Eßstörungen - MEDIAN Kliniken

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Unternehmensgruppe Dr. Marx
Schriften zur Rehabilitation
4 Eßstörungen
Symposium der MEDIAN Klinik Berggießhübel vom 28. März 1998
2
3
„Schloß Friedrichsthal“ - Stationäre Behandlungseinrichtung
für psychosomatische und psychische Erkrankungen unter
besonderer Berücksichtigung schwerer Formen von Eßstörungen
5
Magersucht, Bulimie und Eßsucht
und ihre Behandlung im Schloß Friedrichsthal
Dr. R. Höll
7
Beiträge des Symposiums vom 28. März 1998:
Die Autoren
Impressum
Herausgeber:
Unternehmensgruppe Dr. Marx
Klinik-Beratungs-KG
KBG-Verwaltungs-GmbH & Co.
Carmerstraße 6
10623 Berlin
Telefon 030/311 01-0
Redaktion:
U. Reichhold
Betrachtungen über Gesundheit, Krankheit und Kranke
Auszug aus dem Festvortrag von Prof. Dr. E. Lungershausen
Ambulante Therapie bei Anorexia und Bulimia nervosa
I. v. Witzleben
Ess-Störungen aus der Sicht des niedergelassenen Arztes
Dr. H. H. Ehrat/Schweiz 21
23
33
53
Stationäre Behandlungskonzepte bei Eßstörungen
Dr. F. Bleichner
63
Typographie:
druckvorlagenservice mayer, Berlin
Die Rehabilitationskliniken der Unternehmensgruppe Dr. Marx
75
Druck:
Kästner Druck, Berlin
Literaturhinweis: In dieser Reihe bisher erschienen
79
Gestaltung:
weberstedt gmbh,
visuelle kommunikation, Berlin
Heft 4, November 1998
ISSN 1432-945X
Die Vervielfältigung und Verbreitung dieser Druckschrift – auch von Teilen oder Abbildungen –
bedürfen der schriftlichen Genehmigung des Herausgebers.
4
5
„Schloß Friedrichsthal“ –
Stationäre Behandlungseinrichtung für
­psychosomatische und psychische Erkran­
kungen unter besonderer Berücksichtigung
schwerer Formen von Eßstörungen
maximal 32 Patienten behandelt werden, wobei jeweils ein Therapeut für 6–8
Patienten zur Verfügung steht.
Mit einer wissenschaftlichen Tagung
zum Thema Eßstörungen wurde am
Samstag, den 28. März 1998, das historische „Schloß Friedrichsthal“ in Berggießhübel als stationäre Behandlungsstätte für Patienten mit Eßstörungen
eröffnet.
„Schloß Friedrichsthal“ ist eine Lehrund Modelleinrichtung der MEDIAN Klinik Berggießhübel, Rehabilitationsklinik
für Orthopädie und Psychosomatik, und
in dieser Form in Deutschland zur Zeit
einzigartig. Träger ist die MEDIAN Kliniken GmbH und Co. KG, eine Gesellschaft
der Unternehmensgruppe Dr. Marx.
Das Schloß bietet den Rahmen für eine
therapeutische Gemeinschaft, in der
Die Kosten für die Behandlung in dieser
Rehabilitationseinrichtung tragen die
Krankenkassen, die Beihilfe, private Kostenträger, zunehmend auch die Patienten selbst.
6
7
Magersucht, Bulimie und Eßsucht
und ihre Behandlung im Schloß Friedrichsthal
R. Höll
Das malerisch gelegene Gebäude feiert in
diesem Jahr sein 50jähriges Jubiläum als
Heilstätte des traditionellen Kneippkurbades Berggießhübel. Es wurde für rund
10 Mill. Mark liebevoll restauriert und
modernisiert und bietet Patienten und
Gästen mit einer Kombination aus Alt
und Neu ein wundervolles Ambiente.
In den letzten Jahrzehnten beobachten
Mediziner und Psychologen einen
zunehmenden Anstieg von Eßstörungen.
Besonders erschreckend ist die Zunahme
bei der Anorexia nervosa (PubertätsMagersucht, Magersucht) und der Bulimie (süchtiges Eß-Brech-Verhalten,
„Ochsenhunger“).
Die dritte ausgeprägte Störung ist
das süchtige Eßverhalten, daß zu immer
höherem Körpergewicht führt.
Schloß Friedrichsthal
Eine Einrichtung der
MEDIAN Klinik Berggießhübel
Gersdorfer Straße 5
D-01819 Kurort Berggießhübel
Tel. 035023/65 874, 65 871
Dieser Artikel versucht, Ihnen auf folgende Fragen Antwort zu geben:
Was verbirgt sich hinter diesen
Krankheiten?
Woher kommen sie?
Was kann man dagegen tun?
Beginnen wir zunächst mit der
Magersucht.
Chefarzt: Dr. med. Rüdiger Höll
Facharzt für Neurologie und Psychiatrie
Facharzt für psychotherapeutische
Medizin
Telefon 035023/65 760
Telefax 035023/65 777
Etwa 95 % der Magersüchtigen sind
Frauen. Wenn wir früher angenommen
hatten, daß diese Krankheit in der Regel
um die Pubertät herum begonnen hatte
und in höherem Lebensjahr seltener war,
hat es sich in der Zwischenzeit heraus-
kristallisiert, daß es auch im höheren
Erwachsenenalter einen Häufigkeitsgipfel gibt. Die Anorexia nervosa ist eine
seelische Störung mit erheblichen körperlichen Folgen.
Magersucht – wie Bulimie– kommt in
Zivilisationen mit Überfluß an Grundnahrungsmitteln häufiger vor.
Des weiteren prägt unser gesellschaftliches Schönheitsideal unser Empfinden („Barbie“). Um schlanker zu werden wird gehungert, gefastet. Es werden
Kalorien gezählt. Die Gedanken kreisen
häufig nur noch um das Essen, gelegentlich treten „Freßanfälle“ auf. Die Essenportionen werden verkleinert, einzelne
Mahlzeiten ausgelassen, beim Essen
werden „Schwarz-Weiß-Listen“ gebildet
(Mahlzeiten, die gegessen werden dürfen, bzw. die innerlich ganz verboten
sind). Häufig wird sportliches Training,
das in seiner Intensität schon bald
­ex­treme Ausmaße annimmt, dazugenommen. Dies soll unbewußt zusätzlich
dafür sorgen, daß sich das Gewicht
reduziert. Häufig werden von den
Betroffenen in diesem Stadium Ausflüchte kundgetan: „Ich habe schon
gegessen“, „ich habe gekocht und dabei
viel genascht“ usw.
Selbst die Magersucht im fortge-
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schrittenen Stadium wird häufig noch
verleugnet. Es ist eine heimliche Krankheit. Die Betroffenen wollen nicht wahrhaben, daß sie abgemagert sind. Sie
er­leben durch eine Körperschemastörung ihren Körper auch anders als
Gesunde. Es tritt nie eine Zufriedenheit
ein mit dem erreichten Gewicht, es ist
eine Jagd, eine Spirale ohne Ende.
Die Betroffenen können sehr gut
andere Menschen einschätzen, sie sich
selbst jedoch nicht. Obwohl Magersüchtige Eß-Expertinnen sind, schätzen
manche Patientinnen ihren Tageskalorienbedarf, den sie brauchen um zuzunehmen, auf 200 Kcal.
So gesellt sich bei den intelligenten
Patientinnen zum rationalen Denken das
magische Denken hinzu. Alle Magersüchtigen haben panische Angst vor
dem Zunehmen. Vor Therapien wird aus
diesem Grund auch zurückgescheut. Für
die Eßgesunden ist die „private Hölle“
der Erkrankten kaum vorstellbar. Für
etwas Normales und Alltägliches wie
Essen und Trinken ist die Kontrolle nicht
mehr verfügbar, ein naiver, genußvoller
Umgang erst einmal verloren.
Worauf sollten Eltern, Freunde,
Partner achten?
Seltsames Verhalten im Umgang mit Es­­
sen, Ausflüchte, Isolation, weite Kleider
können Beispiele von Alarmzeichen sein.
R. Höll
Unsere Erfahrungen zeigen, daß es
wichtig ist, Beobachtungen anzusprechen und einen ehrlichen Umgang zu
suchen.
Bei Verdacht sollte in jedem Fall eine
Beratung erfolgen.
Bulimie – das süchtige Eß-BrechVerhalten
Für die Entstehung dieser Erkrankung
spielen Diäten, Schönsein, Schlanksein,
Fitsein eine große Rolle. Bemühen sich
Magersüchtige, das quälende Hungergefühl und ihren Körper zu beherrschen
und schaffen dies auch, treten die EßBrech-Süchtigen in einen Kreislauf zwischen unbeherrschbarem Drang zum
übermäßigen Essen („Freßattacken“)
und Fasten. Die Angst vor dem Dickwerden zwingt die Betroffenen schnell dazu,
die aufgenommene Nahrung so schnell
wie möglich wieder loszuwerden. Der
einfachste Weg scheint hier für viele der
Weg über das Erbrechen zu sein. Wird
am Anfang häufig der Finger zu Hilfe
genommen, erfolgt das Erbrechen später
„wie von selbst“. Zum Teil wird insbesondere auch das Entspannungs- und fast
euphorische Gefühl nach dem gelungenen Brechakt immer wieder „gesucht“.
Die Freiwilligkeit geht schnell verloren.
Das Erbrechen ist entwicklungsgeschichtlich ein sehr wichtiger Vorgang:
Verdorbenes, Giftiges und „Unverdauli-
Magersucht, Bulimie und Eßsucht
ches“ können wir schnell wieder loswerden. Für „erfolgreiches Erbrechen“ gibt
es im Körper Selbstbelohnungssysteme,
die die Sucht verstärken.
Woran kann man Bulimie erkennen?
Häufig anfallsartiger Heißhunger.
Große Mengen Nahrungsmittel werden
z. T. wahllos verschlungen. Absoluter
Kontrollverlust kann möglich sein bei
der Nahrungsaufnahme. Nicht der Hunger, sondern die Sucht nach Nahrung
wird zum Auslöser. Widersprüchliches
Eßverhalten ist zu beobachten. Häufig
finden sich auch Schuldgefühle, Verleugnung und Angst.
Anders als bei der Magersucht besteht
bei der Bulimie häufig ein starker innerer Leidensdruck. Die Betroffenen wissen
häufig, daß sie eine schwere Eßstörung
haben, jedoch den fatalen Teufelskreis
zwischen „Freßanfall“ und Erbrechen
nicht selbständig sprengen können. Zum
anderen können auch finanzielle Probleme durch die enormen Ausgaben für
Lebensmittel eintreten.
Die dritte Gruppe stellen die Menschen
dar, die süchtig nach dem Essen geworden sind, ohne zu brechen.
Die einen rechnen diese Form zum
Teil der Bulimie zu. Andere Mediziner
und Psychologen sehen das süchtige
Eßverhalten häufig im Rahmen einer
zugrundeliegenden Depression. Manchmal ist die Nahrung, die „Freßattacke“
9
der Ersatz für mangelnde Zuwendung.
Es kann sich hier das Vollbild einer Suchterkrankung ergeben mit den entsprechenden gesundheitlichen seelischen
und körperlichen Folgen: Herz- und
Kreislauf-Erkrankungen, Stoffwechselund Gelenkserkrankungen, erhöhter
Blutdruck und Blutzucker usw.
Was sollte getan werden, wenn der
Verdacht einer Eßstörung besteht?
1. Mit dem Betroffenen ein offenes
Gespräch führen.
Auffälligkeiten ansprechen.
Die Erkrankungen sind „heimliche
Suchterkrankungen“, sie werden verleugnet.
Hier kann es eine Hilfe sein, wenn
vom Umfeld (Familie, Partner, Freunde) Rückmeldungen kommen.
2. Ein Beratungs- bzw. diagnostisches
Gespräch.
Aufsuchen einer Beratungsstelle, die
Erfahrung hat mit Eßstörungen und
mit Möglichkeiten der Therapievermittlung.
3. Kontaktaufnahme zu einer Selbst­
hilfegruppe.
Es ist sicherlich der leichteste Einstieg. Die Betroffenen haben die
Möglichkeit, mit Menschen zu sprechen, die viel Erfahrung haben mit
dem gleichen Problem. Es werden
10
auch therapeutische Empfehlungen
über die Selbsthilfegruppen
vermittelt und realisiert.
Geeignet für die Kontaktaufnahme
sind z. B. die Dachverbände der folgenden
Selbsthilfeorganisationen
(kleine und subjektive Auswahl):
ANAD e.V., Kiss e.V., Cinderella e.V.
4. Konsultation des niedergelassenen
Arztes bzw. Facharztes:
Hier sollten ergänzende Untersuchungen veranlaßt werden.
Die therapeutischen Weichen sollten
gestellt werden.
5. Aufsuchen der Krankenkasse zur
Beratung und ggf. der Therapieeinleitung.
Wir wissen aus der Prognose-Forschung,
je früher Eßstörungen behandelt werden, um so bessere Ergebnisse (Erfolgswahrscheinlichkeiten für eine Heilung)
werden erzielt.
Je ernsthafter die Erst- (und evtl.
Zweit-) Therapie ist, um so besser ist das
Ergebnis.
Bei der Durchführung von ambulanten Therapien bei niedergelassenen ärztlichen Psychotherapeuten bzw. niedergelassenen Psychologen sollte man sich
vergewissern, daß Erfahrungen bei der
Behandlung von Eßstörungen vorliegen.
Je nach Notwendigkeit erfolgt eine stationäre Behandlung.
R. Höll
Im folgenden möchten wir Ihnen hier
eine Lehr- und Modelleinrichtung zur
Behandlung von Eßstörungen vorstellen.
Das Schwergewicht wird auf die
Be­handlung von Anorexie, Bulimie und
süchtigem Eßverhalten gelegt.
Die Therapiedauer beträgt im Durchschnitt 12 Wochen (wird individuell
vereinbart und kann ggf. auch als Intervall-Therapie durchgeführt werden).
Das Therapieprinzip folgt dem humanistischen Entwicklungsideal unter
Zuhilfenahme von analytischen, verhaltenstherapeutischen und körperpsychotherapeutischen Ansätzen.
Damit es nicht zu theoretisch wird,
schildern wir einfach einmal den Tagesablauf für eine Patientin mit Magersucht
oder Bulimie oder süchtigem Eßverhalten:
Von 7.00–8.00 Uhr ist von Montag bis
Freitag die gemeinsame Meditation oder
Entspannung am Tagesbeginn.
Zum einen suchen wir hier Entspannung, Ausgleich, innere Ruhe zum anderen in der bewegungsintensiven Form
einen gefühlvolleren Zugang zu unserem
Körper.
Die Mahlzeiten sind Bestandteil der
Therapie. Um 8.00, 12.00 Uhr und 18.00
Uhr werden die Hauptmahlzeiten
ge­meinsam mit der diensthabenden
Schwester oder dem diensthabenden
Magersucht, Bulimie und Eßsucht
Therapeuten eingenommen. Diese sind
allerdings mehr teilnehmende Beobachter, als kontrollierende.
Weiter beginnt für unsere MusterPatientin um 9.30 Uhr Kunsttherapie.
Sie ist ein wichtiger Bestandteil der
Ge­samttherapie und ist mit 2 x 2 Stunden in der Woche vertreten.
Von 13.00–15.00 Uhr findet Gruppentherapie als Gesprächsrunde statt.
Daneben gibt es eine Körperwahrnehmungsgruppe (Sport- und Körpertherapie) mit 3 x 1 Stunde pro Woche.
Von 15.OO–16.00 Uhr schließt sich
an diesem Tag die Visite an.
Ab 16.00 Uhr hat diese Patientin
Rückenschule.
Um 18.00 Uhr endet der Therapietag
mit dem gemeinsamen Abendessen.
Von 6.00–22.00 Uhr ist die Haustür
offen.
Zusätzlich gehen die Patienten (wenn
nicht orthopädische oder allergische
Gründe dagegensprechen) 1 x in der
Woche 2 Stunden zum Reiten. Im Winter
(Dezember bis Anfang März) findet alternativ Schwimmen in der Halle statt.
Zu den Gruppenaktivitäten kommen
Einzelgespräche hinzu.
Der Samstag ist Therapietag. Neben
den Mahlzeiten ist morgens die Möglichkeit gegeben, am Yoga teilzunehmen.
Durch die o. g. Therapiezeiten ist ein
recht dichter Tagesplan (und auch ein
anstrengender) gegeben. Es bleibt aber
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auch genügend Raum noch zum Führen
der therapeutischen Tagebücher, zum
Nachdenken, zum Entspannen und zum
Umsetzen.
Aus Gründen der Realitätskontrolle führen wir Therapien häufiger auch als
Intervall-Therapien durch. Diese sind
realitätsnäher als die früher häufig
gebräuchlichen Langzeittherapien.
Steckbrief der kleinen Lehr- und
Modelleinrichtung:
– ­Abteilung II der MEDIAN Klinik Berggießhübel, Fachklinik für Eßstörungen.
– ­32 Behandlungsplätze.
– ­In der Regel werden Jugendliche, junge
Erwachsene (auch Männer!) beim Vorliegen einer Eßstörung oder bei der
Verdachtsdiagnose „Eß­störung“ bei
uns aufgenommen.
– ­Jüngere Patienten werden im Einzelfall nach einem Vorgespräch und in
Absprache mit den Erziehungsberechtigten aufgenommen.
– ­Hier ist klar darauf hinzuweisen, daß
es sich um eine offene Einrichtung
handelt.
– ­Humanistisches Entwicklungsmodell.
– ­Phasenmodell (anstelle eines Stufenplanes). Belohnung statt Bestrafung.
– ­Positiver Ansatz zum Gewicht.
– ­Individuelle Therapieverläufe, individuelle Betreuung:
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R. Höll
– ­Jeder Bezugstherapeut/jede Be­zugs­
therapeutin betreut 6–8 Patienten.
– ­Externe Team-Supervision durch Prof.
Dr. P. Joraschky, TU Dresden.
– ­Wissenschaftliche Zusammenarbeit
mit dem Lehrstuhl Psychosomatik,
Herrn Prof. Dr. Joraschky, mit der BfA,
mit Herrn Prof. Margraf, Lehrstuhl für
Klinische Psychologie Dresden/Basel
und mit Frau Prof. Ungerer-Röhricht,
Institut für Sportwissenschaften der
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
MEDIAN Klinik Berggießhübel,
Tel. 035023/65 874 oder 65 871.
Auskunft: Frau de Coster
Magersucht, Bulimie und Eßsucht
Vorsicht bei:
– Starkem Untergewicht!
- Starken Gewichtsschwankungen.
- Stärkerer Traurigkeit (Depressivität).
Literatur:
JONAS: „Signale der Urzeit“
MARGRAF: Lehrbuch der Verhaltens­
therapie, Bd. 1 + 2
- Resignation.
Holen Sie sich in diesen Fällen rasch Informationen ein.
Häufige Irrtümer
Bedeutende Faktoren in der Entstehung:
„Ich breche ja gar nicht, deshalb kann ich keine Bulimie haben.“
- Soziokulturell vorgegebenes Schlankheitsideal
Es gibt Verlaufsformen ohne Erbrechen.
Des weiteren gibt es die Sport-Bulimie.
Hier werden die Kalorien über exzessiven Sport vernichtet.
Der Sport, der sonst eine sehr positive Quelle, eine lustvolle Be(s)tätigung
ist, wird hier zum Mittel, zum Sucht-Zweck und unfrei.
- Bedingungen in der Familie
„Ich breche, also habe ich gar keine Magersucht.“
- Biologische Faktoren
Es gibt bei der Magersucht 2 Verläufe:
– nur Askese (also hungern) oder
– bulimische Verlaufsform (also mit Erbrechen).
- Psychologische Faktoren
„Ich habe freiwillig begonnen und kann jederzeit wieder aufhören.“
Dies ist ein Trugschluß.
„Ich schäme mich so, deshalb kann ich mit keinem reden.“
„Ich kenne welche, die wiegen noch viel weniger.
Die sind krank, nicht ich.“
„Mich versteht sowieso keiner.“
13
R. Höll
R. Höll
- Lernerfahrungen
- Individuelle Faktoren
Nach J. Margraf
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R. Höll
Magersucht, Bulimie und Eßsucht
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Therapieablauf Abt. Psychosomatik II
Wochenplan
(z. B. Gruppe I)
Uhrzeit
Montag
Dienstag
Mittwoch
Donnerstag
Freitag
7.00–8.00
Entspannung
od. Meditation
Entspannung
od. Meditation
Entspannung
od. Meditation
Entspannung
od. Meditation
Entspannung
od. Meditation
8.00–9.00
Frühstück
Frühstück
Frühstück Frühstück
Frühstück
Frühstück
ab 9.00
9.30 –11.30
9.00 –12.00
9.30–11.30
9.30 –11.30
10.30 –11.30
Gruppen-
Reiten
psycho-
(Erlebnis-
therapie
und Körper-
mind. 100 Min.
wahrnehmung)
12.00–13.00 Mittagessen
Mittagessen
Kundalini-
Yoga
Mittagessen
Plenum
Mittagessen
Mittagessen
Mittagessen
Mittagessen
14.00 –15.00
Abendessen
Abendessen
13.00–15.00
15.00–16.00
Visite
(Stationsarzt)
Visite
(ChA/OA)
Kunsttherapie
Kunsttherapie
Sport- und
(Vorträge)
Bewegungs-
therapie 60 Min.
Sport- und
Bewegungstherapie 60 Min.
Abendessen
Abendessen
06.30 Uhr Wecken (Eigenverantwortung)
22.00 Uhr Zimmer aufsuchen
22.30 Uhr Nachtruhe
Abendessen
Frühstück
Gruppen-
psycho-
therapie
mind. 100 Min.
13.00 –15.00
ab 16.00
18.00–19.00
Sonntag
Gruppen-
psycho-
therapie
mind. 100 Min.
ab 13.00
Samstag
Abendessen
Sport- und
Bewegungstherapie
60 Min.
Abendessen
Ergänzungen: Küchendienst, incl. Brötchen holen
1 Stunde Gartenarbeit (außer Winter)
2 x Einzelgespräche/Woche (25–30 Min.)
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R. Höll
Therapie- und Hausordnung
1. Betreuung:
• Schwestern:
• Arzt- bzw. Psychologe:
• Internistin:
• Diätassistentin:
Rund um die Uhr
Von 6.30–21.30 Uhr
danach Therapeut vom Dienst
nach individuellem Bedarf und Vereinbarung
Untersuchung am 2. Tag nach der Aufnahme
und nach Verordnung
Nach Vereinbarung
2. Feste Therapiezeiten (lt. Wochenplan):
• Gruppenpsychotherapie: 4 x wöchentlich:
davon 3 x 100 Minuten gesprächspsychotherapeutisch /
verhaltenstherapeutisch / analytisch/körpertherapeutisch, davon 1 Vormittag in der Woche Reiten im
benachbarten Ort
• Einzelpsychotherapie:
Nach Vereinbarung und Bedarf,
durchschnittlich 2 x wöchentlich
• Kunst - und
Gestaltungstherapie:
2 x wöchentlich 100 Minuten
• Sporttherapie:
3 x wöchentlich 60 Minuten
• morgendliche Meditation
oder Entspannung:
Montag–Freitag 7.00–8.00 Uhr
• Yoga:
1 x wöchentlich 60 Minuten, Samstag 10.30 Uhr
• Visiten:
Stationsarztvisite: Dienstag 15.00–16.00 Uhr
Chefarztvisite: Donnerstag 15.00–16.30 Uhr
• Plenum:
Treffen aller Patienten und Mitarbeiter zum Ansprechen aktueller Probleme und/oder Wünsche,
Mittwoch 12.30–13.00 Uhr
• Wiegen und
Blutdruckmessen:
2 x wöchentlich bzw. individuell täglich
Mahlzeiten: Die Essenszeiten richten sich nach folgendem Plan:
Frühstück
18.00 Uhr
Mittagessen
12.00 Uhr
Abendessen
18.00 Uhr
Magersucht, Bulimie und Eßsucht
Die Patienten sitzen noch 30 Minuten zusammen, nachdem der letzte Patient
amTisch Platz genommen hat.
3. Wichtige Punkte im Zusammenleben
1. Bei eßgestörten Patienten wird das Wiegen, der Essens- und Gewichtsplan individuell festgelegt bzw. ergänzt.
Mit allen Patienten wird zu Beginn der Behandlung bzw. im Vorgespräch ein individueller Behandlungplan festgelegt.
Bei Patienten mit Anorexie bzw. Bulimie mit kritischem Gewicht kommt ein Phasenprogramm zum Einsatz. Was bedeutet das nun im einzelnen:
Gemeinsam wird zu Therapiebeginn bei Patienten, die an Gewicht zunehmen sollten,
eine zu erreichende Gewichtszunahme pro Woche vereinbart. Bei Nichterreichen
oder bei Gewichtsabnahme kommt der/die Betreffende in eine andere Therapie­
phase, in ein sogenanntes Fremdkontrollprogramm. Das heißt, daß das therapeutische Personal unterstützend wirksam wird bei dem Einnehmen der Mahlzeiten, daß
kalorienverbrauchende Aktivitäten wie Sport, freies Bewegen im Gelände, Teilnahme
an Freizeitaktivitäten außerhalb des Hauses, Schwimmen, Sauna und vieles mehr
eingeschränkt bzw. unmöglich werden oder das Zimmer nur noch zum Essen und zur
Therapie verlassen werden darf.
Die einzelnen Staffelungen dienen als Schutz und werden jeweils individuell und
gewichtsabhängig festgelegt. Bei entsprechender Gewichtszunahme werden natürlich alle Einschränkungen Schritt für Schritt gelockert, bis es wieder möglich ist, den
Patienten die Selbstverantwortung für ihr Gewicht zurückzugeben. Dies ist u.a. ein
Ziel im Mittelpunkt unserer Behandlung und soll mit Hilfe von Psychotherapie
unter­schiedlicher Ausrichtung (körperorientiert, verhaltenstherapeutisch, analytisch,
gesprächsttherapeutisch) sowie dem täglichen Auseinandersetzen im gemeinsamen
Leben hier allmählich erreicht werden.
In Absprache mit den Therapeuten werden regelmäßig Essenstagebücher geführt,
die entweder mit unserer Diätassistentin und/oder den Therapeuten ausgewertet
werden.
2. Die vorzeitige Entlassung aus unserer Klinik kann erfolgen, wenn die Therapieordnung mißachtet wird, oder auch auf Veranlassung des jeweiligen Patienten, falls es
sein Gesundheitszustand erlaubt.
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R. Höll
3. Das Zusammenleben der Patienten mit den Therapeuten vollzieht sich in Form der
therapeutischen Gemeinschaft, dessen Grundlagen Dialog, Offenheit und Ehrlichkeit
sind. Falls etwas noch nicht gesagt werden kann, besteht die Möglichkeit, sich
schriftlich in unserem „Kummerbriefkasten“ bemerkbar zu machen.
4. Die Patienten wählen regelmäßig einen Patientensprecher. Dieser vertritt die
­Patienten und stellt besonders im Mittwoch-Plenum die Verbindung zum therapeutischen Team her.
5. Täglich übernehmen zwei Patienten die Aufgabe des Küchendienstes, der die Vorbereitung des Essens organisiert, Frühstück und Abendbrot zubereitet, das Essen für
den nächsten Tag plant und an die Schwester weiterleitet. Zum Frühstück werden
Brötchen aus dem Haupthaus geholt.
6. Falls die Patienten das Klinikgelände verlassen, schreiben sie dies in das An- und
Abmeldebuch ein.
Die Patienten werden auch gebeten, die Besuche zu melden. Besucher verlassen
­spätestens 20.00 Uhr das Haus.
Familien- und Partnergespräche können durch die Patienten beantragt werden oder
durch den Therapeuten vorgeschlagen werden.
Nach Möglichlichkeit sollte mindestens ein Familiengespräch (diagnostisch) stattfinden.
7. Um 22.00 Uhr wird das Haus geschlossen, um 22.30 Uhr beginnt die Bettruhe.
8. In den Klinikräumen und in den Zimmern ist das Rauchen und das Trinken von
Alkohol untersagt. Das Aufbewahren von Lebensmitteln und dessen Verzehr ist in
den Patientenzimmern untersagt.
Außerdem ist der Kauf von Medikamenten (z.B. Abführmittel) nicht gestattet.
9. Fernseher, Handys, eigene Personenwaagen sind in den Patientenzimmern nicht
gestattet. Wir haben einen eigenen Fernsehraum, das Nutzen von eigenen Radios
und Kassettenrecordern ist in Zimmerlautstärke gestattet.
Weitere Hinweise (z. B. Sozialdienst, Freizeitgestaltung etc.) entnehmen Sie bitte
dem Patientenwegweiser.
Magersucht, Bulimie und Eßsucht
4. Allgemeines
Im Mittelpunkt der Behandlung steht die flexible, adäquate und individuelle Steuerung nicht nur des eigenen Gewichtes, sondern auch das mehr oder weniger Zulassen von Gefühlen, der zwischenmenschlichen Nähe. Genauso wichtig ist der Mut zu
eigener Abgrenzung und Selbstbehauptung.
Das Zulassen von körperlichen Empfindungen, von Hunger oder von Triebregungen
ist ebenso wichtig wie die eigenverantwortliche Mitteilung und Steuerung von
­Themen, Träumen oder zwischenmenschlichen Situationen, die in der Einzel- und
Gruppentherapie besprochen werden sollten.
Wenn unsere Patienten offen und ehrlich sowohl zu ihren Mitpatienten als auch zu
ihrem Therapeuten werden, helfen sie dadurch nicht nur sich selbst, sondern auch
den anderen. Der Behandlungserfolg ist die Folge dieses Mutes, der Arbeit an sich
selbst.
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20
21
Die Autoren
Bleichner, F., Dr. med.
Ärztlicher Direktor
Psychosomatische Klinik, Salzburger Leite, 97616 Bad Neustadt
Ehrat, H. H., Dr. med.
Arzt für Allgemeine Medizin FMH
Wildenstr. 5, CH-8212 Neuhausen am Rheinfall, Schweiz
Höll, R., Dr. med.
Chefarzt der Psychosomatischen Abteilung
MEDIAN Klinik Berggießhübel, Gersdorfer Straße 5, 01819 Berggießhübel
Lungershausen, E., Prof. Dr.
Ehemaliger Direktor der Psychiatrischen Klinik und
Poliklinik der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Zum Aussichtsturm 9, 91080 Marloffstein
Maaser, R., Dr. phil.
Leiter interne Schulung und Therapiecontrolling
Psychosomatische Klinik, Salzburger Leite, 97616 Bad Neustadt
v. Witzleben, I.
Institutsleiterin
Christoph-Dornier-Stiftung für Klinische Psychologie
Hohe Straße 53, 01187 Dresden
Walinda, S., Dr. med.
Oberärztin
Psychosomatische Klinik, Salzburger Leite, 97616 Bad Neustadt
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Betrachtungen über Gesundheit, Krankheit
und Kranke*
E. Lungershausen
Das Thema dieses Vortrags „Über Krankheit und Kranke“ schien mir sinnvoll,
nachdem ich mir meinen eigenen medizinischen Studiengang noch einmal in
die Erinnerung zurückgerufen habe. Mir
ist immer wieder aufgefallen, daß Studierende der Medizin vieles hören über
die einzelnen Erkrankungen und wie sie
zu erkennen, wie sie von einander zu
unterscheiden seien, welche diagnostischen und differentialdiagnostischen
Erwägungen anzustellen wären und wie
schließlich die Therapie solcherart festgestellter Krankheiten beschaffen sein
sollte. Wenig aber, oder vielleicht gar
nichts, hört man jedoch im Laufe des
Medizinstudiums von der Krankheit
selbst und von der Gesundheit, von dem
kranken Menschen und seiner ihm durch
die Krankheit auferlegten Rolle, die wiederum indirekt auch die Rolle und das
Verhalten seines Arztes bestimmt.
Von diesen Zusammenhängen möchte ich heute zu Ihnen sprechen.
* Überarbeitete Fassung des Festvortrags anläßlich
der Promotionsfeier der Medizinischen Fakultät
der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürn­berg, Erlangen 1995. Nachdruck aus: E. Lungershausen „Betrachtungen“, Palm & Enke, Erlangen 1997
Die Differentialdiagnose, wie Sie es in
Ihrem Studium der Medizin gelernt
haben, zeigt Ihnen, wie man einzelne
Krankheitsbilder von einander trennen
kann, um so den richtigen Weg zur Diagnose zu finden. Daß dieser Weg korrekt
ist und unverzichtbar, braucht hier nicht
betont zu werden und kein weiteres
Wort ist hierzu nötig.
Aber man könnte auch einmal den
Versuch unternehmen sich zu überlegen,
was eigentlich einzelne Krankheiten und
einzelne Kranke miteinander verbindet
und ob es so etwas gibt, wie ein Syndrom des Krankseins überhaupt.
Ein solches Unterfangen aber macht
den Versuch notwendig, zunächst einmal Gesundheit und ihren großen
Widerpart, die Krankheit, näher zu
bestimmen.
Dies ist zunächst gar nicht so leicht.
Ein großes medizinisches Lehrbuch, das
jüngst erschienen ist, enthält trotz über
1500 Seiten Text in seinem Stichwortverzeichnis weder den Begriff „Gesundheit“ noch den der „Krankheit“. Und
ebenso ergeht es einem mit vielen Lexika der Medizin und ihrer Nachbargebiete. Offenbar wird das Wissen um
Gesundheit und Krankheit als so allge-
24
mein vorausgesetzt, daß es einer besonderen Bestimmung nicht bedürfe.
Ist dem aber auch wirklich so?
Folgen wir zunächst einer Definition der
Weltgesundheitsorganisation, so wäre
Gesundheit „der Zustand völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens – und nicht allein Freiheit von
Krankheit und Gebrechen“ 1), eine Definition, die zu manchem Wi­derspruch
geführt hat (z. B. durch V. BECKER2)).
Man könnte statt dessen vielleicht auch
sagen, Gesundheit sei die wirksame
Anpassung des menschlichen Körpers
und seiner Psyche an die Umwelt. Und
ebenso wurde definiert, Gesundheit sei
das reibungslose Funktionieren jenes
Regelsystems, das den menschlichen
Körper und seine Psyche bestimmt.
Man vermag sich vielleicht auch
dahingehend zu verständigen, daß Ge­­
1) WHO „The First Ten Years of the World Health
Organisation, WHO, Geneva 1958
2) BECKER, V. „Der heutige Krankheitsbegriff“ in
Becker, V. und Schipperges, H. (Eds.): „Krankheitsbegriff, Krankheitsforschung, Kranheitswesen“,
Springer, Bln., Hdlb., New York 1995
3) s. d. ROTHSCHUH, K.E. „Was ist Krankheit“, Wiss.
Buchgesellsch., Darmstadt 1975,
SCHIPPERGES, H. „Krankheit in historischer Dimension“ in Becker, V. und Schipperges, H. (Eds.):
„Krankheitsbegriff, Krankheitsforschung, Krankheitswesen“, Springer, Bln., Hdlb., New York 1995
WEIZSÄCKER, C. F. v. „Die Einheit der Natur“, Hanser, München 1971
MILLER BROWN, W. „On Defining Disease“, Journ.
of Medicine and Philosophy 10, 311 (1985)
E. Lungershausen
sundheit nichts anderes sei als die Autonomie des Individuums gegenüber
Beschränkungen und Belastungen des
täglichen Lebens.
Wollte man sich an solchen Definitionen
orientieren, so wäre Krankheit nichts
anderes als eben eine Störung jener Harmonie, jener Anpassung oder jenes
Regelsystems, sie wäre dann eine nicht
sich selbst begrenzende Störung von
Regelgrößen, Organfunktionen oder
Organstrukturen.
Aber alle derartige Definitionen,
neben denen es natürlich auch noch
viele andere gibt3), scheinen zu vordergründig und könnten auch, beim Unkundigen jedenfalls, zu falschen Schlüssen
verleiten.
Fände man nämlich mit all jenen vielen
diagnostischen Instrumenten, die uns
die moderne Medizin zur Verfügung
stellt, keine solche Störung, so wäre der
Rückschluß der, daß offenbar keine
Krankheit vorliege, der Betreffende also
gesund sei. Könnte man also keine organischen Befunde erheben und wird dennoch vom Patienten über Krankheit
geklagt, so müsse diese eben psychogener oder, wie man höflicher sagt, funktioneller Natur sein, gewissermaßen ein
Sieg unserer Diagnostik über den sich
krank fühlenden Menschen.
Aber dieser Sieg ist nur ein scheinbarer, denn er beweist nur das Eine, daß
Betrachtungen über Gesundheit, Krankheit und Kranke
wir nämlich als Ärzte bisher den falschen
Zugang zum Krankheitsbild des Patienten gesucht haben, denn der Mensch ist
eben sehr viel mehr, als diagnostische
Techniken, seien es auch die sensibelsten oder kompliziertesten, von ihm darstellen können.
Aus diesem Grunde bleiben auch die
vorgenannten Definitionen von Gesundheit und Krankheit unbefriedigend, nicht
weil sie falsch wären, sondern weil sie
nicht hinreichend scheinen.
In diesem Sinne besitzt man nicht
Gesundheit oder hat Krankheit, sondern
ein Mensch fühlt sich wohl oder fühlt
sich krank. Und damit betreten wir eine
andere Verstehensebene als jene, wie sie
uns die Diagnostik erlaubt, ohne daß die
entscheidende Wichtigkeit dieser Diagnostik hier in Zweifel gezogen werden
soll.
Gesundheit und Krankheit erscheinen
bei einem solchen Ansatz zunächst als
erlebtes Leben, als bestimmte elementare Befindlichkeiten des Menschen im
Sinne von Wohlbefinden und Mißbefinden.
Aber wir nähern uns unseren Patienten,
so wie ich meine, in einer anderen Weise
und in einer sehr viel verständnisvolleren, wenn wir uns inne sind, daß das
Entscheidende nicht das Krank-Sein ist,
sondern das Sich-krank-fühlen. Ein
Kranker, sei seine Krankheit tatsächlich
vorhanden, nur vermutet oder gar nur
gewähnt, ist immer ein Mensch in Not
und darauf zielt auch jener Krankheitsbegriff, den Viktor von WEIZSÄCKER4)
einmal angesprochen hat als er sagte:
„Ich nenne den krank, in dem ich als Arzt
die Not und die Bitte um Hilfe erkenne“.
Und ein anderer Satz des gleichen
Autors, der auch von v. GEBSATTEL5)
aufgenommen wurde, lautet: „Wirklich
im eigentlichen Sinn sind nicht die
Krankheiten, sondern ist nur der kranke
Mensch”.
4) WEIZSÄCKER, V.v. „Arzt und Kranker“, Köhler &
Amelang, Leipzig 1941
5) GEBSATTEL, V.E.v. „Imago hominis“, O. Müller,
Salzburg 1968
6) JASPERS, K. „Der Arzt im technischen Zeitalter“,
Piper, München, Zürich 1986
Diese Feststellung scheint uns allerdings
überspitzt, weil zu einseitig, und diese
Art des Denkens hat im Übrigen den
ebenso überspitzten Widerspruch von K.
JASPERS6) erfahren, der in diesem
Versuchen wir uns aber von einem anderen, anthropologischen Ansatz solchen
Fragen zu nähern, indem wir zunächst
den leidenden Menschen in seinem
Wesen, in seinem geschichtlichen Entwurf von sich selbst, in seiner Sinnhaftigkeit und in seinem Schicksal in den
Mittelpunkt des Fragens stellen, so
ergibt sich vielleicht ein tieferes Verständnis.
25
26
Zu­sammenhang schrieb: „Dieses Raunen
von großartigen, durch einen verkehrten
Reflex von Wahrheit falsch erleuchteten
Dingen bringt nur substanzlosen Schaum
hervor“.
Richtiger ist wohl, daß es beide Wirklichkeiten gibt, jene der Krankheiten und
jene des kranken Menschen. Und unsere
Aufgabe als Ärzte ist es, diese beiden
Wirklichkeiten zu kennen, zu erkennen
und in unserem Handeln zu beachten.
Und gerade dabei scheint es wichtig,
wenn immer die Situation es gestattet,
die Frage nach dem Befinden gleichrangig neben die Suche nach den Befunden
zu stellen.
Ich habe anstelle von Gesundheit und
Krankheit die Begriffe Wohlbefinden
und Mißbefinden zu setzen versucht.
Die Rede ist also von Befindlichkeit,
worunter ein grundlegendes Sich-befinden verstanden wird, die zentrale, nicht
in Gefühlen oder Stimmungen differenzierte Gestimmtheit, durch die sich der
Mensch in seinem Verhalten getragen
und bestimmt erlebt, die aber von ihm
nicht beherrschbar ist. Es ist in diesem
7) HEIDEGGER, M. „Vorträge und Aufsätze“, 5.
Aufl., Neske, Pfullingen 1985
8) PLÜGGE; H. „Wohlbehagen und Mißbefinden Beiträge zu einer medizinischen Anthropologie“
Niemeyer, Tübingen 1962
9) SARTRE; J.P. „L´etre et le néant, Gallimard, Paris
1941
E. Lungershausen
Sinne ein Grundgeschehen, ein, wie
HEID­EGGER7) es genannt hat, „fundamentales Existential” des menschlichen
Da­seins.
Und nach dieser Setzung vermögen wir
weiter zu fragen nach der Art, in der sich
Wohlbefinden oder Mißbefinden für uns
kundtut.
Mein Wohlbefinden, und hier folge ich
Gedanken von Herbert PLÜGGE8), zeichnet sich dadurch aus, daß ich von meinem Leibe nichts spüre. Je vollkommener
mein Körper und meine Psyche arbeitet,
um so weniger spüre ich von ihnen. Das
Wohlbefinden gibt mich frei, insofern
als mein Körper schweigt. Es macht mich
frei um in Kommunikation mit meiner
Umgebung zu treten und je freier ich
bin, desto eindeutiger ist mein Wohlbefinden. Das Wohlbefinden ist ein, wie
SARTRE9) es genannt hat, ein „schweigendes Selbstverständliches”, das aber
sich auch in diesem Schweigen mir mitteilt, mitteilt nämlich als die beständig
aufrufbare Feststellung, daß ich da bin,
leibhaftig bin und daß ich frei bin.
Wohlbefinden ist „die auf ,Freiheit’
hin angelegte Verfassung des Bewußtseins”. (PLÜGGE).
Ändert sich aber dieser Zustand hin zum
Mißbefinden, so treten im Gegensatz
zum vormaligen Gefühl des Freiseins
jetzt Grenzen auf. Ich fühle mich anders,
Betrachtungen über Gesundheit, Krankheit und Kranke
eingeengt, mißlaunig, gereizt, matt.
Ich spüre meinen Körper insgesamt oder
an einzelnen Stellen oder Organen, der
bisher schweigende Leib, der mir Wohlbefinden signalisierte, wird nun als
­Körper empfunden, macht besorgt und
ängstigt.
Ich vermag nicht mehr, oder ich vermag jedenfalls nicht mehr so wie sonst.
Anstelle der früheren unbesorgten Freiheit tritt die Unfreiheit dessen, der unter
seinem körperlichen und psychischen
Befinden zu leiden beginnt.
Eine solche Befindlichkeit, die in
unseren Krankenblättern mit Begriffen
wie „Müdigkeit, Abgeschlagenheit,
Schwächegefühl, Reizbarkeit“ sicher nur
unzureichend beschrieben wird, ist
natürlich noch nicht die Krankheit selbst,
es kann ja auch nur ein schlechter Tag
sein, man kann überarbeitet sein, hat
sich vielleicht zu viel zugemutet, ist zu
sehr gestreßt, wie man heute sagen
würde. Dieses Befinden mag vorübergehen, aber es kann auch der Beginn der
Krankheit sein.
Und wenn es Krankheit werden sollte,
so wird diese Grundbefindlichkeit in
immer stärkeren und zunehmenden
Maße die Krankheit hindurch vorhanden
sein.
Krankheit, aus welchem Grunde sie
auch immer verursacht ist, stellt also in
10) HEINE, H. in ELSTER; E. (Ed.) „Heines Werke“,
Bd. 3, Meyer, Leipzig 1890
diesem Sinne eine Störung der Befindlichkeit von pathologischem Ausmaß
dar. Sie erinnert den Menschen an seine
Leiblichkeit, an die Tatsache, daß er Leib
ist und dadurch verwundbar, störbar und
vor allen Dingen endlich. Krankheit wird
in diesem Sinne nicht nur erlebt, sondern auch „erleibt”. So mag wohl auch
Heinrich HEINE10) seine eigene Krankheit
empfunden haben, wenn er schrieb „nur
der kranke Mensch ist ein Mensch, seine
Glieder haben eine Leidensgeschichte,
sie sind durchgeistet".
Die Krankheit, vor allen Dingen wenn sie
sich chronifiziert, führt zu einem Zu­stand des Leidens, ist damit nicht nur
auf den sinnlichen Bereich bezogen,
sondern wird auch Ausdruck psychischer
Not.
Das Leid des Kranken zeigt damit
auch eine psychische Verwundung als
Folge der Beeinträchtigung seiner
Befindlichkeit. Die Krankheit zeigt Grenzen auf im Hinblick auf die Möglichkeit
des Ertragens und ist ein Eingriff für
jeden von uns in das, was er in Bezug auf
sich selbst ist. Der kranke, leidbetroffene
Mensch ist nicht mehr „er selbst“, sondern mit ihm geschieht etwas, er wird
zum Opfer der Störung seiner Befindlichkeit, die, wenn sie in ihrem Ausmaß
übermächtig wird, ihn schließlich völlig
zu beherrschen vermag, so daß er in
höchster Ausformung einer solchen Not
nur noch als ein Preisgegebener zu exis-
27
28
tieren vermag, als ein Opfer im Sinne
dessen, daß er nur noch das ist, was
Anderes aus ihm gemacht hat, und der
nicht mehr in der Lage ist, sich getreu
seiner Geschichtlichkeit in die Zukunft
hin zu entwerfen und sich so zu verhalten, wie es seiner Idee von sich selbst
entspricht. Er ist unfrei geworden.
Das Erscheinungsbild der Krankheit ist
sowohl in der Form, wie es der Betroffene selbst erfährt und fühlt, als auch in
der Art, wie er es anderen mitzuteilen,
mitfühlen zu lassen vermag, in vielfältiger Weise zusammengesetzt aus der
gegebenen Störung seiner Befindlichkeit, aber auch aus dem mannigfaltigsten Reaktionen und Interaktionen, die
sowohl intrapsychisch, insofern es der
Kranke selbst erlebt und verarbeitet, als
interpersonal, insofern sie andere Personen mitbetreffen, erfolgen. Dieses ineinander Verschränktsein soll am Beispiel
verdeutlicht werden:
Die Krankheit macht mich zum Leidenden und schafft mir Sorge. Indem ich
mich über diesen meinen Zustand anderen Mitfühlenden mitteile, vermag ich
diese ebenfalls zu Sorgenden zu machen.
Solche Sorge, das Mitgefühl und MitLeiden anderer wiederum vermag je
nach der Art, wie es geschieht oder wie
es von mir empfangen wird, hilfreich
und tröstend zu sein, es kann aber auch,
fühle ich mich durch mein Leid benach-
E. Lungershausen
teiligt, vielleicht gar erniedrigt, das Mitleid der Anderen für mich als die Nachsicht derer erscheinen, die durch meine
Krankheit, durch meine Schwäche, stärker und übermächtiger geworden sind
im Vergleich zu mir.
Der eigentliche, durch Krankheit verursachte Leidenszustand ist also eingefügt
in ein dichtes Gewebe verschiedenster
Reaktionen, die ihn teils verstärken, teils
abzuschwächen, aber auf jeden Fall zu
verändern vermögen. Natürlich hat jeder
von uns in seinem Leben lernen müssen,
mit Krankheit und Leid umzugehen und
innerhalb gewisser Grenzen zu ertragen.
Diese Grenzen sind zweifelsohne individuell sehr verschieden, aber wohl in
jedem Leben werden solche Grenzen
auch überschritten und so durchstoßen,
daß Hilfe benötigt und gesucht wird.
Das gilt gleichermaßen für akute wie
für chronische Erkrankungen. Allerdings
ist die Akuterkrankung zumeist eine vorübergehende, die gewöhnlich nur kurzfristig der Abhilfe bedarf, obwohl auch
sie, wird sie als akute Bedrohung empfunden, den davon Betroffenen darauf
hinweisen muß, daß der bisher als
selbstverständlich gelebte Leib in Wirklichkeit ein verwundbarer Körper ist, der
auch im Stich lassen kann. Er zeigt damit
die Begrenztheit auf, die Körperlichkeit
a priori in sich einschließt. Der Kranke,
insbesondere in der schweren Krankheit,
ist, so war es gerade gesagt worden,
Betrachtungen über Gesundheit, Krankheit und Kranke
nicht mehr er selbst, aber er steht sich in
der Krankheit selbst gegenüber.
So kann auch die plötzliche Erkrankung, sei sie auch von flüchtiger Natur
und aus gefahrloser Ursache, den davon
Betroffenen durch das jähe Innewerden
der eigenen Endlichkeit zu Verunsicherung, Ängsten, Sorgen und unter
Umständen zu tiefgreifenden Veränderungen seiner bisherigen Seinsweise
veranlassen.
Vor allem aber werden wir solche
Veränderungen von Seinsweisen dann
finden, wenn es sich um chronische
Erkrankungen und damit um andauerndes Leid handelt. Chronische Erkrankungen füh­ren fast immer auch zu psychischen Leidenszuständen, die nicht selten
als depressive Verstimmung mit dem
Charakter der Schwermut, des traurigen
Bedrücktseins bis hin zur Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung erscheinen
können, oder aber als dysphorische Reizbarkeit oder Aggressivität das So-sein
dieser Erkrankung bestimmen.
Und in letzterem Fall werden wir auf den
unzufriedenen Patienten treffen, der
gereizt ist und mißtrauisch, der seit langem Hilfe sucht und nicht gefunden hat,
der unzufrieden ist, weil er unglücklich
ist, der ein Höchstmaß an ärztlicher und
11) JASPERS, K, „Der Arzt im technischen Zeitalter“, Piper, München, Zürich 1986
12) LUNGERSHAUSEN, E, „Leiden und Fordern“,
Dtsch. Ärztebl. 65, 1059 (1968)
therapeutischer Zuwendung fordert, sie
jedoch, weil als unzureichend empfunden, in ihrer Bedeutung und Wertigkeit
nicht einschätzen kann
Dies gilt besonders für jene Kranke,
die ihre Erkrankung nicht einzuordnen
vermögen in ihren Daseinsentwurf und
sie lediglich nur erkennen können als
eine sinnlose Beeinträchtigung in ihrem
Dasein, in ihrer Lebensqualität. Für diese
Kranken erscheint dann die Krankheit
selbst als zeitweiliger oder dauernder
Abbruch und Nichtung von Möglichkeiten, die Beeinträchtigung ihrer Befindlichkeit ist eine sinnblinde und sinnlose
Benachteiligung gegenüber dem Gesunden. Es sind vielfach auch jene Kranke,
die den Arzt hassen, „weil das Arztsein
mit dem Kranksein zusammenhängt oder
weil er sich vor ihm nicht zu verbergen
weiß, weil er sich seiner Ohnmacht
bewußt wird: Dieser Kranke bleibt in der
paradoxen Lage, den Arzt zu suchen, weil
er ihn nicht entbehren kann, und ihn zu
hassen, weil er ihn los sein möchte“ (K.
JASPERS11)).
In solchen Fällen formuliert sich auch
die sprachliche Mitteilung des Kranken
über sein Befinden anders und es ist
vielleicht ein Ausdruck unserer Zeit, daß
sich in unserem Sprachgebrauch anstelle des Begriffs der Klagen des Kranken
das Wort der Beschwerde gestellt ha12).
Ein anderer, Glücklicherer, vermag
seine Krankheit, sei es aus Erfahrung
oder aus Überzeugung, als Bestandteil
29
30
seines Lebens zu erkennen, als einen
Zustand, der zumindest als Möglichkeit
Teil des ihm eigenen Daseinsentwurfes
ist und den er mit Sinn zu versehen und
deshalb leichter zu ertragen vermag.
Es wurde hier versucht, wenn auch in
einer sehr kursorischen Form, über
Krankheit und Kranke zu sprechen, über
ihre Befindlichkeit und über verschiedenartige Reaktionen und Interaktionen,
die die Krankheit begleiten, unter
Umständen sogar prägen und ihren Verlauf bestimmen können.
Das Wissen um solche Zusammenhänge, das nicht nur aus Büchern, Vorlesungen oder einem Vortrag wie diesem
erlernbar ist, sondern das vielmehr im
Laufe des therapeutischen Berufslebens
immer mehr und immer neu wieder
erfahren werden muß, scheint mir wichtig, wichtig deshalb auch, weil es den
Umgang, und vielleicht wichtiger noch,
die Haltung des Arztes in seiner Beziehung zu dem Kranken durch ein vertieftes Verständnis der Situation, in der sich
der Leidende befindet, zu bestimmen
und zu verbessern vermag.
Hier geht es nicht darum, bestimmte
Verhaltensschablonen als Bewältigungsstrategien im Umgang mit der Erkrankung anzuraten, denn lediglich von
außen kommende Pläne zur Krankheitsbewältigung, die dem Leidenden angeboten werden wie eine Arzt Schutzklei-
E. Lungershausen
dung, werden nicht hinreichen können.
Wichtiger erscheint das gegenseitige
Verstehen von Kranken und Arzt innerhalb der durch die Krankheit gegebenen
Situation.
Schließlich ist nur das Verstehbare
auch ein Ertragbares.
Die Behandlung hat alles einzubeziehen,
nicht nur die Ursache der Erkrankung
und des Leidens, sondern in einem tieferen Sinn auch das bisherige und künftige
Schicksal des Kranken.
Sie muß kundig sein im Wissen um
jenes, was der kranke und leidende Patient fühlt, erlebt und durchmacht. Eine
solche Therapie bedarf nicht nur medizinischer Kenntnisse und Techniken, sondern darüber hinaus auch des Kundigseins, sie muß getragen werden nicht nur
vom Wissen, sondern auch von Weisheit.
Der Arzt benötigt nicht nur Einfühlungsvermögen, die Fähigkeit zum Mitfühlen
mit dem Kranken und ein im weiten
Wortsinn psychotherapeutisches Verständnis für den Kranken, sondern über
alledem eine ärztliche Grundhaltung, die
sich nicht in einem billigen Mitleid
erschöpft, sondern vielmehr in einem
verstehenden Mit-Durchleiden der Leidensgeschichte des Kranken und der
Versuch auch diesem Leiden gemeinsam
mit dem Kranken eigenen Sinn zu verleihen. Und in ganz besonderer Weise, ich
vermag dies hier nur zu erwähnen, gilt
dies für den hochbetagten, am Sinn sei-
Betrachtungen über Gesundheit, Krankheit und Kranke
nes Weiterlebens und Weiterleidens verzweifelnden Kranken.
In diesem Sinne kann, worauf schon
Michael BALINT13) hingewiesen hat der
Arzt selbst durch seine Haltung, die Art
seines Verständnisses und seines
Um­ganges mit dem Kranken bereits
Heilmittel sein.
Krankheiten sind nicht selten häufig,
kehren immer wieder in ihren verschiedenen Formen, Symptomen und Befunden, aber jeder Kranke ist in seinem persönlichen Schicksal einmalig, immer
wieder ein neues für den Arzt, und immer
wieder eine neue Anforderung nicht nur
an sein ärztliches Können, sondern auch
an ihn als Person, ein Anruf nicht nur an
den Arzt, sondern ebenso an den Menschen, man könnte auch sagen, ein Anruf
an den Nächsten. Ein solcher Anruf kann
nicht selten auch un­geäußert bleiben,
vor allem dann, wenn im Laufe des diagnostischen Prozesses oder aber im
Betrieb einer großen Klinik der Kranke
zwar vielen Ärzten begegnet und
schließlich nicht mehr weiß, wer von
ihnen eigentlich sein Arzt ist.
Aber diese Beziehung zwischen dem
Arzt und seinem Kranken ist von Glauben und Hoffnung bestimmt, sie sollte
nicht enttäuscht werden.
Zwar ist es so, daß der Arzt in seiner
medizinischen Funktion gegenüber dem
13) BALINT, M. “The Doctor, his Patient and the
­Illness”, Pitman Medical Publishing, London 1964
Patienten der Überlegene ist, er weiß
gewöhnlich um die Art der Erkrankung,
um die Formen ihrer Erkennung und die
Art der möglichen Therapie. Er wird aus
seinem überlegenen Wissen heraus den
Kranken beraten müssen oder, beim
Schwerstkranken, für ihn zu entscheiden
haben.
Aber darüber hinaus wird er immer
mit seinem Kranken eine mitmenschliche Beziehung einzugehen haben, die
von partnerschaftlicher Art ist, die
getragen ist von beiderseitigem Verstehen, gegenseitiger Anerkennung und
Achtung.
Es ist sicherlich der schwerste, aber, wie
ich glaube, auch der schönste Teil der
ärztlichen Kunst.
Literatur:
BALINT, M. “The Doctor, his Patient
and the Illness”, Pitman Medical ­Pub­­­li­sh­ing, London 1964
BECKER, V. „Der heutige Krankheitsbegriff“ in Becker, V. und Schipperges,
H. (Eds.) „Krankheitsbegriff, Krankheitsforschung, Krankheitswesen“, Springer,
Bln., Hdlb., New York 1995
GEBSATTEL, V. E. v., „Imago hominis“,
O. Müller, Salzburg 1968
HEIDEGGER, M., „Vorträge und Aufsätze“, 5. Aufl., Neske, Pfullingen 1985
HEINE, H. in ELSTER, E., „Heines
31
32
Werke“ Bd. 3 (Reisebilder), Meyer, Leipzig 1890
JASPERS, K. „Der Arzt im technischen
Zeitalter“, Piper, München, Zürich 1986
LUNGERSHAUSEN, E. „Leiden und
Fordern“, Dtsch. Ärztebl. 65, 1059
(1968)
LUNGERSHAUSEN; E. „Probleme der
Diagnostik bei affektiven Psychosen“
in LUNGERSHAUSEN, E., KASCHKA, W. P.
u. WITKOWSKI, R. J. (Eds.) „Affektive
Psychosen“ Schattauer, Stuttg., New
York 1990
MILLER BROWN, W. „On Defining
Disease“, Journ. of Medicine and Philosophy“, 10, 311 (1985)
PLÜGGE, H. „Wohlbehagen und Mißbefinden – Beiträge zu einer medizinischen Anthropologie“, Niemeyer 1962
ROTHSCHUH, K. E. „Was ist Krankheit“, Wiss. Buchges., Darmstadt 1975
SARTRE, J.P. „L’etre et le néant“, Gallimard, Paris 1941
SCHIPPERGES; H. „Krankheit in historischer Dimension“ in Becker, V. und
Schipperges, H. (Eds.) „Krankheitsbegriff,
Krankheitsforschung, Krankheitswesen“,
Springer, Bln., Hdlb., New York 1995
WEIZSÄCKER, C. F. v. „Die Einheit der
Natur“, Hanser, München 1971
WEIZSÄCKER, V. v. „Arzt und Kranker“, Köhler & Amelang, Leipzig 1941
WHO „The first ten years of World
Health Organisation“, WHO, Geneva
1958
E. Lungershausen
Anschrift d. Verf.:
Prof. Dr. E. Lungershausen,
Psychiatrische Klinik und Poliklinik
der Universität Erlangen-Nürnberg,
Schwabachanlage 6-10,
D-91054 Erlangen
33
Ambulante psychologische Therapie
der Anorexia und Bulimia nervosa
I. v. Witzleben
Gliederung
1. Anorexia & Bulimia nervosa:
1.1. Diagnostik und Klassifikation
1.2. Symptomatik
1.3. Ätiologie
2. Ambulante Psychologische Therapie der Anorexia & Bulimia nervosa
2.1.Ziele und Schwerpunkte der
­Verhaltenstherapie von Anorexia
und Bulimia nervosa
2.1.1. Stabilisierung des
Gewichts und Normali­
sierung des Eßverhaltens
2.1.2. Verbesserung der Körperwahrnehmung und
-akzeptanz
2.1.3. Psychische Belastungen,
die zu Eßanfällen führen;
Bearbeitung zugrunde­
liegender Konflikte
2.1.4. Andere Stimuli, die zu
Eßanfällen führen
2.2. Zeitlicher Ablauf der ambulanten Psychotherapie an der
­Christoph-Dornier-Stiftung für
Klinische Psychologie der Technischen Universität Dresden
Eßstörungen - Einleitung
Eßstörungen sind gekennzeichnet durch
schwere Störungen des Eßverhaltens. Im
folgenden soll es um zwei spezifische
Diagnosen gehen: die Anorexia nervosa
und Bulimia nervosa.
Anorexia nervosa wird charakterisiert
durch die Weigerung, ein Minimum des
normalen Körpergewichts zu halten.
Bulimia nervosa ist durch wiederholte
Episoden von Freßanfällen gekennzeichnet, die von unangemessenen, einer
Gewichtszunahme
gegensteuernden
Maß­nahmen gefolgt werden wie selbstinduziertem Erbrechen, Mißbrauch von
Laxantien, Diuretika oder anderen Medikamenten, Fasten oder exzessiver körperlicher Betätigung. Eine Störung der
Wahrnehmung von Figur und Gewicht
ist ein wesentliches Merkmal sowohl der
Anorexia nervosa als auch der Bulimia
Nervosa.
Prävalenzstudien unter Frauen in der
späten Adoleszenz und im jungen
Er­wachsenenalter ergaben, daß etwa
0,5–1,0% von ihnen alle Kriterien der
Anorexia Nervosa erfüllen. Personen, die
beinahe die Kriterien für diese Störung
erfüllen, werden weit häufiger angetroffen. Mehr als 80% der Fälle von An­orexia
Nervosa betreffen Frauen.
34
Das Durchschnittsalter bei Beginn der
Anorexia Nervosa liegt bei 17 Jahren.
Der Verlauf und die Folgen der Erkrankung können sehr unterschiedlich sein.
Therapiestudien zeigten, daß 4 Jahre
nach Therapie:
30% vollständig gebessert,
35% etwas gebessert,
25% chronisch krank und
ca. 10% der in Kliniken eingewiesenen Betroffenen verstorben sind.
Die häufigsten Todesursachen sind
Verhungern, Suizid oder Elektrolyt­
ungleichgewicht.
Die Prävalenz von Bulimia Nervosa bei
Frauen in der Adoleszenz und im jungen
Erwachsenenalter beträgt etwa 1–3%.
Bei Männern scheint die Prävalenz der
Störung etwa bei einem Zehntel dieses
Wertes zu liegen.
Bulimia Nervosa beginnt meist in der
späten Adoleszenz oder im frühen
Erwachsenenalter.
Der Verlauf kann chronisch oder
intermittierend sein. Das Langzeitergebnis von Bulimia Nervosa ist unbekannt.
Die mittlere Krankheitsdauer bis zum
ersten Behandlungsversuch liegt bei 5
Jahren. In ca. Der Hälfte der Fälle geht
der Bulimia eine Anorexie voraus.
Anorektische und bulimische Patientinnen stammen meist aus der Mittelund Oberschicht und sind häufig überdurchschnittlich intelligent.
Wesentlich häufiger als das vollstän-
I. v. Witzleben
Ambulante psychologische Therapie der Anorexia und Bulimia nervosa
dige Syndrom einer Eßstörung kommen
in der Bevölkerung einzelne Symptome
gestörten Eßverhaltens vor.
Die Diskrepanz zwischen dem derzeit
herrschenden Schlankheitsideal und ei­genem Körpergewicht bringt viele Frauen dazu, neben Schlankheitsdiäten auch
gesundheitsschädliche Maßnahmen zur
Gewichtskontrolle zu benutzen:
• 42% der westdeutschen und 35% der
ostdeutschen Frauen haben mind. 1 x
in ihrem Leben eine Diät durchgeführt
• 2,6% der erwachsenen weiblichen
Gesamtbevölkerung in Deutschland
induzieren regelmäßig Erbrechen
• 5 % aller Frauen benutzen Abführmittel zur Gewichtsregulation,Appetitzüg
ler und Diuretika
• bei 8% der Frauen tritt mind. 1 x pro
Woche eine Eßepisode auf, die subjektiv als Eßanfall erlebt wird
• 85% der Bulimikerinnen gaben an,
ihren ersten EA im Verlauf einer
Re­duktionsdiät erlebt zu haben
1.1. Diagnostik und
Klassifikation
Die z. Z. aktuellen Diagnosekriterien
de­finieren die AN und BN über Merkmale, die sich in erster Linie auf das Eßverhalten und auf damit in engem Zusammenhang stehende Verhaltensweisen
der Gewichtsregulation beziehen.
Diagnosekriterien der Anorexia nervosa
Die Diagnose einer BN darf nach
DSM-IV bei gleichzeitig bestehendem
Untergewicht nicht mehr gestellt werden.
35
36
I. v. Witzleben
Ambulante psychologische Therapie der Anorexia und Bulimia nervosa
Das DSM-IV unterscheidet bei der BN
einen Subtyp
• mit regelmäßigem Laxantienabusus
oder selbstinduziertem Erbrechen
(purging type) von einem Subtyp
• ohne diese Verhaltensweisen (nonpurging type).
Das Auftreten von selbstinduziertem
Erbrechen ist daher für die Diagnose
einer BN nicht obligat.
Als neue nosologische Einheit wird im
DSM-IV die sog. „Binge-Eating-Disorder“ eingeführt; diagnostische Kriterien
sind hierfür noch nicht abschließend
definiert, es werden jedoch Forschungskriterien zur Verfügung gestellt.
Als Binge-Eating-Disorder (BED) sollen diejenigen Syndrome klassifiziert
werden, bei denen zwar einerseits regelmäßig Verhaltensweisen mit Heißhungerattacken auftreten, bei denen andererseits die Kriterien der AN oder BN
nicht erfüllt sind. Der wesentliche Unterschied zur BN besteht darin, daß bei BED
keine regelmäßigen kompensatorischen
Verhaltensweisen wie selbstinduziertes
Erbrechen oder Laxantienabusus infolge
der Heißhungeranfälle auftreten.
Etwa 20–50% der Übergewichtigen
erfüllen die Kriterien für BED.
Diagnosekriterien der Bulimia nervosa
1.2. Symptomatik
Die Symptome der psychogenen Eßstörungen umfassen körperliche wie psychische Veränderungen. Ein deutliches
Untergewicht gilt oft als somatisches
Leitsymptom der Anorexia nervosa. Das
Streben nach übermäßiger Schlankheit
findet sich jedoch ebenso bei der BN,
aber nicht in dem lebensbedrohlichen
Ausmaß wie bei der AN.
Die somatischen Symptome treten
meist sekundär als Folge der unausgewogenen Ernährung oder des Untergewichtes auf. (siehe Tab. 1)
Anfangs stehen H-K-Störungen mit
niedrigem Blutdruck und Puls, Durchblutungsstörungen mit Kältegefühlen in
Händen und Füßen, Hormonstörungen
mit unregelmäßiger oder fehlender
Menstruation und Beschwerden im
Magen-Darm-Bereich im Vordergrund.
Im weiteren Verlauf stellen sich dann
zunehmend ausgedehnte Mineral- und
Vitaminmangelsyndrome und Elektrolytstörungen ein.
Heute ist bekannt, daß auch schon
ein
vergleichsweise
geringfügiger
Ge­wichtsverlust von wenigen Kilogramm
zu metabolischen und endokrinologischen Störungen führen kann.
Prinzipiell beziehen sich alle in Tab. 1
genannten Komplikationen und Folgeschäden sowohl auf die Anorexia als
auch auf die BN.
37
38
I. v. Witzleben
Tabelle 1: Körperliche Symptome bei Anorexia und Bulimia nervosa
•
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Kreislaufregulationsstörungen mit Schwindel
Herzrhythmusstörungen
langsamer Puls
niedriger Blutdruck
niedrige Körpertemperatur
Durchblutungsstörungen mit kalten Händen und Füßen, im Extremfall bis hin zu Erfrierungen an den Füßen
Blutarmut
Störungen des Säre-Basen-Haushaltes
Elektrolytstörungen
Gicht
Nierenfunktionsstörungen(bis hin zur chronischen Niereninsuffizienz)
Wassereinlagerungen im Gewebe
Geschwüre im Magen oder Zwölffingerdarm
Magenfunktionsstörungen und Völlegefühl
Verdauungsstörungen
Sodbrennen
Hormonstörungen
Menstruationsstörungen bis hin zur Amenorrhoe
Nervenschädigungen
Knochenstroffwechselstörungen
Zahnschäden
Haarausfall
Trockene Haut
Verformungen der Nägel
Verbreiterungen der Endglieder (Trommelschlegelfinger oder -zehen)
Lanugobehaarung (Flaumhaar)
Mineral- und Vitaminmangelzustände
Vergrößerte Speicheldrüsen
Untergewicht (im Extremfall bis zum Verhungern)
Hirnatrophien
Von den psychischen Symptomen fällt
der Umwelt zunächst oft das veränderte
Eßverhalten und ein besonderer Um­gang
mit
Nahrungsmitteln
auf.
Die
Pa­tientinnen befolgen besondere Diät­
vorschriften, bei denen der Aspekt der
Kalorienreduktion dominiert. Häufig
re­sul­tiert daraus eine unausgewogene
Ernährung mit einem vergleichsweise
hohem Eiweißanteil bei geringem Fettund Kohlehydratanteil.
Viele Patientinnen unterscheiden
„erlaubte Nahrungsmittel“ wie beispielsweise Quark und Joghurt von „verbotenen Lebensmitteln“ wie etwa Schokolade oder fetten Fleischprodukten.
Ambulante psychologische Therapie der Anorexia und Bulimia nervosa
Tabelle 2: Psychopathologische Symptome bei Anorexia und Bulimia nervosa
• E
inhalten einer speziellen Diät zur Gewichtsreduktion (häufig mit „erlaubten“ und „verbotenen“ Lebensmitteln)
• Ein besonderes Interesse oder ein auffälliger Umgang mit
Nahrungsmitteln
• Besondere Verhaltensweisen zur Gewichtsregulation (z.B. Erbrechen,
körperliche Hyperaktivität, Abu sus von Laxantien, Diuretika,
Appetitzüglern, Schilddrüsenhormonpräparaten)
• Body-Image-Störungen
• Angst vor einer Gewichtszunahme
• Wahrnehmungsstörungen in Bezug auf Appetit-, Hunger- und
Sättigungsgefühle
• Defizite der Psychosozialen Kompetenz
• Sexuelle Probleme
• Insuffiziensgefühle, Angst- und Schamaffekte
• Depressionen
• Ausgeprägte Leistungsorientierung (häufig mit asketischen Idealen)
Bei anfallsartig auftretenden Heiß­
hungerattacken können die Betroffenen
große Mengen Lebensmittel scheinbar
wie wahllos essen und dabei bestehende
Diätregeln überschreiten. In solchen
Heißhungeranfällen werden gelegentlich Nahrungsmengen mit mehreren
tausend Kilokalorien aufgenommen. Im
Anschluß treten Völlegefühle auf und
die Patientinnen erleben meist starke
Schamgefühle und Depressionen.
Als Reaktion versuchen die meisten, das
Essen entweder direkt durch selbstinduziertes Erbrechen oder indirekt durch
den Gebrauch von Abführmitteln wieder
auszuscheiden. Einige Patientinnen nehmen außerdem Diuretika oder Appetitzügler ein, um ihr Gewicht zu halten.
Dieses auffällige Eßverhalten schränkt
die Ausgewogenheit und Regelmäßigkeit der Nahrungsaufnahme zunehmend
ein, und im Laufe der Zeit verliert sich
die Möglichkeit, Gefühle von Appetit,
Hunger und Sättigung differenziert
wahrzunehmen.
Gleichzeitig verändert sich das Erleben des eigenen Körpers.
Davon betroffen ist zunächst die
­kognitive Wahrnehmung der Körpergrenzen; die Maße der eigenen Figur
(z.B. Brust-, Hüft- und Bauchumfang)
werden unverhältnismäßig überschätzt.
Aber auch die emotionale Qualität, in
der der eigene Körper erlebt wird, verändert sich ins Negative; die Patientinnen
erleben sich häufig als „zu dick, schwabbelig, unförmig, häßlich und nicht
akzeptabel“.
39
40
Diese beiden Aspekte werden im
Zusammenhang mit den psychogenen
Eßstörungen zusammengefaßt meist als
Body-Image-Störung bezeichnet.
Ein weiteres Kennzeichen und für die
Therapie von zentraler Bedeutung ist
besonders bei der AN die Selbstwertproblematik der Patientinnen. Sie findet
häufig ihren Ausdruck in einer ausgeprägten Selbstunsicherheit, äußert sich
in dem Gefühl, „eigentlich nichts wert“
zu sein und schränkt die psychosozialen
und psychosexuellen Möglichkeiten und
Kompetenzen ein. Die Unsicherheit der
Patientinnen bezieht sich nicht nur auf
die eigene Rolle im gesellschaftlichen
und familiären Umfeld, sondern betrifft
insgesamt die Frage nach dem „Wert“
oder der „Bedeutung“ der eigenen Person.
Als sensibler Bereich zwischen­
menschlicher Beziehungen ist die
Se­xualität besonders betroffen. Anorektische Patientinnen haben in den meisten Fällen keine intimen sexuellen Kontakte. Sofern solche Kontakte noch
bestehen, was insgesamt bei bulimischen Frauen häufiger der Fall ist, ist die
sexuelle Erlebnisfähigkeit oft eingeschränkt.
Viele Patientinnen zeigen eine starke
Leistungsorientierung, die mit asketischen Idealen kombiniert sein kann.
Bemühungen um sehr gute Erfolge in
Schule und Beruf können ebenso wie
I. v. Witzleben
sportliche Aktivitäten die Funktion
erhalten, das instabile oder fragmentierte Selbstwertgefühl zu stabilisieren.
Exzessives Joggen oder andere Formen
körperlicher Hyperaktivität stärken sogar
auf zweifache Weise das Selbstwertgefühl; sie verschaffen das Erfolgserlebnis,
ein sportliches Ziel erreicht zu haben,
und begünstigen infolge des gesteigerten Energieverbrauchs die Gewichtsabnahme.
Ambulante psychologische Therapie der Anorexia und Bulimia nervosa
um die daraus resultierenden sekundären Symptome (IV).
Für sich alleine genommen kann keiner
dieser Faktoren und Symptome als spezifisch für die AN oder BN gelten. Bis
heute ist unklar, wann genau und warum
eine Patientin in einer entsprechend ty­­
pischen Lebenssituation das Syndrom
einer psychogenen Eßstörung entwickelt.
1.3. Ätiologie
An der Entstehung bzw. Aufrechterhaltung der AN und BN sind vermutlich
psychische, biologische und auch gesellschaftliche Faktoren beteiligt.
Dieses Ätiologiemodell bildet die theoretische Grundlage der verschiedenen
Elemente einer kognitiven Verhaltenstherapie.
Das Schema setzt sich aus 4 Spalten
zusammen, die – von links nach rechts
verlaufend – gewissermaßen eine zeit­
liche Abfolge und gleichzeitig eine möglicherweise auch kausale Kette der Ätiologie beschreiben.
Es handelt sich um die prädisponierenden Faktoren (I),
um die typischen psychischen Problembereiche (II),
um die spezifische Symptombildung (III)
sowie
I.
Als ein zentraler prädisponierender Faktor für die Entstehung einer AN und BN
wird die Orientierung an einem extremen Schlankheitsideal aufgefaßt. Als
Gründe, warum die betreffenden Frauen
ein extremes Schlankheitsideal anstreben, wird vermutet, daß sie – z.B. im
Zusammenhang mit einem erniedrigten
Selbstgefühl – vulnerabler gegenüber
gesellschaftlichen Einflüssen wie einem
soziokulturell vermitteltem Schlankheitsideal sind.
Darüberhinaus kann Modellernen für
den Erwerb eines extremen Schlankheits-
41
42
ideals von Bedeutung sein; so ergeben
sich Hinweise darauf, daß das Verhalten
der Mütter von eßgestörten Patientinnen
auch eine wichtige Rolle bei der Ausbildung eines gezügelten Eßstils zur Erreichung von Gewichtsreduktionen spielt.
Viele Betroffene berichten davon, daß
ihre Eßstörung erstmals nach einer längeren Fastenzeit oder Phase des Diäthaltens auftrat. 85% der Bulimikerinnen
ga­ben an, ihren ersten Eßanfall im Verlauf einer Reduktionsdiät erlebt zu
haben.
Inzwischen gilt es als gesichert, daß
das Diäthalten nicht nur in korrelativem
Zusammenhang mit den Eßanfällen
steht, sondern daß es die Eßanfälle auch
mitbedingt.
In der Regel werden bei den Diäten
wichtige Nährstoffe ausgespart, insbesondere KH und Fette, mit der Folge, daß
der Körper intensiv nach den entbehrten
Nährstoffen verlangt und die Gedanken
entsprechend um das Essen kreisen.
Betrachtet man gesellschaftliche Aspekte als mögliche Einflußfaktoren für die
Entstehung und Aufrechterhaltung der
AN und BN, so ist v. a. das Paradoxon
zwischen übergroßem Nahrungsangebot
und dem Schlankheitsideal von Bedeutung. So besteht in den westlichen
Industriegesellschaften ein vielfältiges,
über die Grenzen des Appetits hinaus
verlockendes Angebot an Nahrung.
I. v. Witzleben
Zudem hat variationsreiches und reichliches Essen bei geselligen Anlässen einen
hohen Stellenwert. Gleichzeitig aber
wird ein extzremes Schlankheitsideal
vermittelt, das einen dünnen, flachen
Körper favorisiert. Insbesondere auf den
Frauen lastet ein starker normativer
Druck, diesem Schlankheitsideal zu entsprechen. Sie lernen schon als junge
Mädchen weit mehr als die Jungen, daß
positive Bewertung und Zuwendung
stark von ihrem Aussehen abhängig sind,
und ihr Selbstwertgefühl weist einen
deutlichen Zusammenhang mit der
bewertung ihrer Figur auf.
Viele sorgen sich schon als Kinder um
Gewicht und Aussehen und versuchen,
die Nahrungsaufnahme einzuschränken.
Das Problem verschärft sich in der
Pubertät, wenn sich der Fettanteil des
Körpers bei den Mädchen genetisch
bedingt vervielfacht; der Anteil derer,
die zu Diäten Zuflucht suchen, steigt
dementsprechend an.
Familiäre Faktoren:
spezifische Interaktionsmuster:
– Fam.-mitglied meist Symptomträger,
um Stabilität des Fam-systems aufrechtzerhalten und offene Konflikte,
insbes. zwischen den Eltern zu verhindern
– Konflikte werden vermieden oder verleugnet, besteht Tendenz, möglichst
schnell eine Pseudo-Harmonie herzustellen
Ambulante psychologische Therapie der Anorexia und Bulimia nervosa
– Verstrickung (Fam. entwickeln hoch­
gradig engen Zusammenhalt)
– Überbehütung (Streben nach Autonomie und eigener Identität wird verhindert und durch überbehütende Fam.norm ersetzt)
– Rigidität (Fam. regulieren und def.
Aspekte des Zusammenlebens m. H.
eines Regelsystems)
Befunde fanden sich bei vielen Familien,
nicht obligatorische bei allen nicht klar,
ob Fam.-muster vor Auftreten der Störung oder sich danach entwickelten
Individuelle Faktoren:
– alle persönlichen Probleme oder Konflikte können als indiv. Faktoren für
Entstehung einer Eßstörung von
Bedeutung sein, wenn sie das psychische Gleichgewicht einer Person in
relevanter Weisde belasten (Schwierigkeiten in Schule, Arbeitsplatz, Partnerschaft)
– belastende psychische Erlebnisse, z.B.
aggressive Übergriffe, sex. Mißbrauch
(25–50% der Patientinnen aber: nicht
spezifisch für die Störung, sondern
sind Risikofaktoren)
II.
Unter dem ungünstigen Einfluß der prädisponierenden Faktoren gelingt es den
Patientinnen nicht, ein stabiles Selbstwertgefühl und eine Identität zu entwickeln. Schon vergleichsweise geringe
Konflikte können daher subjektiv als
Angriff auf die eigenen Autonomie er­lebt
werden. Da ihre Fähigkeit, frustrierende
und belastende Situationen zu ertragen,
häufig nur mangelhaft ausgebildet ist,
reagieren diese Frauen auf Streßsitu­
ationen mit der Bildung spezifischer
Symptome.
III.
Wenn die Frauen Maßnahmen zur
Gewichtsreduktion
einsetzen,
wie
Schlankheitskuren, Erbrechen, Laxantienabusus, ist die Wahrscheinlichkeit
erhöht, daß der Körper mangelernährt
wird. Die Mangelernährung zieht wiederum eine Reihe von biologischen Folgeerscheinungen nach sich, die ihrerseits
zu einem gesteigerten Nahrungsbedürfnis und zu Eßanfällen führen können.
Darauf reagieren die Frauen verständlicherweise mit Ängsten vor einer
Gewichtszunahme, so daß sie plausiblerweise die Maßnahmen zur Gewichtsreduktion (z.B. Erbrechen) fortsetzen.
Dies trägt allerdings zur Stabilisierung
der Symptomatik bei.
Desweiteren wird vor dem Hintergrund des Forschungsstandes angenommen, daß das Essen in Problem- bzw.
psychischen Belastungssituationen eine
gelernte Reaktion darstellt. Ferner wird
vermutet, daß der Duft, das Aussehen
oder der Geschmack von Nahrungsmitteln sowie andere Reize (z.B. die Umgebung, in der häufig gegessen wird) zu
43
44
konditionierten Stimuli für Eßanfälle
werden können.
Das brüchiger werdende Selbstwertgefühl schränkt die Pflege und den Ausbau sozialer und sexueller Kontakte ein.
Kurzfristig werden so zwar Probleme
vermieden, die im Kontakt mit anderen
Menschen wegen der eigenen Unsicherheit auftreten können, längerfristig
begünstigt dieses Verhalten jedoch die
Tendenz zur Isolation.
Viele Patientinnen zeigen gleichzeitig
eine vermehrte Leistungsorientierung;
ein gesteigertes Engagement auf sportlichem oder intellektuellem Gebiet kann
ebenfalls zur Kompensation psychosozialer Defizite dienen.
IV.
Als Konsequenz dieser spezifischen Symptombildung entstehen sekundäre Symptome.
Ängste und Depressionen bestimmen
zunehmend das Erleben der Patientinnen. Besonders nach Heißhungerattacken und Erbrechen können Schuld- und
Schamgefühle auftreten.
Die Beeinträchtigung der sozialen
Kontakte nimmt tendenziell zu.
Die Gesundheit der Patientinnen wird
aufgrund des pathologischen Eßverhaltens zunehmend beeinträchtigt.
I. v. Witzleben
Ambulante psychologische Therapie der Anorexia und Bulimia nervosa
2. Ambulante Psychologische
Therapie der AN und BN
2.1. Ziele und Schwerpunkte der Verhaltenstherapie von Anorexia und
Bulimia nervosa
(sieh nebensztehende Tabelle)
2.1.1. Stabilisierung des Gewichts und
Normalisierung des Eßverhaltens
Behandlungselemente:
1. Infovermittlung
a) Verständnis der Eßstörung
b) Soziokulturelle Beeinflussungsfaktoren von Eßstörungen
c) Zusammenhänge zwischen Diäthalten und Eßstörung
d) Bedeutung eines bestimmten Körpergewichts
e) Folgeschäden im Zusammenhang mit
Eßstörungen
2. Selbstbeobachtung des Eßverhaltens und der vorauslaufenden und
nachfolgenden Bedingungen (Problemanalyse)
Pat. sollen möglichst genaues Bild ihres
Ziele Behandlungselemente
1. Stabilisierung des Gewichts und Normalisierung des Eßverhaltens • Informationsvermittlung
• Selbstbeobachtung
• Maßnahmen zur Gewichtsstabilisierung
• Einhalten vorgeschriebener Mahlzeiten
• Stimuluskontrolle
• Spezielle Techniken zur Reduktion von
Heißhungeranfällen (HA) und Erbrechen
• Kognitive Techniken
2. Verbesserung der Körper-
• Körperübungen, Körpererfahrung
wahrnehmung u. -akzeptanz • Kognitive Techniken
3. Psychische Belastungen, die zu Eßanfällen führen; Bearbeitung der zugrunde-
liegenden Konflikte • Selbstbeobachtung
• Problemanalyse
• „goal-attainment-scaling“
• Kognitive Techniken
• Spezifische Techniken, z.B.:
• – Soziales Kompetenztraining
• – Einbezug von Familien/
• – Familientherapie/Familienberatung
• – Einbezug des Partners/
• – Partnertherapie/Paarberatung 45
Gegenmaßnahme(n):
Art (z. B. Erbrechen),
Zeitaufwand,
Anstrengung (0–7),
Hilfen (z. B Brechmittel)
Wo?
Mit wem?
Anfang /
Hunger/
Nahrungs-
Art der
Eßanfall
Kontroll
Angst, zu-
Ende
Sattheit
menge
Nahrungsmittel/Getränke
Ja/ Nein
verlust
zunehmen
(0–7)
(0–7)
(0–7)
Marburger Ernährungsprotokoll
CODE: _______________
I. v. Witzleben
DATUM: _______________ WOCHENTAG: ____________________
Hinweise zum Ausfüllen des Erährungsprotokolls auf der Rückseite!
46
Ambulante psychologische Therapie der Anorexia und Bulimia nervosa
Eßverhaltens bekommen sowie die individuellen, spezifischen Auslöser für
Heißhungerattacken, Nicht-Essen und
Diäthalten identifizieren lernen.
Auslöser (innere):
Gedanken, Gefühle, Erwartungen
Auslöser (äußere):
Anblick von Nahrungsmitteln ...
(siehe Protokollabbildung links)
Ziele der Selbstbeobachtung in verschiedenen Phasen der Behandlung:
Anfang:
• genaue Beschreibung der Eßstörung
• Erkennen (innerer und äußerer) Auslösebedingungen für das spezifische
Eßverhalten
• Aufschluß über Introspektionsfähigkeit und Motivation
Verlauf:
• Erkennen zugrundeliegender Konflikte
• Beobachtung und Bewertung von Veränderungsschritten
Endphase:
• Identifikation noch bestehender „kritischer“ Situationen
• Identifikation von neu auftretenden
Auslösebedingungen
3. Veränderung des Eßverhaltens
Anleitung zum normalgesunden Eßstil:
• regelmäßige Mahlzeiten
• ausgewogene Ernährung
• Genuß beim Essen normaler Mahlzeiten
Therapeut nimmt an ersten Therapietagen alle Mahlzeiten gemeinsam mit Pat.
ein
Ziel:
• Entgegenwirken von Vermeidungsverhalten
• Beschleunigung von Änderungsprozessen
• direktes Ansprechen von auftretenden
Ängsten beim Essen
Methode:
Therapeut darf sich nicht in Rolle der
„Ersatzmutter“ drängen lassen (erhobener Zeigefinger)
Therapeut setzt Regeln der systemimmanenten Gesprächsführung ein, um
Selbstverantwortung der Patientinnen
für Veränderung oder Nicht-Änderung
zu betonen
4. Spezielle Techniken zur Reduktion
von Heißhungerattacken und Erbrechen
vorher: Analyse des bisherigen Umganges mit Heißhunger und Erbrechen
(Was hat sich schon bewährt?)
– geregeltes, ausgewogenes Eßverhalten = generelle Strategie zum Umgang
mit Heißhungeranfällen, Erbrechen
und Laxantienabusus
– zusätzlich Planung spezifischer Aktivitäten, die Auftreten verringern bzw.
verhindern:
(Strategien sind v.a. kurzfristig wirksam und können auch unabhängig
47
48
I. v. Witzleben
von möglicherweise zugrundeliegenden Konflikten hilfreich sein, wenngleich sie Lösungsansätze für die spezifischen Konflikte nicht ersetzen)
• Stimuluskontrolltechniken
• Selbstkontroll- oder Selbsthilfemöglichkeiten
• Planung von Alternativverhalten
5. Kognitive Techniken
Ähnlich wie depressive Patienten haben
eßgestörte Patienten häufig
• verzerrte Einstellungen, Kognitionen
• „Schwarz-Weiß-Denken (dichotomes
Denken)“
bezogen auf die eigene Person und auf
die Bedeutung von Körper und Gewicht
(siehe untenstehende Grafik)
Erfassung und Bearbeitung der verzerrten Kognitionen lehnt sich eng an die für
Beispiele für typische kognitive Fehler bei eßgestörten Patienten
Übergeneralisierung:
„Solange ich noch „normal“ gegessen habe, war ich fett. Wenn ich damit
wieder anfange, werde ich wieder fett werden.“
Selektive Abstraktion:
„Ich habe eine Freundin gefragt, ob sie Lust hat, mit mir ins Kino zu gehen.
Sie hat gesagt, sie habe schon etwas anderes vor. Bestimmt mag sie mich
nicht und geht lieber mit anderen Leuten weg.“
„Ich bin nur dann etwas Besonderes, wenn ich dünn bin.“
Abergläubisches Denken:
„Ich muß die Sachen aus dem Kühlschrank aufessen, damit ich nicht in
Gefahr komme, einen weiteren Heißhungeranfall zu bekommen.“
„Wenn ich abends eine normale Mahlzeit zu mir nehme, nehme ich noch
schneller zu.“
Personalisierung:
„Zwei Personen lachten und tuschelten miteinander, als ich vorbeiging. Wahrscheinlich haben sie gesagt, ich sehe unattraktiv aus. Ich habe ja auch drei
Pfund zugenommen.“
„Wenn ich jemanden sehe, der übergewichtig ist, befürchte ich gleich, auch so
zu werden.“
Ambulante psychologische Therapie der Anorexia und Bulimia nervosa
depressive
Patienten
ausführlich
beschriebenen Techniken zur Identifikation und Korrektur irrationaler Gedanken
und Überzeugungen an (s. Beck, s. Hautzinger)
4 Schritte im Umgang mit den Gedanken
und Überzeugungen, die die Eß­törung
aufrechterhalten (Fairburn, 1985):
1. Identifikation dysfunktionaler
Gedanken
2. Überprüfung dieser Gedanken
3. Identifikation zugrundeliegender
dysfunktionaler Überzeugungen und Wertvorstellungen
4. Überprüfung dieser Überzeugungen
und Wertvorstellungen
2.1.2. Verbesserung der Körperwahrnehmung und -akzeptanz
1. Übungen zur Körpererfahrung
Ziel:
– Veränderung von Ängsten und negativen Einstellungen gegenüber der Figur
– Reduktion der Körperbildstörung
– differenziertere Wahrnehmung des
Körpers
– auch ungeliebte Problemzonen durch
Gewöhnung akzeptieren lernen
Methode:
a) Konfrontationsübungen mit der Figur
bzw. der äußeren Erscheinung
b) Figurvergleich mit anderen Personen
c) Wiegen zu unterschiedlichen Tageszeiten
Ziel: Gewöhnung an natürliche
Ge­wichtsschwankungen
d) Übungen zur Körperwahrnehmung
2. Übungen zum Körperausdruck
Methode: Spiegel und Video
Ziel:
– Durchspielen von Verhaltens- und
Ausdrucksweisen (Haltung, gewinnendes Lächeln)
– Pat. beurteilt Wirkung ihres Ausdrucksverhaltens bei anderen Personen
– Experimentieren mit dem äußeren
Erscheinungsbild (Kosmetik, Frisur,
Kleidung ...)
3. Einstellungsänderung zur Wertigkeit
der Figur
Ziel:
irrationale Überzeugungen herausfinden
und bearbeiten
Methode:
– kognitive Techniken zu irrationalen
Überzeugungen
– systemimmanente
Gesprächstech­
niken
2.1.3. Psychische Belastungen, die zu
Eßanfällen führen
Anhand der diagnostischen Befunde
kann erkannt werden, warum Patientin
in Belastungssituationen Eßanfälle hat.
1. Lenkt sich die Betroffene von
49
50
unangenehmen Gedanken oder Gefühlen ab ? (Gedanken an Mißerfolge, Traurigkeit über den Verlust eines geliebten
Menschen, Langeweile-Situationen)
Wenn ja, dann werden die Patientinnen durch systematische und langandauernde Konfrontation mit diesen
Gedanken und Gefühlen dazu angeleitet,
sich diesen zu stellen, ohne zu essen
2. Liegt ein Mangel an angemessenen
Problemlösefertigkeiten vor ?
Wenn ja, dann werden mit den Patientinnen entsprechende Trainings
durchgeführt:
• Soziales Kompetenztraining
• Selbstsicherheitstraining
• Problemlösetraining
um sich gegenüber Problemsituationen besser gewappnet zu fühlen.
I. v. Witzleben
mehrere Male hintereinander durchgeführt, damit eine Habituation an den
Geschmack und Geruch stattfinden
kann.
Durch die distanzierende Betrachtungsweise ergeben sich neue Sichtweisen:
„Der Mohrenkopf wirkt auf mich jetzt
glitschig, künstlich und wabbelig, gar
nicht appetitlich”.
Diese Übungen erfolgen auch mit
anderen Reizen, die zu Auslösern von
Eßanfällen geworden sind (z. B.
be­stimmte Umgebung, Anblick eines
gefüllten Kühlschranks, Hören bestimmter Musik).
2.1.4. Andere Stimuli, die zu Eßanfällen
führen
2.2. Zeitlicher Ablauf der ambulanten
Therapie in der Christoph-DornierStiftung für Klinische Psychologie der
Technischen Universität Dresden:
Manche Pat. berichten, daß sie bereits
beim Anblick bestimmter Nahrungsmittel die Kontrolle verlieren und große
Mengen davon zu sich nehmen.
Um derartigen Heißhungeranfällen
entgegenzuwirken, werden die Patientinnen mit genau diesen Nahrungsmitteln konfrontiert.
• betrachten
• beschreiben
• Geruch auf sich wirken lassen
• Geschmack beschreiben
Die Übung wird lange genug und
1. Erstgespräch
2. Diagnostische Untersuchung (Indikationsstellung)
3. Kognitive Vorbereitung des Patienten
auf die Therapie
• Herleiten eines individuellen Erklä­
rungsmodells gemeinsam mit Patientin
• Grundlage bildet oben beschriebenes
Ätiologie-Modell
• Ableiten notwendiger Schritte, um
aus Teufelskreis wieder herauszukommen
Ambulante psychologische Therapie der Anorexia und Bulimia nervosa
4. Zeit zum Überlegen und Entscheiden
5. Therapiebeginn: 5–10 Tage täglich,
im Anschluß kontinuierlich
6. 6 Wochen-Nachuntersuchung
7. 1-Jahres-Nachuntersuchung
8. 5-Jahres-Nachuntersuchung
Indikation für stationäre Behandlung
1. Medizinische Kriterien:
– Kritischer Gewichtsverlust (BMI < 14
stationär)
– Schlechter oder akut bedrohter körperlicher Zustand (Elektrolytstörungen)
2. Psychotherapeutische Kriterien:
– Vorliegen akuter Suizidalität
– Zusätzlich vorhandene Störungen wie
Depressivität, Störungen der Impulskontrolle oder PSK-störungen
3. Psychosoziale Kriterien:
– Belastungsfaktoren, die an der Aufrechterhaltung der Symptomatik
be­teiligt sind und die Pat. derart belasten, daß eine Symptomreduktion bzw.
-veränderung nicht möglich erscheint
(z.B. familiäre oder partnerschaftliche
Interaktionsmuster)
51
52
53
Ess-Störungen aus der Sicht
des niedergelassenen Arztes
Dr. H. H. Ehrat
Herr Vorsitzender,
meine Damen und Herren,
für Ihre Einladung, im Rahmen dieser
Tagung ein Referat zu halten, danke ich
Ihnen sehr herzlich. Ich freue mich um
so mehr, als ich weiss, was Herr Kollege
Höll für ein Risiko auf sich nimmt, mich
für eine solche Fachtagung als Referenten einzuladen.
Um meinen Beitrag ins richtige Licht
zu rücken, muss man sagen: Ess-Störungen aus der Sicht e i n e s niedergelassenen Arztes.
Die Begründung dieser Thema-Änderung ergibt sich aus meinem Referat.
Nach fast 30-jähriger Tätigkeit als praktischer Arzt stelle ich fest, dass Ess-Störungen allgemein verstanden in ­meinem
Praxisalltag häufig, hingegen Anorexie
und Bulimie seltene Krankheitsbilder
sind.
Allerdings ist mir recht früh aufgefallen, wie einsam und verlassen diese
Patienten sind und wie oft unprofessionelle Behandlungsformen an ihnen ausgeübt werden.
Im weiteren bin ich immer wieder
beeindruckt, wie die Angehörigen dieser
Patienten am Krankheitsgeschehen teilnehmen – sowohl als Akteure, wie auch
als Mitmenschen, die sich dem komplexen Geschehen rund um diese beiden
Krankheitsbilder gegenüber absolut
­passiv und fatalistisch verhalten.
Mir sind Behandlungskonzepte
be­gegnet, die im grossen und ganzen in
die Richtung einer Verhaltensänderung
der Patienten zielen. So werden diese
mit ganz rigorosen Behandlungsplänen
angegangen, die dann in ihrem Ablauf
einer strengen Kontrolle z.B. des
Ge­wichts oder der Verhaltensanamnese
unterliegen.
Mein Weg hat mich in eine ganz
andere Richtung geführt, von der ich
Ihnen hier berichten möchte.
Im Zusammenhang mit einer
gesprächstherapeutischen Behandlung
im Rahmen einer eigenen Erkrankung,
hat mich mein Arzt ermuntert, mit ihm
zusammen Seminare von D. Jonas zu
besuchen. Jonas hat in den Jahren 1980
bis 1985 in Würzburg seine Methode Idiolektik – beschrieben und in Seminarien für Psychologen und Ärzte demonstriert und gelehrt.
54
H. H. Ehrat
1. Was ist das I d i o l e k t i k ?
Idiolektik ist die Lehre von der Eigensprache des Menschen. Der Umgang und
der Einstieg in die Eigensprache des
Menschen hat sich im ärztlichen
Gespräch im allgemeinen und im
Gespräch mit psychosomatisch Kranken
im speziellen als effektiv gezeigt. Jonas
hat – von seiner Methode berichtend –
immer wieder von einer Ultrakurzpsychotherapie gesprochen – in unserer
Zeit eine ganz besonders faszinierende
und verlockende Behandlungsform.
Zum Verständnis des Begriffes „Eigensprache des Menschen“ hilft die Betrachtung der Phylogenese des menschlichen
Gehirns.
1. Palaeocortex
= Stammhirn oder Hirnstamm
steuert alle Grundbedingungen des Lebens
schlechthin:
– Atmung
– Blutdruck
– Temperatur
2. Archaeocortex
= Mittelhirn, das limbische System enthaltend
l i m b i s c h e s System
– hier können Gefühle generiert werden
– Lebewesen mit dieser Struktur leben
– erstmals in Gemeinschaften
– hier ist der Sitz unserer Erfahrungen
– Lebewesen mit dieser Struktur sind fähig, – erste sprachliche Äusserungen zu machen.
3. Neocortex = Neuhirn (wesentlicher Anteil: Hirnrinde)
Logik
– willkürliche Motorik
– Sensorik
– ognitive Leistungen
Ess-Störungen aus der Sicht des niedergelassenen Arztes
Die als Eigensprache bezeichneten
Anteile unserer Äusserungen werden
„eingefärbt“ von limbischen Anteilen,
die die Eigenart und die Einzigartigkeit
des Sprechenden zum Ausdruck bringen.
Beim aufmerksamen Zuhören fallen uns
beim Sprechenden neben den Dialektanteilen (die für Sie als Zuhörer bei einem
Referat eines CH-Kollegen besonders
auffällig sein müssen) und neben einer
ganz bestimmten, persönlichen Mimik
und Gestik auch ganz bestimmte Begriffe auf – man nennt diese Begriffe
Schlüsselwörter.
Die Auffälligkeit von Begriffen als
Schlüsselwörter hängt sowohl vom
Sprechenden als auch vom Zuhörer ab.
So werden diese Schlüsselwörter zu
Schnittstellen gemeinsamen Erlebens.
Durch dieses Phaenomen entsteht
zwischen den Gesprächspartnern ein
Resonanzphaenomen, Zuhörer und Sprechender schwingen gewissermassen auf
der gleichen Ebene – es entsteht ein
Gefühl der Solidarität und des Verstandenseins. Jonas hat dieses Resonanzphaenomen als den entscheidenden
Faktor jedes Gespräches bezeichnet.
Wird bei Schlüsselwörtern nach der
individuellen Bedeutung gefragt – etwa
mit der Formel: „Kannst Du mir in Deinen
eigenen Worten sagen, wie ich mir Deine
Oberbauchschmerzen vorstellen muss?“
so hören Sie oft die Ihnen bekannte Antwort: „Ein Stein liegt mir im Magen“.
Indem Sie sich nun diesen Stein
beschreiben lassen, bringen Sie ihren
Gesprächspartner dazu, Bilder und
Erfahrungen als Erklärungsnotwendigkeiten mitzubenutzen und dabei automatisch limbische Anteile mitzutransportieren.
Patienten die so sprechen, erleben,
wie Gefühle Platz gewinnen – oft wird
dieser Vortrag körperlich gespürt – Sie
sind mit ihrem Interview in die Psychodynamik Ihres Gesprächspartners eingestiegen.
Resonanzphänomene lassen sich
auch in noch viel einfacheren Begebenheiten nachweisen:
Stellen Sie sich z.B. ein Bauerndorf
vor, in dem die Menschen abends vor
ihren Häusern auf Bänken nebeneinander sitzen und über belanglose Dinge
wie Wetter, andere Dorfbewohner oder
Lokalpolitik sprechen. Nonverbal werden
dabei ganz entscheidende Signale ausgetauscht:
• ich habe Dich gern
• ich brauche Dich
• Du bist ein Mitglied unserer
Gemeinschaft usw. ...
Bei solchen Gesprächen entsteht ein
Ambiente, das qualitativ weit über dem
inhaltlich Ausgetauschten steht. Gerade
durch die Selbstverständlichkeit der
Situation und des allabendlichen Ritus,
entsteht eine besondere Form der Vertrautheit und des Verständnisses und
55
56
des Verstehens. Es herrscht eine angenehm und entspannte Atmosphäre.
Einen solchen Gesprächsverlauf nennt
man locker.
Die miteinander kommunizierenden
Menschen geben k ö r p e r l i c h entscheidende Gemeinschaftssignale, die
sich in ganz bestimmten Gesten, Satzmelodien, Sprechpausen usw. ausdrücken und gleichzeitig von hohem Kommunikationswert sind.
„Lockere“ Gespräche beinhalten
immer limbische Anteile, die für die
Erlebniswelt des einzelnen Menschen
von hoher Bedeutung sind.
Ich habe hier in diesem Hause anlässlich eines Trainingsseminars eine Situation erlebt, die das vorher Ausgesagte
noch etwas besser zur Darstellung
bringt.
Bei Seminarbeginn stellte ich die
Frage, ob irgendein Teilnehmer irgendeine Begebenheit zum Thema machen
möchte.
Es meldete sich eine Kollegin, die
erklärte, sie wolle kein Gespräch führen,
sondern sich beklagen. Bei Ihrer Anmeldung zum Seminar hätte man ihr zugesichert, sie werde um 16.00 Uhr bei der
Klinikpforte erwartet und es werde für
ihre Übernachtungsmöglichkeit gesorgt.
Pünktlich um 16.00 Uhr sei sie dann an
der Pforte erschienen – kein Mensch sei
aber über ihr Kommen orientiert gewesen, verspätet sei dann der Klinikchef
erschienen, habe sie nicht besonders
H. H. Ehrat
freundlich begrüsst und zu ihr gesagt,
sie solle mit ihm kommen. Er sei dann
vorausgegangen – sie hätte sogar ihr
Gepäck selber tragen müssen – und sei
von ihm in diesen Seminarraum gewiesen worden. Nun erwarte sie, dass dieser
Kollege sich bei ihr in aller Form entschuldige. So ein Verhalten sei sie nicht
gewohnt, was wir sicher alle gut verstehen würden.
Auf meine Frage, was sie denn
gewohnt sei, erzählte sie, sie erfahre in
ihrem Leben viel Freundlichkeit und
Höflichkeit und immer wieder auch gute
Gespräche.
Auf die Frage, was denn gute Gespräche für sie seien, gibt sie ein Beispiel:
Mein Mann und ich sitzen oft abends im
Garten, trinken italienischen Weisswein
mit Eisklötzchen und reden über die
wichtigen Dinge des vergangenen
Tages.
Meine nächste Frage: Waren sie auch
schon in Italien?
Darauf erzählt die Kollegin in farbenreicher Sprache, dass ihre Grossmutter
eine Italienerin sei, sie oft dort im Urlaub
gewesen sei und diese Erinnerung in ihr
viele gute Gefühle wecke und dieser
Gedanke an die italienischen Wochen
für sie etwas Paradiesisches hätten.
Die Schilderung des Ortes, der Gewohnheiten und der dort lebenden Menschen
machte der Kollegin sichtlich Freude,
was sich neben dem lexikalischen Bericht
Ess-Störungen aus der Sicht des niedergelassenen Arztes
auch non-para und praeverbal sehr gut
beobachten liess.
Sie war mit ihrer Schilderung gewissermassen in eine heile Welt eingetreten
– in eine Welt voller Ressourcen und
voller Gefühle der Gemeinschaftlichkeit.
Die anfänglich geforderte Entschuldigung konnte sie nach dieser Schilderung mühelos aufgeben – das traumatisierende Erlebnis hatte seinen Stellenwert verloren.
In der dargelegten Gesprächssequenz
zeigt es sich, dass es nicht entscheidend
ist, problemorientiert zu sprechen, sondern davon auszugehen, dass a l l e
Aussagen eines Menschen einen ganz
bestimmten Wert haben, von ihm selber
ausgehen und Verständnis und Verstehen ermöglichen, ohne das „Problem“
sogenannt gelöst zu haben.
Philosophen der Postmoderne weisen
immer wieder darauf hin, dass alle Phaenomene – auch Worte – an sich eine
Bedeutung haben, unabhängig davon,
ob diese von mir in Zusammenhang
gebracht werden können oder nicht. Im
Gegenteil, es wird der Wert des einzelnen Phaenomens an sich betont. Diese
Erkenntnis macht sich die Idiolektik zu
Nutze, indem die These gilt: Kein Mensch
sagt irgendein Wort zufälligerweise,
nicht einmal e i g e n t l i c h .
(Gerade dieses Wort e i g e n t l i c h
zeigt immer, dass hinter dem Ausgesagten sich noch eine andere „Wahrheit“
versteckt hält.)
In praxi heisst dies – und ich verweise
noch einmal auf obiges Beispiel – alle
Begriffe, die ihr Gesprächspartner verwendet, können als Einstiegswort in ein
Gespräch genutzt werden.
Meine Damen und Herren, ich kann mir
sehr gut vorstellen, wie sie sich fragen,
was dies alles mit Ess-Störungen zu tun
haben könnte. Sie alle wissen, wie sehr
Patienten mit schwerwiegenden EssStörungen von ihren Gefühlen und ihren
Werten abgekoppelt sind. Sie wissen
wahrscheinlich besser als ich, wie oft
diese Abtrennung von Gefühlen, Eigenwerten und Ressourcen durch Behandlungskonzepte, die auf der Formel: Du
musst basieren, noch verstärkt werden.
Sie haben sicher auch erfahren, wie
Therapiefortschritte rasch dahinschmelzen können, weil wir spüren, wie wenig
Fundament vorhanden ist.
In eigensprachlichen Interviews wird
nicht auf ein recipe hin gearbeitet, sondern es wird versucht, durch Aufspüren
von Ressourcen, verschüttete AhaErlebnisse zu ermöglichen.
Stellen Sie sich vor, Ihre Patienten
gehen aus der Gesprächssitzung weg
mit dem Wissen und der Erfahrung, was
sie alles können und welche Kräfte in
ihnen vorhanden sind.
Stellen Sie sich vor, was in solchen
Menschen vorgehen kann, die erleben,
dass andere ihre Lebensweise respektieren und würdigen können.
57
58
H. H. Ehrat
Prof. Krapf in Zürich hat folgenden
pädagogischen Versuch gemacht, mit
dem sich das Gesagte vielleicht gut
erläutern lässt.
Schüler mit Schwierigkeiten in
Mathematik werden in 2 Gruppen aufgeteilt.
Mit der einen Gruppe wird im Nachhilfeunterricht und in Trainingsstunden
Mathematik „aufpoliert“.
Mit der zweiten Gruppe wird nur in
jenen Fächern gearbeitet, in denen sie
gute Leistungen erbracht haben.
Das verblüffende – jetzt nicht mehr
verblüffende – Resultat ist, dass die
zweite Probandengruppe nach diesem
Unterricht auch im Fach Mathematik
ganz deutlich erkennbare Fortschritte
gemacht hat.
Unsere Behandlungswelt ist defizitorientiert – dies sicher mit gutem Grund.
Es gibt auch gute Gründe und genügend
Hinweise, dass Behandlungskonzepte,
die ressourcenorientiert sind, sehr hilfreich und wertvoll sein können.
Wo die Passion des Sprechenden liegt,
ist unschwer auszumachen.
Aus der Kasuistik meiner Praxis gibt
es ermutigende Beispiele, die Bedeutung
und Wirkung des eigensprachlichen
Interviews aufzeigen.
durch diese Methodik der „Gesprächsall­
tag“ eine ganz andere Färbung erfährt.
Leichtigkeit und Unbekümmertheit,
was aus den Gesprächen werden wird,
bewirken Erleichterung für uns und
wecken Freude und ungebrochenes Interesse an allem, was uns in diesen eigenartigen und einzigartigen Gesprächen
begegnet.
Patienten berichten, wie solche
Gespräche nachwirken, besonders dann,
wenn der Hauptkriegsschauplatz der
Problematik gar nicht zur Sprache
gekommen ist. Gerade unser Verzicht,
uns auf diesem gefährlichen Kriegsschauplatz zu bewegen, bringt Entlastung und erfüllt die sokratische Forderung nach der Situation, in der ich mit
entleertem Becher warten darf, bis er
von meinem Partner (hier Gesprächspartner) nach seiner Massgabe gefüllt
werden kann oder auch nicht.
Einige Kollegen, die mit mir zusammenarbeiten und Idiolektik anwenden,
berichten immer wieder über Erlebnisse,
die ihnen Eindruck machen, und wie
Zu diesen Punkten einige Bemerkunge :
Zur „P h i l o s o p h i e“ der Idiolektik
sind zwei Grundsätze zu beachten:
1. Jedes Lebewesen ist einzigartig.
Ich möchte zusammenfassend auf die
Grundbedingung der Idiolektik zurückkommen:
Grundbedingungen des idiolektischen
Interviews sind:
• die Philosophie der Idiolektik
• die bestimmte Technik der Idiolektik
• die Haltung des Gesprächsleiter
Ess-Störungen aus der Sicht des niedergelassenen Arztes
2. Jedes Lebewesen hat für sein Verhalten Gründe (von Jonas die guten
Gründe genannt).
Aus der Maxime der Einzigartigkeit der
Lebewesen spüren Sie viele ethische
Anteile. Mit Absicht spreche ich nicht
vom Menschen, sondern von Lebewesen
– meine Tochter hat als Veterinärmedizinerin gleiche Grundsätze im Umgang
mit den Tieren beachtet und dabei ganz
erstaunliche Erfahrungen gemacht.
Zum zweiten sind die „guten Gründe“
für das Verhalten der Lebewesen Ausdruck ihrer Erbanlagen, dem Millieu, in
dem sie leben, und ihrer Erfahrungen,
die in ganz bestimmten, entscheidenden
Ab­schnitten des Lebens gemacht wurden.
Jonas bezeichnet diese Gründe auch
als „innere Weisheit“ und erklärt, dass
diese innere Weisheit die Adaptationskraft jedes Lebewesens ist, auf ganz
bestimmte Bedingungen ganz individuelle Antworten, Verhaltensmuster und
Krankheitsphänomene zu generieren.
Werden Erkrankungen unter diesem
Aspekt betrachtet, wird ihnen ein anderer Platz zugewiesen. Der Körper der
betroffenen Personen spricht seine Sprache im adaptiven Sinne.
Jonas beschreibt einige Krankheitsbilder, die in ihrer Erscheinungsform in
einer früheren entwicklungsgeschichtlichen Periode nicht als Krankheit, son-
dern als Adaptationsphänomen angesehen werden kann.
Er nennt solche Phänomene:
a r c h a i s c h e R e l i k t e.
Zur Erläuterung zwei Beispiele:
1. Herzrasen – Panikattacken
2. colitis ulcerosa
ad 1:
Unser Herz erhöht seine Frequenz
automatisch, wenn Gefahr droht, Flucht
vorbereitet werden muss.
Interessanterweise tritt dieses Phaenomen auch dann auf, wenn Gefahr und
Flucht nur schon imaginär vorhanden
sind. Die betroffenen Lebewesen „verstehen“ ihr körperliches Phaenomen
nicht.
ad 2:
Die Seegurke stösst bei Herannahen
eines Feindes Teile ihrer Dickdarmschleimhaut ab und wirft diese dem
Gegner zum Frass vor; sie gewinnt damit
Zeit zu fliehen.
Im eigensprachlichen Interview finden
sich dann zahlreiche Hinweise, die auf
die Entstehung des klinischen Bildes
hindeuten. Beim Patienten entsteht
während des Sprechens die Möglichkeit,
Zusammenhänge zwischen Ursache und
Krankheitsbild zu erkennen. Er selber
gewinnt Verständnis gegenüber einem
Zustandsbild, das bisher nicht verstanden sondern abgelehnt wurde.
59
60
Unter den genannten Bedingungen
wechselt auch die Position des Therapeuten.
Urteil und Beurteilung machen Würdigung und Respekt gegenüber dem
beobachteten Phaenomen oder Krankheitsbild Platz. Es fällt ihm, das heisst
uns, plötzlich schwer, eine ganz
bestimmte, eingeübte Beurteilung zum
tragenden Element zu machen.
Im Gegenteil, an Stelle des Wissens
über ein Krankkheitsphaenomen treten
Fragen und Verstehen.
An Stelle eines Ratschlages tritt achtsames Zuhören, Mitgehen und Miterleben.
Der behandelnde Arzt realisiert, dass
die Wirklichkeit des Patienten bei ihm
selber liegt, und sich in keinem Fall mit
einem schematischen Denken zur
Deckung bringen lässt.
„Logische“ Aussagen, wie z.B.: „Du
musst keine Angst haben!“ sind nicht
mehr möglich, auch dann nicht, wenn
statistisch gesehen und auf Grund der
Erfahrung kein Anlass zu Angst besteht.
Die Wirklichkeit des Patienten ist eben
bedrängendes, angsterfülltes Erleben.
Entwicklungsgeschichtlich betrachtet, sind Ängste immer Angst vor Verlust
des Lebens, und somit sind sie wesentliche Triebfeder, alles daran zu setzen, die
gefürchtete Situation zu vermeiden. Sie
sind Ausdruck der inneren Weisheit dieses Lebewesens.
Unter dieser Betrachtungsweise ver-
H. H. Ehrat
stehen Sie auch, was für eine hohe
Bedeutung Respekt und Würdigung
gegenüber einer geäusserten Angst hat.
Eine solche Haltung ermöglicht dem
Therapeuten, den eigenständigen, dynamischen Prozessen des Patienten Nahe
zu sein, und in liebevoller Weise mit
ihnen und ihren beklagten Beschwerden
umzugehen.
In solchem Sinne ärztlich zu handeln
wird zur Selbstverständlichkeit und
ermöglicht dem Leidenden zu den eigenen Kraftquellen zurückzufinden.
Patienten erleben so ein kleines Stück
einer „heilen Welt“ und es stellt sich die
Frage, ob in ihr nicht die Kraft der Heilungsmöglichkeit verborgen liegt.
2. Technik der Idiolektik
Im idiolektischen Gespräch wird – wie
eingangs erwähnt – auf Schlüsselwörter
des Sprechenden geachtet. Schlüsselwörter sind Begriffe, die für mich als
Zuhörer auffallen.
Die Tatsache, dass gewisse Begriffe
für mich auffällig sind, gibt Hinweise
darauf, dass diese Begriffe mich besonders ansprechen, in irgendeiner Weise
mit meinem Kontext zusammenklingen.
Es hat sich gezeigt, dass die Auswahl
der Schlüsselwörter, die den weiteren
Gesprächsverlauf mitbestimmen, mit
Vorteil nach bestimmten Gesichtspunkten ausgewählt werden sollten.
Ess-Störungen aus der Sicht des niedergelassenen Arztes
Schlüsselwörter als Gesprächseinstiegsbegriffe sollten wenn möglich folgende Eigenschaften haben:
• sie sollen konkret sein
• sie sollen sich nicht mit Gefühlen
beschäftigen
• die sollen vermeintlich unverfänglich
sein (so lässt sich leichter der Aufenthalt auf dem Kriegsschauplatz vermeiden)
• sie sollen wenn möglich Bewegung
ausdrücken
• sie sollen möglichst weit ab vom vermuteten Geschehen liegen
Mit der Frage, wie muss ich mir dies oder
jenes vorstellen, wird versucht, die individuelle Bedeutung des verwendeten
Wortes zu erfahren (meine Deutung des
Wortes ist nicht gefragt).
Bei geübten Gesprächsleitern gelingt
es im weiteren oft, die vom Patienten
dargestellte Situation in ein Bild zu fassen – man spricht dann von der metaphorischen Gesprächsebene.
Dem Patienten werden Situationen,
die auf der bildhaften Ebene dargestellt
werden, leichter zugänglich, ganz abgesehen davon, dass Menschen mit Bildern
leichter umgehen können als mit abstrakten, intellektualisierten Erklärungen.
3. Meine Haltung als
Gesprächspartner
Der Theologe Drewermann hat nach
meiner Meinung das Anliegen unserer
Haltung am treffendsten dargestellt, in
dem er sagt, dass für Lehrer, Ärzte, Psychologen und Berater zwei Haltungs­
muster entscheidend sind:
1. spricht er vom „sokratischen Optimismus“ und meint damit, dass Wahrheit und Wirklichkeit einer Person in ihr
selber liegen und
2. spricht er vom „methodischen
Immoralismus“ und meint damit unsere
Grundhaltung, die absichtslos, ziellos
und kommentarlos sein muss und vergleicht diese Situation mit den Israeliten
des alten Testamentes, die sich in den
Tempel begeben, in dem sie Asyl finden.
Dort dürfen die Menschen sein, wie sie
wirklich sind.
Meine Damen und Herren :
Ess-Störungen aus der Sicht eines
niedergelassenen Arztes, so habe ich
mein Referat genannt.
Sie haben verbal zu dieser Thematik
ganz wenig gehört.
Ich hoffe, sie haben gespürt, mit welchen Anliegen ich bei meiner Arbeit mit
dem Leiden solcher Menschen umzugehen versuche.
Sie werden sicher auch verstehen,
wenn ich darauf verzichtet habe, aus
meiner Kasuistik zu diesem Thema Bei-
61
62
träge zu bringen.
Ich hoffe, es sei mir gelungen – ohne
diese Beispiele – deutlich zu machen,
welche Behandlungsenergie in der dargestellten Methode liegen kann und ich
weiss, dass Sie erkennen, welchen Erfahrungen im Umgang mit den angesprochenen Krankheitsbildern ich meine
Begeisterung für Idiolektik verdanke.
H. H. Ehrat
63
Stationäre Behandlungskonzepte
bei Eßstörungen
F. Bleichner1
R. Maaser2
S. Walinda3
Einleitung
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Die Zeiten, in denen die stationäre psychosomatische Behandlung die einzige
Möglichkeit zur Therapie darstellte, sind
endgültig vorbei. Stationäre Therapie
darf nicht mehr isoliert betrachtet werden. Sie ist Teil einer Behandlungskette
und nur dann indiziert, wenn ambulante
Therapie nicht zum gewünschten Erfolg
führt. Damit kommt der Zielsetzung für
den stationären Therapieabschnitt und
den Übergängen ambulant – stationär
und stationär – ambulant besondere
Bedeutung zu.
1. Stationäre Therapie muß dem
Umstand Rechnung tragen, daß durch
1) Dr. med. Franz Bleichner
Facharzt für Psychotherapeutische Medizin
Facharzt für Innere Medizin - Gastroenterologie
Ärztlicher Direktor
Psychosomatische Klinik Bad Neustadt
2) Dr. phil. Rudolf Maaser
Diplom-Psychologe
Leiter interne Schulung und Therapiecontrolling
Psychosomatische Klinik Bad Neustadt
3) Dr. med. Sylvia Walinda
Fachärztin für Allgemeinmedizin - Psychotherapie
Oberärztin Psychosomatische Klinik Bad Neustadt
die Herausnahme aus dem familiären
Umfeld und den sozialen Bindungen eine
künstliche Situation entsteht, die den
Patienten zwar aus den die Krankheit
unterhaltenden Spannungsfeldern herauslöst, aber gleichzeitig die Illusion
vermitteln kann, daß der Ablauf in der
Klinik das wirkliche Leben darstellt.
Geschieht dies, so ist der Absturz nach
der stationären Behandlung vorprogrammiert.
2. Die Therapiedauer muß dem
Krankheitsbild angemessen sein, zu
lange Therapiezeiten haben schädigenden Charakter, was sich in der Behandlung von Therapiewiederholern immer
wieder zeigt.
3. Stationäre Therapie muß realitätsbezogen sein, d. h. sie muß inhaltlich
die realen Gegebenheiten der Patienten
mit berücksichtigen und in den Ablauf
einbeziehen.
4. Die vorund nachstationäre
Be­handlung muß in die stationäre Therapieplanung einbezogen sein
5. Therapiekonzepte heilen nicht per
se, sondern sind aus dem Krankheitsverständnis und den Gegebenheiten der
Klinik entstandene Handlungsanweisungen.
6. Rigide und buchstabengetreue
Befolgung von Konzepten ist genauso
64
fehl am Platz wie die ständige Ausnahmesituation im Einzelfall.
7. Konzepte müssen klar, einfach und
für alle verbindlich sein und in ihrer Zielrichtung inhaltlich verstanden werden.
Eßstörungen werden in fast allen
psychosomatischen Kliniken behandelt.
Dementsprechend gibt es eine Fülle von
unterschiedlichen Behandlungskonzepten, die sich im einzelnen schwer vergleichen lassen. Klinikkonzepte spiegeln
die Möglichkeiten und Grenzen der einzelnen Kliniken wider.
Bei allen Unterschieden läßt sich bei den
tiefenpsychologisch orientiert ar­bei­
tenden Kliniken ein Grundmuster erkennen:
• Stationäre tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie
• Strukturierende Rahmenvereinbarungen
• Realitätsgerechte Hilfestellung zum
Abschluß der Therapie, z. B. bei Berufsfindung, Arbeitsuche, Wohnungs­suche,
weitere ambulante Therapie.
Durch unterschiedliche Aufnahmekriterien wie
• Festlegung eines Mindestaufnahmegewichts,
• Aufnahmealter,
• Motivationsnachweis
(schriftlich,
ambulante Vorgespräche usw.)
wird eine Patientenselektion durchgeführt, ohne deren Kenntnis ein Ver-
F. Bleichner, R. Maaser, S. Walinda
gleich der einzelnen Konzepte nicht
möglich ist.
Klinikkonzept zur Behandlung
der Anorexia nervosa
In der Psychosomatischen Klinik Bad
Neustadt werden im Krankenhausbereich jährlich ca. 1600 Patienten behandelt. Ca. 10 % davon leiden an einer
Eß­störung.
Legt man die Klassifikation nach­
ICD-10 zugrunde, so verteilt sich unser
Patientengut aus den Jahren 1996 bis
1997 wie folgt: Ca. 75 % sind dem anorektischen und ca. 25 % dem bulimischen Formenkreis zuzurechnen. (siehe
nebenstehende Tabelle)
In unserer konzeptuellen Ausrichtung
sind wir tiefenpsychologisch orientiert,
in diesem Rahmen versuchen wir, uns
diese besonderen Vorteile der statio­
nären Therapie nutzbar zu machen. Dies
ist zum einen die Möglichkeit, den Patienten im stationären Setting umfassend
und intensiv unter verschiedenen Ansätzen behandeln zu können. Des weiteren
beinhaltet die stationäre Therapie die
Möglichkeit, den Patienten zunächst
einmal von seinem häuslichen, zumeist
die Pathologie unterstützenden Umfeld
zu trennen und damit eine andere Basis
als die ambulante Therapie als Ausgangspunkt eröffnen zu können.
Stationäre Behandlungskonzepte bei Eßstörungen
Klassifikation nach ICD 10
F 50.0 F 50.1 Quetelets-Index
< 17,5
Gewichtsverlust
Nahrungsrestriktion
Erbrechen,
Laxantien
körp. Aktivität
Körperbild
Angst, dick zu
werden;
niedriges
Gewichtsideal
Die Anorexia nervosa stellt sich für
uns als Suchterkrankung dar, die sich vor
dem Hintergrund einer psychopathologischen Struktur entwickelt. Die Suchtstruktur besteht aus einem Suchtverhaltenssystem, dessen Ziel und Motive dem
bewußten Ich verborgen bleiben, das
vom gesunden Teil des Ichs abgespalten
automatisch abläuft und sich autoaggressiv schädigend am eigenen Körper
abspielt. Die Suchtstruktur entwickelt
sich psychopathogenetisch auf allen
Ebenen der Entwicklung. Zum einen
­liegen strukturelle Defizite im Bereich
der Selbstakzeptanz und Autonomie vor,
zum anderen lassen sich auch viele neu-
F 50.2 F 50.3
erniedrigt
ein oder mehrere Kriterien
der typischen
A. nervosa
fehlen bei
an­sonsten
typischen Bild
endokrine Störung ja
65
Eß- Brech­
attacken,
­Einsatz von
­Diuretika,
Laxantien,
Appetitzügler,
Schilddrüsenhormon usw.
ein oder mehrere Kriterien
der typischen
A. nervosa
fehlen bei
an­sonsten
typischen Bild
Angst, dick zu
werden;
Gewichtsideal
unter prämorbiden Gewicht
nicht obligatorisch
rotische Konflikte im Sinne neurotischer
Infantilismen aufweisen.
Aufnahmekriterien
Wir nehmen die Patientinnen ohne Wartezeit auf; ein Mindestgewicht wird
nicht gefordert.
Patientinnen, die im engeren Sinne
intensivpflichtig sind (respiratorische
Insuffizienz mit Beatmungspflicht und/
oder massive Störungen in der Eiweiß­
bilanz) können nicht aufgenommen
werden.
66
F. Bleichner, R. Maaser, S. Walinda
Patientengut
Therapieziel
Etwa ein Drittel aller Anorexie-Patientinnen haben ein Aufnahmegewicht
unterhalb BMI 14. 50 % haben einen
längeren Krankheitsverlauf als 5 Jahre,
nur ein Drittel einen Krankheitsverlauf
von einem Jahr. 80 % der Patientinnen
haben zwei und mehr stationäre Therapien bereits hinter sich gebracht und
sind zu 90 % in ambulanter psychotherapeutischer Behandlung. Auch das
Durchschnittsalter von 25 Jahren zeigt
an, daß größtenteils chronifizierte
Krankheitsverläufe zur stationären
Behandlung kommen.
(siehe untenstehende Tabelle)
• Aufgabe des Suchtverhaltens
• Erreichen eines gesunden Gewichts­
niveaus, gekennzeichnet durch das
Wiedereinsetzen der Periodenblutung
• autonome Lebensführung.
Seit über 20 Jahren verfolgen wir ein
zweiphasiges Behandlungskonzept.
Sie beginnt mit dem Aufnahmegespräch
(möglichst mit den Angehörigen):
Erste Phase
Die erste Phase ist als Suchttherapie
konzipiert und hat zum Ziel:
• Einengung und Irritation des süchtigen Verhaltenssystems.
• Wiederauffütterung und körperliche
Stabilisierung.
Schweregrad4 und Krankheitsdauer
bis 1 J.
2 – 3 J.
4 – 5 J.
6 – 10 J. >10 J.
Grad 1 (n=135)
52
33
25
24
1
Grad 2 (n=34)
7
10
6
9
2
Grad 3 (n=12 )
2
1
2
5
2
gesamt5
61
44
33
38
5
4) Schweregrad 1: BMI zwischen 14 und 17,5
Schweregrad 2: BMI zwischen 12 und 14
Schweregrad 3: BMI kleiner 12
5) davon 5 mit gerichtlich angeordneter Betreuung
Stationäre Behandlungskonzepte bei Eßstörungen
Zielsetzung
• Erklärung des Konzeptes
• Motivation
• Entlastung des gesamten familiären
Systems
(„Sie als Familie haben bisher alles
versucht, um diese schwere Krankheit
zu überwinden. Trotz all Ihrer Bemühungen hat dies nicht zum gewünschten Erfolg geführt. Sie haben jetzt
einen wichtigen Schritt getan, indem
Sie sich zur stationären Therapie entschlossen haben und damit die Verantwortung ein Stück auch an uns
abgeben. Jeder von Ihnen hat jetzt die
Möglichkeit, die Sorge für den anderen ein Stück weit sein zu lassen und
sich mehr mit sich zu beschäftigen.
Diese Auszeit brauchen Sie, um mit
neuer Kraft nach Abschluß der stationären Behandlung die dann noch
anstehenden Probleme zu lösen.")
Rahmenbedingungen
• Kontaktunterbrechung zum häuslichen Umfeld:
• Hierdurch soll erreicht werden, daß
Magersuchtsrituale, die sich in der
Familie etabliert haben, nicht mehr
ohne weiteres aufrechterhalten werden können.
• Hausgebot: Dadurch wird mögliches Suchtverhal-
ten außerhalb der Klinik unmöglich
gemacht.
• Essen und Gewicht sind in dieser Phase
kein Thema für Gespräche mit der
Patientin. Sie wird täglich so gewogen,
daß sie ihr Gewicht nicht erfährt,
erhält hochkalorische Vollkost und
zusätzlich 4 x am Tag einen Becher =
200 ml Sondennahrung, die sie unter
Aufsicht trinkt und anschließend für
eine halbe Stunde unter Beobachtung
bleibt. Wir gehen hierbei von der Überlegung aus, daß im häuslichen Milieu
das Thema Essen und Gewicht bis zur
völligen Erschöpfung des familiären
Systems diskutiert und besprochen
wurde („Kind, Du hat schon wieder ein
Pfund abgenommen, Du mußt doch
etwas essen, ich koche Dir Deine Lieblingsspeise“ usw.).
• Störung von anorektischen Ritualen
(Gymnastik, Ablenkung usw.).
In dieser Phase sind die Patientinnen nur
teilweise in die Stationsgemeinschaft
mit Nicht-Anorexie-Patienten eingebunden, der Kontakt beschränkt sich
größtenteils auf den Umgang mit anderen Anorexie-Patientinnen innerhalb der
Anorexie-Gruppe.
Unterbringung je nach Gewichtssituation auf der Intensivstation oder der
Allgemeinstation (BMI unter 13 zwingend Aufnahme auf Intensivstation).
Das psychotherapeutische Angebot
in dieser Phase besteht aus täglichen
67
68
Einzelgesprächen durch den Bezugstherapeuten, die in kritischen Phasen der
Behandlung auch mehrfach am Tag
erfolgen, einer intensiven Körperwahrnehmungsschulung und einer körper­
bezogen arbeitenden speziellen Magersuchtsgruppe. Neben den BezugstherapeutInnen kommt der Stationsschwester
und der Gruppenleiterin der Anorexiegruppe eine zentrale Bedeutung zu.
Die Gruppenleiterin der Anorexiegruppe arbeitet mit der Patientin vom
ersten bis zum letzten Tag ihres stationären Aufenthaltes intensiv-körperpsychotherapeutisch und ist somit der
Garant der Kontinuität der psychotherapeutischen Arbeit in der Klinik.
Vorteile der körperbezogenen Therapie
bei Magersucht sind:
• die Arbeit mit basalen Erlebnisformen
der Patientin führt mitten in das Zentrum der Magersucht, d. h., sie ermöglicht ein Unterlaufen der Sucht und
ein Vordringen zur narzißtischen
Pathologie der gestörten körperlichen
Selbstakzeptanz.
• Die körperbezogene Methode bietet
die Chance eines Aufbaues gesunder
Felder des Selbst (Anknüpfung an die
gesunden Anteile des Ichs, Aufbau
dieser gesunden Anteile).
• Durch diese Methode besteht die
Chance zum Beziehungsaufbau auf
sehr grundlegendem basalen Niveau.
F. Bleichner, R. Maaser, S. Walinda
Die Stationsschwester erscheint der
Patientin in einer Doppelfunktion:
Einmal als strenge und konsequente,
alle süchtigen Tricks durchschauende
Mutterfigur, zum anderen als die das
hinter dem magersüchtigen Agieren
häufig verborgene Leid der Patientin
verstehende und motivierende Instanz.
Zweite Phase
Die zweite Phase der Therapie ist
gekennzeichnet durch eine schrittweise
Eingliederung in die Stationsgemeinschaft, intensiver einzel- und gruppentherapeutischer Aufarbeitung zugrundeliegender Konfliktthemen (Angst, Ekel,
Scham und beginnende Auseinandersetzung mit dem familiären System im
Rahmen von Familiengesprächen). Die
Rahmenvereinbarungen werden schrittweise aufgehoben. Rückfälle in magersüchtiges Agieren werden nunmehr
nicht mit einer Veränderung der Rahmenbedingungen beantwortet, sondern
innerhalb der therapeutischen Beziehung bearbeitet.
Gegen Ende der Therapie wird die nach
Entlassung bevorstehende Situation
Thema der Gespräche:
Beruf, Schule, räumliche Trennung
vom Elternhaus, ambulante Therapie,
Selbsthilfegruppen usw. Die psychotherapeutische Aufgabe in dieser Phase
Stationäre Behandlungskonzepte bei Eßstörungen
besteht darin, die Selbsteinschätzung
der Patientin durch die Realität zu überprüfen und zu bearbeiten. Im geschützten stationären Rahmen entsteht nämlich leicht die Illusion, viel leistungsstärker und selbständiger zu sein, als es
tatsächlich der Fall ist. Noch bestehende
Schwierigkeiten im Umgang mit der
häuslichen Situation lassen sich durch
Beurlaubungen für ein bis zwei Tage
aufzeigen und dann entsprechend bearbeiten.
Nach Abschluß der Therapie bieten
wir allen Patientinnen neben der ambulanten Psychotherapie und den Selbsthilfegruppen eine Nachsorgegruppe an,
die einmal im Monat stattfindet. Diese
Nachsorgegruppe dient der Begleitung
nach dem stationären Aufenthalt. Auftretende Schwierigkeiten im Alltag können dort in einer den Patientinnen vertrauten Umgebung besprochen werden,
auftretende Krisen und Rückfälle in die
Krankheit frühzeitig erkannt und der
entsprechenden Therapie zugeführt
werden.
Wie oben bereits erwähnt behandeln wir
zum größten Teil chronifizierte Magersuchten. 80 % aller Magersuchtspatientinnen haben zwei und mehr stationäre
psychosomatische Behandlungen hinter
sich gebracht, ohne jeglichen Erfolg,
50 % einen längeren Krankheitsverlauf
als fünf Jahre. Dieser Umstand und die
Aufnahme von Patientinnen mit extre-
mem Untergewicht prägen unser Magersuchtskonzept. Jede nicht erfolgreiche
Therapie mit einem Gewichtsabsturz
bestätigt das anorektische System und
läßt die gesunden Anteile resignieren.
Die Patientin glaubt nicht mehr daran,
gesund werden zu können. Hinzu kommt,
daß sie in jeder Therapie etwas „lernt“,
was sie dann in der nächsten Therapie
im Dienste ihrer Magersucht einzusetzen weiß. Chronifizierte Magersuchtspatientinnen verstehen es, über scheinbar
therapeutisch relevante Themen wie
Mutterbeziehung, Scham und Angst
stundenlang zu reden, ohne ein Gramm
zuzunehmen. Die therapeutische Aufgabe in dieser Phase besteht darin, sich
nicht von diesen Themen ablenken zu
lassen, sondern konsequent das primäre
Ziel, Aufgabe des Suchtverhaltens und
Gewichtszunahme, zu verfolgen.
Somatische Aspekte
Bei Magersuchtspatientinnen mit einem
BMI von 14 und weniger findet sich eine
Reihe von schweren somatischen Komplikationen, die eine sorgfältige internistische Überwachung und ggf. Intervention erfordern. Glücklicherweise verschwinden die meisten Komplikationen
bei Gewichtszunahme, ohne daß sie
behandelt werden müssen. Es ist immer
wieder erstaunlich, welche extremen
Verschiebungen im Elektrolyt- und
69
70
Eiweißhaushalt von den Patientinnen
toleriert werden. Kaliumwerte von unter
2 und Gesamteiweiß von unter 4,5 sind
keine Seltenheit, ohne daß im EKG Hinweise auf die Hypokaliämie bestehen.
Gefährlich ist die Hypalbuminämie, da
durch zu starker Flüssigkeitszufuhr es
rasch zu lebensbedrohlichen Dekompensationen kommen kann. Gerade wenn
die Anorexiepatientin versucht, Ge­­
wichtszunahme durch z. B. Wassertrinken vorzutäuschen, kann so ein Zustand
leicht entstehen. Sorgfältige Überwachung der Patientin bei Bilanzierung der
Flüssigkeitsmenge ist hier angezeigt.
Psychopharmaka werden nicht routinemäßig verabreicht, sind jedoch bei
einem Teil der Patientinnen erforderlich,
um das Getriebensein und die Ängste zu
Beginn der Therapie abzufangen. Zum
Einsatz kommen Neuroleptika und Antidepressiva; in ausgesuchten Fällen, z. B.
bei schweren Knochenmarksdepressionen, Benzodiazepine.
Therapieabbrüche
Eine Magersuchtsbehandlung verläuft
nicht kontinuierlich, Phasen der Ruhe
wechseln immer mit Krisenphasen ab, in
denen das Risiko, die Therapie abzubrechen, besonders groß ist. Ca. 8 % der
Patientinnen reisen am Aufnahmetag
wieder ab, weil sie das Therapieangebot
nicht akzeptieren.
F. Bleichner, R. Maaser, S. Walinda
Die erste Krise in der Behandlung tritt
auf, wenn die erste Gewichtszunahme
erfolgt. Die eintretenden körperlichen
Veränderungen lösen massive anorektische Ängste aus, die die Patientin nur
noch durch Flucht beantworten kann. In
dieser Phase brechen 19 % die Therapie
ab. Auswertungen an unserem Patientengut bei Therapieabbruch haben
gezeigt, daß diese Patienten deutlich
mehr Gewicht pro Woche zunehmen,
nämlich 0,6 kg pro qm-Körperoberfläche, als die Nicht-Therapie-Abbrecher
mit 0,35 kg pro qm-Körperoberfläche.
Intensive therapeutische Arbeit in Form
von Einzelgesprächen, die z. T. mehrfach
täglich nötig sind, und die Magersuchtsgruppe mit Motivation durch andere
Magersuchtspatientinnen helfen, diese
kritische Phase zu überwinden. Besteht
die Patientin weiterhin auf ihrem Abreisewunsch, so werden Eltern und Angehörige zu einem Familiengespräch gebeten, in dem noch mal versucht wird, die
Motivation zur weiteren Therapie herzustellen. Dies gelingt im Regelfall nur
dann, wenn die Eltern sich weigern, die
Tochter mit nach Hause zu nehmen.
Die nächste Krise ist dann zu erwarten, wenn die Patientin somatisch stabilisiert, aber noch voll in ihrem Magersuchtssystem gefangen ist. Sie hat
begriffen, daß sie ihre Magersucht aufgeben muß, wenn sie in der Klinik bleibt
und versucht, dies zu verhindern, indem
sie abreist. Auch hier gilt es, sie in gedul-
Stationäre Behandlungskonzepte bei Eßstörungen
diger therapeutischer Arbeit davon zu
überzeugen, weiterzumachen. In dieser
Phase reisen 21 % ab.
Besonderheiten der stationären
Therapie
Die stationäre Behandlung von Magersuchtspatienten läßt sich nicht mit der
ambulanten vergleichen. Dem System
der Patientin steht die Klinik als Institution gegenüber mit verschiedenen Therapeuten, Hilfspersonal wie Küche,
Rezeption, Reinemachefrauen usw. und
vielen Mitpatienten.
Das familiäre System der
Patientin
Die Angehörigen der Patientin haben
Angst, daß sie etwas falsch machen und
haben Angst, daß, wenn die Patientin
gesund wird, sich etwas in der Familie
ändern wird, weil dann die Sorge um das
kranke Familienmitglied nicht mehr alle
anderen Schwierigkeiten überdeckt. Sie
müssen sich oft von Freunden, Verwandten und Bekannten anhören, daß die
Entscheidung zur stationären Behandlung falsch sei und daß sie ihr Kind im
Stich lassen. Diese Spannung bekommt
oft der Hausarzt als erster zu spüren, der
angegriffen wird, die falsche Diagnose
gestellt oder in die falsche Klinik einge-
wiesen zu haben. Wir bieten den Angehörigen im Aufnahmegespräch an, sich
bei auftretenden Fragen, Unsicherheiten
und Zweifeln direkt telefonisch oder
persönlich an uns zu wenden, damit wir
dies mit ihnen klären können. Auch
beziehen wir den Hausarzt über telefonische Kontakte in die Therapie ein.
Gelingt es auf diesem Wege, die Familie
zu entängstigen und zu aktiver Mitarbeit zu veranlassen, ist ein wichtiger
Schritt in der Magersuchtstherapie
getan.
Kliniksystem
Der emotionale Druck, der von einer extrem untergewichtigen Magersucht ausgehen kann, ist sehr hoch. Diesen Druck
muß in erster Linie die Bezugstherapeutin oder der Bezugstherapeut aushalten.
Ich erinnere mich noch sehr gut an
meine Anfänge als internistischer Oberarzt in der Klinik. Ich hatte eine körperliche Untersuchung bei einer Anore-xiepatientin mit 30 kg Körpergewicht
durchzuführen. Während der Untersuchung verließ ich zweimal das Untersuchungszimmer, um irgend etwas anderes
zu erledigen; ein Verhalten, was ich in
meiner gesamten internistischen Laufbahn bei keinem anderen Patienten
gezeigt habe. Erst später wurde mir
deutlich, was da geschehen war: Ich
habe nicht ausgehalten, diesen bis auf
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das Skelett abgemagerten Menschen,
der sich selbst schon völlig aufgegeben
hat, zu ertragen und mußte fliehen.
Magersuchtsbehandlung kann nicht
auf den Schultern einzelner ruhen, sondern muß vom gesamten Team getragen
werden. Das heißt alle, angefangen von
der Putzfrau bis hin zum Bezugstherapeuten und den Bereitschaftsdiensten
müssen Kenntnis vom aktuellen Therapiestand haben und wissen, welcher
Schritt als nächster erforderlich ist. Ein
klares und in sich schlüssiges Konzept ist
hierbei hilfreich.
Neben den täglichen fallbezogenen
Besprechungen haben wir an unserer
Klinik eine einmal wöchentlich stattfindende Teambesprechung eingerichtet, in
der alle Magersuchtspatientinnen
be­sprochen werden. An dieser Teamsitzung nehmen Sporttherapeuten, Diätassistentinnen, Schwestern und Therapeuten teil. In dieser Besprechung wird der
jetzige Therapiestand erörtert und die
Strategie für die nächste Woche festgelegt.
Für die Reinemachefrauen ist eine
einmal im Monat stattfindende Besprechung angesetzt, in der auf ihrer Ebene
über das Krankheitsbild informiert und
bestehende Schwierigkeiten besprochen
werden. Dieser Personenkreis kann sich
den Forderungen von Magersuchtspa­
tienten, irgend etwas zu besorgen, nur
schwer entziehen, dies braucht beson-
F. Bleichner, R. Maaser, S. Walinda
dere Hilfe. Das gleiche gilt für die Damen
der Rezeption.
Im stationären Bereich ist die Patientin den Einflüssen von Mitpatienten
ausgesetzt. Wohlmeinende Bemerkungen wie: „Du hast aber schon schön
zugenommen", Beschaffung von Laxantien, Schmuggeln oder Verstecken von
Essen, Hilfe bei der Umgehung der Kontaktunterbrechung nach Hause usw.
aktivieren das anorektische System und
können die Patientin in eine tiefe Krise
stürzen. Die Mitpatienten werden von
uns im Rahmen der Stationsrunden über
das Krankheitsbild informiert und angehalten, bei auftretenden Schwierigkeiten oder Fragen sich an die Stationsschwester oder die Therapeuten zu wenden.
Konzepte und besonders die Rahmenbedingungen sind oft Anlaß für sehr kontrovers geführte Diskussionen. Es gibt
sicherlich gute und weniger gute Therapiekonzepte zur Behandlung von Magersucht. Grundsätzlich kann man jedoch
sagen, daß ein in sich schlüssiges konsequentes und auf die Möglichkeiten der
Klinik abgestimmtes Konzept wirksam
ist.
Die ungelösten Fragen in der Magersuchtstherapie sind:
• Wie schaffe ich es, daß eine Anorexiepatientin frühzeitig zur Behandlung
kommt?
• Wie vermeide ich ein Rezidiv?
Stationäre Behandlungskonzepte bei Eßstörungen
Unsere Erfahrung zeigt, daß die Chancen auf Überwindung der Krankheit mit
zunehmender Krankheitsdauer und
erfolglosen Therapieversuchen drastisch
abnimmt. Dauert die Krankheit erst länger als fünf Jahre und sind zwei oder
mehr Therapieversuche gescheitert, so
besteht kaum noch eine Chance, die
Magersucht zu behandeln. Die Patientinnen entziehen sich entweder durch
Therapieabbruch oder kontinuierlicher
Verweigerung jeglicher Bemühungen.
Die Phase, die der Behandlung vorausgeht, ist im Regelfall zu lang. Die
Patientinnen befinden sich in gynäkologischen Abteilungen wegen Zyklusanomalien oder in internistischen Abteilungen, um eine organische Ursache der
Kachexie abzuklären. Obwohl das Krankheitsbild der Magersucht und der Bulimie schon in der Laienpresse häufig diskutiert wird, wird nach wie vor zu spät
und erst nach einer Fülle von komplizierten Untersuchungen daran gedacht.
Die psychosomatischen Kliniken
befinden sich in dem Dilemma, daß sie
keinen Einfluß auf die vorstationäre
Phase haben und nur wenig auf die
Nachsorge. Ambulante Einrichtungen,
die sich kompetent mit Eßstörungen
beschäftigen, sind leider noch Mangelware. Wir versuchen, diesem Mißstand
zu begegnen, indem wir den Hausarzt
telefonisch in die Behandlung mit einbeziehen und eine Nachsorgegruppe
anbieten. Ideal wäre für die Behandlung
von Eßstörungen eine Vernetzung von
Hausarzt, Fachärzten, psychosomatischen Abteilungen an den Akutkrankenhäusern, ambulanten Spezialeinrichtungen und psychosomatischen Kliniken.
Zusammenfassung
1. Schwere und schwerste chronifizierte Magersuchtspatientinnen sind in
einem speziellen Konzept erfolgreich zu
behandeln. Eine gute körperliche Stabilisierung (BMI > 18) wird bei unserem
Krankengut in 56 % erreicht. Lediglich 8
% verbleiben in einem gefährlichen
Ge­wichtsbereich (BMI < 14). Dieser Prozentsatz entspricht genau der Patientengruppe, die die Behandlung nicht
angenommen haben und gleich am Aufnahmetag abreisen.
2. Legt man die Maßstäbe unserer
Zielsetzung zugrunde, erreichen jedoch
nur 20 % unserer Patientinnen das
an­gestrebte Ziel.
3. Die Ergebnisse bei Ersttherapie
und kurzer Erkrankungsdauer sind eindeutig besser. Rasche Diagnosenstellung
und konsequente Ersttherapie sind daher
unerläßlich.
4. Die Nachsorgesituation ist nach
wie vor unbefriedigend. Eine Verbesserung in diesem Bereich ist durch eine
Vernetzung ambulant – stationär möglich (Planung von Langzeitstrategien).
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MEDIAN Rehabilitationskliniken
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Neurologie, Orthopädie,
Rheumatologie,
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Bad Salzuflen Klinikum für Rehabilitation
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32105 Bad Salzuflen
Telefon 0 52 22/37-0
Atemwegs-, Herz-KreislaufErkrankungen, Innere Medizin,
Geriatrie, Gynäkologie, Neurologie, Orthopädie, Rheumatologie, Psychosomatik, Urologie, Onkologie, Allergologie
Bad Sülze
Orthopädie, Rheumatologie,
Neurologie
MEDIAN Klinik
Kastanienallee 1
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Telefon 03 82 29/72-0
76
Rehabilitationskliniken
Rehabilitationskliniken 77
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Geriatrie
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Wismar
Onkologie
Lageplan der Kliniken auf der nächsten Seite.
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Rehabilitationskliniken
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Literaturhinweis
In dieser Reihe sind bereits erschienen:
1
Der chronische Schmerzpatient
Möglichkeiten und Grenzen der Behandlung
Symposium der MEDIAN Klinik Berggießhübel vom 25. Januar 1997
2
Schlaganfall
vorbeugen - behandeln - rehabilitieren
Ein Behandlungsschwerpunkt der MEDIAN Klinik Grünheide
Harald Trettin
Chemnitz
3
Beiträge zur Dysphagie
Diagnostik und Therapie von Schluckstörungen
Ein Behandlungsschwerpunkt der MEDIAN Klinik II Flechtingen
Sonderheft
Wer nicht kämpft, kann nicht gewinnen
Erlebnisse, Erfahrungen und Erinnerungen nach einem Schlaganfall
Eveline Reinke
Bei Interesse wenden Sie sich bitte an:
Klinik-Beratungs-KG
Klinik-Informationsdienst
Carmerstraße 6
10623 Berlin
Telefon 030/31 10 12 34 Fax 030/31 10 11 44
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