Plötzlicher Herztod bei jungen Menschen durch kardiale Gendefekte

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MEDIZIN
ÜBERSICHTSARBEIT
Plötzlicher Herztod bei jungen
Menschen durch kardiale Gendefekte
Silke Kauferstein, Nadine Kiehne, Thomas Neumann, Heinz-Friedrich Pitschner,
Hansjürgen Bratzke
ZUSAMMENFASSUNG
Hintergrund: In Europa ist der plötzliche Herztod eine der
häufigsten Todesursachen. Obwohl dies im Wesentlichen
ältere Personen betrifft, erleiden in 5 bis 10 % dieser Fälle
junge, anscheinend gesunde Personen einen Herztod. Bei
Kleinkindern, Kindern und jungen Erwachsenen ist mit einem Auftreten von 1 bis 5 pro 100 000 Personen pro Jahr
der plötzliche Herztod relativ selten. Dennoch sterben bis
zu 7 000 asymptomatische Kinder in jedem Jahr in den
USA, fast die Hälfte ohne vorherige Prodromi.
Methode: Selektive Literaturrecherche.
Ergebnisse: Obwohl sich durch kardiovaskuläre Veränderungen der größte Teil der plötzlichen Herztodesfälle erklären lässt, ist in 10 bis 30 % dieser Fälle autoptisch keine
Todesursache feststellbar. Potenziell tödliche IonenkanalErkrankungen, wie die Long-QT-Syndrome (LQTS), katecholaminerge polymorphe ventrikuläre Tachykardie (CPVT)
und das Brugada-Syndrom (BrS) können für mindestens
ein Drittel dieser Todesfälle verantwortlich sein. Die meisten dieser Erkrankungen besitzen eine familiäre Disposition mit autosomal-dominantem Erbgang, das heißt 50 %
der Nachkommen können betroffen sein.
Schlussfolgerung: Ein genetisches Screening nach Veränderungen in kardialen Ionenkanälen stellt somit ein wichtiges
forensisches Hilfsmittel zur Todesursachenermittlung dar.
So können auch Träger bisher nicht erkannter, IonenkanalVeränderungen innerhalb der betroffenen Familien erkannt
und bei typischer Anamnese einer kardiologischen Überwachung zugeführt werden.
Dtsch Arztebl Int 2009; 106(4): 41–7
DOI: 10.3238/arztebl.2009.0041
Schlüsselwörter: plötzlicher Herztod, Ionenkanalerkrankung, Kardiodiagnostik, Molekularbiologie, Familienanamnese
Institut für Forensische Medizin, Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt
am Main: Dr. rer. nat. Kauferstein, Dipl.-Biol. Kiehne, Prof. Dr. med. Bratzke
Kerckhoff Klinik, Abteilung für Elektrophysiologie, Bad Nauheim: Dr. med. Neumann, Dr. med. Pitschner
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er plötzliche Herztod ist definiert als unerwarteter Tod, der bei zuvor gesund erscheinenden
Personen innerhalb kürzester Zeit – in der Regel 1 h
nach Beginn der Symptome – zum Tode führt. Er stellt
eine der häufigsten Todesursachen in der westlichen
Welt dar. Allein in Deutschland sterben jährlich circa
100 000 Menschen an den Folgen des plötzlichen
Herztodes. Obwohl er im Wesentlichen ältere Personen betrifft, sind es in 5 bis 15 % der Fälle junge, bisher asymptomatische Menschen.
Bei älteren Personen sind koronare Herzerkrankungen (circa 80 %) und die dilatative Kardiomyopathie
(circa 10 bis 15 %) für den überwiegenden Teil der
plötzlichen Herztodesfälle ursächlich. Bei jungen
Menschen findet man als häufigste pathologische
Substrate eine hypertrophe, dilatativ oder arrhythmogene rechtsventrikuläre Kardiomyopathie, Myokarditis oder angeborene Veränderungen der Koronararterien. Jedoch lässt sich bei 10 bis 30 % der Fälle (Grafik
1) autoptisch keine erkennbare Todesursache feststellen (1).
Todesfälle ohne autoptisch erkennbare Ursache, die
nach dem ersten Lebensjahr auftreten, werden als
„sudden unexplained death syndrome“ (SUDS) bezeichnet. Erfolgt der Tod aus ungeklärter Ursache vor
dem ersten Lebensjahr, wird von einem „sudden infant death syndrome“ (SIDS) gesprochen.
D
Primär elektrische Herzerkrankungen
Kardiale Veränderungen, die zum plötzlichen Tod bei
jungen Menschen führen können, haben oftmals eine
genetische Ursache, die jedoch selten diagnostiziert
wird. In den letzten Jahren wurden bedeutende Fortschritte bei der Aufklärung derartiger genetisch bedingter Herzerkrankungen erzielt. Bisher konnten
über 40 dieser Erkrankungen identifiziert werden, wobei viele mit einem erhöhten Risiko für einen plötzlichen Herztod verbunden sind.
Genetisch bedingte Herzerkrankungen lassen sich
in zwei Gruppen einteilen: In Erkrankungen, die mit
einer strukturellen Veränderung des Herzen einhergehen, wie zum Beispiel die arrhythmogene rechtsventrikuläre Dysplasie (ARVD) und hypertrophe Kardiomyopathie (HCM). Die zweite Gruppe weist hingegen keine autoptisch erkennbaren Veränderungen
am Herzen auf – ihre Ursache ist primär arrhythmogener Natur. Hierzu zählen unter anderem die primär
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GRAFIK 1
Ursachen eines plötzlichen Herztodes bei Menschen jünger als 35
Jahre von 1979 bis 1998 in Italien, verändert nach (2); ARVC, arrhythmogene rechtsventrikuläre Kardiomyopathie; KHK, koronare Herzerkrankung
elektrischen Herzerkrankungen wie der Komplex der
LQT-Syndrome (LQT, langes QT), das Brugada-Syndrom und die katecholaminerge polymorphe ventrikuläre Tachykardie (CPVT), die für eine Reihe der
plötzlichen autoptisch-negativen Todesfälle bei jungen Personen ursächlich sein können.
Primär elektrische Herzerkrankungen basieren auf
pathologischen Veränderungen kardialer Ionenkanäle.
Diese werden durch Mutationen in Genen verursacht,
die diese Ionenkanäle kodieren. Ionenkanäle sind
transmembranös verankert und ermöglichen bei Porenöffnung einen Ionenfluss entlang eines elektrochemischen Gradienten über die Membran. Viele dieser
Ionenkanäle sind an der Entstehung und Regulierung
des Aktionspotenzials und damit an Erregungsbildung
und Reizleitung am Herzen beteiligt. Mutationen in
diesen Proteinen können zu einer Fehlfunktion des Kanals führen. Als Folge treten Herzrhythmusstörungen
auf, die letztendlich Kammerflimmern bewirken können. Zahlreiche dieser veränderten Gene sind bereits
identifiziert, und ihre Rolle bei der Entstehung von
Herzrhythmusstörungen gilt als gesichert (Tabelle).
Die Penetranz dieser Erkrankungen, das heißt die
Wahrscheinlichkeit mit der sich bei einem bestimmten
Genotyp der entsprechende Phänotyp ausbildet, ist
sehr variabel. Die auftretenden Phänotypen wiederum
zeigen eine erhebliche klinische Varianz, was die Diagnose zum Teil erschwert. Oftmals sind elektrokardiografische Befunde nicht eindeutig pathologisch. Bei
circa 15 % der Betroffenen zeigt sich trotz Vorliegen
eines QT-Syndroms ein normales frequenzkorrigiertes QT-Intervall im 12-Kanal-EKG (2). Ebenso
scheint die medikamentöse Demaskierung des Brugada-Syndroms bei negativ ausgehendem Test nicht
zwingend beweisend zu sein (3).
TABELLE
Genetische Ursachen des plötzlichen Herztodes
Krankheit
Gen
Protein
Häufigkeit
(Prozent)
Vererbung
LQT1
KCNQ1
Kalium-Kanal (IKs)
35–40
dominant
LQT2
HERG
Kalium-Kanal (IKr)
30–35
dominant
LQT3
SCN5A
Natrium-Kanal
5–10
dominant
LQT7
KCNJ2
Kalium-Kanal (IK1)
50
rezessiv
Brugada-Syndrom
SCN5A
Natrium-Kanal
15–30
dominant
CPVT1
RyR2
Ryanodin-Rezeptor
65
dominant
CPVT2
CASQ2
Calsequestrin
5
rezessiv
ARVD-9
PKP2
Plakophilin-2
14–43
dominant
ARVD-2
RyR2
Ryanodine-Rezeptor
unbekannt
dominant
HCM
βMHC
schwere β-Myosin-Kette
30–40
dominant
HCM
MyBP-C
Myosin-bindendes Protein C
20–40
dominant
HCM
TNNT2
Troponin T
5–15
dominant
Angegeben sind hier nur die häufigsten betroffenen Gene
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Genetische Aspekte von Herzerkrankungen
als Ursachen des plötzlichen Herztodes
Die LQT-Syndrome
Das kongenitale LQT-Syndrom ist eine genetisch heterogene Erkrankung, die oft aber nicht zwingend im
EKG durch eine Verlängerung der QT-Zeit gekennzeichnet ist (eGrafik 1). Abzugrenzen sind hiervon
Patienten mit erworbenen LQT-Syndromen wie zum
Beispiel nach Einnahme von QT-Zeit verlängernden
Medikamenten. Inzwischen sind 9 verschiedene Genorte auf den Chromosomen 3, 4, 7, 11, 12, 17 und 21
für kongenitale LQT-Syndrome identifiziert worden,
deren Mutationen den LQT-Syndromen 1 bis 9 zugeordnet wurden. Zurzeit sind über 200 Mutationen bekannt: In den 5 Kaliumkanal-Genen KCNQ1, KCNH2,
KCNE1, KCNE2, KCNJ2, in dem Natriumkanal-Gen
SCN5A (4) sowie in dem Adapter-Protein Ankyrin B
(5). Kürzlich wurden Mutationen in dem Gen von Calveolin, CAV3, und in einem Calciumkanal identifiziert, die zu einer verlängerten QT-Zeit im Zusammenhang mit dem Thimothy-Syndrom führen, einer
Multisystemerkrankung, die mit Synkopen und plötzlichem Herztod einhergeht (6).
In Untersuchungen von Schwartz et al. (7) zu genetischen Defekten und deren klinischer Manifestation
(sogenannte Genotyp-Phänotyp-Beziehungen) wurde
gezeigt, dass nahezu alle Patienten mit einem LQT1Syndrom unter erhöhter sympathischer Stimulation
(physischer oder psychischer Stress) Synkopen entwickeln. Bei einem Drittel der Betroffenen manifestiert sich die Erkrankung während der Kindheit unter
körperlichen Belastungssituationen, wie beispielsweise beim Schwimmen (7). Hinter einem Teil der
Fälle von plötzlichem Badetod kann sich daher ein
LQT1-Syndrom verbergen. Bei Patienten mit einem
LQT3-Syndrom (Grafik 2) treten die Symptome meist
in Ruhe, oft im Schlaf auf (8). Bei 12 % aller Patienten, die an einem der LQT-Syndrome leiden, ist der
plötzliche Herztod die einzige klinische Manifestation der Erkrankung. Bei circa 4 % dieser Patienten tritt
der Herztod innerhalb des ersten Lebensjahres auf (9).
Short-QT-Syndrome
Erst in den letzten Jahren wurde mit dem Short-QTSyndrom (SQTS) ein weiteres rhythmologisches
Krankheitsbild in Verbindung mit dem plötzlichen
Herztod gebracht (10). Das EKG der betroffenen Personen zeigt im Gegensatz zu dem LQT-Syndrom eine
verkürzte QT-Zeit und eine Formveränderung der TWellen. Als molekulare Grundlage des SQTS konnten
bislang 5 Mutationen in den Kaliumkanal-Genen
KCNH2 (SQTS1), KCNQ1 (SQTS2) und KCNJ2
(SQTS3), die auch mit dem Long-QT-Syndrom assoziiert wurden, nachgewiesen werden (11). Als Folge
jeder dieser Mutationen nimmt der Ionenfluss in den
betroffenen Kanälen zu, was zu einer beschleunigten
Repolarisation und damit zu einem verkürzten Aktionspotenzial führt (12). Gaita et al. (13) zeigten, dass
Personen mit SQTS ein erhöhtes familiäres Risiko für
einen plötzlichen Herztod besitzen.
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GRAFIK 2
Monitor-EKG-Aufzeichnung eines Patienten mit implantiertem Cardioverter-Defibrillator
(ICD) a) mit „elektrischem Sturm“ bei bekannter arrhythmogener rechtsventrikulärer
Erkrankung und zusätzlicher SCN5a-Mutation; b) gleicher Patient mit polymorpher ventrikulärer Tachykardie
Katecholaminerge polymorphe ventrikuläre Tachykardien
Bei circa 60 % der Patienten mit katecholaminergen,
polymorphen ventrikulären Tachykardien (CPVT)
findet man Mutationen im Gen des Ryanodinrezeptors
RyR2. Dieser ist unter anderem für die Regulation des
Calciumhaushalts des endoplasmatischen Retikulums
verantwortlich. Aber auch bei Patienten mit einer Unterform der arrhythmogenen, rechtsventrikulären Kardiomyopathie (ARVC) konnten Mutationen im RyR2Gen festgestellt werden (14). Zur Inzidenz liegen keine ausreichenden Daten vor.
Bei dem Ryanodinrezeptor handelt es sich mit 105
Exons (kodierende Bereiche der DNA, die die Information für Proteine enthalten) um eines der größten
Proteine im menschlichen Organismus. Es sind bisher
circa 70 Mutationen bekannt, doch ist davon auszugehen, dass noch weitere entdeckt werden. Mutationen
in diesem Gen führen zu einem veränderten Protein
und möglicherweise zur Beeinträchtigung der Calciumfreisetzung aus dem sarkoplasmatischen Retikulum in das Zytoplasma, was vor allem unter Stress zu
Arrhythmien führen kann. Der Ryanodin-2-Rezeptor
(RyR2) und dessen akzessorische Proteine Calsequestrin-2, FKBP12.6 und Triadin-1/Junctin, die zusammen einen Komplex bilden, regulieren diesen Vorgang. Treten im RyR2-Gen Mutationen auf, so kann es
unter einer adrenergen Stimulation, beispielsweise
durch Stress, zu einer Affinitätsabnahme des akzessorischen FKBP12.6-Proteins zum Kanalkomplex
kommen. Dies führt zu einer vermehrten Öffnung des
Ryanodinrezeptors, woraus ein intrazellulärer Calciumüberschuss resultieren kann. Diese Ca2+-Ionenüberladung kann die Entstehung von weiteren Depolarisationen nach Beendigung der Repolarisation des
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12-Kanal-EKG eines
Patienten a) vor und
b) nach Gabe
von 1 mg/kg KG
Ajmalin i.v. fraktioniert über 10 min;
Entwicklung der
für das BrugadaSyndrom typischen
J-Punkt-Hebung
und deszendierenden ST-Streckenhebung mit nachfolgender negativer
T-Welle in den
rechtspräkordialen
Ableitungen
GRAFIK 3
Herzens zur Folge haben und damit die Induktion ventrikulärer Tachyarrhythmien begünstigen. Die von einer CPVT betroffenen Patienten haben ein deutlich erhöhtes Risiko für Synkopen und plötzlichen Herztod.
Im Gegensatz zu den LQT-Syndromen manifestiert
sich die erste Synkope bei unbehandelten Patienten
oftmals im Alter von 40 Jahren wobei die Sterberate
30 bis 50 % beträgt (14).
Das Brugada-Syndrom
Das Brugada-Syndrom ist eine bedeutende Ursache
des plötzlichen Herztodes. Charakteristisch für ein
Brugada-Syndrom ist eine sattelartige ST-Hebung im
EKG (eGrafik 2) bei atypischem Rechtsschenkelblock
in den Ableitungen V1 bis V3 (15). Diese Veränderungen können ebenfalls nur intermittierend auftreten.
Durch die Gabe von Natriumkanal-Blockern wie
Ajmalin (Grafik 3) ist es möglich, diese Veränderungen teilweise zu demaskieren (3). Circa 15 bis 20 %
der Patienten mit Brugada-Syndrom weisen eine Mutation im SCN5A-Gen auf, das den kardialen Natriumkanal kodiert. Bei betroffenen Patienten wurden
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außerdem Mutationen in Genen gefunden, die regulierend auf den Natriumkanal wirken. Ebenso konnten
Mutationen im L-Typ des Calciumkanals gefunden
werden, was darauf hinweist, dass neben Veränderungen des Natriumstroms auch ein verminderter Calciumstrom als Ursache eines Brugada-Syndroms in Betracht zu ziehen ist. Jedoch sind die genetischen
Grundlagen in vielen Fällen noch nicht hinreichend
geklärt (15). Patienten mit Brugada-Syndrom sind
durch lebensbedrohliche Tachyarrhythmien besonders gefährdet. Nach einem überlebten Herzstillstand
oder dem Auftreten von Synkopen wird daher empfohlen, einen Defibrillator zu implantieren (16).
Molekularbiologische Diagnostik
Die ständig wachsende Zahl der mit Ionenkanal-Defekten assoziierten Erkrankungen verdient besondere
Aufmerksamkeit, weil wie bei kaum einer anderen
Erbkrankheit die Pathophysiologie durch eine Kombination aus Molekulargenetik und Elektrophysiologie aufgeklärt werden kann. Molekulargenetische
Methoden ermöglichen es, gezielt nach krankheitsverursachenden Mutationen in entsprechenden Ionenkanal-Genen zu suchen. Hierzu erfolgt zunächst die
DNA-Extraktion aus EDTA-Blut oder Gewebe. Mittels
weiterer molekularbiologischer Methoden (Polymerasekettenreaktion) werden die kodierenden Bereiche
der entsprechenden Gene amplifiziert. Der Nachweis
von Sequenzvarianten in den PCR-Produkten erfolgt
in der Regel mittels einer speziellen chromatografischen Auftrennung (DHPLC, „denaturating high performance liquid chromatography“). Von allen Proben
mit einem auffälligen Chromatogramm wird die Basensequenz analysiert.
Werden neue Mutationen gefunden, kann mittels
elektrophysiologischer Methoden untersucht werden,
ob diese Veränderung im Gen tatsächlich funktionell
wirksam und damit möglicherweise krankheitsverursachend sind. Die molekulargenetische Diagnostik
dieser Erkrankungen ist zurzeit noch sehr aufwendig
und kostenintensiv, was ihren Einsatz in der Routinediagnostik limitiert.
Betreuung von betroffenen Familien
Das Trauergespräch mit Angehörigen, die ein Familienmitglied durch einen plötzlichen Herztod verloren
haben, stellt wegen des plötzlichen und unerwarteten
Todes für Kliniker und auch Rechtsmediziner eine besondere Herausforderung dar. Denn bei den Angehörigen besteht neben Gefühlen von Schuld und Versagen
häufig auch ein starkes Informationsbedürfnis über
die Todesursache. Wie neuere Studien belegen, führt
eine intensive Informationsweitergabe und Betreuung
der betroffenen Familienmitglieder in 40 bis 53 % zur
Diagnose der vermutlich für den plötzlichen Herztod
verantwortlichen kardialen Erkrankung. In diesem
Zusammenhang ist auf den von Behr und Tan (17)
vorgestellten Verfahrensablauf hinzuweisen, der Hilfestellung für das Vorgehen nach einer Autopsie gibt
(Grafik 4).
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Rolle der molekularen Autopsie
Zu Beginn der Betreuung der betroffenen Familien ist
es wichtig, alle verfügbaren Informationen zum Tod
des Angehörigen zu erfahren. Hierzu gehören neben
dem Autopsiebericht klinische Daten, aber auch Beobachtungen und Symptome vor dem Tod. Oftmals jedoch ist der Tod das erste Anzeichen der Erkrankung,
oder aber es zeigten sich Symptome, denen nie nachgegangen wurde.
Eine der bisher größten epidemiologischen Studien
von unerwarteten Todesfällen junger Menschen ergab,
dass über die Hälfte dieser Fälle kardialen Ursprungs
war und 29 % autoptisch keine erkennbare Ursache
aufwiesen (18). Eine weitere Studie des australischen
Militärs zeigte eine Inzidenz für nicht traumatische,
unerwartete Todesfälle von 13 pro 100 000 Rekruten
pro Jahr, wobei bei mehr als einem Drittel (35 %)
durch eine Autopsie keine Todesursache festgestellt
werden konnte (19).
Basierend auf kardiologischen und klinischen Daten von Familien, in denen Fälle plötzlichen Herztodes aufgetreten waren, konnte in zwei weiteren
Studien gezeigt werden, dass in 22 beziehungsweise
28 % der Fälle Anzeichen für eine vererbbare kardiale
Erkrankung bestanden. Meist waren es LQT-Syndrome, aber auch katecholamininduzierte ventrikuläre
Tachykardien.
Neuere Studien ergaben, dass bei 35 % von plötzlichen Todesfällen eine kardiale Ionenkanalerkrankung
zugrunde lag (Grafik 5). Diese Studien weisen darauf
hin, wie wichtig die Suche nach potenziell lebensbedrohlichen Mutationen im Hinblick auf die Todesursachenermittlung bei Menschen mit unklarer Todesursache ist. Die molekulare Autopsie stellt somit ein
wichtiges diagnostisches Werkzeug bei der forensischen Beurteilung solcher Todesfälle dar.
In diesem Zusammenhang ist jedoch darauf hinzuweisen, dass bei fehlendem Nachweis einer Genveränderung eine kardiale Erkrankung nicht ausgeschlossen werden kann, denn circa 30 % dieser Todesfälle
können derzeit nicht molekularbiologisch aufgeklärt
werden.
GRAFIK 4
Empfohlener
Leitfaden für den
Umgang mit
vom plötzlichen
Herztod betroffenen
Familien, verändert
nach (17)
GRAFIK 5
Häufigkeit und
Verteilung von
Mutationen in
Ionenkanal-Genen
bei 49 plötzlichen
Todesfällen unklarer
Ursache, verändert
nach (18)
Prävention durch molekulare Autopsie
Bei den primär elektrischen Herzerkrankungen handelt es sich um vererbbare Krankheiten mit einem autosomal dominanten Erbgang, das heißt, es besteht für
die Familienangehörigen ein 50-prozentiges Risiko,
dass sie Träger eines veränderten Gens sind. Aus diesem Grund ist die genetische Untersuchung für die betroffene Familie von größter Bedeutung, gerade im
Hinblick auf die Prävention eines weiteren plötzlichen Herztods.
Aus rechtsmedizinischer Sicht ist es daher unbedingt erforderlich, die Angehörigen in einem persönlichen Gespräch über die Ergebnisse der molekulargenetischen Untersuchung zu unterrichten.
Ein Verstoß gegen das fortwirkende Persönlichkeitsrecht beziehungsweise die auch nach dem Tode
bestehende Schweigepflicht liegt bei einem solchen
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Fall nicht vor, weil es im Interesse des Verstorbenen
ist, dass seine Nachkommen über mögliche Risiken
informiert werden. Zu beachten ist in diesem Fall allerdings das „Recht auf Unwissenheit“, dass vor Beginn der Aufklärung mit dem Betreffenden erörtert
werden muss.
Eine genetische Familienuntersuchung ist bei einem positiven Mutationsnachweis bei dem Verstorbenen und/oder typischer Anamnese und ersten klinischen Symptomen bei Familienangehörigen indiziert.
Zum einen können so potenziell bedrohte Personen erfasst werden, zum anderen kann auf diese Weise auch
das Risiko einer möglichen Erkrankung ausgeschlossen werden. Inwiefern asymptomatische Genträger
von einer prophylaktischen Therapie profitieren, erscheint derzeit unklar. Spätestens nach der Erhebung
eines auffälligen Befundes durch eine molekulargenetische Untersuchung sollte dem Angehörigen eine Beratung durch einen Humangenetiker und Kardiologen beziehungsweise Pädiater angeboten werden. Hierbei sind
mit dem Betroffenen Prognose und gegebenenfalls Therapie sowie Angaben zur Wahrscheinlichkeit eines Auftretens der Erkrankung zu besprechen. Bei der Untersuchung von klinisch gesunden Familienangehörigen sollte die genetische Beratung bereits vor der Untersuchung
angeboten werden. Dies ist besonders ratsam bei sich
spät manifestierenden, nicht oder nur teilweise behandelbaren Erkrankungen. Adressen zur Durchführung
einer molekulargenetischen Untersuchung können über
den Verfasser erfragt werden.
Fazit
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass identifizierbare kardiale Ionenkanalerkrankungen für circa ein
Drittel aller autoptisch unauffälligen, plötzlichen Todesfälle verantwortlich sind. Durch die Identifizierung der mit diesen Krankheiten assoziierten Gene
und deren Proteine ist deutlich geworden, wie wichtig
Untersuchungen von Mutationen in diesen Genen, besonders im Hinblick auf den plötzlichen Herztod sind.
Hier kommt den rechtsmedizinischen Instituten eine
bedeutende Rolle zu, da derartige Fälle fast ausschließlich dort erkannt werden und Proben für eine
weiterführende molekulargenetische Untersuchung
nur hier zur Verfügung stehen.
Molekulargenetische Postmortem-Studien an betroffenen Ionenkanalgenen (molekulare Autopsie)
in Fällen von plötzlichem Herztod stellen somit ein
wichtiges Hilfsmittel zur Aufklärung derartiger Todesfälle dar. Bei positiver Identifikation ergibt sich die Notwendigkeit zur weiteren medizinischen Untersuchung
der Familie. Im Rahmen einer genetischen Beratung
kann eine individuelle Risikoanalyse erstellt werden
und bei phänotypisch und genotypisch positiven Trägern einer Genveränderung unter Umständen eine lebensrettende prophylaktische Therapie zum Beispiel
durch die Implantation eines ICD (implantierbarer Cardioverter Defibrillator) erreicht werden. Es muss allerdings betont werden, dass für den Einsatz des ICD noch
keine randomisierte Studie vorliegt.
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Klinische Kernaussagen
> Primär elektrische Herzerkrankungen sind mögliche Ursachen für einen plötzlichen Herztod.
> Diese Erkrankungen können in der Regel nicht durch eine Autopsie erkannt werden.
> Bei vielen dieser Erkrankungen ist eine zwar aufwendige, aber im Ergebnis wichtige molekulare Diagnostik
möglich.
> Familienuntersuchungen zur Erkennung von Risikopatienten bei typischer Anamnese sind essenziell.
Interessenkonflikt
Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien
des International Committee of Medical Journal Editors besteht.
Manuskriptdaten
eingereicht: 21. 5. 2008, revidierte Fassung angenommen: 27. 8. 2008
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Anschrift für die Verfasser
Dr. rer. nat. Silke Kauferstein
Institut für Forensische Medizin
im Klinikum der J. W. Goethe-Universität
Kennedyallee 104, 60596 Frankfurt am Main
E-Mail: [email protected]
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SUMMARY
Cardiac Gene Defects Can Cause Sudden Cardiac Death in Young People
Background: In Europe, sudden cardiac death (SCD) is one of the most
common causes of death. Although sudden cardiac death usually happens in older people, 5% to 10% of the affected individuals are young
and apparently healthy. Sudden death in infants, children, and young
adults is relatively rare, with an incidence of 1 to 5 per 100 000 persons
per year. Nonetheless, up to 7000 asymptomatic children die in the USA
each year, almost half of them without any warning signs or symptoms.
Method: Selective literature review.
Results: Although structural cardiovascular abnormalities explain most
cases of sudden cardiac death in young people, the cause of death remains unexplained after autopsy in 10% to 30% of cases. Potentially
lethal ion channel disorders (channelopathies) such as the long QT syndromes (LQTS), catecholaminergic polymorphic ventricular tachycardia
(CPVT), and the Brugada syndrome (BrS) may account for at least onethird of these unexplained cases. Most of these diseases are hereditary
with autosomal-dominat transmission, i.e., there is a 50% chance that
the children of affected individuals will be affected themselves.
Conclusion: Post-mortem genetic screening for sequence variations in
cardiac ion channel genes has become an important forensic tool for
elucidating the cause of sudden cardiac death. Moreover, it allows the
identification of other family members bearing the previously undiagnosed gene defect, who can then undergo a cardiological evaluation
if indicated by their clinical history.
Dtsch Arztebl Int 2009; 106(4): 41–7
DOI: 10.3238/arztebl.2009.0041
Key words: sudden cardiac death, ion channel disorder, cardiological
diagnosis, molecular biology, family history
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MEDIZIN
ÜBERSICHTSARBEIT
Plötzlicher Herztod bei jungen
Menschen durch kardiale Gendefekte
Silke Kauferstein, Nadine Kiehne, Thomas Neumann, Heinz-Friedrich Pitschner,
Hansjürgen Bratzke
eGRAFIK 1
12-Kanal-EKG einer Patientin mit angeborenem langem QT-Syndrom. Die frequenzkorrigierte QT-Zeit beträgt 621ms
(EKG-Schreibgeschwindigkeit 50 mm/s).
⏐ Jg. 106⏐
⏐ Heft 4⏐
⏐ 23. Januar 2009
Deutsches Ärzteblatt⏐
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MEDIZIN
eGRAFIK 2
12-Kanal-EKG einer Patientin mit spontaner Demaskierung typischer, für das BrugadaSyndrom charakteristischer EKG-Veränderungen in den präkordialen Ableitungen (siehe auch
Grafik 3)
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⏐ Jg. 106⏐
⏐ Heft 4⏐
⏐ 23. Januar 2009
Deutsches Ärzteblatt⏐
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