebenfalls einen
angemessenen Raum zu geben.
Die Stabilisierung des Betroffenen
steht immer an erster Stelle. Erst wenn
der Klient in der Lage ist, in sich einen
„sicheren Ort" zu schaffen und gelernt
hat, sich von den belastenden Gefüh­
len durch bestimmte Techniken, die
z.B. Frau Dr. Luise Reddemann in ihrem
Buch „Imagination als heilsame Kraft"
in hervorragender Weise beschrieben
hat, zu distanzieren, kann mit der
Traumabearbeitung begonnen werden.
Mit einer einfachen Übung kann der
Klient selbst körperlich erleben, was er
mit seinen eigenen Gedanken in seinem Körper bewirken bzw. „anrichten"
kann. Die Kraft der eigenen Gedanken
wird auf eindringliche Weise körperlich
erfahrbar.
In diesem Zusammenhang lernt der
Klient zu beobachten, welche Gedan­
ken er einlässt, weiter bewegt und
spinnt bis er sich in diesem Gedanken­
netz verfängt oder sich in einem
Gedankenkarussell befindet, aus dem
er nicht mehr herausfindet oder aussteigen kann. Je schneller diese
Gedanken durch den sogenannten
Gedankenstop aufgehalten werden
können, desto wahrscheinlicher ist es,
dass der Klient nicht wieder in krank
machende Gedankenmuster fällt.
Der Klient lernt, bestimmte psychosomatische Beschwerden wie z.B. Herz­
schmerzen, die bei ihm heftige Angst­
zustände und Panikattacke auslösen,
umzudeuten. Die Umdeutung kann so
aussehen, dass der Klient bei plötzlich
auftretenden Schmerzen in der Herz
gegend sagt: „Mein Herz schmerzt –
also lebe ich. Ich lebe.!!! Ich lebe noch
lange."
Die von Gendlin entwickelte Methode
Focusing hat sich in der Arbeit mit
Traumatisierten besonders bewährt.
Bei frühkindlich Traumatisierten bietet
sich eine Kombination dieser Methode
•
•
•
•
•
•
mit der Arbeit mit dem „inneren Kind"
an.
Die „Swish-Technik", das Wegschießen
"eingefrorener Bilder" bei gleichzeiti­
gem Ersetzen positiv besetzter Bilder
wirkt bei akuter Belastungsreaktion
und PTBS ebenso schnell und nachhal­
tig wie die Methode EMDR.
Abschiedsrituale können zum Ende der
Therapie eingesetzt werden. Belastende Gedanken werden aufgeschrieben
und feierlich dem Feuer übergeben.
Einige Klienten die eine stärkere Bezie­
hung zum Wasser haben, projizieren
ihre negativen Gedanken oder Bilder,
eben das, was sie loswerden wollen,
auf ein Stück Holz und übergeben die­
ses feierlich einem fließenden Gewäs­
ser. Von diesem Ritual prägt sich der
Klient ein Bild mit möglichst verschie­
denen Sinneseindrücken ein. Taucht
dann irgendwann wieder das belasten­
de Bild auf, führt der Klient sich das
Bild vom Abschiedsritual vor Augen
und sagt sich, dass er sich bereits von
dem belastenden Material verabschie­
det hat.
In anderen Fällen ist es hilfreich, mit
einem Betroffenen einen Unfallort
oder ein Grab aufzusuchen und sich
von dem Ort des Geschehens oder von
dem Verstorbenen zu verabschieden.
Der psychologische Effekt ist bei die
sen Ritualen nicht zu unterschätzen.
Unterstützung und Verständnis von
Vorgesetzen und Kollegen fördern den
Therapieprozess in hohem Maße. Nicht
selten müssen Vorgesetzte über die
Auswirkungen einer PTBS bei einem
betroffenen Mitarbeiter aufgeklärt
werden. Evtl. ist es erforderlich, vorübergehend oder langfristig für den
Betroffenen eine andere dienstliche
Verwendung zu finden.
Auf die den Heilungsprozess begünsti­
gende Unterstützung von Familienan­
gehörigen möchte ich hier nicht weiter
eingehen.
Der Klient erlangt die Gewissheit, nach
der Therapie stärker als zuvor zu sein.
Er integriert das Trauma in seine Bio­
grafie, bleibt nicht bei seinem trauma­
tischen Erlebnis stehen und gewinnt
aus dem Schrecklichen einen Sinn.
Schuld zu bearbeiten und loszulassen
ist fast immer ein Thema in der Trau­
mabearbeitung. Hier haben sich
Gleichnisse als sehr hilfreich erwiesen,
75
z.B. das Gleichnis von der Sünderin.
Anhand dieses Gleichnisses kann dem
Klienten aufgezeigt werden, dass die
„Sühne" darin besteht, seine Kräfte
auf die Bewältigung des Gegenwärti­
gen zu richten und sich damit eine
Zukunft zu schaffen. Das Verbeißen im
Vergangenen bindet dort die Kräfte.
Erst das Loslassen, das „Seinen­
Lebensweg-weitergehen" führt aus
der Krise.
76
• Neben der Traumatherapie sollte der
Klient regelmäßig Sport treiben (Puls
130). So kann das innere Erregungsni­
veau gesenkt werden. Parallel dazu ist
täglich mindestens einmal eine für
den Klienten hilfreiche Entspannungstechnik zu üben. Geeignete erholsame
Freizeitaktivitäten sind begleitend
ebenso wichtig, wie das Lösen von
aufgeschobenen oder verdrängten
Problemen.
• Auch gilt es, das Selbstwertgefühl, das
häufig geschwächt wurde, zu entwickeln und zu stärken.
Polizeilicher Schuss­
waffengebrauch:
Erleben und Folgen*
Frank Hallenberger
Zusammenfassung
Der Beitrag fasst die Studien zum polizeilichen Schusswaffengebrauch zusammen. Entgegen den Erwartungen konnten nur fünf Untersu­
chungen aus den USA, Kanada und Europa gefunden werden. Die in ihrer Systematik sehr unterschiedlichen Datenerhebungen zeigen
jedoch einige Übereinstimmungen in ihren Ergebnissen. Beleuchtet wird der spontane und gezielte polizeiliche Schusswaffengebrauch mit
seinem Erleben durch den Schützen. Die aus diesem zumeist traumatisierenden Ereignis resultierenden psychischen und sozialen Folgen
werden mit ihren Bedingungsfaktoren dargestellt.
Gliederung
1.
2.
2.1.
2.2.
2.3.
2.3.1
2.3.2
Der „sichere“ Schuss
Hilfsmaßnahmen
Literatur
1. Einleitung
Die Medien, allen voran das Fernsehen
beeinflussen das Weltbild des Konsumen­
Polizeilicher Schusswaffengebrauch in Rheinland-Pfalz
Anzahl der Fälle gegenüber Menschen
›
Einleitung
Der „unsichere“ Schuss
Erleben des Schusswaffengebrauchs
Belastungsreaktionen
Einflüsse auf die Regeneration
Soziale Unterstützung
Zusätzliche psychische Verletzungen
3.
4.
5.
7
6
5
ten. Ein beliebtes Film- und Seriengenre
sind Krimis und Polizeiarbeit. So zeigt ein
Blick auf eine zufällig aufgeschlagene
Seite des Fernsehprogramms vom 11. Mai
2000 z.B. „Ein Fall für zwei“, „Die Motor­
rad-Cops“, „Balko“, „Die Wache“, „Antho­
ny Dellaventura, Privatdetektiv“, „Wolffs
Revier“, „Cagney und Lacey“, „Die Stra­
ßen von San Francisco“. Das waren erst
sechs Programme. Ich habe mir nicht die
Mühe gemacht, die hierbei im Polizeiein­
satz an- oder erschossenen Menschen zu
zählen. Es geschieht jedoch an jedem
Fernsehtag zu fast jeder Stunde. So kann
leicht der Eindruck entstehen, dass der
Schusswaffengebrauch eine routinemäßig
eingesetzte Form der Polizeiarbeit sei.
4
3
2
1
0
1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996
Erfassungszeitraum
Dagegen ist in der Realität der Schuss­
waffengebrauch gegen Menschen in
Deutschland ein eher seltenes Ereignis.
Die folgende Grafik zeigt die Häufigkeit
des Schusswaffengebrauchs gegen Men­
schen in Rheinland-Pfalz 1987 bis 1996,
nach den Angaben des rheinland-pfälzi­
schen Innenministeriums (Abb. 1).
Abb. 1
* Nachdruck mit freundlicher Genehmigung aus POLIZEI UND WISSENSCHAFT 1/2001
77
Insbesondere in den Filmmedien wird in
aller Regel noch ein anderer Aspekt völlig
falsch dargestellt: Die Belastungsreaktio­
nen der Polizeibeamten nach dem
Schusswaffengebrauch. In allen Studien
zum Schusswaffengebrauch wird von
unterschiedlich starken Schockzuständen
direkt nach dem Schießen berichtet
(Manolias & Hyatt-Williams, 1993; Solo­
mon & Horn, 1986). Im Gegensatz dazu
steckt der Zelluloid-Polizist die Waffe
weg, schnauft bestenfalls kurz durch und
jagt den nächsten bösen Buben.
Die Filmwelt gaukelt uns also vor, dass es
sich bei Schusswechseln um normale
polizeiliche Situationen mit außerge­
wöhnlichen Menschen handelt – den
Polizisten. Die Realität stellt sich demge­
genüber genau gegensätzlich dar: Es
handelt sich um außergewöhnliche Situ­
ationen mit normalen Menschen!
2. Der „unsichere“ Schuss
Hierunter soll der Schusswaffengebrauch 1
aus einer Aktion heraus ohne Planung,
Schutz und präziser längerfristiger Zielsu­
che verstanden werden. Dagegen soll als
„sicherer“ Schuss der geplante, präzise
gezielte Schuss aus einer Deckung heraus
– in der Regel der „Finale Rettungs­
schuss“ – bezeichnet werden.
Die meisten amerikanischen Polizeibeam­
ten sehen den Schusswaffengebrauch als
das belastendste Ereignis an, welches
ihnen während ihres Berufslebens passie­
ren könnte. Zu diesem Schluß kommen
Manolias und Hyatt-Williams (1993) nach
einer Literaturübersicht. Eine Aufklärung
dazu, warum Schießen höchsten Stress
bedeuten kann, findet sich in den beiden
gängigen Diagnose-Manualen. Bei einer
möglicherweise traumatogen wirkenden
Situation soll nach ICD 10 (1994) eine
„außergewöhnliche Bedrohung“ oder ein
„katastrophales Ausmaß“ vorliegen. Deut­
licher zeigt das DSM IV (1996), warum
der Schusswaffengebrauch traumatisch
wirken kann: „Die Person erlebte, beob­
achtete oder war mit einem oder mehre­
ren Ereignissen konfrontiert, die tatsäch­
lichen oder drohenden Tod oder ernsthaf­
te Verletzung oder eine Gefahr der kör­
perlichen Unversehrtheit der eigenen Per­
son oder anderer Personen beinhalteten.“
Individuelle, subjektive Komponenten
78
1
konstituieren in beiden Definitionen das
Ereignis als „Trauma“ oder „kritisches
Ereignis“. Im ICD 10 (1994) ist dies die
Einschätzung, dass das Ereignis bei nahe­
zu jedem tiefgreifende Verzweiflung aus­
lösen würde. Das DSM IV (1996)
beschreibt als Reaktionen intensive
Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen. Mit
anderen Worten: Der Schusswaffenge­
brauch kann für einen Polizeibeamten ein
kritisches Ereignis darstellen und somit
akute bzw. posttraumatische Belastungs­
reaktionen auslösen. Unterstützung
erfahren diese Ausführungen durch zwei
Befragungen. Bei Stratton, Parker und
Snibbe (1984) sowie Solomon und Horn
(1986) berichtet jeweils ca. ein Drittel
der Polizeibeamten von geringen, mode­
raten bzw. starken Belastungsreaktionen.
Die zu dem Thema „Post-Shooting“-Reak­
tionen veröffentlichten Studien weisen
alle verschiedene methodische Mängel
auf. So lag häufig eine geringe Proban­
denzahl vor oder es wurden Fragebögen
ohne erkennbares Schema verschickt. Die
Fragebögen enthielten zumeist Selbstbe­
schreibungen und -einstufungen anstatt
verhaltensorientierter Fragen. Die Grup­
penzusammensetzung blieb unklar. Waren
Präzisionsschützen dabei? Zog das Schie­
ßen den Tod eines anderen Menschen
nach sich oder waren es geringere
Schussverletzungen? Waren nur Schützen
in der Gruppe oder auch Polizisten, die an
dem Einsatz teilgenommen hatten, aber
nicht geschossen haben? Die Kategorien­
bildungen und Auswertungen differieren
stark. Der Einfluß sozialer Erwünschtheit
oder noch anhängiger Ermittlungen wur­
den nie erfaßt und die Zeitspannen zwi­
schen Ereignis und Befragung schwanken
beträchtlich. Die Ergebnisse der interna­
tionalen Untersuchungen (zweimal USA,
je einmal Kanada, Niederlande und Groß­
britannien), deutscher Berichte und
Erfahrungen aus der eigenen Gruppenund Einzelfallarbeit zeigen aber bedeut­
same Übereinstimmungen (Stratton, Par­
ker & Snibbe, 1984; Loo, 1986; Solomon
& Horn, 1986; Gersons, 1989; Krolzig,
1992; Deutsche Polizei, 1995; Manolias &
Hyatt-Williams, 1993).
2.1 Erleben des Schusswaffengebrauchs
Zum Erleben des Schusswaffengebrauchs
liegen nur von Manolias und Hyatt-Willi­
ams (1993) sowie Artwohl und Christen­
sen (1997) Veröffentlichungen vor. Die
Angaben sind aber vergleichbar mit Ein­
zelfallberichten aus deutschen Polizeima­
gazinen und eigenen Erfahrungen mit
Betroffenen. Die Schilderungen zum Erle­
ben beinhalten überwiegend psychische
und physische Aktivitäten, die während
bzw. kurz nach dem Schusswaffenge­
brauch vorgelegen haben sollen. Ob es
sich um das tatsächliche Erleben oder
um Gedächtnisrepräsentationen handelt,
die nach dem Ereignis verändert wurden,
ist kaum abzuschätzen:
Überwiegend handelte es sich um die
Eskalation einer Konfrontation bei ver­
suchter Täterfestnahme, Verfolgungsfahr­
ten oder Hausstreit. Am Punkt der größ­
ten Gefahr seien die meisten Befragten
extrem ruhig und „klar im Kopf“ (clear­
headed) gewesen. Auch von „kalt“ wird
gesprochen. Hier hat sich die Situation
zugespitzt, oft handelte es sich um eine
„Aug’ in Aug’“-Situation, wo es darum
geht, wer von den Beteiligten überleben
wird („Der oder ich!“). Nur wenige berich­
ten hierbei von intensiver Furcht, die aber
sogleich durch überwältigende Wut
ersetzt wurde. Hohe Anspannung oder
Angst kam selten vor, am ehesten dann,
wenn das Ereignis antizipiert werden
konnte. Sehr häufig wird von reflexhaf­
tem Reagieren, einem automatischem
Ablaufen antrainierter Abläufe, gespro­
chen (80% bei Artwohl & Christensen,
1997). Ein für die Vorbereitung und Pro­
phylaxe kritischer Ereignisse sehr wesent­
licher Befund, da Automatismen und
reflexhaftes Verhalten erlernt und trai­
niert werden können. Ein richtiger und
wichtiger Schritt in diese Richtung ist das
Üben in den interaktiven Schießanlagen.
Etwas überraschend sprechen fast die
Hälfte der von Artwohl und Christensen
(1997) befragten Polizisten davon, wäh­
rend des Geschehens intensiv gedanklich
abgelenkt gewesen zu sein. Die Gedanken
kreisten hierbei z.B. um Angehörige und
Zukunftspläne.
Direkt nach dem Schießen kommt es zu
sehr unterschiedlichen Gefühlen, die von
Erleichterung bis zu ernsthaftem Schock­
zustand reichen können. Einige sprechen
nach dem Ereignis exzessiv und es kann
Mundtrockenheit vorkommen. Selbst
„Schusswaffengebrauch“ als Schussausgabe im Unterschied zu „Schusswaffeneinsatz“ im allgemeinen Umgang mit der Dienstwaffe (vgl. Lorei, 1999).
wenn die Betroffenen zunächst sagen,
dass sie völlig ruhig seien, kann es beispielsweise sein, dass ihnen Schreiben
nicht möglich ist. Etwa 2/3 der Schützen
wiesen auffällige emotionale Reaktionen
nach dem Ereignis auf. Teilweise traten
diese Reaktionen jedoch oft erst einige
Stunden nach dem Vorfall auf (Manolias
& Hyatt-Williams, 1993).
Beim Schusswaffengebrauch muss den
Angaben zufolge vor allem mit Wahrneh­
mungsverzerrungen gerechnet werden
(Solomon & Horn, 1986; Manolias &
Hyatt-Williams, 1993; Artwohl & Christensen, 1997).
Am häufigsten ist die Zeitwahrnehmung
betroffen. Ein Erleben der Situation wie
in Zeitlupe wird von gut 2/3 und wie im
Zeitraffer von ca. 1/6 der Befragten
berichtet. Hierbei sind extreme Wahrneh­
mungsveränderungen möglich: Von fast
Zeitstillstand, bis „zu schnell, um über­
haupt noch etwas zu erleben“. Auf das
veränderte Zeiterleben müssen die Poli­
zisten vorbereitet werden, da dieses
Angst hervorrufen kann („Warum bin ich
so langsam?“, „Werde ich verrückt ?“).
Deutlich über die Hälfte der Betroffenen
beschreiben ein reduziertes Hörvermögen. Geräusche können gedämpft oder
wie aus großer Entfernung oder auch
überhaupt nicht gehört werden (eigene
oder fremde Schüsse, Zurufe, Sirenen ...).
Von ca. einem Sechstel wurden einige
Geräusche verstärkt wahrgenommen. So
wurde dem Autor berichtet, dass das
Auftreffen der Kugel auf den Körper des
Gegners gehört wurde.
Angaben zum „Tunnelblick“ (intensives
Fokussieren eines Bereichs, bei Ausblen­
dung der Randbereiche) finden sich bei
Solomon und Horn (37%) und Artwohl
(83%). Unterschiedlich häufig wird von
Detailwahrnehmungen (Gesicht, Waffe,
Kleidung) berichtet (18% bei Solomon &
Horn, 1986, und 74% bei Artwohl &
Christensen, 1997). Ein Grund für die
unterschiedlichen Häufigkeiten ist mögli­
cherweise in einer uneinheitlichen Fragestellung zu sehen.
Loslösungserleben im Sinne von Deperso­
nalisation (die Szenerie wie von außen
sehen) und Derealisation (Gefühl zu träumen, „das ist nicht wahr“) wird von etwa
der Hälfte der von Artwohl und Christensen (1997) Befragten angegeben.
2.2 Belastungsreaktionen
Hier finden sich – je nach Fragestellung
der Untersuchung – unterschiedlich viele
Symptome der akuten bzw. posttraumati­
schen Belastungsreaktion. Daneben gibt
es aber auch Angaben zu kognitiven,
sozialen und anderen Aspekten, die in
den Diagnosesystemen nicht aufgenom­
men sind. Die Reihenfolge der Belas­
tungsreaktionen ist – soweit dies mög­
lich war – an die Häufigkeit der Nennun­
gen in den Studien angelehnt.
Eine hohe Beanspruchung – schon kurz
nach dem Schusswaffengebrauch – stellt
das meist reduzierte Erinnerungsvermö­
gen dar. Diese Beanspruchung wird durch
die notwendigen Ermittlungen noch
erhöht. Nach Schusstreffern muss eine
staatsanwaltschaftliche Untersuchung –
oft mit Befragungen oder Vernehmungen
– erfolgen. Die Ermittlungen können
einen erheblichen Einfluß auf das Befinden des Schützen nach sich ziehen und
werden weiter unten angesprochen. Zum
anderen befindet sich der Polizeibeamte
auf einmal in einer Situation, die er in
der Regel aus der gegenüberliegenden
Perspektive kennt, er wird befragt oder
vernommen. Wie oft machten Zeugen
oder Vernehmende widersprüchliche
Angaben und/oder hatten Erinnerungs­
probleme mit unterschiedlich hoher
Glaubwürdigkeit? Hieraus können berufs­
bedingte Zweifel an der Ernsthaftigkeit
der Erinnerungsprobleme resultieren. So
kann der nun betroffene Polizist davon
ausgehen, dass der Kollege ihm gegenüber auch diese Zweifel hegt. Dies kann zu
zusätzlichen Verwirrung und Unsicher­
heiten führen.
Im einzelnen können folgende Erinnerungsverfälschungen auftreten (Artwohl
& Christensen, 1997): Ca. 2/3 berichteten
von reduziertem Erinnerungsvermögen.
Teilabläufe konnten nicht erinnert werden. Wer war dabei, wie oft wurde
geschossen, wie oft habe ich geschossen?
Dagegen schilderten etwa 1/5 Ereignisse
und Abläufe, die in Wirklichkeit nicht
stattfanden. Es ist aber auch möglich,
dass das Ereignis mit ungewöhnlicher
Klarheit und mit vielen Details erinnert
wird (ähnliche Angaben finden sich bei
Stratton, Parker & Snibbe, 1984; Manoli­
as & Hyatt-Williams, 1993).
Weiterhin weisen die beschriebenen
Gedächtnisphänomene daraufhin, dass
die Angaben zum Erleben des Schusswaf­
fengebrauchs (2.1) vorsichtig interpre­
tiert werden müssen.
Aufgrund der vorliegenden Untersuchun­
gen (Stratton, Parker & Snibbe, 1984;
Loo, 1986; Solomon & Horn, 1986; Ger­
sons, 1989; Manolias & Hyatt-Williams,
1993) müssen Intrusionen in der Zeit
nach dem Schusswaffengebrauch als das
herausragende Problem angesehen wer­
den. Hierbei handelt es sich um spontan
auftretende teilweise sehr intensive,
belastende Erinnerungen. Solomon und
Horn (1986) hatten in ihrer Befragung
keine eigenen Kategorien hinsichtlich
belastender Erinnerungen. Diese wurden
von ihnen möglicherweise unter dem
Bereich „Einschleichende Gedanken
(introducing thoughts) / Flashbacks“ sub­
sumiert, der auf Platz vier von 16 Kategorien rangierte. Bei Stratton, Parker und
Snibbe (1984) war die Kategorie „flash­
backs / recurring thoughts“ auf dem
ersten Platz der drei häufigsten Probleme. Flashbacks sind Erinnerungsattacken
und treten unvorhersehbar mit hoher
Lebendigkeit auf. Die Kategorienbildung
oder Vermischung von Intrusionen und
Flashbacks ist nachvollziehbar, gehören
beide Bereiche doch zum „Erinnerungs­
druck“ nach DSM IV. Loo (1986) hatte
„Flashbacks“ als eigene Kategorie
benannt, die sowohl als häufiges als
auch als recht schweres Problem genannt
wurde.
Hohe Bedeutung – im Sinne häufiger
Nennungen – haben auch „Schlafschwierigkeiten“ (Stratton, Parker & Snibbe,
1984; Solomon & Horn, 1986; Gersons,
1989; Manolias & Hyatt-Williams, 1993).
Hierbei ist aber in den Berichten nicht
immer klar, ob nach „Ein- und Durchschlafstörungen“ oder „Alpträumen“
gefragt wurde.
Nach Wut und Zorn wurde häufig
gefragt und diese Emotionen wurden
auch sehr oft benannt. Solomon und
Horn (1986) berichten, dass diese Emp­
findungen oft auf die Person gerichtet
sind, die die Veranlassung zum Schießen
gab („God damm you for putting me in
such a situation“ oder „God damm you
for making me feel so vulnerable“). Ziel
von Wut und Zorn kann auch der Part­
ner/Kollege sein. Es wird ihm angelastet,
dass er nicht korrekt gehandelt haben
79
soll. Ein häufig gemachter Vorwurf ist
hierbei, dass er nicht genug Schutz gege­
ben habe. Besonders sensibel und emo­
tionsbeladen werden die Aktivitäten seitens der Dienststelle bzw. anderer Insti­
tutionen der öffentlichen Verwaltung
beachtet. Dazu später mehr (2.3). Bei Loo
(1986) liegt „Wut über das Ereignis“ auf
dem zweiten Platz der negativen Reak­
tionen, ähnlich den Ergebnissen von
Solomon und Horn (1986). Diese Emotio­
nen halten nach Loo auch über einen
Monat lang an. Stratton, Parker und
Snibbe (1984) sprechen nur davon, dass
ca. 2/3 der Befragten emotionale Reaktionen wie Depression, Wut u.a. hatten.
Zukunftssorgen hinsichtlich eines mög­
lichen zukünftigen Waffengebrauchs
wurden nur von Solomon und Horn
(1986) erfragt. Hier gaben 40% der
Befragten entsprechende Gedanken an
(„Werde ich zu schnell oder zu langsam
... womöglich gar nicht reagieren?“). Ein­
zig diese beiden Autoren bildeten den
Bereich „Erhöhter Sensibilität für
Gefahr“, oft unter dem Aspekt der
Erkenntnis der eigenen Endlichkeit. Dies
bedeutet, dass der Beruf, wohl in Folge
des Erkennens der eigenen Verletzlichkeit, zukünftig als gefährlicher angese­
hen wird. Zukunftsgedanken im Sinne
von „Furcht vor Untersuchung“ waren bei
Stratton, Parker und Snibbe (1984) unter
den drei am häufigsten genannten Pro­
blemen. „Furcht vor Untersuchungen“
beinhaltet z.B. die Ungewißheit darüber,
welche Spuren die ermittelnden Beamten
finden, welche Schlüsse sie daraus ziehen
und für wie glaubwürdig die eigenen
Aussagen dahingehend gehalten werden.
Wie gesagt (2.2), kommt es nach dem
Schusswaffengebrauch häufig zu Erinnerungsproblemen, hierdurch wird die
„Furcht vor Untersuchungen“ nochmals
verstärkt.
Weitere Antworten können unter der
Symptomgruppe „Vermeidung/emotionale
Taubheit“, analog DSM IV zusammenge­
faßt werden. Solomon und Horn (1986)
fanden häufig Empfindungslosigkeit
(43%), Depression (42%) und immerhin
11% Suizidgedanken. Loo (1986) hatte
die Kategorie „Überprüfung persönlicher
Werte“, deren Bedeutung auch über
einen Monat hinaus den Spitzenplatz
einnahm. „Interessensverlust hinsichtlich
der Arbeit“ und „Depression“ waren hier
relativ gering ausgeprägt. Es kann aber
80
auch nicht ausgeschlossen werden, dass
„Depression“ in den Befragungen unter­
schiedlich verwendet wurde, wie z.B. als
Verstimmung, Sorgen oder im strengen
klinischen Sinn. „Gefühlseinengung“ war
mit 60% in der Gesamtgruppe auch ein
bedeutsamer Aspekt bei Gersons (1989).
Manolias und Hyatt-Williams (1993)
sowie Stratton, Parker und Snibbe (1984)
hatten nur die groben Bereiche „emotionale Reaktionen“, die in beiden Untersu­
chungen von 2/3 der Befragten berichtet
wurden.
Soziale Probleme wurden explizit nur von
Solomon und Horn (1986) aufgegriffen.
Isolation/Rückzug (45%), Entfremdungsgefühle (40%), Probleme mit Regeln und
Autoritäten sogenannte „troublemakers“
(28%), familiäre Probleme (27%) und
sexuelle Schwierigkeiten (18%) wurden
genannt. Hieraus wird deutlich, wie
wichtig es ist, die gesamte Familie zu
betreuen. Die beiden Autoren gehen
weiterhin davon aus, dass sexuelle
Schwierigkeiten für Polizisten wohl sehr
schwer zu akzeptieren sind. Demzufolge
wird selten eine Behandlung aufgesucht
und es entsteht zusätzlicher Druck.
Neben den Partnerschaftsproblemen gab
es in Einzelfällen aber auch Verbesserungen der Beziehungen.
Unerwartet wenig wurde in Richtung der
Symptomgruppe „chronische Übererre­
gung“ entsprechend DSM gefragt. Nur
Gersons (1989) nahm teilweise das DSM
als Grundlage seiner Studie, allerdings
noch das DSM III. Immerhin berichteten
68% der Gesamtgruppe von Übererre­
gung, aber nur 5% (maximal 2 Personen!)
von Gedächtnis- und Konzentrations­
schwierigkeiten.
Auch nach Alkohol- oder Drogenabusus
wurde nur von Solomon und Horn (1986)
gefragt. 14% bejahten einen Substanz­
missbrauch.
Ein übles Gefühl, welches in der „PostShooting“-Gruppe des Autors einmal mit
„Verlust der Unschuld“ beschrieben wurde,
wird recht häufig empfunden. Von Übelkeit, Appetitlosigkeit bis hin zum Gefühl
des Abgestoßenseins sprechen Manolias
und Hyatt-Williams (1993). Letzteres, weil
die Tat für den Betroffenen im krassen
Gegensatz zu dem stand, was für ihn Poli­
zei darstellte. Hinzu kamen psychosomati­
sche Reaktionen von chronischer Migräne
und Gefühlsverlust in der rechten Körperhälfte. Solomon und Horn (1986) spra­
chen vom „Kainsmal“, dem Gefühl, von
allen beobachtet zu werden, wohl als Pro­
jektion von Anklage- und Schamgefühlen,
weil man im übertragenen Sinne einen
Brudermord begangen hat.
Dies führt zu einem sehr wichtigen und in
der Praxis schwierigen Bereich, dem der
„Schuld“. „Schuld“ im weiteren als nur
dem rechtlichen Sinn, als persönliche
Empfindung, einen Menschen ernsthaft
verletzt oder getötet zu haben. Auch bei
rechtlich eindeutiger Sachlage und Freisprechung von jeder juristischen Schuld
kann für den einzelnen die Frage noch
völlig ungelöst und problembehaftet sein.
Vielleicht liegt es an der Komplexität und
Vielschichtigkeit dieses Problems, dass
nur Loo (1986) sowie Manolias und
Hyatt-Williams (1993) es in nennenswer­
ter Weise betrachtet haben. Unter der
Fragestellung, was der größte negative
Effekt war, wurden bei Loo (1986) von
14% der Polizisten Schuldgefühle
genannt. In diesem Zusammenhang dürfte es interessant sein, dass auch 14% den
Wunsch hatten, das Geschehene ungetan
machen zu können. Die Prozentangaben
zu diesen beiden Rubriken verringerten
sich auch nach einem Monat nicht stark.
Zum Vergleich: „Depressionen“ äußerten
nach einem Monat 13%. Die Befragung
von Manolias und Hyatt-Williams (1993)
zeigt andere Ergebnisse: Die Hälfte sprach
davon, keine Schuldgefühle hinsichtlich
des Schießens zu haben. Einige machten
sich aber Sorgen um die Familie des
Toten. Etwas weniger als die Hälfte fühlte
sich schlecht oder schuldig, jemanden
verletzt oder getötet zu haben. Im Vergleich mit den Erfahrungen der von mir
betreuten „Post-Shooting“-Gruppe,
erscheint dieser Bereich in den Veröffent­
lichungen stark unterrepräsentiert.
„Schuld“ ist hier fast immer, auch Jahre
nach dem Ereignis, ein Thema.
Die Dauer, wie lange das Ereignis Probleme bereitet, ist stark unterschiedlich. Bei
Stratton und seinen Kollegen (1984)
lagen die Schießereien sechs Monate bis
drei Jahre zurück. Gut drei Viertel der
Gruppe gab an, dass das Ereignis noch
frisch in der Erinnerung ist. 10% hatten
es ein wenig, 5% zur Hälfte, 6% über­
wiegend und 1% vollständig vergessen.
Loo (1986) fragte danach, wann die
Betroffenen wieder normal zur Arbeit
gegangen sind und ohne Schwierigkeiten
am Familien- und sozialen Leben teilnah­
men. Die Angaben hierzu schwankten
von weniger als eine Woche bis zu meh­
reren Jahren. Ähnlich sind die Angaben
bei Manolias und Hyatt-Williams (1993).
Die Schwierigkeiten dauerten einige
Wochen bis mehrere Monate, in Extremfällen noch viel länger. Eine Person hatte
noch nach zwei Jahren eine schwere
Depression mit komplettem Rückzug aus
Familien- und Kollegenkreis, und einmal
wird von Weinkrämpfen noch 12 Jahre
nach dem Vorfall berichtet.
Solomon und Horn (1986) diskutieren
den Einfluß von situativen Komponenten
auf die Probleme nach dem Schusswaf­
fengebrauch. Sie zitieren Roberts (1982),
der herausstellte, dass es wichtig sei, wie
sich die Situation anbahnt, wie blutig sie
ist und wie die Reputation der getroffe­
nen Person ist. Letzteres zielt auf den
Unterschied ab, ob ein langgesuchter
Schwerverbrecher getroffen wird oder ein
Teenager. Solomon und Horn (1986)
sprechen noch die Fairness der Situation
an, d.h., wer war in der Überzahl, gab es
unbeteiligte Personen im Schussfeld, war
der Gegner gefährlicher bewaffnet
(Schrotflinte)? Ist die Situation durch
Unfairness gekennzeichnet, soll dies zu
erhöhter Wut führen. Wesentlich soll
auch das Empfinden der eigenen Verletz­
lichkeit und das Realisieren der eigenen
Endlichkeit sein. Wer mit der Furcht und
eigenen Verletzlichkeit umgehen konnte
oder sich nicht so verletzlich fühlte, hat­
te weniger starke Schwierigkeiten als
jemand, der sich verletzbarer fühlte oder
starke Angst hatte. Ähnliche Angaben
erhielten Manolias und Hyatt-Williams
(1993). Die Schwierigkeiten waren vor
allem dann erhöht, wenn der Gegner eine
Waffenattrappe hatte, Unbeteiligte
getroffen wurden oder der Getroffene
eine Querschnittslähmung davontrug.
helfer oder Soldat, können vier Aspekte
die Soziale Unterstützung bzw. zusätzli­
che Traumatisierungen beeinflussen:
Zunächst kann das – etwas überspitzt
formuliert – eine Art „Psyphobie“ sein.
Bei vielen Polizisten liegen noch immer
Bedenken gegen alles vor, was mit „Psy...“
anfängt („Ich bin doch nicht verrückt“).
Gersons (1989) berichtet aus Holland,
dass keiner seiner 34 Befragten nach
professioneller Hilfe gefragt hat. Völlig
konträr hierzu stellt sich die Lage dar,
wenn jemand die Gelegenheit hat, an
einem Aufarbeitungsseminar teilzunehmen. Hierbei sind mir als Seminarleiter
lange Anwärmphasen oder gar nervöses
Schweigen unbekannt. Im Gegenteil, das
Erlebte, die Gedanken und Emotionen
sprudeln förmlich aus den Polizeibeam­
ten heraus.
Weiterhin besteht mitunter die Sorge,
dass die Inanspruchnahme psychosozialer
Hilfe einen negativen Einfluß auf die
spätere dienstliche Beurteilung durch
den Vorgesetzten haben könnte. Wenn
jemand so schwach ist und psychische
Hilfe braucht, ist er dann nicht ein
schlechterer – oder zumindest nicht so
guter – Polizist?
Mitunter könnte bei einigen Mitarbeitern
und Vorgesetzten auch von einer „Sheriff-Mentalität“ gesprochen werden
(ähnlich Loo, 1986; Gersons, 1989). Der
Sheriff sorgt schnell und knallhart für
Recht und Ordnung. Probleme gibt es
nicht oder sie werden – mit der Waffe –
weggesteckt.
Ein ganz wesentliches Problem stellen
die nach dem Schusswaffengebrauch mit
Verletzungsfolge einzuleitenden Ermittlungen dar. Diese Verfahren können über
einen längeren Zeitraum sehr stark be­
lasten.
2.3. Einflüsse auf die Regeneration
Nach kritischen Ereignissen hat soziale
Unterstützung eine hohe Bedeutung (z.B.
Herman, 1993; Maercker, 1997; Lasogga
& Gasch, 2000). Unterstützung von Kollegen ist die Regel. Bei Stratton, Parker und
Snibbe (1984) gab es eine und bei Mano­
lias und Hyatt-Williams (1993) zwei Ausnahmen. Als zumindest etwas unterstützend wurden 97% der Kollegen der von
Solomon und Horn (1986) befragten Poli­
zisten beurteilt. Nach Manolias und
Hyatt-Williams (1993) wurden auch nur
Wesentlich für den Verlauf der Schwierigkeiten nach einem kritischen Ereignis
sind die soziale Unterstützung bzw.
zusätzlichen Verletzungen. Selbstredend:
Je höher die soziale Unterstützung und je
weniger zusätzliche Verletzungen, desto
weniger bzw. kürzer anhaltende Probleme
(Solomon & Horn, 1986).
Ähnlich anderen „Harte-Männer-Beru­
fen“ wie Feuerwehrmann, Katastrophen-
2.3.1 Soziale Unterstützung
selten „Witze“ bezüglich des Ereignisses
gemacht. Unüberlegte Kommentare gab
es am ehesten, wenn Schwerverbrecher
das Ziel der Schüsse waren.
Am ausführlichsten behandelten Solomon und Horn (1986) den Einfluß von
Kollegen, Vorgesetzten, Verwaltung und
Untersucher. Natürlich ist es schwierig,
diese US-amerikanischen Ergebnisse auf
Deutschland zu übertragen. So sind die
polizeilichen Ausbildungen, die Aufgaben
der verschiedenen Institutionen und die
Mentalität mitunter stark unterschiedlich. Die Ergebnisse liefern folgende Hin­
weise: Für alle vier untersuchten Perso­
nengruppen (fellow officers, supervisors,
administration, investigation) gab es sig­
nifikante negative Korrelationen
(-.23 bis -. 37) zwischen Unterstützung
und Traumawerten. Mit anderen Worten:
Je höher die Unterstützung, desto geringer die Schwere des Traumas. Die größten Korrelationen gab es für „Entfrem­
dung“ und „Probleme mit Autoritäten
und Regeln“. Je mehr Unterstützung von
den vier Personengruppen, desto geringer
war der Problembereich „Entfremdung“
ausgeprägt. In die gleiche Richtung weisen die Korrelationen von „Problemen mit
Autoritäten und Regeln“ mit den Zuwen­
dungen durch die Personengruppen
„supervisors“, „administration“ und
„investigation“. Geringere Unterstützun­
gen durch diese Gruppierungen gehen
mit mehr „Problemen mit Autoritäten
und Regeln“ einher. Etwas weiter inter­
pretiert werden die o.g. „troublemakers“
produziert, die Probleme mit Regeln und
Autoritäten haben. Unterstützung erfährt
diese Überlegung durch die eigene Arbeit
mit Traumaopfern, die angeben, nach den
kritischen Ereignissen mehr auf sich zu
achten, egoistischer zu sein und „sich
weniger gefallen zu lassen“. Für „fellow
officers“ konnten keine signifikanten
Zusammenhänge mit der Schwere des
Traumas beobachtet werden. Dies könnte
daran liegen, dass „fellow officers“ als
Freunde eher bei privaten Problemen hel­
fen und andererseits – im Umkehrschluß
– so gut wie nicht verletzend werden.
Einen statistisch bedeutsamen positiven
Zusammenhang zwischen dem Befinden
zum Zeitpunkt der Befragung und der
erlebten Unterstützung gab es nur mit
„fellow officers“. Mit anderen Worten:
eine bessere erlebte Unterstützung geht
81
mit einem besseren Befinden in der
Zukunft einher.
Diese Ergebnisse können laut Solomon
und Horn (1986) durch verschiedene
Mediatorvariablen beeinflusst sein. Hier­
zu zählt, wie eindeutig der Schusswaf­
fengebrauch war, ob ein Jugendlicher das
Opfer war und ob die Reputation anderer
Polizisten mit betroffen war. So könnte
beispielsweise bei einer – vor allem
rechtlich – nicht eindeutigen Situation
oder einem Jugendlichen als Opfer ein
unsensibles Vorgehen der Behörden (z.B.
wenig Transparenz des Vorgehens, frag­
würdige Pressemitteilungen) besonders
schädlich sein. Ist der gute Ruf anderer
Polizisten betroffen, könnte dies zu Pro­
blemen mit der kollegialen Unterstützung
führen.
Hinsichtlich „critical incident support
teams“ sprechen sich die beiden Autoren
für den Einsatz von polizeilichen Kolle­
gen aus, die selbst Betroffene waren.
Ihrer Ansicht nach hätten diese eine
höhere Akzeptanz als Profis wie Psycho­
logen, Ärzte oder Sozialarbeiter. Der Fra­
ge hinsichtlich professioneller Unterstüt­
zung wurde differenzierter von Stratton,
Parker und Snibbe (1984) und Loo (1986)
nachgegangen. Übereinstimmend wurde
in beiden Studien von den Polizisten
angegeben, dass Unterstützung für ande­
re viel wichtiger ist als für die eigene
Person. Loo (1986) sieht dies als Hinweis
auf ein „Macho-Image“ innerhalb der
Polizei, nach dem „andere Hilfe brauchen,
ich aber nicht“. Bei Stratton und Kollegen
hielten gut drei Viertel der Befragten
Debriefings (Stressbearbeitung nach
belastenden Ereignissen; vgl. Mitchell &
Everly, 1998) zwar für andere für eine
gute Idee, mehr als 40% gaben jedoch
an, es selbst nicht zu brauchen. Ver­
gleichbar sind die Ergebnisse von Loo
(1986). Zumindest „etwas wichtig“ für
andere hielten zwischen 81% und 97%
der Teilnehmer die Hinzuziehung eines
Psychologen (innerhalb von drei Tagen),
Einzeltherapie, psychologische Hilfe für
die Familie oder einen „peer counsellor“
(Kollege, der selbst Betroffener ist). Auf
sich selbst bezogen schwankten die Pro­
zentangaben bezüglich dieser Hilfen zwi­
schen 58% und 62%. Wurde dagegen
gefragt, ob ein psychologisches Bera­
tungsangebot für die eigene Person zur
Verfügung stehen sollte, so wurde dies
von 80% befürwortet. Zum einen könnte
82
das Wissen um eine solche Beratung –
im Sinne eines Reservefallschirms –
beruhigend wirken, zum anderen wird
eine unterstützende bzw. helfende Hal­
tung des Arbeitgebers deutlich, wenn er
für eine solche Möglichkeit sorgt (vgl.
Hallenberger, 1998).
In der selben Untersuchung gaben die
Polizisten auch an, dass es ihnen lieber
sei, per Anweisung nach dem Schusswaf­
fengebrauch zu Hause bleiben zu müs­
sen, als sich womöglich das Stigma
„krank“ einzuhandeln.
Den familiären Bereich beleuchteten nur
Manolias und Hyatt-Williams (1993)
sowie Artwohl und Christensen (1997).
Die Familie sei zwar mitunter durch das
Ereignis schwer beansprucht, aber sie
scheint doch fähig zu sein, wertvolle
Unterstützung zu leisten. Über die pro­
blematische Situation wurde in der Fami­
lie in stark unterschiedlichem Ausmaß
gesprochen: von sehr viel bis gar nicht,
letzteres bei Vorliegen einer Depression.
In dieser Untersuchung wurden keine
Hinweise auf ernsthafte Effekte bei den
Kindern der Polizisten gefunden. D.h. es
gab keine Hinweise auf Belästigungen
durch andere Personen oder sekundäre
Traumatisierungen der Kinder. In der
Befragung von Loo (1986) hielten etwas
über die Hälfte der Betroffenen psycho­
logische Hilfe für ihre Familie zumindest
für „etwas wichtig“, hinsichtlich der
Familie anderer aber über 90%!
In Zusammenhang mit den Aussagen bei
Artwohl und Christensen (1997) kann aus
den Ergebnissen von Loo (1986)
geschlossen werden, dass die Familie als
Rückhalt wichtig ist, diese unterstützen­
den Familienmitglieder selbst aber Unter­
stützung erfahren müssen.
In diesem Zusammenhang ist ein Ergeb­
nis von Gasch (1998) interessant. Entge­
gen der Erwartungen steht hier die
Zufriedenheit mit der sozialen Unterstüt­
zung aus dem familiären Bereich in
einem gegenläufigen Zusammenhang mit
den Erholungswerten nach belastenden
Ereignissen. Anders ausgedrückt: Je
zufriedener eine Person mit der sozialen
Unterstützung war, desto geringer war
die Erholung. Gasch (1998) interpretiert
diesen Befund dahingehend, dass die
Gespräche trotz subjektiver Zufriedenheit
keine sinnvolle Bewältigungsstrategie
bieten und dass dadurch, anstatt einer
Lösung näherzukommen, möglicherweise
eine zermürbende „Endlosschleife“ von
Diskussionen beginnt. Letztlich führe dies
zu Frustration und Resignation auf bei­
den Seiten. Dieses Ergebnis zeigt aber
auch ganz deutlich, dass man sich den
Frust nur scheinbar von der Seele reden
kann. Nötig ist gezielte, systematische
Aufarbeitung mit Lösungsansätzen. Dies
kann in der Regel nur von psychothera­
peutisch geschulten Fachkräften gewähr­
leistet werden.
2.3.2 Zusätzliche psychische Verlet­
zungen
Im Umkehrschluß zu dem Zuvorgesagten
kann angenommen werden, dass bei
geringerer sozialer Unterstützung die
Folgen der Traumatisierung stärker sind.
Oder noch schlimmer: das Umfeld macht
Fehler (Solomon & Horn, 1986). Hierzu
zählen vor allem Wertungen, egal ob im
„positiven“ („Gut gemacht“, „der hat es
verdient“, „toller Schuss“) oder im „nega­
tiven“ („Mußte das sein?“, „Hättest du
ihm nicht das Licht auslöschen kön­
nen?“). Aus der Erfahrung mit der „PostShooting“-Gruppe werden jedoch detail­
lierte rechtliche Wertungen von Kollegen
erwartet.
Es wird auch häufig von „Witzen“ und
„Sprüchen“ berichtet, die teilweise hohen
Schaden anrichten („Na Killer.“, „Wieviel
werden es heute?“, „Hätte ich doch an
deiner Stelle sein können.“, „dead eye“).
Solche Kommentare treffen jemanden,
der selbst verwundet bzw. erschüttert
(traumatisiert) wurde. Jemanden der zu
diesem Zeitpunkt sehr empfindlich ist
und der weiß, dass – wenn überhaupt –
nur sehr wenige ihn verstehen können.
Das gezeigte Unverständnis kann
schließlich das Gefühl der Entfremdung
und das Risiko der Isolation erhöhen
(Solomon & Horn, 1986).
Mitunter werden die Betroffenen auch
geschnitten, oder im Gegenteil, es fragen
viele sensationslüstern nach. Nach den
Ergebnissen der vorliegenden Studien
und eigenen Erfahrungen erscheint die
Annahme gerechtfertigt, dass Fehler
wohl seltener vom engsten Kollegenkreis
gemacht werden, sondern von weiter
entfernten Polizeibeamten. Die direkten
Kollegen stehen nach den in Abschnitt
2.3.1 dargestellten Ergebnissen in einem
sehr positiven Licht. Eine besondere Ver­
antwortung liegt bei den Vorgesetzten.
Wenn diese den Kollegen nicht unter­
stützen, sich zurückziehen oder ihn gar
vorschnell zur Rechenschaft ziehen, kön­
nen nicht wiedergutzumachende zusätz­
liche Verletzungen die Folge sein. In
Anlehnung an Solomon und Horn (1986)
muss mit Entfremdungsgefühlen, Isola­
tion und selbstgemachten „Quertreibern“
(„troublemakers“) gerechnet werden.
Der größte zusätzliche Stress entsteht
durch die nachfolgenden Ermittlungen,
Gerichtsverfahren und journalistischen
Berichterstattungen. Das fängt damit an,
dass dem Betroffenen die Waffe wegge­
nommen wird und er oft unverzüglich
einen Rechenschaftsbericht anfertigen
soll (vgl. Solomon & Horn, 1986; Manoli­
as & Hyatt-Williams, 1993). Auch in
Deutschland wird die Waffe sofort einge­
zogen und mitunter eine sofortige Ver­
nehmung angestrebt. Ersteres ist für die
Spurensicherung notwendig, kann aber
einerseits sehr kalt oder andererseits in
ruhiger und annehmender Art und Weise
erfolgen. Rechenschaftsberichte oder
Vernehmungen sind aufgrund des
Schockzustands nicht nur schädlich für
den Betroffenen, sondern auch rechtlich
wertlos. Aufgrund der beschriebenen
Wahrnehmungs- und Gedächtnisverfäl­
schungen können Falschaussagen
zustande kommen. Diese Falschaussagen
sind für den Schützen die erlebte Rea­
lität. Hieraus ergeben sich sodann krasse
Widersprüche zu den kriminaltechni­
schen Erkenntnissen. Die mit den nach­
folgenden Untersuchungen verbundene
Unsicherheit wird in den Veröffentlichun­
gen von Stratton und Kollegen (1984),
Loo (1986), Solomon und Horn (1986)
sowie Manolias und Hyatt-Williams
(1993) betont. Letztere weisen noch dar­
auf hin, dass das nachfolgende Procedere
teilweise schlimmer empfunden wird als
das belastende Ereignis selbst.
Ähnlich unangenehm können die Akti­
vitäten der Medien empfunden werden,
die das Ereignis oft völlig falsch darstel­
len und womöglich sogar den Namen
veröffentlichen. Es wird auch von Politi­
kern berichtet, die den Vorfall für sich
ausnutzen wollten (Manolias et al.,
1993).
Aufgrund der eigenen Erfahrungen mit
betroffenen Polizisten können die Berich­
te von Stratton und Kollegen (1984), Loo
(1986), Solomon und Horn (1986) sowie
Manolias und Hyatt-Williams (1993) nur
noch einmal eindringlich unterstrichen
werden. Eine höchst gefährliche, sehr
blutige Situation mit destruktiven Vorge­
setzten, langwierigen Untersuchungen
und entstellenden Pressemeldungen
machen dem Kollegen das Leben auf vie­
le Jahre zur Hölle!
3. Der „sichere“ Schuss
Hierunter wird der Schusswaffenge­
brauch aus sicherer Entfernung, also
klassischerweise der „finale Rettungs­
schuss“, verstanden. Dieses sehr seltene
Ereignis ist nach derzeitigem Kenntnis­
stand nicht systematisch aufgearbeitet
worden. Für den Militäreinsatz kann auf
Grossman (1996) verwiesen werden. In
den zitierten Studien wurde zwischen
diesen beiden Arten des „unsicheren“ und
„sicheren“ Schusswaffengebrauchs nicht
unterschieden. Die Empfindungen, Reak­
tionen und Folgen auf den Schusswaf­
fengebrauch sind den zuvorbeschriebe­
nen sehr ähnlich. Es ist jedoch keine
zugespitzte „Der oder ich“-Situation.
Man könnte sich nun fragen, warum
auch hier hohe bis höchste Belastungsre­
aktionen zu beobachten sind. Sieht man
sich noch einmal die situativen Merkma­
le traumatischer Situationen nach DSM
IV an, so können diese beim finalen Ret­
tungsschuss als gegeben angesehen wer­
den: Die Person ist mit tatsächlichem
oder drohendem Tod oder ernsthafter
Verletzung – hier einer anderen Person –
konfrontiert. Meist mit einer hohen Ver­
antwortung hinsichtlich der körperlichen
Unversehrtheit einer weiteren Person, der
Geisel.
Was kann das persönliche Erleben „tief­
greifender Verzweiflung“ (ICD 10) oder
intensiver Furcht, Hilflosigkeit, Entsetzen
(DSM IV) hervorrufen?
Versuchen wir, uns die Situation vorzu­
stellen: Auf dem Zielenden lastet eine
ungeheuer große Verantwortung gegenü­
ber der Geisel. Trifft er nicht (richtig)
muss er davon ausgehen, dass diese
zumindest erheblich verletzt oder gar
getötet wird. Der Fokus ist der Täter ­
wahrscheinlich zum Zielobjekt degradiert,
– sonst nichts. Alle anderen Sinnesemp­
findungen sind abgeschaltet. Der Schütze
hat ein Höchstmaß an Kontrolle über das
Leben des anderen Menschen. Nur eine
minimale Muskelkontraktion, und der
andere ist – höchstwahrscheinlich töd­
lich – getroffen. Dann der Schuss.
Danach ist die Situation völlig anders.
Aus dem Höchstmaß der Kontrolle wird
der totale Kontrollverlust, dem Schützen
ist alles direkt Folgende aus den Händen
genommen. Viele Gedanken schwirren
durch den Kopf: Habe ich getroffen?
Habe ich richtig getroffen? Hat der
andere sich vielleicht noch kurz vor dem
Einschlag bewegt und lebt noch? Oft ist
der Getroffene nicht vollständig zu
sehen. Die Handlung wird dem Schützen
als Realität bewusst. Das (Ziel-) Objekt
wird im Bewusstsein zum Subjekt. Der
Polizist hat einen Menschen getötet. Was
jetzt kommt, konnte nicht trainiert, nicht
angesprochen werden. Erinnern wir uns
an den Ausspruch „Verlust der Unschuld“.
Weiterhin wird dem Schützen mit dem
Tod des anderen auch die eigene Ver­
wundbarkeit und Endlichkeit zutiefst
bewußt.
Die rechtliche Seite ist abgesichert, die
persönliche Schuldfrage und Moralemp­
findung kann aber trotzdem zum großen
Problem werden. Besonders dann, wenn
man sich vorher wenig oder gar keine
Gedanken um den Schusswaffengebrauch
und seine Folgen gemacht hat. Kurz dar­
auf können die Pressemeldungen nach­
gelesen werden. Wie wird hier das Ereig­
nis dargestellt: als Rettung eines bedroh­
ten Menschen durch einen bestens aus­
gebildeten Menschen oder – im Extrem­
fall – als Hinrichtung?
Bei aller rationalen Klarheit und Recht­
mäßigkeit muss nun dieses Ereignis in
das eigene Lebenskonzept – in die per­
sönliche Biografie – integriert werden.
Die Emotionen müssen fassbar, verbali­
sierbar gemacht werden. Oft sind die
Gefühle und Gedanken noch unaus­
sprechbar im Kopf der Betroffenen. In
den Aufarbeitungsseminaren erfolgt die
Schilderung der Situation dann logisch
kühl und trotzdem werden die Augen
feucht, die Tränen fließen.
Ich hoffe, die Situation in aller Kürze gut
genug beschrieben zu haben, so dass ein
Aufkommen von tiefgreifender Verzwei­
flung, intensiver Furcht, Hilflosigkeit und
/oder Entsetzen verstehbar wird. D.h.,
dass der finale Rettungsschuss traumato­
gen wirken kann und somit eine Akute
Belastungsreaktion oder später auch eine
Posttraumatische Belastungsstörung
(DSM IV, 1996) auslösen kann.
83
4. Hilfsmaßnahmen
Zunächst muss eine flächendeckende
Sensibilisierung zu den Themen „Streß“
und „Trauma“ erfolgen. Nach diesseiti­
gem Kenntnisstand werden diese Themen
mittlerweile im gesamten Bundesgebiet
in den Polizeiausbildungen behandelt.
Für Akutsituationen stehen in einigen
Bundesländern Kriseninterventionsteams
›
zur Verfügung. Im Idealfall existiert eine
24stündige Rufbereitschaft für die sofortige Krisenhilfe. Hierin finden sich vor
allem Ärzte, Diplompsychologen, Seelsorger und Polizeibeamte. Diese sind in der
Regel in den Gebieten Kommunikation,
Recht und Psychotraumatologie aus­
bzw. weitergebildet.
Oft finden in dem Zeitraum 24 bis 72
Stunden nach dem Ereignis Debriefings
statt, entweder als Folge- oder Erstmaß­
nahme. Idealerweise werden die Betrof­
fen dann etwa einen Monat später noch
einmal kontaktiert.
Weiterhin bieten viele Institutionen
Seminare für Betroffene zu Post-Shoo­
ting und PTSD an. Oft auf Eigeninitiative
wurden Workshops, Supervisionskreise
und geleitete Selbsthilfegruppen von
Polizeipsychologen und Polizeiseelsorgern
aufgebaut.
Literatur
Artwohl, A. & Christensen, L. W. (1997): Deadly Force Encounters. Boulder, Colorado: Paladin Press
Deutsche Polizei (1995): Interview „Was nach dem Schießen kommt, wird nicht gesagt“. Deutsche Polizei, 3/95, 6 -10
DSM-IV (1996): Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen der American Psychiatric Association. Göttingen:
Hogrefe
Gasch, U. (1998): Polizeidienst und psychische Traumen. Kriminalistik, 12, 819 – 823
Gersons, B. P. R. (1989): Patterns of PTSD among Police Officers following Shooting Incidents: A Two-Dimensional Model and Treatment
Implications. Journal of Traumatic Stress, Vol. 2, No. 3, 247 – 257
Grossman, D. (1996): on killing. Boston: Little, Brown and Company
Hallenberger, F. (1998): Erleben kritischer Ereignisse – Möglichkeiten der Prävention. Vortrag bei der Bundesarbeitsgemeinschaft Traumaund Krisenbewältigung am 29.04.1998
Herman, J. L. (1993): Die Narben der Gewalt. München: Kindler
ICD-10 (1994): Internationale Klassifikation psychischer Störungen Kapitel V (F). Bern: Huber
Krolzig, M. (1992): Mit einem Schlag wird alles fremd. Deutsche Polizei, 12/92, 27 – 35
Lasogga, F. & Gasch, B. (2000): Psychische Erste Hilfe. Edewecht: Stumpf und Kossendey
Loo, R. (1986): Post-shooting Stress Reactions Among Police Officers. Journal of Human Stress, 12, 27 – 31
Lorei, C. (1999): Der Schußwaffeneinsatz bei der Polizei. Berlin: wvb
Maercker, A. (1997): Therapie der posttraumatischen Belastungsstörungen. Heidelberg: Springer
Manolias, M. B. & Hyatt-Williams, A. (1993): Effects of Postshooting Experiences on Police-Authorized Firearms Officers in the United
Kingdom. In Wilson, J. P. & Raphael, B. (Hrsg.): International Handbook of Traumatic Stress Syndromes. New York: Plenum Press
Mitchel, J. T. & Everly, G. S. (1998): Streßbearbeitung nach belastenden Ereignissen. Edewecht: Stumpf und Kossendey
Roberts, M. (1982): Post-Shooting Trauma Presentation, San Francisco Police Department, 4/82
Solomon, R. M. & Horn, J. M. (1986): Post-Shooting Traumatic Reactions: A Pilot Study. In Reese, J. T. & Goldstein, H.A. (Hrsg.): Psychologi­
cal Services For Law Enforcement. Washington D.C.: Federal Bureau of Investigation
Stratton, J. G., Parker, D. A. & Snibbe, J. R. (1984): Post-Traumatic Stress: Study of Police Officers involved in Shootings. Psychological
Reports, 55, 127 – 131
84
Belastungen des
Botschaftspersonals
des Auswärtigen Amts und
Betreuungskonzepte nach Gewalterfahrung*
Peter Platiel
Kurzfassung
Das Auswärtige Amt ist ein weltweit operierendes Unternehmen, das an 200 Orten in der Welt mit seinen 8000 Mitarbeitern tätig ist und
zusammen mit de Familienangehörigen ca. 15.000 Personen umfaßt. Aufgrund des Gesetzes (§ 5 Konsulargesetz) ist das Auswärtige Amt
auch verpflichtet, Deutschen im Ausland Hilfe zu leisten auch im Rahmen akuter (Groß-) Schadensereignisse unter der Leitung seines Kri­
senzentrums. Das Auswärtige Amt unterhält einen eigenen Gesundheitsdienst (entsprechend einem Betriebsärztlichen Dienst), zu dem 8
Regionalärzte gehören, die schwerpunktmäßig in Schwarzafrika und Südostasien eingesetzt sind. Zur psychologischen Betreuung ist ver­
antwortlich der Psycho-Soziale Dienst, Ref. 106-9, als teilweise eigenständige Arbeitseinheit innerhalb des Gesundheitsdienstes. Aufgrund
seiner Erfahrungen über lange Jahre werden die Schwerpunkte: Umgang mit akuten Belastungsreaktionen und PTSD, die Verbindung zum
Burn-out-Syndrom sowie Rückholungen und Nachbereitung/ Therapeutische Settings aufgezeigt.
Das Auswärtige Amt ist ein weltweit
operierendes Unternehmen, das an 200
Orten in der Welt mit ca. 8.000 Mitarbeitern tätig ist und zusammen mit den
Familienangehörigen ca. 15.000 Personen
erfasst. Betreuungskonzepte nach Gewalterfahrungen umfassen nicht nur
Beschäftigte und Familienangehörige,
sondern aufgrund des Konsulargesetzes
(§ 5) ist das Auswärtige Amt auch verpflichtet, Deutschen im Ausland in Einzelfällen und bei Großschadensereignissen unter der Leitung des Krisenreak­
tionszentrums Hilfe zu leisten.
Das Auswärtige Amt unterhält einen
eigenen Gesundheitsdienst (Referat 106),
der zwei Arbeitseinheiten umfaßt. Dies
ist einmal der betriebsärztliche Dienst
(Referat 106-1), zu dem auch die acht
Regionalärzte (Personal-Betriebsärzte)
gehören, die schwerpunktmäßig in
Schwarzafrika und Südostasien einge-
setzt sind. Neben dem betriebsärztlichen
Dienst gehört zum Gesundheitsdienst des
Auswärtigen Amts die Psychosoziale
Beratungsstelle (Ref.106-9), die für die
gesamte psychologische Betreuung im
Auswärtigen Amt zuständig ist. Aufgrund
der Erfahrung über lange Jahre liegen
u.a. die Arbeitsschwerpunkte im Umgang
mit Akuten Belastungsreaktionen und
Post-Traumatik-Stress-Disorder (PTSD).
Zu Beginn der 90er Jahre wurde
Deutschland erstmalig mit Geiselnahmen
konfrontiert, ein Thema, dem bis dahin,
sicherlich aufgrund unserer Geschichte in
Deutschland nicht mit Aufbau psychotraumatologischer Zentren Rechnung ge­
tragen wurde, anders als bspw. in den
an-gelsächsischen/ skandinavischen Ländern.
Diese Lücke wurde schmerzhaft bewusst,
als das Auswärtige Amt nicht nur die
Vorbereitung und Betreuung der Angehö­
rigen der Geiseln Kempten und Strübig
geleistet hatte über dreieinhalb Jahre,
sondern gleichzeitig auch für die in Iso­
lationsdunkelhaft lebenden beiden Deutschen ein Betreuungs- und Nachsorge­
konzept aufstellen musste. Die Zeiten der
Geiselnahmen im Libanon, die Amerikaner und Briten bitter zu spüren bekom­
men hatten, führten dort bereits vorher
zu einem Aufbau eines Geiselbetreuungs­
konzeptes, von dem das Auswärtige Amt
profitierte. Die oben angesprochene
Lücke in Deutschland führte zur Grün­
dung einer Arbeitsgemeinschaft aller
Psychotherapeuten und Psychologen
oberster Bundesbehörden, die seit 1993
regelmäßig tagt.
Zwischenzeitlich sind eine Fülle weiterer
akuter Ereignisse hinzugekommen, die
das Auswärtige Amt mit seinen Stellen
im In- und Ausland (Krisenreaktionszentrum, Botschaften und Generalkonsulate)
* Vortrag gehalten auf dem dreitägigen Fachseminar Posttraumatische Belastungsstörung vom 08.-10. Oktober 2001 in der Psychosomatischen Fachklinik Bad Pyrmont.
85
gemeinschaftlich lösen konnte, wie z.B.
die Geiselnahme in der japanischen
Botschaft in Lima, Betreuung der Deut­
schen beim Concorde-Unglück in Paris,
die Geiselnahme dreier Deutscher in
Luxor Anfang des Jahres 2001. Erstmalig
ist jetzt auch ein Angehöriger des Aus­
wärtigen Amts als Geisel genommen
worden und nach acht Wochen erst frei­
gekommen. Es war eine atypisch verlau­
fende Geiselnahme; sie hat sich von allen
vorangegangenen 173 Geiselnahmen, die
die deutsche Botschaft in Sanaa/Yemen
zu betreuen hatte, deutlich unterschie­
den.
Der Anschlag auf das World Trade Center
am 11.09.01 ist ein Ereignis, das aus mei­
ner Sicht die Welt in die Zeit vor dem 11.
September und die Zeit nach dem 11.
September teilt: Eine Erschütterung der
Welt in dem Sinne, dass der Glaube an
ein wohlmeinendes Schicksal nach die­
sem Zeitpunkt zerstört ist.
Lassen Sie mich deshalb, der ich gerade
vor drei Tagen aus New York zurückge­
kommen, Handlungsabläufe und Funk­
tionsweise des Auswärtigen Amtes im
Hinblick auf die Nachsorge/Fürsorge für
Deutsche und für eigene Bedienstete
schildern, nachdem ich 4 Tage nach dem
11.9. mit einer der ersten Maschinen am
15.9. nach NEW YORK geflogen bin. Mei­
ne Stellvertreterin war zur gleichen Zeit
zur Betreuung in Sanaa in dem schon
erwähnten Entführungsfall.
Zunächst will ich einige Anmerkungen
machen und Sie jetzt schon bitten, uns
Ihre Unterstützung zur Betreuung von
Deutschen anzubieten, wenn Sie als
Fachleute in stationären oder ambulan­
ten Einrichtungen tätig sind. Es gibt zwei
Kernsätze für mich:
1. Aus meiner kardiologischen Intensiv­
zeit: die Krise der Nacht ist ein
schlechtes Management am Tag
2. Der alte Leitspruch des Krisenreak­
tionszentrums des Auswärtigen Amts:
„Nach der Krise ist vor der Krise.“ , d.h.
wir müssen immer wieder Vorbereitun
gen treffen für die nächste Krise.
Vorausschicken möchte ich, dass das
Auswärtige Amt gem. § 5 Konsulargesetz
verpflichtet ist, Hilfe für Deutsche im
Ausland zu leisten und, dies ist neu, dass
das Auswärtige Amt jetzt auch die nöti­
gen Haushaltsmittel vorrätig hält,
deutschsprachige Teams zur Psychosozia­
86
len Notfallversorgung zur Betreuung
Deutscher bei Großschadensereignissen
ins Ausland zu senden. Die Diskussion
über die Notwendigkeit dieser Maßnah­
me wurde verstärkt im Auswärtigen Amt
nach dem Birgen Air-Unglück geführt,
hat nach dem Halifax-Unglück neue
Nahrung erhalten und mit dem 11.09. in
NEW YORK seine erste Umsetzung erlebt
und diese Feuerprobe erfolgreich bestan­
den.
Am 11.09.01 wurde sofort ein Krisenstab
gebildet, interministeriell, mit alle rele­
vanten Ministerien unter der Leitung des
Auswärtigen Amts Amts. Wir alle haben
noch die Bilder der beiden Türme in Erin­
nerung, die immer wieder gezeigt wur­
den; sie haben eine große Unsicherheit
und ein großes Bedürfnis nach Informa­
tion an den Tag gelegt, ein Bedürfnis, das
dann verständlich wird, wenn Sie davon
ausgehen, dass die Zahl der vermissten
Deutschen mit über 1.000 geschätzt
wurde. So erklärt sich, dass das Auswär­
tige Amt in den ersten Tagen mit 25.000
Anrufen fertig werden musste, dies wur­
de von spontan sich meldenden Kollegen
in 3-Stunden-Schichten in einer bewun­
dernswerten Weise abgeleistet, wobei
anzumerken ist, dass sie (aus unserer
Erfahrung) in den jeweils 180 Minuten
ihrer Tätigkeit 80 – 100 Gespräche
abfangen mussten. Auch hat die Bot­
schaft Washington ein Krisenzentrum
gebildet, ebenso wie das Generalkonsulat
New York, bei dem 4.500 Anrufe einlie­
fen. Das GK New York stand insbesondere
vor der Situation, dass es auf seine Weise
das plötzlich über New York hereinbre­
chende Chaos, die Fragen der Angehöri­
gen, die Fragen nach Vermissten in einer
kompetenten Weise beantworten musste
und gleichzeitig die unterschiedlichen
Informationswege in New York selbst
wahrnehmen, bündeln, sichern und ver­
gleichen musste. Es dürfen in diesen
noch so turbulenten und unübersicht­
lichen Zeiten nicht Falschmeldungen an
die deutschen Bürger und ihre Angehöri­
gen, die ihre Vermissten suchten, hinaus­
gehen.
In diesem Zusammenhang möchte ich
unterscheiden zwischen den Aktivitäten
der psychosozialen Beratungsstelle in
Verbindung mit dem Krisenreaktionszen­
trum und dem Referat 511, das zuständig
ist für die Betreuung Deutscher im Aus­
land, einerseits, sowie dem Aufbau eines
sozialen Netzwerkes vor Ort und der
Betreuung der Deutschen vor Ort ande­
rerseits.
Krisenreaktionszentrum in Berlin:
Wie oben erwähnt, wurde sofort ein Kri­
senzentrum gebildet. Aufgabe der
psychosozialen Beratungsstelle 106-9
war es, ein lokales Netz vor Ort in NEW
YORK aufzubauen und dafür zu sorgen,
dass Deutsche, die in das Generalkonsu­
lat (GK) gekommen sind, optimal psycho­
sozial versorgt und betreut werden; dies
geschah unter der Leitung des deutschen
Vertrauens-arztes des GK New York, ein
Psychiater/Psychotherapeut, der sich zur
Verfügung stellte, zusammen mit
deutschsprachigen Kollegen und dem lei­
tenden Pastor der deutschen Kirche in
New York, die spontan Unterkünfte zur
Verfügung stellte. Aus meinen Erfahrun­
gen können Personen mit akuten Belas­
tungsreaktionen nur in der Mutterspra­
che optimal betreut/behandelt werden.
Als das Ausmaß des Desasters mit den
Horrorzahlen von mehr als 1.000 deut­
schen Vermissten immer deutlicher wur­
de, ergaben sich daraus zwei Konsequen­
zen:
Das Auswärtige Amt rechnete mit einer
großen Zahl deutscher Angehöriger, die
sofort nach Freigabe der Flüge von Euro­
pa nach USA nach Amerika kommen
würden und die aus Sicht des Auswärti­
gen Amts zusammen mit der Rechts- und
Konsularabteilung des GK New York eine
entsprechende Betreuung erwarten
konnten und erwarten durften. Aufgrund
dessen wurden durch die psychosoziale
Beratungsstelle 106-9 Teams der Unis
München, Tübingen und Trier sowie das
Kriseninterventionsteam aus München
aufgerufen, ob sie bereit wären, kurzfris­
tig und als in sich geschlossene multidis­
ziplinäre Teams, die bereits gemeinsame
Erfahrungen und Einsätze hatten, das
Auswärtige Amt in New York zu unter­
stützen. Dies geschah relativ kurzfristig
und in einer sehr positiven Art und
Weise.
Gleichzeitig wurden in diesen Tagen die
Zentralen deutscher Firmen, von denen
wir wussten, dass sie in den beiden Tür­
me des World Trade Centers ihren Sitz
hatten, angefragt, ob das Auswärtige
Amt in irgendeiner Weise eine psychoso­
ziale Unterstützung geben könne. Am
Freitag, drei Tage nach dem Desaster,
kam eine Anfrage von der Deutschen
Bank, ob das Auswärtige Amt helfen
könnte und „native speaker“-Teams zur
Betreuung ihrer Leute nach New York
senden könnte; hier ist anzumerken, dass
die Deutsche Bank alle ihre Beschäftig­
ten im letzten Moment evakuieren konn­
te.
Das Auswärtigen Amt hat am gleichen
Tag diese Bitte zur Unterstützung an die
Leitung der Psychologen der Luftwaffe
der Bundeswehr weitergegeben, die auch
sofort zu einem Einsatz bereit waren.
Nach Genehmigung des Bundesministers
für Verteidigung sind sie drei Tage später
direkt nach New York geflogen und
haben dort ihre Arbeit aufgenommen.
Wie bereits oben erwähnt, hat sich durch
eine bewundernswerte Arbeit und orga­
nisatorische Leistung des Generalkonsu­
lats New York – dort die Rechts- und
Konsularabteilung mit dem Counterpart
in der Zentrale in Berlin, Referat 511 –
die Zahl der vermissten Deutschen auf
ca. 450 eingrenzen lassen. Daraus ergab
sich die Frage nach dem weiteren
Betreuungsbedarf: Wie viele Angehörige
werden kommen, was müssen wir an
deutschsprachiger Betreuung vorhalten ?
In der Rückschau hat sich diese Zahl bis
zu meiner Abfahrt auf 40 vermisste
Deutsche zurückgebildet, worauf zwei
mal täglich ein logistischer Abgleich
erfolgte, welche Hilfskräfte aus Deutsch­
land nachgezogen werden müssten.
Neben diesem Teil der Arbeit war die
unmittelbare Betreuung der Angehörigen
zu leisten, die ihre Vermissten suchten.
Es ging u.a.darum, gemeinsam mit einem
Mitarbeiter der Rechts- und Konsularab­
teilung, den siebenseitigen Identifizie­
rungsbogen auszufüllen und die Angehö­
rigen neben der sachlich-fachlichen
Arbeit des Kollegen/in der Rechts- und
Konsularabteilung sein Durchgehen der
gesamten Vorgänge psychologisch stüt­
zend zu begleiten. Es war für mich hier
zu spüren, dass insbesondere die „Kon­
frontation“ mit dem siebenseitigen Iden­
tifizierungsbogen allmählich im Bewußt­
sein eine Realisierung bewirkte, dass der
„Vermisste“ vielleicht tot sein könnte,
und dass der positive Schutz der Ver­
drängung langsam der rationalen
Erkenntnis Platz machte, dass der gelieb­
te Bruder oder Vater mgl. nicht mehr
lebt. Hier galt und gilt es, in einer per­
sönlichen Art und Weise unaufdringlich
Unterstützung und Hilfe anzubieten.
Ein weiterer Punkt war die Betreuung der
eigenen Mitarbeiter, die in ihrer Arbeits­
intensität weit über ihre Fähigkeiten hin­
auswuchsen und die zusammen mit den
Mitarbeitern des Kriseninterventions­
teams München b.B.beraten wurden. Es
wurden Nachbereitungsgespräche
geführt, die ergebnisorientiert ausgerich­
tet waren, Gruppengespräche mit jungen
deutschen Praktikanten, um ihnen die
Sicherheit und den Schutz der Botschaft
zu geben, gleichzeitig war auch die
Organisationsberatung für die Leitung
des GK's notwendig, um gemeinsam fest­
zustellen, dass in internen Abläufen so
wenig wie möglich Reibungsverluste ent­
stehen in dieser hoch angespannten
Situation. Nach der Katastrophe fanden
sich unmittelbar ca. 60 Deutsche ein, die
spontan von den Mitarbeitern/innen des
Generalkonsulates versorgt wurden.
Ich selbst hatte nicht erwartet, dass ich
fünf Tage später in die Situation kommen
würde, dass plötzlich Deutsche vor der
Haustür des Generalkonsulats stehen mit
dem Wunsch, unmittelbar mit jemandem
sprechen zu können. Alle diese sechs
Deutschen haben unmittelbar das Desas­
ter am World Trade Center erlebt, den
Zusammensturz, waren teilweise auch
unmittelbar aus dem Gebäude herausge­
kommen bzw. in die Staubwolke beim
Zusammenbruch der beiden Türme gera­
ten. Diese akute und extreme Belas­
tungsreaktion führte zu den typischen
Befindlichkeitsstörungen in einer solch
anormalen Situation, u.a. in Form einer
Betäubung, die teilweise bis über sieben
Tagen anhielt, eine Dauer, die ich in die­
ser Art und Weise noch nie erlebt habe.
Diese Betäubung diente wohl als positi­
ver Schutz gegen den „Zusammenbruch“
des Ich´s als Vermittler zwischen Innen­
welt und Außenwelt. Oft taucht eine
Vielzahl archaischer Reaktionen auf.
Meine Aufgabe sah ich darin, psychia­
trisch-psychotherapeutische Kriseninter­
vention zu leisten, zu erklären, was die
normale Befindlichkeitsstörungen in die­
ser Situation bedeuten und welche
Beschwerdesymptomatik als „normal“ zu
bezeichnen ist. Weiterhin, nach stützen­
den äußeren Strukturen zu fragen, um
damit eine innerpsychische Stabilisierung
zu erzielen.
Als Beispiel sei hier ein 45-jähriger Mann
genannt, der sich wegen seines massiven
Entsetzens an mich gewandt hatte und
der mir mitteilte, dass er unmittelbar
nach dem Desaster, dem er knapp ent­
kommen war, hasserfüllte E-Mails in alle
Welt verschickt habe. Allmählich wich
seine Betäubung, er wandte sich an mich
und erzählte folgenden Traum: Er sei
unten am Battery Park und schaue das
World Trade Center an, und der
Zusammensturz ereigne sich dadurch,
dass eine Atombombe über New York
explodiere. Im Traum wechselt die Szene
dann, es ist die Zeit der Beerdigung der
Opfer dieses Atombombenanschlages,
dem er entkommen ist und in dem
Moment, als die Särge in die Erde
gesenkt werden, fällt erneut eine Atom­
bombe und er denkt, nicht einmal hier
lassen sie uns in Ruhe, kann aber weg­
laufen. Beim Weglaufen überquert er die
Brooklyn Bridge, sieht einen Hubschrau­
ber, der bunte kleine Luftballons abwirft,
und er freut sich, dass wieder eine Nor­
malität eintritt. Als die Luftballons
näherkommen, sieht er, dass sie kleine
Atombomben sind, und zu dieser
Sequenz wacht er schweißgebadet auf.
In der vorsichtigen Deutung seiner
Lebensgeschichte wurde deutlich, dass er
mit seinem Vater Anfang der 50er, 60er
Jahre immer vor dem Fernseher saß und
erwartet hat, dass an der deutsch-deut­
schen Grenze unmittelbar ein Atom­
schlag bevorstehe. Als ihm das klar wur­
de, ging eine deutliche Veränderung in
Haltung und Gesicht, Mimik bei ihm vor.
Die Angstträume nahmen ab diesem Tag
in ihrer Intensität ab.
Für mich war das Erschreckendste, die
Angst dieser Leute zu spüren, die Angst,
die, wie oben erwähnt, ein wohlmeinen­
des Schicksal nicht mehr zulässt und eine
Angst ist, die in die unendliche Zukunft
reicht, ohne dass es ein Ende gibt.
Diese Interventionsgespräche, die durch­
schnittlich 1 1/2 Stunden gedauert haben,
waren so intensiv, dass ich selbst nicht
mehr als drei Gespräche pro Tag führen
konnte.
Lassen Sie mich zu diesen Ereignissen
noch einige Anmerkungen machen.
1. Aus meiner jetzt langjährigen Erfah­
rung mit Akuten Belastungsreaktionen
und Posttraumatischem Stress Disorder
bin ich mit dem Bundesministerium für
Gesundheit einer Meinung, dass das
87
Tätigwerden bei akuten Belastungsre­
aktionen eine heilkundliche Tätigkeit
ist. Dies bedeutet für mich eine klare
Zuweisung der Verantwortung und
Verantwortlichkeit, die fachlich einer
fundierten Ausbildung bedarf und die
nur ein ärztlicher oder psychologischer
Psychotherapeut oder Psychiater mit
zusätzlicher Kenntnis der Psychotrau­
matologie leisten kann.
2. Ich plädiere ausdrücklich für gemischte
(männlich/weibliche), multiprofessio­
nelle Teams, zu denen kollegiale
Ansprechpartner, Rettungsassistenten,
Krankenschwestern, Pastoren mit ent­
sprechender Zusatzausbildung als Not­
fallseelsorger gehören. Ich werbe aus­
drücklich – wie seit Jahren – darum,
dass diese multidisziplinären Teams
eine psychotraumatologische Zusatzausbildung haben sollten bei ihren
unterschiedlichen Berufen, dass aber
Führung und Verantwortung wie oben
erwähnt in der Hand eines Psycholo­
gen oder eines Arztes liegen sollten.
Für mich gilt auch, dass es hier keinen
Königsweg der Betreuung gibt. Im
Mittelpunkt aber sollte eine Kombina­
tion von Gesprächs- und medikamen­
tösen Therapie unter der Leitung von
Ärzten und Psychologen der o.g. Fach
richtungen stehen. Sie wissen alle,
dass es in Deutschland eine „wilde
Szene“ gibt, in der es um viel Geld und
Positionen geht – und damit um
Macht. Umso mehr bitte ich Sie, sich
als Fachgruppen zusammenzusetzen
und gemeinsam an einem Konzept
einer optimalen Betreuung bei Großschadensereignissen im Sinne eines
Psychosozialen Notfall-Netzwerkes
mitzuarbeiten.
88
3. Im November 2000 hat unter der
Federführung des Bundesministeriums
des Inneren (BMI) eine Katastrophen­
schutztagung stattgefunden; daraus
entsteht die Durchführung eines Forschungsvorhabens des BMI zur Definition der inhaltlichen und operationalen
Rahmenbedingungen eines Netzwerkes
zur psychosozialen Notfallversorgung.
Das Auswärtige Amt unterstützt aus­
drücklich dieses Vorhaben und
wünscht eine rasche Bestandsaufnah
me, insbesondere im Hinblick auf die
o.g. fachlichen Eckpfeiler.
4. Die Nachhaltigkeit der Betreuung, insbesondere durch Firmen und Organisa­
tion muß unbedingt gewährleistet
sein. 6 Wochen reichen in der Regel
nicht aus. Gerade „das Vergessenwerden“, das Alleingelassenwerden nach
dem Motto, „Es ist wieder alles in sei
ner Normalität“, sollte nicht sein. Es
bedarf mindestens einer ein- bis
anderthalbjährigen Nachbetreuung
und besonderen Sensibilität der jeweiligen Organisation, sei es eine Firma,
sei es ein Ministerium oder eine kommunale Behörde, wo der Betroffene
beschäftigt ist. Es scheint mir doch so
zu sein, dass durch die Diagnose einer
Akuten Belastungsreaktion bzw. PTSD
eine Individualisierung des Geschehens
und des Leidens bei den Betroffenen
eintritt und damit eine weitere psychische Schädigung mit zunehmender
Isolierung entsteht.
5. Unter diesen Gesichtspunkten bitte ich
die Fachleute, den dehnbaren, unpräzi­
sen Begriff, den bereits der niederländische Kollege angesprochen hat, näm­
lich des Burn-Outs, diagnostisch deut­
licher zu betrachten. Aus meiner
Erfahrung mit Anamnese und Vorberei­
tung zur Frage der Dienstfähigkeit
stellt sich immer wieder heraus, dass
sich anhäufende Mikrotraumen im
Sinne einer kumulativen Stressreaktion
oft für einen plötzlichen Zusammen
bruch mit verantwortlich sind und sich
dahinter eine Folge von Belastungsre­
aktionen und auch ein „chronifiziertes“
PTSD verbergen könnte.
Zuletzt: Ich bitte Sie, dem Auswärtigen
Amt Ihre Kapazitäten und Standorte zu
nennen, da wir unsere Angehörigen,
Bediensteten, die weltweit eingesetzt
sind, oft nach einem akuten Ereignis an
einen deutschen Wohnsitz zurückholen,
zu dem sie soziale Bindungen haben.
Gleiches gilt für andere Deutsche im
Ausland, für deren Hilfe wir qua Gesetz
zuständig sind. Deshalb bitten wir Sie,
mit uns zusammenzuarbeiten, die Adressen Ihrer ambulanten, stationären oder
teilstationären Einrichtung zu nennen.
Unterstützen Sie uns hier, auch für den
Fall, dass es erneut zu einem solchen
Ereignis kommt, denn: Nach der Krise ist
immer vor der Krise.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
›
Autoren
Klaus Barre
Dipl.-Psychologe
Bundeswehrkrankenhaus Hamburg
Lesserstr. 180
22049 Hamburg
ORR Günter Kreim
Psychologischer Dienst
Graf Zeppelin Kaserne
75365 Calw
Dr. med. Karl-Heinz Biesold
Arzt für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie
Bundeswehrkrankenhaus Hamburg
Lesserstr. 180
22049 Hamburg
Prof. Dr. med. Rolf Meermann
Psychosomatische Fachklinik Bad Pyrmont
Bombergallee 11
31812 Bad Pyrmont
Tel. 05281/619-635
Internet: www.prof-r-meermann.de
Dr.med. Jürgen Ph. Furtwängler
Oberstarzt a.D.
ehem. Ltd.Arzt Abteilung VI
Bundeswehrkrankenhaus Hamburg
Lesserstr. 180
22049 Hamburg
Dipl.-Psych. Eberhard Okon
Ltd. Psychologe
Psychosomatische Fachklinik Bad Pyrmont
Bombergallee 10
31812 Bad Pyrmont
eMail: [email protected]
Achim Grube
Bildungsinstitut der Polizei Niedersachsen
Sozialwissenschaftlicher Dienst
Tannenbergallee 11
30163 Hannover
Dr. med. Peter Platiel
Auswärtiges Amt
Beratungsstelle Ref. 106-9
Werderscher Markt 1
10117 Berlin
Dr. med. Dipl.-Psych. Hans-Heiner Hahne
Oberstarzt
Leitender Arzt der Abteilung VI
Bundeswehrkrankenhaus Berlin
Scharnhorststr. 13
10115 Berlin-Mitte
Alexander Varn
C 3, 2-3
68159 Mannheim
Tel: 0621-102611
e-mail: [email protected]
Dr. rer. nat. Dipl.-Psych. Frank Hallenberger
Gärtnerstr. 18-20
55262 Heidesheim
RegDirektor Dipl.-Psych. Wolfgang Weber
Referat Wehrpsychologie im Bundesministerium
der Verteidigung
Postfach 13 28
53003 Bonn
89
›
Bisher erschienen in der Schriftenreihe der
Psychosomatischen Fachklinik:
Band 1:
Meermann, R. et al. (1989). Zwei-Jahres-Bericht (1987 - 1989) der Psychosomatischen Fachklinik Bad Pyrmont. Schriftenreihe
der Psychosomatischen Fachklinik Bad Pyrmont, Band 1.
Band 2:
Kehrer, H.E. & Meermann, R. (Hrsg.) (1990). 20 Jahre (1968 - 1988) Arbeitskreis für Verhaltensforschung und -therapie an der
Universität Münster e. V. Schriftenreihe der Psychosomatischen Fachklinik Bad Pyrmont, Band 2.
Band 3:
Meermann, R. et al. (1990). Optimierung der Rahmenbedingungen stationärer Rehabilitationsmaßnahmen. Referate der Fachkon­
ferenz Psychosomatische Rehabilitation 1989 am 16./17. Oktober 1989 in Bad Pyrmont. Schriftenreihe der Psychosomatischen
Fachklinik Bad Pyrmont, Band 3.
Band 4:
Meermann, R. et al. (1991). Anorexia und Bulimia nervosa: Psychotherapie und Selbsthilfe. Referate der Fachtagung für Initiato­
rinnen und Betreuerinnen von SH-Gruppen für Anorexia und Bulimia nervosa am 26. April 1991 in Bad Pyrmont. Schriftenreihe
der Psychosomatischen Fachklinik Bad Pyrmont, Band 4.
Band 5:
Meermann, R. et al. (1992). Fünf-Jahres-Bericht (1987 - 1992) der Psychosomatischen Fachklinik Bad Pyrmont. Schriftenreihe
der Psychosomatischen Fachklinik Bad Pyrmont, Band 5.
Band 6:
Meermann, R. et al. (1992). Tagungsreader "Anorexia und Bulimia nervosa: Psychotherapie und Selbsthilfe." Referate der zweiten
Fachtagung Initiatorinnen und Betreuerinnen von SH-Gruppen für Anorexia und Bulimia nervosa am 24. April 1992 in Bad Pyr­
mont. Schriftenreihe der Psychosomatischen Fachklinik Bad Pyrmont, Band 6.
Band 7:
Meermann, R. et al. (1995). Handbuch der Rehabilitations-Pädagogischen Abteilung der Psychosomatischen Fachklinik Bad Pyr­
mont. Schriftenreihe der Psychosomatischen Fachklinik Bad Pyrmont, Band 7.
Band 8:
Meermann, R. & Borgart, E.-J. (1997). Zehn-Jahresbericht (1987 - 1997) der Psychosomatischen Fachklinik Bad Pyrmont.
Schriftenreihe der Psychosomatischen Fachklinik Bad Pyrmont, Band 8.
Band 9:
Borgart, E.-J. (Hrsg.) (1998). Selbsthilfebücher. Sammlung empfohlener (verhaltenstherapeutischer) Selbsthilfebücher mit Rezen­
sionen. Schriftenreihe der Psychosomatischen Fachklinik Bad Pyrmont, Band 9.
Band 10:
Borgart, E.-J. & Meermann, R. (Hrsg.) (1999). Stationäre verhaltenstherapeutische Psychosomatik auf dem Weg in das Jahr
2000. Schriftenreihe der Psychosomatischen Fachklinik Bad Pyrmont, Band 10.
Band 11:
Okon, E. & Meermann, R. (Hrsg) (2002) Prävention und Behandlung posttraumatischer Störungsbilder im Rahmen militärischer
und polizeilicher Aufgabenerfüllung. Schriftenreihe der Psychosomatischen Fachklinik Bad Pyrmont, Band 11.
Demnächst:
Band 12:
Meermann, R. & Borgart, E.-J. (im Druck). Das verhaltenstherapeutische Konzept der Psychosomatischen Fachklinik. Schriftenreihe der Psychosomatischen Fachklinik Bad Pyrmont, Band 12.
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