Die Basis allen Seins: Religion und Kultur

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Die Basis allen Seins:
Religion und Kultur - Die Frage nach Gott.
Prof. Dr. Manfred Pohl
Gründer und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats
Frankfurter Zukunftsrat e.V.
Die Frage nach Gott hat zu allen Zeiten die Menschen beschäftigt, nicht nur
Religionsgründer, Philosophen und Schriftsteller. Das Originellste, um nicht zu sagen das
Verrückteste, ist "Das Buch der 24 Philosophen", exzessiv eigensinnig, ein Ausbund
spekulativer Theosophie, wie Kurt Flasch es in seiner deutschen Gesamtübersetzung nennt.1
Ob der Kalif von Granada, der um die Bedeutung eines umfassenden Gottesbegriffs für das
Zusammenleben der Menschen wusste, die 24 Philosophen zusammenrief und ihnen den
Auftrag gab, in einem Satz - Philosophen reden und schreiben gern viel - zu formulieren, was
Gott ist, ob die Philosophen selbst ihr Symposium organisierten, oder ob andere
Hintergründe
zu
diesem
merkwürdigen
Exemplar
mittelalterlicher
Handschriftensammlungen führten, sei dahingestellt.
Fest steht, dass die Frage nach Gott und der Religion zu den Grundfragen, ja, zu den
Entscheidungsfragen der menschlichen Entwicklung gehört. Religion und Kultur prägten von
Anbeginn die Lebensformen der Menschen, basierend auf Symbolen und Ritualen, aber auch
auf Illusionen. Bis ins Zeitalter der Kommunikations- und Informationstechnik, der globalen
Aufklärung schlechthin, in der alles offen liegt, es keine Geheimnisse mehr gibt, Verstand,
Emotion und Handlung sich gegenseitig stimulieren, zusammenführen oder trennen,
dominieren Religionen immer noch weite Bereiche des menschlichen Zusammenlebens.
Daran hat Charles Darwin und seine Evolutionslehre ebenso wenig geändert wie die
Erkenntnisse der modernen Hirnforschung. Hartnäckig verteidigen die fünf Weltreligionen2
(Christentum, Islam, Judentum, Buddhismus und Hinduismus) ihre Positionen trotz oder
vielleicht sogar wegen der Tag für Tag neuen Erkenntnisse in allen Bereichen der Forschung.
In keiner der fünf Weltreligionen haben neue Entwicklungen und Forschungsergebnisse in
den Bereichen Naturwissenschaft (z.B. Physik, Chemie, Biologie), Medizin (z.B.
Hirnforschung, Psychologie) oder den Kommunikations- und Informationswissenschaften zu
entscheidenden inhaltlichen, personellen oder organisatorischen Veränderungen geführt,
1
Flasch, Kurt: Was ist Gott? Das Buch der 24 Philosophen. Verlag C.H.Beck, München 2011, S. 7.
Manche Autoren betrachten den Chinesischen Universismus als eigenständige Religion. Vgl. von Glasenapp,
Helmuth: Die fünf Weltreligionen. Hinduismus, Buddhismus, Chinesischer Universismus, Christentum Islam.
Diederichs, Sonderausgabe 2001.
2
1
außer dass die Repräsentanten der Religionen die modernen Kommunikationsmittel zur
Festigung und Verbreitung ihrer Lehre benutzen.
Vor allem für die drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam
können vier Kriterien festgeschrieben werden, die aber auch in einigen markanten Teilen für
den Buddhismus und Hinduismus zutreffen:
1. Alle heute existierenden dominanten Religionen wurden von Männern erfunden und
ausgestaltet. Männer prägten die Religionen und Kulturen und schufen
Herrschaftsstrukturen, in denen sie Wertesysteme festlegten und Zukunft bestimmten.
2. Nicht nur die Erfinder der bestehenden Weltreligionen waren Männer, auch der jeweilige
Gott selbst war männlich: Gott Vater, Gott Sohn, Gott Heiliger Geist, Allah, Jehova usw.
3. Gerade die drei monotheistischen Religionen wurden auf dem Prinzip des
"Alleinseligmachens " begründet: gleichzeitig das Alleinstellungsmerkmal. Hierdurch
wurde jede Form von Autoritätsgläubigkeit und Traditionsbewusstsein verfestigt.
4. Frauen spielten und spielen bis heute in allen Religionen keine oder höchstens eine
untergeordnete oder dienende Rolle. Dabei ist die Bandbreite sehr groß: von
Gleichstellung (oft allerdings nur auf dem Papier), dem Verbot, religiöse Ämter
auszuüben bis hin zur Verweigerung des Schulbesuchs und Tötung oder Vergewaltigung
ohne rechtliche Folgen.
Alle vier Feststellungen sind rassistisch, autoritär und sexistisch (chauvinistisch). Das muss in
dieser Deutlichkeit gesagt werden, um alle weiteren historischen Entwicklungslinien, aber
auch die modernen Erkenntnisse der Naturwissenschaften, der Neurobiologie, der
Geisteswissenschaften oder der Informations- und Kommunikationswissenschaften in einem
zukunftsorientierten Kontext zu verstehen. Es bleibt die Frage, warum Männer Gott
erfunden und die Religionen so gestaltet haben, dass sie die Vorteilnehmer und die Frauen
die Verlierer waren und sind. Vielleicht haben Männer Gott und die Religionen nur erfunden,
um die Frauen zu beherrschen. Aber das klingt zu banal und verallgemeinernd und dennoch
glaube ich, dass ein gehöriger Funke Wahrheit in dieser simplen Feststellung liegt. Warum
haben Männer Frauen bewusst vom Wissen der Welt ferngehalten, ihnen so jede Chance auf
eine eigene Entwicklung verbaut, sie ans Haus gefesselt und somit eine persönliche
Entfaltung und Selbständigkeit etwa im Berufsleben verhindert, während sich die Männer
auf Krieg/Beruf und ihre Interpretation von Gott konzentrierten, beides als Rechtfertigung
für ihre Handlungen. Gott und Geld bedeuten Macht und das sind die Antriebskräfte, die
Männer immer schon als Begründung ihrer Taten und Handlungen anführten. Was also ist
dieser von Männern geprägte Gottesbegriff wert?
Aber Tatsache ist auch, dass Frauen trotz aller Benachteiligungen und aller Diskriminierung
immer schon wussten, dass ohne sie nichts geht, z.B. gebären sie Männer ebenso wie
Frauen. Auch steht fest, dass Frauen in vielen Kulturen und Religionen eine besondere
Stellung innehatten und haben, wie z.B. die Mutter Gottes Maria in der Katholischen Kirche.
2
Das Thema ist also trotz vieler Eindeutigkeiten komplexer und bedarf einer sorgfältigen
Analyse. Die Geschichte der Evolution der Menschheit ist auch gerade deswegen so
spannend.
Aus den vorangegangenen vier Feststellungen folgern vier Forderungen:
1. Eine Neudefinition des Gottesbegriffes auf der Basis der heute feststehenden
wissenschaftlichen Erkenntnisse.
2. Herausarbeitung eines geschlechtsunabhängigen Gottesbegriffs.
3. Akzeptanz und Toleranz aller Lebensformen von Religionen und Kulturen.
4. Beendigung der evolutionsgeschichtlichen Entwicklung der Herrschaftsstruktur Mann
sowie die Durchführung eines gleichberechtigten Miteinanders von Frau und Mann.
Wägt man alle globalen religiösen und kulturellen Entwicklungen und zukünftige mögliche
Tendenzen gegeneinander ab, so ergibt sich zunächst ein klarer historischer Ansatz, der die
Entwicklung der Menschheit in den letzten drei Jahrtausenden bestimmte und bis in die
heutige Zeit nicht nur Spuren hinterlassen hat, sondern weite Teile des globalen
Zusammenlebens prägt. Wir befinden uns immer noch in einem Evolutionsprozess, in dem
die Frage nach Gott eng verbunden ist mit der Stellung des Individuums, z.B. der Stellung der
Frau, von Minderheiten usw. in den sozialen Systemen. "Ein Gespenst geht um in der
westlichen Welt - das Gespenst der Religion." 3 Sloterdijk stellt dem Märchen von der
Rückkehr der Religion nach dem "Scheitern" der Aufklärung eine schärfere Sicht auf die
spirituellen Tatsachen entgegen und kommt zu dem Schluss, "dass eine Rückwendung zur
Religion ebenso wenig möglich ist wie eine Rückkehr der Religion - aus dem einfachen
Grund, weil es keine "Religion" und keine "Religionen" gibt, sondern nur missverstandene
spirituelle Übungssysteme, ob diese nun in Kollektiven - herkömmlich: Kirche, Ordo, Umma,
Sangha - praktiziert werden oder in personalisierten Ausführungen - im Wechselspiel mit
dem "eigenen Gott", bei dem sich die Bürger der Moderne privat versichern."4 Er favorisiert
eine anthropologische Spitze und nicht eine religiöse, "um es mit einem Wort zu sagen, die
Einsicht in die immunitäre Verfassung des Menschenwesens".5
Jede Kultur und Religion hat ihre eigene Geschichte, ihre Mythen, wie der Mensch "geboren"
wurde. Diese "Geschichten" wirken bis heute nach und bestimmen das Zusammenleben der
Menschen. Diese Geschichten sind das Elixier einer jeden Religion, quasi die Autorisierung
von oben, unantastbar und authentisch. Vielleicht war es eine höhere Macht, ein Gott, der
den Menschen erschuf. Oder war es ein langwieriger Evolutionsprozess? Welcher Definition
wir auch immer zustimmen, es bleibt die Frage, wie per natürlicher und sexueller Selektion
3
Sloterdijk, Peter: Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, suhrkamp taschenbuch 4210, Frankfurt
am Main 2011, S. 9.
4
Ebd. S. 12.
5
Ebd. S. 13.
3
ein kulturfähiges Wesen entstehen konnte, bei dem Kultur zum natürlichen Rüstzeug
gehörte, wie der Evolutionsbiologe Hubert Markl es formulierte.
Vielleicht fand im Hirn eines Primaten ein Neuronen-Crash , ein Spirit-Crash, in einzigartiger
und einmaliger Art statt, was zur Folge hatte, dass durch sexuelle Fortpflanzung über
Millionen von Jahren das Geistige im Materiellen entstand, Geist und Materie eins wurden.
Ein Prozess, ein Spiel der Neuronen begann, das nach jeder Zeugung unaufhaltsam neue
höhere kognitive Leistungen komplexer Gehirne hervorbrachte. Der Fantasie und der
wissenschaftlichen Begründung sind keine Grenzen gesetzt. Aber das historische Band
zwischen Religion und Biologie war zerrissen. Alles Leben in seiner Schönheit und Vielfalt
basierte plötzlich nicht mehr auf einer bewussten, intelligenten oder göttlichen Absicht,
sondern war lediglich das Produkt immer wieder neu kombinierter Nukleotidbasen, aus
denen sich der genetische Code der DNA zusammensetzt. Gehirn und Geist sind untrennbar
miteinander verknüpft, d.h. nichts anderes, als dass jede geistige Funktion im Hirn von
spezialisierten neuronalen Schaltkreisen in verschiedenen Hirnregionen durchgeführt wird.
Jedenfalls spielen die Neurononen (und logischerweise auch ihre Verschaltungen) in der
Evolutionsgeschichte eine entscheidende Rolle bei den Entscheidungsprozessen,
Sinneseindrücken, bis hin zur Sprache. Die Entwicklung eines leistungsfähigen Gehirns
dauerte jedenfalls über zwei Millionen Jahre, bis sich in der Hominisation persönliche und
soziale Verantwortung und Moral, die Unterscheidung von Gut und Böse, entwickelt haben,
also das Bewusstsein von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Offen bleibt die Frage,
warum in der Evolutionsgeschichte Männer sich extrem dominant entwickelten. Sicherlich
ist ein Grund, dass Frauen die Kinder bekamen und bekommen und somit bis heute
evolutionsgeschichtlich massiv benachteiligt sind. Dabei ist die Tatsache, dass das Y von XY
sich permanent zurückentwickelt und irgendwann nicht mehr existieren wird und XX immer
dominanter wird, nicht zu leugnen. Aber hier spekulieren wir wiederum in hunderten von
Millionen Jahren. Oder wird die Beschleunigung, die Geschwindigkeit, die wir in allen
Bereichen feststellen, den Zeitraum verkürzen?
Als die Menschen sesshaft wurden, Land bebauten, das Besitz darstellte, das durch Grenzen
festgelegt war oder der Gemeinschaft gehörte, musste Recht gesprochen werden, mussten
die notwendigen Arbeitsgeräte weiterentwickelt und neue erfunden werden. Der Staat mit
seiner Herrschaftsstruktur musste aber auch verteidigt werden. Waffenherstellung und
Kriege erreichten eine neue Qualität, die ausschließlich von Männern geprägt wurde. Götter
oder ein Gott konnten hierbei wesentlich zur Begründung eines Feldzugs oder Motivation
der Krieger beitragen. Herrschaftsgewalt, das heißt konkret Herrschaft der Männer, zeigte
sich aber auch in der Architektur. Gerade auf diesem Gebiet wurden großartige Leistungen in
allen damaligen Kulturen vollbracht. Fest steht, dass mit der Gründung von Religionen, ob
nun monotheistisch oder ein gut organisiertes Götterwesen, mit der Gründung von Staaten
und Städten, die Welt eine neue Entwicklung nahm. Ein in Phasen ablaufender Kulturschub
war die Folge.
4
Es scheint, dass um die Mitte des ersten Jahrtausends v. Chr. in der Entwicklung der
Menschheit ein neues Zeitalter anbrach, eine neue Qualität das Denken der Menschen
bestimmte. Es entstand eine wissenschaftliche Betrachtung der Dinge. Die Frage nach dem
Ursprung der Welt, dem Dualismus zwischen Materie und Geist und nicht zuletzt die Frage
nach Gott veränderten Denken und Handeln der Menschen. Hierbei dominierte das antike
Modell und überstand alle anderen Kulturen, bzw. hatte erheblichen Einfluss auf die
Entwicklung des christlichen Abendlandes. Setzte mit Solon im 6./5. Jahrhundert v.Chr. jene
antike, abendländische Kulturepoche ein, die nach einer Kontinuität von 2000 Jahren - ein
Zeitraum, der bedeutend länger andauerte als alle anderen Kulturepochen - ein
Erfolgsmodell einleitete, das mit der Erfindung des Buchdrucks durch den Mainzer Johannes
Gutenberg um 1436 n. Chr. und der Dampfmaschine durch den Engländer James Watt 1639
n.Chr. in immer dichteren Zeitintervallen Erfindungen hervorbrachte, die in den
nachfolgenden 300 Jahren das Leben der Menschen völlig veränderten. Alle anderen
Kulturen sind nach kurzer Blütezeit untergegangen und hatten keine kontinuierlichen
Nachfolger, seien es die Babylonier, Assyrer, Sumerer, Ägypter oder Hethiter usw. Ihnen
fehlte jene Nachhaltigkeit, die Athen und Rom dem christlichen Abendland brachten.
Dennoch kann z.B. der kulturelle Einfluss der chinesischen und indischen Kultur auf die
Erfindungen im Europa der Neuzeit nicht geleugnet werden. Bereits um 1000 v.Chr. gab es
ein chinesisches Rechenbuch mit Flächenberechnungen, Berechnung des Rauminhaltes,
Gleichungen mit einer und mehreren Unbekannten. Zur gleichen Zeit benutzten die Inder zur
Zeitrechnung das Mondjahr zu 360 Tagen. China mit seiner großartigen Kultur und
zahlreichen Erfindungen und Experimenten, wie die Erfindung des Pulvers und dem Versuch,
hiermit "Raketenantriebe" zu konstruieren, oder des Papiers usw. kapselte sich ab und ging
über Jahrhunderte in die Isolation. Aber das kann die Leistung nicht schmälern.
Vielleicht war das Rad, erfunden um 6000/5000 v.Chr., die bedeutendste Erfindung der
Menschheit überhaupt, als Symbol der Bewegung, neben der Höhlenmalerei das
Basiskulturgut, der Beginn einer langen Kette menschlichen Erfindungsgeistes. Das Rad kann
vielleicht als der eigentliche "kulturelle Big Bang" bezeichnet werden. Alle nachfolgenden
Erfindungen hatten in irgendeiner Weise mit Bewegung zu tun. Ohne die Erfindungen der
Chinesen, Inder und anderer Völker zu unterschätzen, begann in Europa mit der Erfindung
des Buchdrucks mit beweglichen Lettern um 1436 durch den Mainzer Johannes Gutenberg
eine neue Ära der menschlichen kognitiven Leistungsfähigkeit. Es kann vermutet werden,
dass die lange Kontinuität der antiken abendländisch-christlichen Kultur etwa seit der
Gesetzgebung von Solon in Athen im 7./6. Jahrhundert v.Chr., die bis heute die
abendländische Geisteswelt prägt, maßgeblich diese kognitive Leistungsexplosion
beeinflusst oder gar bewirkt hat. Alle anderen Kulturen sind nach kurzer Blütezeit, wie
bereits festgestellt, untergegangen oder hatten keine Kontinuität in der Nachfolge. China
kapselte sich ab, war aber sicherlich das erfolgreichste Land der Erfindungen und
Innovationen bis ins 12. Jahrhundert n.Chr.
Es gibt aber in dieser abendländischen/europäischen Entwicklung entscheidende Zäsuren:
Die Pest um die Mitte des 14. Jahrhunderts schwächte den Glauben an die Allmacht Gottes
5
und der Institution Kirche erheblich. Die Wissenschaft strebte nun nach neuen
Erkenntnissen. Das 15. Jahrhundert war geprägt von zahlreichen Erfindungen, neuen
astronomischen Berechnungen und Seefahrten, die den Erdball neu definierten. Der
Versuch. alles zu ergründen und nichts unversucht zu lassen, um in neue Dimensionen zu
gelangen, prägte den Beginn einer neuen Epoche. Dabei waren es nicht nur die
weltbewegenden und weltverändernden Ereignisse wie die Erfindung des Buchdrucks oder
die Entdeckung Amerikas, die zukunftsweisend waren. Überall wurde geforscht, getüftelt
und experimentiert. Anton Pohl baute eine 15 m hohe astronomische Kunstuhr am Rathaus
von Olmütz mit Datumsangabe, Mondphasen, Planetenstand, Orts- und Sternzeit,
Glockenspiel und vielen beweglichen Figuren. Der italienische Techniker Johannes Fontana
skizzierte einen Torpedo mit Raketenantrieb und einen Selbstfahrer durch Seilantrieb. In
China wurden Handfeuerwaffen konstruiert, die es aber schon lange zuvor gegeben haben
muss. Nikolaus von Kues erkannte die Achsendrehung der Erde. Leonardo da Vinci beschrieb
die Camera obscura, die linsenlose Lochkamera. Seine Zeichnungen zu zahlreichen
technischen Problemen kennzeichneten die neue Wissenschaftsära und skizzieren ein
permanentes Anklopfen an die Erfindungen der Zukunft. Die Buchdruckkunst breitete sich
rasch aus. Von 1445 bis 1500 entstanden über 1000 Druckereien in Europa mit über 35 000
Druckerzeugnissen. Der Zugang zum Wissen der Welt, allerdings fast ausschließlich für
Männer,
ist wohl die epochenwichtigste Erfindung und die Voraussetzung für
Freiheitsbewegungen, Verbreitung von wissenschaftlichen Schriften, die für alle den gleichen
Inhalt auswiesen, aber auch Menschen aus allen Schichten erreichten, die zunächst lesen
lernen mussten. Die Seefahrten des Kolumbus, Vasco da Gamas und vieler anderer führten
nicht nur zur Entdeckung der Neuen Welt, sondern veränderten das bisher bestehende
Weltbild grundlegend. Hierzu passt nahtlos das neue Weltbild des Kopernikus: Die Erde
dreht sich mit den anderen Planeten um die Sonne. Das 15. und 16. Jahrhundert veränderte
die alte Sichtweise des Universums nachhaltig. Der Aufbruch in eine neue Zeitdimension
hatte begonnen. Die Reihe der Erfindungen und Innovationen könnte unbegrenzt
fortgesetzt werden, worauf noch einzugehen sein wird. Auch hier soll lediglich vermerkt
werden, dass Männer die Protagonisten dieser Entwicklungen waren.
Ein weiterer wichtiger Faktor, der gern vergessen wird, ist die Kolonialisierung großer Teile
der Welt durch die Nationen des christlichen Abendlandes. Spanien, von wo aus 1492 n.Chr.
Christoph Kolumbus mit seinen Entdeckungsreisen die Kolonisation der "Neuen Welt"
einläutete, bildete den Beginn und Ausgangspunkt der "europäischen Expansion", wie
Wolfgang Reinhard den Vorgang der Kolonisation in seiner vierbändigen Studie analysierte.6
Es begann das Zeitalter der europäischen Herrschafts-Globalisierung in eine Richtung,
Entfaltung und Konsolidierung des Weltsystems.7 Die europäischen Nationen nahmen für
sich in Anspruch, genau so alleinseligmachend zu sein wie die katholische Kirche. Hand in
Hand globalisierte und vernetzte sie die Welt, die ausschließlich die ihre war. Portugal,
6
Reinhard, Wolfgang: Geschichte der europäischen Expansion, 4 Bände, Stuttgart, S.
Sloterdijk, Peter: Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung.
Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2005, S. 243/244.
7
6
England, die Niederlande, später auch die USA, Frankreich und Deutschland beuteten alle
rohstoffreichen Länder in ihrem Herrschaftsgebiet aus und die christlichen Missionare
sorgten für die richtige Religion und Kultur. Die Religionen und Kulturen der nord- und
südamerikanischen Urbevölkerung wurden gnadenlos ausgelöscht. Gold und andere
Edelmetalle, aber auch die Besiedlung der neuen Welt waren die Anreize, zu Millionen nach
Nord- und Südamerika auszuwandern. Sklavenhandel und unmenschliche Ausbeutung der
schwarzen Bevölkerung vor allem in den Südstaaten gehören ebenso zur Geschichte
Nordamerikas wie die Vertreibung und Vernichtung der Indianer. Gleiches gilt für die
Vernichtung der mittel- und südamerikanischen Kulturen wie z. B. der Inka und Azteken. Es
bedarf wohl keiner Erwähnung, dass ausschließlich Männer die Kolonisation und Ausbeutung
eingeleitet und vorangetrieben haben. Eine friedliche Koexistenz und ein Austausch der
Kulturen hätten allen Beteiligten genützt, friedensstiftend gewirkt und so den
Zusammenhang der drei Faktoren "Erinnerung" (Vergangenheitsbezug),
"Identität"
(politische Imagination) und "kulturelle Konstituierung" (Traditionsbildung) verdeutlicht und
gefestigt.8 Da jede Kultur ihre konnektive Struktur ausbildet, wirkt sie verknüpfend und
verbindend. Nord- und Südamerika bescherten Europa neue Nahrungsmittel wie die
Kartoffel, den Mais und die Tomate, was zu einer grundlegenden Veränderung der Esskultur
in Europa führte, aber auch zahlreiche Pflanzen und nicht zuletzt eine Sozial- und
Zeitdimension, die Menschen an den Mitmenschen bindet durch neue Symbole und Rituale:
Ethnogenese als Steigerung der Grundstrukturen kollektiver Identität.9
Aber auch die asiatischen und afrikanischen Staaten dienten Europa zur Rohstoffgewinnung
und Nahrungskammer. Hier haben vor allem die Franzosen, Engländer und Portugiesen ihre
Spuren hinterlassen. Dass erst Mahatma Gandhi nach dem zweiten Weltkrieg die Engländer
vertrieb und Indien ein unabhängiger Staat wurde, verdeutlicht, wie zeitnah die Freiheit der
Kolonialstaaten liegt. Die meisten Länder Afrikas wurden erst in den sechziger/siebziger
Jahren des 20. Jahrhunderts von den Kolonialmächten frei. Ob alle diese Länder das Leid
vergessen haben, das ihnen von den europäischen Besatzungsmächten zugefügt wurde,
muss bezweifelt werden. Unterschwellig ist es vorhanden und es bedarf nur einer neuen
veränderten globalen Herrschaftsstruktur, in der sich die Machtverhältnisse zugunsten der
unterdrückten Staaten verschieben, bis die Erinnerungen wieder Raum gewinnen. Dass
europäische Nationen Flüchtlinge aus diesen Ländern z.B. ablehnen, durch Zäune ihre
Landung verhindern und nicht wenige einfach ertrinken, gehört zu den Asymmetrien unserer
Zeit. So gesehen hatte Kolumbus und seine Nachfolger in der Eroberungsseefahrt einen erst
heute erkennbaren Vorteil: Wo sie landeten, gab es keine Zäune und Mauern, die sie
abhielten, ihr globales Weltsystem zu installieren.
Vergessen wird häufig, dass Männer allein schon auf Grund ihrer körperlichen Ausprägung,
ihrer physischen Kraft, Frauen überlegen waren und sind. Diese körperliche Überlegenheit
wurde von Männern in der gesamten bisherigen Menschheitsentwicklung ausgenutzt. Sie
8
Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen.
Verlag C.H.Beck, München 1999, S.16.
9
Ebd. S.144.
7
gingen jagen und beschützten die Familie oder die Gemeinschaft. Sie führten Kriege und
stählten sich in Wettkämpfen. Vergewaltigungen in Familien und Massenvergewaltigungen
in Indien und anderen Regionen der Welt sind wesentlich durch die körperliche
Überlegenheit der Männer möglich.
Sicher ist die Evolution abhängig von der Umwelt, der Selektion und Sozialisation, die das
Gehirn unaufhörlich verändern, aber auch ein Quantensprung in der Kulturfähigkeit des
Menschen ist denkbar. Zweifelsohne gibt es im Gehirn eine kollektive neuronale Progression,
deren Basis auf verschiedenen Faktoren beruht, wie zum Beispiel der kulturellen Kontinuität
und der Nachhaltigkeit, die einer kollektiven neuronalen Abschaffung der kognitiven
Leistungsfähigkeit entgegenwirken. So hatten die Römer große Bereiche der griechischen
Kultur in ihre Kultur integriert und so neue Impulse gegeben. Das Christentum wiederum
erneuerte und festigte das antike Denken, setzte aber seine Lehren durch. Kontinuität und
Nachhaltigkeit führten in neue Dimensionen, immer schneller mit immer neuen Produkten
und Dienstleistungen. Beschleunigung und Geschwindigkeit wurden zu den bestimmenden
Faktoren, die in der Globalität langfristig friedensstiftend wirken können. Jedenfalls scheint
sich die kognitive Leistungsfähigkeit des Gehirns allen Veränderungen durch eine ständige
Weiterentwicklung anzupassen.
Es muss bestimmte Faktoren geben, die auf neuronale Verschaltungen und die auf ihnen
basierenden Erregungsmuster einwirken, genauso wie kulturelle Verabredungen und soziale
Interaktionen. Es muss einen "Neuronalen Multiplikator-Effekt" (NME) geben. Das
bedeutet, dass Beschleunigung und Geschwindigkeit in der Evolution des menschlichen
Gehirns eine tragende Rolle spielen. Aber wie funktionieren diese neuronalen
Mechanismen? Wie ist es zu erklären, dass neuronale Aktivitäten innerhalb eines
physikalisch-biologischen Systems plötzlich eine völlig neue Dimension entwickeln und eine
technologische Erfindung, wie Buchdruck oder die Dampfmaschine, nicht eine
Einzelinnovation blieb, sondern eine Kette von Innovationen, Erfindungen und Erkenntnissen
entstand, die zum großen Teil technologisch vollkommen anderen Grundprinzipien
unterlagen? Vielmehr noch, dass es eine Anhäufung von politischen, ökonomischen,
sozialen, technologischen und kulturellen Neuentdeckungen gab, die aufeinander
abgestimmt eine völlig neue Form menschlichen Zusammenlebens hervorbrachten? Aber
damit nicht genug. Schließlich folgten in immer kürzeren Zeitabständen Innovationen und
Erfindungen, die jede für sich einen Quantitäts- und Qualitätssprung in der Kulturgeschichte
der Evolution beanspruchen können. Es gibt in den einzelnen Regionen des Gehirns
Mechanismen und Weiterentwicklungen, die nicht nur eines Tages den Menschen in die
Lage versetzten, einen Steinkeil zu formen, ein Haus zu bauen, zu sprechen oder zu
schreiben, sondern es muss Mechanismen "neuronaler Beschleunigung" geben. Dass die
Protagonisten dieser Entwicklung fast ausschließlich Männer waren, lag an der kultur- und
religionsgeschichtlichen Entwicklung, in der Männer Religionen gründeten und
ausgestalteten, ihre körperliche Dominanz uneingeschränkt nutzten und ihre geistige
Entwicklung, die auf dem alleinigen Zugang zum Wissen der Welt beruhte, bewahrten und
8
Frauen keine Chance gaben, in Religion, Kultur oder im Berufsleben sich ebenbürtig zu
entfalten.
Diese scheinbare "Überlegenheit" der Männer in der historischen Entwicklung bis heute hat
nichts mit besonderen kognitiven Fähigkeiten oder gar einer "höheren Intelligenz" , die
Männer von Frauen abhebt, auch nicht mit einer unterschiedlichen Ausprägung des Hirns zu
tun, sondern schlichtweg mit dem bewussten Fernhalten der Frauen vom Wissen der Welt,
d.h. einer schulischen oder handwerklichen Ausbildung, insbesondere aber dem Zugang zu
den Universitäten. Wie sehr sich das ursprünglich festgelegte Bild der Frau veränderte, zeigt
ihre Entwicklung nach dem Zugang zur Universität und somit zum Wissen der Welt seit
Beginn des 20. Jahrhunderts. In jenen Regionen der Welt, wo Frauen die gleichen
Möglichkeiten ihrer geistigen Entwicklung und Bildung haben wie Männer, entstehen
Gesellschaftsstrukturen, in denen Frauen Tag für Tag zeigen, dass sie den Männern in nichts
nachstehen, in vielen Bereichen ihnen überlegen sind. Die Zukunft gestalten und für
nachfolgende Generationen lebenswert erhalten, erfordert ein Miteinander der Fähigkeiten
von Männern und Frauen, erfordert Ergänzung und nicht ein Gegeneinander. Das sei hier
klar festgehalten, um allen Einwänden rassistischer oder sexistischer Art vorzubeugen. These
und Antithese, Fragen und Antworten, verifizieren und falsifizieren, Zweifel und Glauben,
Schicksal und Realität, alles muss hinterfragt werden, um der Wahrheit als "ungeteiltem
Sein" näherzukommen. Historische Tatsachen schönreden nützt ebenso wenig wie
Schwarzmalerei.
Fest steht, dass jede Zukunft eines Tages Geschichte sein wird, unabhängig von
Geschwindigkeit und Beschleunigung, von Zeit und Raum.
Im Mittelpunkt steht immer noch die Frage nach Gott und Seele. Sie beinhaltet die letzten
Voraussetzungen und eigentlichen Ziele und Zwecke unseres Denkens und Tuns.10
Aber nach Sokrates ist es kaum einem Philosophen gelungen, diesen permanenten Zustand
der Unwissenheit auszuhalten. Sie haben immer wieder aufs Neue versucht, diesen Zustand
so schnell wie möglich zu verlassen. Friedrich Nietzsche hat bereits am Ende des 19.
Jahrhunderts Gott für tot erklärt und Martin Heidegger verstand sein eigenes Denken als
Beitrag zur Destruktion der abendländischen Metaphysik. Das Programm der Aufklärung mit
einem universalen, die Menschheit umfassenden Ziel, ist in der sog. Postmoderne in Frage
gestellt. Wir leben in einer Zeit, die geprägt ist von der Vielzahl heterogener und autonomer
Sprachspiele, die in der globalen Welt eher für babylonische Sprachverwirrungen denn für
klare oder gar absolute Einsichten sorgt. Bedingtheiten und Endlichkeiten sind Verwerfungen
einer zurückliegenden Zeit. Die absolute Kommunikation über das Internet bis in alle Winkel
der Erde scheint alle Grenzen aufzuheben, setzt aber zweifelsohne neue Grenzen, mit denen
10
Hügli Anton, Poul Lübcke (Hg.): Philosophie - Lexikon. Personen und Begriffe der abendländischen
Philosophie von der Antike bis zur Gegenwart. Rowohlts Enzyklopädie im Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek
bei Hamburg 1997, 5. Auflage 2003, S. 6.
9
wir Tag für Tag konfrontiert werden, die wir aufheben wollen, um in die Unendlichkeit eines
neuen Denkens vorzustoßen.
Ist Konsum wirklich das letzte Ziel der Menschheit in der Globalisierung? Alles Denken
vereinigt sich im Glauben an den letzten Konsumkick. Die individuelle Gestaltung des
Konsumalltags bestimmt die soziale Stellung des einzelnen in seinem Lebensfeld. Ist Gott
und Seele einzig und allein und ausschließlich das Alibi für die Eroberung und Erschließung
neuer Rohstoff- und Energiefelder? Sind die Krisen des 21. Jahrhunderts Alibikrisen für
diejenigen, die Religionen global dafür nutzen, um an die Quellen des Reichtums zu
gelangen? Oder erzeugt die globale, vom Internet getriebene Kommunikation und
Information einen NEUEN REALISMUS 11 , der das Zeitalter der "Postmoderne" ablöst,
"nachdem alle Heilsversprechungen der Menschheit, von den Religionen über die modernen
Wissenschaften bis hin zu den allzu radikalen politischen Ideen des linken und rechten
Totalitarismus gescheitert waren".12
Vor allem die Naturwissenschaften und insbesondere die Neurowissenschaften haben das
duale System in Frage gestellt. Dualistische Weltmodelle können die zentrale Frage nicht
beantworten, wann im Laufe der Evolution oder der Individualentwicklung das Geistige vom
Materiellen Besitz ergriffen hat. 13 Hirnforscher wie Wolf Singer und Gerhard Roth
behaupten, dass Entscheidungen vom Gehirn getroffen werden, also auf neuronalen
Prozessen beruhen. Hierbei stützen sie sich auf die evolutionsbiologische Evidenz einer
engen Korrelation zwischen dem Differenziertheitsgrad von Gehirnen und ihren kognitiven
Leistungen.14 Einfache (einfache Organismen) und hochdifferenzierte Gehirne (Menschen)
unterscheiden sich im Wesentlichen nur durch die Zahl der Nervenzellen und die
Komplexität der Vernetzung. Daraus folgern Hirnforscher, dass auch die komplexen
kognitiven Funktionen des Menschen auf neuronalen Prozessen beruhen müssen, die nach
den gleichen Prinzipien organisiert sind, wie sie bei tierischen Gehirnen vorkommen.
Entwicklungsbiologisch heißt dies, dass die Ausdifferenzierung von Hirnstrukturen in der
Individualentwicklung Hand in Hand mit der Ausbildung immer komplexerer kognitiver
Fähigkeiten geht. Entscheidend hierbei ist, dass dies auch für die mentalen Leistungen, die
den Menschen auszeichnen, zutrifft. Das Gehirn in seiner funktionellen Architektur,
basierend auf der spezifischen Verschaltung der vielen Milliarden Nervenzellen, enthält
angeborenes (in den Genen gespeichertes) und durch Erfahrung erworbenes Wissen.
Innerhalb des genetisch vorgegebenen Gestaltungsraumes prägen Erziehungs- und
Erfahrungsprozesse die strukturelle Ausformung der Nervennetze. Kulturelle und soziale
Fähigkeiten haben ebenfalls eine neuronale Grundlage. Mentale Akte wie das Empfinden
und Mitempfinden von Leid, ein schlechtes oder gutes Gewissen haben, eine schlechte
11
Gabriel, Markus: Warum es die Welt nicht gibt. 8. Auflage, Ullstein , Berlin 2013, S.9/10.
Ebd. S. 10.
13
Singer, Wolf: Verschaltungen legen uns fest: Wir wollen aufhören, von Freiheit zu sprechen. Ein
epistemisches Caveat, in: Geyer, Christian: Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten
Experimente. edition suhrkamp 2387, Frankfurt am Main 2004, S. 30 bis S. 65, hier S. 37/38.
14
Ebd. S.53
12
10
Handlung verurteilen, ein Gefühl unterdrücken, also intrapsychische Vorgänge beruhen auf
der Aktivierung wohldefinierter neuronaler Strukturen.15
Die kognitive Leistungsfähigkeit des Hirns scheint unbegrenzt. Täglich werden neue
Entschlüsselungen des Gehirns gemeldet. So entdeckten vor kurzem Wissenschaftler der
Universität Oxford jene Region im vorderen Hirnlappen, die immer dann aktiviert wird, wenn
es um moralische Entscheidungen oder die Einordnung des Lebenssinnes geht. Offensichtlich
haben nur Menschen ein "Gewissen". Selbst Rhesusaffen, enge Verwandte des Menschen,
besitzen diese Region nicht. Bildgebende Verfahren, Computertomografie, und
Magnetresonanztomografie ermöglichen es, dass man dem Menschen beim Denken
zusehen, seine Gefühle und Absichten erkennen kann und auch sieht, ob er lügt oder nicht.
Nur Gedanken lesen ist noch unmöglich.16
Das Hirn scheint grenzenlose Möglichkeiten zu eröffnen. Jede einzelne der 100 Milliarden
Nervenzellen im Gehirn kann mit bis zu 15 000 Kontaktstellen, den Synapsen, mit anderen
Nervenzellen verbunden sein. Das Gehirn besteht somit aus einem vernetzten System, das
über 100 Billionen Kontaktstellen verfügt.17 Unvorstellbare Zahlen, die aber dennoch jede
Sekunde unseres Lebens bestimmen. Die bereits angesprochene enorme Komplexität und
ausgeprägte Plastizität gestalten Denken, Fühlen und Handeln. Hierbei finden die
wichtigsten Hirnleistungen des Menschen im vorderen Abschnitt des Hirns statt. Der
Stirnlappen arbeitet aber im Konzert mit anderen Strukturen zusammen. Dabei sieht jedes
Gehirn bei äußerer Betrachtung zunächst gleich aus. Aber der Feinausbau kann höchst
unterschiedlich sein. Das heißt: Jedes Gehirn ist anders vernetzt, und selbst wenn zwei
Menschen exakt dasselbe denken, tun sie es doch auf unterschiedliche Weise. Daher warnt
Gerhard Roth vor einem "materialistischen Monismus", der annimmt, es gäbe jenseits der
neuronalen Vorgänge nichts mehr zu erklären.18
Wenn also sämtliche innerpsychischen Prozesse mit neuronalen Vorgängen in bestimmten
Hirnarealen einhergehen und diese Prozesse durch physikochemische Vorgänge
beschreibbar sind, also langfristig erforscht, entschlüsselt und beeinflusst werden können, ist
auch Geist und Bewusstsein, wie einzigartig auch diese Schlüsselbegriffe von uns empfunden
werden, im Naturgeschehen verankert und übersteigt es nicht. Gott und Seele erhalten so
eine neue Definition und Dimension, losgelöst von allen metaphysischen Deutungen, von
mythischen und mystischen Dogmen. Darüber hinaus wird die sogenannte
Glaubensbindung, der Kern des Streites, ob Theologie der Wissenschaftlichkeit unterliegt,
aufgehoben.
15
Ebd. S.54/55.
Elger, Christian: Neuroleadership. Erkenntnisse der Hirnforschung für die Führung von Mitarbeitern. Haufe
Mediengruppe, Freiburg, Berlin, München 2009. S.43.
17
Ebd. S. 45.
18
Geyer, Christian: Hirn als Paralleluniversum. Wolf Singer und Gerhard Roth verteidigen ihre Neuro-Thesen.
In: Hirnforschung und Willensfreiheit, a.a.O. S.88.
16
11
Gott ist die Summe aller Neuronen und Synapsen der Menschen, die waren,
sind und sein werden.
Eine kaum fassbare Zahl, die Unendlichkeit ausdrückt, aber auch Gleichheit. Sie beinhaltet
aber auch eine unendlich handelnde, eine lebendige Einheit, in der alle Menschen gleich
sind, Ebenbilder, gleichgültig wie sie persönlich ihren Gott definieren. Diese
Weltfriedensformel ist die Basis für ein friedliches und sinnstiftendes Zusammenleben der
Menschen. Jeder Mensch ist einzigartig und doch das Ebenbild des Anderen und das
Ebenbild Gottes. Sind wir also nicht alle "ein bisschen Gott"? Ist diese Aussage Hybris oder
eine naturgegebene Tatsache?
Alles Sein konzentriert sich auf diese Formel, konzentriert sich auf eine unendliche
Zielsetzung, die in der Unbegrenztheit begrenzt ist, die letztlich der Selbsterhaltung der
Menschheit dient. Wer glaubt, "dass es einen großen Regenten gibt, der das Universum und
das menschliche Leben steuert", irrt.19 Es gibt kein Weltganzes, das von jemandem regiert
wird. Die Summe der Menschen, die Summe ihrer Neuronen und Verschaltungen, regiert die
Welt. Der Mensch aber muss gleichzeitig seine Begrenztheit erkennen, die von der Natur
und deren Dynamik ihm auferlegt wird. Nur wenn alle Menschen ihr gemeinsames Ebenbild
erkennen, haben sie eine Chance, in dieser Welt zu überleben. Diese Formel befreit vor
allem den Menschen von zahlreichen Illusionen, die er im Laufe der antik-christlichen
Entwicklung angehäuft hat. Er kann sich nun festlegen und das Unmögliche ins Auge fassen,
jene Handlungsfreiheit, die Religionen verhindern wollen, um ihre Macht zu erhalten. Das
21. Jahrhundert muss das Jahrhundert der Ebenbilder werden, um den globalen Frieden zu
sichern. Nur Ebenbilder schaffen Einheit, die unteilbar ist.
Das heißt nichts anderes, als dass alle Menschen eine einzige Wahrheit, ein einziges Sein
darstellen, aber dennoch jeder für sich in der Gesamtheit des Daseins. Das wirft die Frage
nach der Individualität auf, der Seele, die Frage nach einer lebenstauglichen Disposition. Das
heißt, wie bereits festgestellt, dass jedes Gehirn anders vernetzt ist. Vielleicht besitzt jedes
Neuron und jede Verschaltung eine eigene Identität, deren Summe die Seele ist.
Die Seele ist die Summe der Neuronen und Synapsen eines jeden einzelnen
Menschen.
Die Seele ist der sichtbare Ausdruck der neuronalen Zusammensetzung des individuellen
Gehirns. Hier, im Gehirn läuft alles zusammen, hier liegt die Basis der Gleichheit aller
Menschen, aller Kulturen und Religionen: die Unabhängigkeit von Geschlecht, Farbe und
Religion. Das Alleinstellungsmerkmal ist das Gehirn des einzelnen Menschen und die Summe
ist Gott. Jeder Mensch hat mentale Landkarten im Kopf.20 Sie helfen ihm, die Wirklichkeit in
einer ihm eigenen, ganz bestimmten Weise zu deuten und zu verstehen. So schlagen wir ein
19
20
Gabriel. Markus: Warum es die Welt nicht gibt, a.a.O., S.212.
Elger, Christian: Neuroleadership, a.a.O., S. 20.
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neues Kapitel in der Evolutionsgeschichte auf, frei von nationalen Grenzen. Aber dennoch
bleibt es dem einzelnen Menschen vorbehalten, wie er seinen Alltag kulturell, religiös,
politisch und ökonomisch gestaltet, da Ebenbilder sich akzeptieren und tolerieren.
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