Exekutive Funktionen und Gedächtnis

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WISSENSCHAFT
NEUROPSYCHOLOGIE
Exekutive Funktionen und
Gedächtnis
Neue Testverfahren eröffnen die Möglichkeit, dysexekutive Probleme differenzierter
zu beschreiben. Damit werden neue therapeutische Perspektiven eröffnet.
ber Störungen nach frontalen
Läsionen des Gehirns wird
schon seit vielen Jahren unter dem
Stichwort „Frontalhirnsyndrom“ geforscht und gestritten (1). An dem
Begriff Frontalhirnsyndrom ist zu
kritisieren, dass keinesfalls ein einheitliches Syndrom vorliegt (2, 3).
Diese Kritik hat mindestens seit
1991 Substanz, als Pribram (4) in
seiner zweiten Monografie eine
funktionale Dreiteilung des frontalen Kortex bekräftigte. Darüber hinaus ist der frontale Kortex deutlich
stärker als andere Teile des Gehirns
mit anderen Gehirnstrukturen verbunden. Mit Luria (5) kann jedoch
weiter festgehalten werden, dass der
frontale Teil im Vergleich zu anderen
Kortexregionen spezielle Funktionen hat, wie auch andere Regionen
mit speziellen Funktionen in Verbindung gebracht werden können. Aber
auch Luria hat immer wieder besonders auf die starken Bezüge zum
Subkortex hingewiesen.
Ü
Vorstellung von
Netzwerken im Gehirn
Heute wird stärker von der Vorstellung von Netzwerken ausgegangen, die verteilt im gesamten Gehirn dafür sorgen, dass eine Funktion geleistet werden kann. Seit
längerem hat es sich eingebürgert,
diese früher mit dem Frontalhirn
verbundenen Funktionen als exekutive Funktionen und Störungen
als dysexekutives Syndrom zu bezeichnen. Unter Exekutivfunktionen kann die Aufnahme und Auswahl von Informationen, die durch
Aufmerksamkeitsprozesse vermittelt werden, verstanden werden. Diese Informationen werden bereitgehalten und bearbeitet, indem auf
Handlungsschemata zurückgegriffen
wird und Handlungskontrollprozesse
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kontinuierlich durchgeführt werden, während sie mit Zielen beziehungsweise Unterzielen, die im
Gedächtnis repräsentiert sind, vermittelt werden.
Ob Exekutivfunktionen überhaupt eine eigene Unterkategorie
darstellen oder ob sie nicht aus dem
Zusammenwirken der funktionellen
und anatomischen Systeme entstehen, ist heute eine interessante Forschungsfrage.
Exekutive Störungen gelten als
schwierig zu diagnostizieren. Auch
heute noch imponiert das Konzept
der exekutiven Störungen durch seine Unübersichtlichkeit. Ein Grund
ist die Vielfalt der Symptome bei
dysexekutiven Störungen. Burgess
und Alderman (6) listen die 20 häufigsten dysexekutiven Probleme auf.
Hieraus folgt, dass in einer therapeutischen Perspektive eine genaue
Diagnostik der Probleme erfolgen
muss, um spezifische therapeutische
Maßnahmen einleiten zu können.
Ein Problem besteht darin, dass
viele erprobte Verfahren wie zum
Beispiel der Wisconsin Card Sorting
Test, die Link‘sche Probe oder der
Halstead Category Test – Deutsche
Version (7), die zwar sinnvolle Teilaspekte erfassen, von begrenztem
Wert sind, weil sie mit abstraktem
Material arbeiten und soziales und
praktisches Wissen nicht eingebracht
werden kann (8, 9). Hier setzen
neuere Verfahren wie der HOTAP
(„Handlungsorganisation und Tagesplanung“) (10) oder das Verfahren O-P-A („Organisation und Planung eines Ausflugs“) (11) an.
Das Testverfahren O-P-A erfasst
alltagsorientierte Planungsfähigkeiten. Der Patient hat einen Ausflug
nach Berlin zu organisieren und ist
gefordert aus einer großen Menge
von Material (14 Sehenswürdigkei-
ten, Zugfahrzeiten, Stadtplan) eine
Auswahl nach verschiedenen Vorgaben zu treffen, wie zum Beispiel
den Öffnungszeiten von Museen
oder die Absprachen mit Freunden.
Es handelt sich bei dem Verfahren
um eine komplexe Testung, bei der
räumliche, zeitliche und finanzielle
Aspekte zu integrieren sind.
Auch der HOTAP wurde so konzipiert, dass eine Alltagsnähe im
Mittelpunkt steht. Daneben sollte der
standardisierte Test gut handhabbar
sein und mit geringem Materialaufwand zeitsparend auch im klinischen
Feld angewandt werden können. Der
HOTAP besteht aus drei Untertests,
die unabhängig voneinander durchgeführt werden können.
Komplexer Test zur
Handlungsorganisation
Im ersten Untertest („Einzelhandlungen“) sind auf insgesamt 37 Fotokarten Teilschritte von acht Handlungen abgebildet (zum Beispiel
Kaffee kochen, Arzttermin vereinbaren), die eine männliche Person
durchführt. Der Patient hat die Aufgabe, die Teilschritte für jede Handlung in eine richtige Reihenfolge
zu bringen. Der zweite Untertest
(HOTAP-B „vorstrukturierter Tagesplan“) ist komplexer, hier müssen die Handlungen aus dem ersten
in einen vorstrukturierten Tagesplan eingepasst werden. Im dritten
Untertest („teilstrukturierter Tagesplan“) wird die größte Anforderung
an die Planungs- und Organisationsfähigkeit gestellt. Die bekannten
Handlungen sind um einige Szenen
ergänzt und müssen in einen genauen
Tagesplan mit Uhrzeiten eingeordnet
werden. Bei dieser Bearbeitung müssen sieben Angaben berücksichtigt
werden wie zum Beispiel, „dass
nach dem Frühstück zuerst die
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Waschmaschine befüllt werden soll“.
Für jeden Untertest werden Ausführungsqualität, Bearbeitungszeit sowie ein Gesamtpunktwert (KombiScore) ermittelt.
Die berühmte und bewährte
Wechsler Memory Scale (WMS)
(12), das klassische Diagnostikinstrument des Gedächtnisses, erlaubt
eine umfangreiche Diagnostik und ist
in diesem Jahr in der vierten Edition
erschienen. Die neue WMS enthält
sieben Untertests. Die Untertests lassen sich fünf Indizes zuordnen: auditives und visuelles Gedächtnis, visuelles Arbeitsgedächtnis, unmittelbare
sowie verzögerte Wiedergabe. Aus
der Vorgängerausführung wurden die
Untertests Logisches Gedächtnis,
Verbale Paarerkennung und Visuelle
Wiedergabe übernommen. Bei den
vier neuen Untertests handelt es sich
um Kognitives Kurzscreening, Muster Positionieren, Räumliche Ergänzung und Symbolfolgen. Das Kognitive Kurzscreening wird optional angewandt und erlaubt mit Aufgaben
im unteren Leistungsbereich eine orientierende Einschätzung der kognitiven Leistungsfähigkeit.
Beim Muster Positionieren wird
dem Patienten für zehn Sekunden
ein Raster mit vier bis acht Mustern
präsentiert. Die Muster müssen dann
aus einem Kartensatz ausgewählt
und auf dem Raster richtig platziert
werden. Der Untertest Räumliche
Ergänzung fordert das visuell-räumliche Arbeitsgedächtnis mit einer visuellen Additionsleistung. Bei jeder
Aufgabe werden jeweils hintereinander zwei Rasterbilder mit blauen und
roten Kreisen gezeigt. Bei seiner
Aufgabenbearbeitung wird der Patient gebeten, Regeln zu beachten,
wie „zwei blaue Kreise werden ein
weißer“ und „rote Kreise bleiben unberücksichtigt“. Im Untertest Symbolfolgen wird das sequenzielle visuelle Arbeitsgedächtnis mit abstrakten unbekannten Symbolen erfasst.
Die WMS-IV verfügt über zwei
Versionen, eine für 16- bis 69-Jährige sowie eine für 69- bis 90-Jährige.
Exekutive Funktionen
ganzheitlich erfassen
Mit der Wechsler Memory Scale
wurden Beziehungen des HOTAP zu
Gedächtnisaspekten ermittelt. Beim
HOTAP-A wurden vor allem Zusammenhänge zwischen den Zeiten
und den Kombi-Scores und dem
verbalen und visuellen Arbeitsgedächtnis, der unmittelbaren visuellen
Behaltensleistung sowie dem kurzund längerfristigen Textgedächtnis
festgestellt. Gute Gedächtnisleistungen stehen mit einer schnellen Aufstellung der Kartenreihenfolge in
Verbindung, was auf einen schnellen Rückgriff auf Handlungsschemata begründet sein könnte. Bei
HOTAP-B zeigen sich überraschenderweise die höchsten Wechselbeziehungen zum visuellen Kurzzeitgedächtnis. Im HOTAP-C können deutlich weniger bedeutsame Korrelationen zum Gedächtnis erkannt werden.
Zusammenfassend zeigte sich eine
systematische Beziehung zu anderen
Exekutivtests, während sich die Korrelationen zu anderen Funktionsbereichen (Gedächtnis, Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit und
Aufmerksamkeit, Visuoperzeption
und -konstruktion, intellektuelles
Leistungsniveau) auf mittlerem Niveau bewegten, woraus zu schließen
ist, dass nicht identische Funktionsbereiche abgebildet werden. Wie
beim Verfahren O-P-A werden nicht
nur einzelne Facetten der exekutiven
Funktionen, sondern die exekutiven
Funktionen ganzheitlich erfasst, was
netzwerktheoretisch begründet werden kann.
Neue Testverfahren eröffnen die
Möglichkeit, dysexekutive Probleme differenzierter zu beschreiben.
Damit werden neue therapeutische
▄
Perspektiven eröffnet.
Joachim Koch
@
Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/pp/lit1112
REFERIERT
THERAPIETREUE
Teilnahme nur begrenzt beeinflussbar
Patienten, die nicht zu Therapiesitzungen erscheinen, eine Therapie verweigern oder sie
frühzeitig abbrechen, können nicht effizient
behandelt werden. Mittlerweile gibt es jedoch
zahlreiche Ansätze, um Patienten für eine Therapie zu motivieren und sie darin zu halten.
Britische Psychologen um Mary Oldham von
der University of Sheffield (GB) haben eine
Metaanalyse durchgeführt, um herauszufinden, wie wirksam diese Ansätze sind. In ihre
Untersuchung gingen 31 Studien mit insgesamt 4 422 Teilnehmern ein. Als besonders
wirksame Maßnahme erwies es sich, den Patienten freie Wahl hinsichtlich des Zeitpunkts
der Therapiesitzungen und des Therapeuten
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zu lassen, denn dadurch erhielten sie das Gefühl der Kontrolle und Freiwilligkeit, und ihre
innere Motivation zur Therapie wurde gestärkt.
Weitere Interventionen, die sich ebenfalls eigneten, um die Therapieteilnahme zu fördern,
waren Information und Vorbereitung auf eine
Therapie, Erinnerungsanrufe, -briefe oder
-E-Mails, konkrete Hilfen (zum Beispiel Anfahrt
zur Therapie erleichtern, Kinderbetreuung
während der Therapie organisieren) sowie
motivierende Gesprächsführung. Allerdings
waren diese Maßnahmen insgesamt weniger
effektiv und außerdem wesentlich aufwendiger als die freie Wahl von Zeitpunkt und Therapeut. Im Hinblick auf die Kosten empfehlen
die Autoren daher, die Patienten zunächst mit
einfachen und preiswerten Methoden zur Therapie zu motivieren und erst im nächsten
Schritt zu aufwendigen Methoden überzugehen. Ob ein therapeutisches Angebot angenommen wird oder nicht, hing im Übrigen
auch von der Diagnose ab. Patienten mit nur
einer Diagnose erschienen zuverlässiger zu
Therapiesitzungen als Patienten mit mehreren
Diagnosen. Obwohl die Wirksamkeit aller
Maßnahmen insgesamt als mäßig einzustufen
ist, sind die Autoren überzeugt: „Mit bestimmten Interventionen können viele Patienten zur
Therapietreue angeregt werden.“
ms
Oldham M, Kellett S, Miles E, Sheeran P: Interventions to
increase attendance at psychotherapy. Journal of Consulting and Clinical Psychology, online first publication,
13.08.2012, doi: 10.1037/a0029630.
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LITERATURVERZEICHNIS PP HEFT 11/2012, ZU:
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Exekutive Funktionen und
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Neue Testverfahren eröffnen die Möglichkeit, dysexekutive Probleme differenzierter
zu beschreiben. Damit werden neue therapeutische Perspektiven eröffnet.
LITERATUR
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2. Sattler W: Funktionen frontaler Strukturen.
In: Lehrner J, Pusswald G, Fertl E, Strubreither W, Kryspin-Exner L (Hrsg.): Klinische Neuropsychologie. Springer Verlag
2011.
3. Czak S, Grafe St, Heubrock D, Kranz G,
Palkies P: Das Frontalhirnsyndrom in Bedrohungs- und Geisellagen. Manual für
den Umgang mit „kopflosen“ Tätern. Verlag für Polizeiwissenschaft 2009.
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Lawrence Erlbaum Associates 1991.
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Verlag 1992.
6. Burgess PW, Alderman N (Hrsg.): Executive Dysfunction. In: Goldstein LH, McNeil
JE: Clinical Neuropsychology. Wiley-Blackwell 2013: 209–37.
7. Fast K, Engel RR: Halstead Category Test
– Deutsche Version (HCT–D). Hogrefe Verlag 2007.
3
8. Schelling D, Drechsler R, Heinemann D,
Sturm W (Hrsg.): Handbuch neuropsychologischer Testverfahren. Band 1: Aufmerksamkeit, Gedächtnis, exekutive Funktionen. Hogrefe Verlag 2009.
9. Müller SV, George S, Hildebrandt H, Münte,
TF, Reuter P, Schoof-Tams K, Wallesch
C-W: Leitlinie zur Diagnostik und Therapie
von exekutiven Dysfunktionen. Zeitschrift
für Neuropsychologie 2010, 21: 167–76.
10. Menzel-Begemann A: HOTAP („Handlungsorganisation und Tagesplanung“)
Testverfahren zur Erfassung der Planungsfähigkeit im Alltag. Hogrefe Verlag
2010a.
11. Menzel-Begemann A: O-P-A. Organisation
und Planung eines Ausflugs. Testverfahren
zur Erfassung des kognitiven Aspektes
von Exekutivfunktionen. Hogrefe Verlag
2010b.
12. Petermann F, Lepach AC: Wechsler Memory Scale – Fourth Edition. Deutsche
Übersetzung und Adaption der WMS – IV
von David Wechsler. Pearson Assessment
2012.
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