Vorwort - Schattauer

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Vorwort
Therapeuten wissen, dass Menschen, die Symptome entwickeln, wie andere Menschen auch, eine einmalige Persönlichkeitsstruktur aufweisen (Westen et al.
2006). Jede therapeutische Maßnahme, darunter auch die Gabe von Medikamenten, setzt eine komplexe Beziehung zwischen dem Patienten mit seiner indivi­
duellen Persönlichkeit und dem Kliniker voraus. In diesem Buch geht es um den
einzelnen Patienten, dessen Persönlichkeit auf einer Skala von leicht bis schwer
gestört als dysfunktional eingestuft werden kann. Der Schwerpunkt liegt dabei
auf dem Fortschritt im Bereich der Beurteilung und der Behandlung von Persönlichkeitsstörungen aus psychodynamischer Sicht.
Die Prävalenz von Persönlichkeitsstörungen ist hoch. Sie beträgt in der Gesamtbevölkerung der Vereinigten Staaten 1,5 % für Cluster-B-Störungen, 5,7 %
für Cluster-A-Störungen, 6,0 % für Cluster-C-Störungen und 9,1 % für Persönlichkeitsstörungen jeglicher Art (Lenzenweger et al. 2007). Es ist an der Zeit, die
psychodynamischen Therapien auf den Prüfstand zu stellen. Neuere empirische
Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass Patienten mit einer gemischten
und solche mit einer schweren Persönlichkeitsstörung auf psychodynamische
Therapien ansprechen, wie Leichsenring in Kapitel 15 darlegt.
Dieses Handbuch richtet sich an erfahrene Kliniker, die Patienten mit einer
Persönlichkeitsstörung psychodynamisch beurteilen und/oder behandeln. Die
Kapitel sind so aufgebaut, dass sie sowohl für Personen in der Psychotherapieausbildung (Absolventen eines Psychologiestudiums, angehende Psychiater und Psychoanalytiker) als auch für erfahrene Kliniker geeignet sind. Besonders hilfreich
für angehende Psychotherapeuten sind die klare Formulierung der Behandlungsgrundsätze (Klinische Schlüsselkonzepte) und die empfohlene Literatur in jedem
Kapitel. Erfahrenen Klinikern bieten die neuesten Erkenntnisse der Objektbeziehungstheorie und der Bindungstheorie, die aktuellen Forschungsergebnisse in
diesem Bereich sowie die Kapitel zu einzelnen Persönlichkeitsstörungen und
-konstellationen die Möglichkeit, ihre Methoden zu verfeinern. In den Kapiteln
zur Behandlung werden unter anderem Behandlungsgrundsätze formuliert
und klinische Beispiele angeführt. Die Kapitel sind jeweils einer bestimmten Störung (z. B. Borderline-Persönlichkeitsstörung) oder einem der drei Cluster der
­Achse‑II-Störungen gewidmet − dies bedeutet nicht, dass wir die hohe Komorbidität auf der Achse II übersehen und eine kategoriale statt dimensionale Sichtweise der Persönlichkeitspathologie einnehmen würden (s. Kap. 1).
Teil I befasst sich mit den Merkmalen der Persönlichkeitspathologie. Das Modell der Persönlichkeit und der Persönlichkeitspathologie gibt dem Kliniker Anhaltspunkte für jeden einzelnen Schritt der Beurteilung und der Behandlung
seiner Patienten, ganz gleich, ob sie eine schwere Achse-I-Störung mit einer komorbiden Persönlichkeitspathologie oder schwere Persönlichkeitsprobleme haben. Caligor und Clarkin (s. Kap. 1) beschreiben ein Objektbeziehungsmodell der
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normalen und der gestörten Persönlichkeit und zeigen seine Implikationen für
die Typologisierung und die Beurteilung der Persönlichkeitsstruktur auf. Bei
dieser Sichtweise müssen im Interesse einer differenzierten Therapieplanung bei
der Beurteilung der Persönlichkeitspathologie nicht nur die deskriptiven Merkmale der Persönlichkeitsstruktur beachtet werden. Es muss auch die Schwere der
Persönlichkeitsstörung berücksichtigt werden, und zwar die Schwere der Störung
hinsichtlich der Grundfunktionen wie der Repräsentanz der eigenen Person und
der des Anderen, der Abwehrfunktionen, der Affektmodulation und der moralischen Funktionen. In Kapitel 2 stellen Fonagy und seine Kollegen die Persönlichkeitsentwicklung und -funktionen aus der Sicht der Bindungstheorie dar. Die
Bindungstheorie und ihre Methoden zur empirischen Beurteilung der Muster
der Selbst- und Fremdrepräsentanz bieten eine gute Grundlage dafür, Persönlichkeit aus entwicklungspsychologischer Sicht zu verstehen. Roth und Buchheim
(s. Kap. 3) bringen den Leser auf den neuesten Stand der Neurobiologie im Bereich der Persönlichkeitsfunktionen. Sie zeigen, dass Persönlichkeitsstörungen
aus einer Kombination von genetischem Polymorphismus, Defiziten bei der Entwicklung des Gehirns und ungünstigen Erfahrungen während der Entwicklung
resultieren. Sie betonen, dass in zahlreichen Hirnarealen eine intensive Inter­
aktion zwischen emotionalen und kognitiven Prozessen stattfindet. Vor allem
zur Borderline- und zur Dissozialen Persönlichkeitsstörung gibt es neurobiologische Daten, die Dysfunktionen in den Netzwerken des Gehirns und im Neuronenstoffwechsel belegen. Zum Abschluss dieses Teils befassen sich Shedler und
Westen (s. Kap. 4) mit der Kluft zwischen Wissenschaft und klinischer Praxis in
Bezug auf Persönlichkeitsstörungen, die bei der Beurteilung der Persönlichkeitspathologie am deutlichsten wird. Statt der in der Forschung so beliebten
halbstrukturierten Interviews setzen Kliniker das klinische Interview ein, um
die interpersonale Welt des Patienten und innerhalb dieser seine Beziehung zum
Therapeuten zu ergründen. Shedler und Westen stellen sowohl eine auf dem klinischen Interview basierende, empirisch belastbare Diagnosemethode als auch
eine Beschreibung der Prototypen der Persönlichkeitsstörungen vor, die reichhaltiger ist als die der Achse II im DSM-IV-TR (American Psychiatric Associa­
tion 2000).
Die Grundlagen der Modelle der Persönlichkeit und ihrer Pathologie finden
sich in Teil I. Teil II widmet sich der Behandlung spezifischer Konstellationen von
Persönlichkeitsstörungen. Jedes dieser Kapitel behandelt die einschlägige empirische Forschung, die Phänomenologie und die Psychodynamik der betroffenen
Patienten sowie Behandlungsstrategien und -techniken und enthält Beispiele aus
der klinischen Praxis.
Die Cluster-A-Persönlichkeitsstörungen der Achse II des DSM-IV-TR (Schizoide, Schizotypische und Paranoide Persönlichkeitsstörung) und ihre Therapie
werden von Williams (s. Kap. 5) beschrieben. Patienten mit einer dieser behandlungsresistenten Störungen stellen den Therapeuten vor eine Vielfalt von Herausforderungen, insbesondere Schwierigkeiten bei der Übertragung, die der Patient
gegebenenfalls lediglich andeutet. Bei diesen Persönlichkeitsstörungen braucht
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der Therapeut besonders viel Geduld und Beharrlichkeit und muss der Inter­
aktion besondere Aufmerksamkeit widmen, um eine vertrauensvolle Therapiebeziehung aufzubauen.
Am umfangreichsten ist bisher wohl die – phänomenologische wie therapeutische – Forschung zu den Cluster-B-Persönlichkeitsstörungen. Bateman und
­Fonagy (s. Kap. 6) beschreiben eine Therapie für Borderline-Patienten, die vor
allem darauf ausgerichtet ist, die Mentalisierungsfähigkeit des Patienten zu verbessern, also die Fähigkeit, eigene Gedanken, Gefühle und Motive sowie die anderer Menschen zu verstehen. Es ist erwiesen, dass diese Therapie die Symptome
in einem tagesklinischen und ambulanten Setting deutlich mindert. Zudem zeigen die Ergebnisse der Nachsorge, dass die positive Wirkung bei Patienten, die
mit der Mentalisierungsbasierten Therapie behandelt wurden, anhaltend ist. Man
vermutet, dass dies auf ihre verbesserte Mentalisierungsfähigkeit in Bezug auf
das Verstehen der eigenen Person und des Anderen zurückzuführen ist. Yeomans
und Diamond (s. Kap. 7) stellen eine alternative Therapie für Borderline-Pa­tien­
ten vor, die sie als Übertragungsfokussierte Psychotherapie (Transference-­focused
Psychotherapy − TFP) bezeichnen. Diese intensive Einzeltherapie für BorderlinePatienten zielt auf die Repräsentanzen der eigenen Person und des Anderen ab,
wie sie in der Interaktion mit dem Therapeuten zutage treten. Es ist erwiesen,
dass die Übertragungsfokussierte Psychotherapie die Symptome erheblich verringert und im Vergleich mit einer speziellen supportiven Therapie sowie der
Dialektisch-behavioralen Therapie sehr gut abschneidet. Außerdem ist belegt,
dass die Übertragungsfokussierte Psychotherapie die Reflexionsfunktionen
deutlich verbessert, die ein Maßstab für die Fähigkeit sind, sich selbst und andere
auf konzeptioneller Basis und mit wirklichem Verständnis zu beschreiben. In Kapitel 8 stellt Gabbard die zentrale Frage der heutigen psychotherapeutischen Forschung: Wenn die Therapien wirken (d. h. die Symptome mindern), wie wirken
sie dann? Welches sind die Mechanismen, die Veränderungen herbeiführen? Er
ist der Meinung, alle klinischen und Forschungsansätze hätten ihre Grenzen, es
sei jedoch anzunehmen, dass mehrere Mechanismen für die Veränderungen verantwortlich seien. Die Autoren aller Kapitel dieses Bandes, die sich mit der Behandlung befassen, sind ebenfalls der Ansicht, dass es sich um eine Vielzahl von
Wirkmechanismen handelt.
In Kapitel 9 stellt Kernberg Narzissmus als eine pathologische Regulierung des
Selbstwertgefühls und der Selbstachtung dar. Er untersucht den komplexen Zusammenhang zwischen Selbstwertgefühl, Stimmungen und der Unbeständigkeit
verinnerlichter Objektbeziehungen. Er unterscheidet zwischen normalem, infantilem und pathologischem Narzissmus und untersucht Therapien für die verschiedenen Stufen des pathologischen Narzissmus. Insbesondere beschreibt und
vergleicht er Kohuts Selbstpsychologie, Rosenfelds Klein’schen Ansatz und seinen eigenen Objektbeziehungsansatz. Horowitz und Lerner (s. Kap. 10) verwenden das Verständnis von Gemütszuständen und die konfigurale Analyse, um
­eine Therapie für Patienten mit einer Histrionischen Persönlichkeitsstörung
– ­a lso Menschen mit intensiven untermodulierten negativen Gemütszuständen,
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die zu emotional impulsivem Beziehungsverhalten führen – zu formulieren. Sie
beschreiben drei Therapiephasen: die Anzahl der Krisen verringern und Stabilität erhöhen, die Anzahl der sozialen Beziehungen erhöhen und schließlich Selbstkohärenz und Vertrautheit im Umgang mit anderen steigern. Meloy und Yakeley
(s. Kap. 11) betrachten die Dissoziale Persönlichkeitsstörung aus der Sicht der
Bindungstheorie, und zwar mit Schwerpunkt auf der Dimensionalität der Erkrankung. In der Literatur werden zwar bestimmte kognitiv-behaviorale Therapien bevorzugt, aber die Bedeutung von Defiziten im inneren Erleben legt nahe,
dass bei einer Untergruppe dieser Patienten auch dynamische Ansätze zur Steigerung der Selbstreflexion und der Mentalisierung berücksichtigt werden sollten.
Svartberg und McCullough (s. Kap. 12) beschreiben anhand ihrer empirischen
Arbeit mit Cluster-C-Patienten (ängstlich-vermeidend, dependent, obsessivkom­
pul­
siv) eine Therapie, die kognitiv-behaviorale und psychodynamische
Techniken integriert, um den Patienten zu helfen, ihre Affekte zu steuern.
Patienten mit einer Persönlichkeitsstörung werden gewöhnlich ambulant
behan­
delt. Wenn jedoch die Funktionen eingeschränkt und die Symptome
schwerwiegend sind, bieten stationäre Behandlung und eine Behandlung in einer
Tagesklinik hervorragende Möglichkeiten. Aufgrund ihrer großen Erfahrung im
klinischen Bereich und in der Forschung weisen Piper und Steinberg (s. Kap. 13)
auf die Notwendigkeit der Behandlung in Tageskliniken und der stationären
Behand­lung bei bestimmten Patienten hin. Trotz der Fortschritte bei der Behandlung vieler Persönlichkeitsstörungen gibt es diagnostische und nicht­dia­
gnosti­sche Merkmale, die der Behandelbarkeit Grenzen setzen. Diese besonderen
Faktoren beschreibt Stone (s. Kap. 14) anhand der Literatur und seiner eigenen
klinischen Erfahrung.
Teil III beinhaltet eine Zusammenfassung der Forschung zur Wirksamkeit gegenwärtiger Therapien und einen Ausblick auf die diagnostischen Verfahren der
nahen Zukunft. Mit der Einführung der Achse II im DSM-III (American Psy­
chiatric Association 1980) wurde ein zuverlässiger diagnostischer Rahmen geschaffen, der zu zahlreichen empirischen Studien zur Pathologie und Therapie
von Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung angeregt hat. Die immer umfangreichere empirische Forschung zu dynamischen Therapien bei Persönlichkeitsstörungen fasst Leichsenring in Kapitel 15 zusammen. Da empirische Belege
für Therapien heute fast schon ein Muss sind, stellt diese Forschung die Durchführung dynamischer Therapien bei Patienten mit einer Persönlichkeitsstörung
auf eine solide Grundlage.
Die seit 1980 durchgeführten empirischen Studien zur Phänomenologie der
Persönlichkeitsstörungen haben neue Erkenntnisse ergeben; diese werden in die
verbesserte Beschreibung der Persönlichkeitsstörungen in dem in Kürze erscheinenden DSM-5 einfließen. Oldham, der Mitglied des für die Achse II des DSM-5
zuständigen Ausschusses ist, legt in Kapitel 16 den gegenwärtigen Standpunkt
des Ausschusses bezüglich der Diagnose von Persönlichkeitsstörungen dar.
Der interessierte Leser fragt zu Recht: Wodurch sind die in diesem Buch beschriebenen Therapien psychodynamisch? Welche sind die für alle Störungen
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geltenden Merkmale einer psychodynamischen Therapie, und welche sind die
Merkmale psychodynamischer Therapien bei Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung? Die letztere Frage ist besonders wichtig in der heutigen Zeit der
manualisierten Therapien mit festgelegten Behandlungsstrategien und -techni­ken,
die nicht nur durch vage und abstrakte Bezeichnungen wie psychodynamisch,
kognitiv-behavioral oder emotionsfokussiert, sondern umfassend beschrie­ben
werden.
Die Frage, was eine psychodynamische Therapie bei Patienten mit einer Persönlichkeitsstörung ist, kann man auf zwei Ebenen beantworten. Zum einen
kann man die Definition der psychodynamischen Therapie und ihrer entscheidenden Merkmale heranziehen und sie mit anderen wie den kognitiv-behavioral
ausgerichteten vergleichen. Zum anderen kann man die in diesem Buch beschriebenen Therapien, die als psychodynamisch bezeichnet werden, untersuchen und
ihre Gemeinsamkeiten ermitteln. Entscheidet man sich für den letzteren Ansatz,
so zeigt sich, dass psychodynamische Therapien eine Reihe gemeinsamer Merkmale haben. Es wird großes Gewicht auf die aktuelle Beziehung zwischen Patient
und Therapeut gelegt. Der psychodynamisch arbeitende Therapeut verwendet
zahlreiche Informationsquellen, um die Art der Beziehungen des Patienten zu
verstehen. Zu diesen gehört auch, dass er beobachtet, wie sich der Patient verhält,
wie er seine Art der Interaktion bewertet und seine Beziehungen beschreibt, und
ebenso seine eigene kognitiv-emotionale Reaktion auf das Verhalten des Pa­tien­
ten ihm gegenüber. Um dieses Verhältnis in der Gegenwart zu verstehen, nimmt
der psychodynamisch arbeitende Therapeut eine Vorstellung von der Gedankenwelt zu Hilfe, die weit über das offenkundige Verhalten und die Aussagen des
Patienten hinausgeht und eine Ebene der Motive und des mentalen Lebens betrifft, deren sich dieser nicht bewusst ist. Den Therapeuten interessieren besonders die Bedeutung, die der Patient seinen Gedanken, Gemütszuständen und
Handlungen zuschreibt, und die Deutung seines inneren und äußeren Erlebens.
Der Therapeut möchte verstehen, wie das Erleben und das Handeln des Patienten
anhand von Vermutungen über frühere Erfahrungen (den Einfluss der Vergangenheit des Patienten auf seine Einstellung und sein Verhalten in der Gegenwart)
zu deuten sind. Dabei achtet er auf Anzeichen der Übertragung – d. h. Verhaltensmuster des Patienten gegenüber dem Therapeuten in der Gegenwart, die auf
das Fortbestehen von bedeutsamen Beziehungsmustern aus der Vergangenheit
oder Reaktionen auf solche hindeuten können.
Wie werden diese psychoanalytischen Modelle im Hinblick auf Patienten mit
einer Persönlichkeitsstörung beschrieben? Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung sind per definitionem solche, die so große Schwierigkeiten mit Beziehungen zu anderen haben, dass diese sie in wichtigen Lebensbereichen wie Arbeit, Beruf, gesellschaftliches Leben und intime Beziehungen beeinträchtigen.
Therapeuten, die sich als psychodynamisch arbeitende Therapeuten einstufen,
achten besonders darauf, wie der Patient die in der Gegenwart stattfindende Beziehung in den ersten Sitzungen strukturiert. Diese besondere Aufmerksamkeit,
die er der aktuellen Art der Interaktion des Patienten widmet, dient zum einen
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der Erstellung der Diagnose und ist zum anderen für seine eigenen Reaktionen
von Bedeutung, die darüber entscheiden können, ob die Behandlung fortgesetzt
wird oder der Patient die Beziehung vorzeitig beendet. Während der psycho­
dynamisch arbeitende Therapeut auf Symptome achtet, unter denen ein Patient
mit einer Persönlichkeitsstörung möglicherweise leidet (z. B. Depressionen und
Angst), liegt der Hauptschwerpunkt auf den Anomalien, Verzerrungen, Konflikten und Defiziten in Beziehungen des Patienten zu anderen Menschen (zu
denen auch der Therapeut gehört), die hinsichtlich der Symptomatik des Pa­tien­
ten eine zentrale Rolle spielen können.
Psychodynamische arbeitende Therapeuten, die Patienten mit einer Persönlichkeitsstörung behandeln, verwenden Modelle der Persönlichkeitspathologie
(s. Kap. 1 u. 2), die Verzerrungen und Anomalien der kognitiven und affektiven
Entwicklungsprozesse bezüglich des Verstehens der eigenen Person und des Anderen in den Vordergrund stellen. Gegenstand der Bewertung und Veränderung
sind eben diese unzureichend artikulierten, unterentwickelten oder verzerrten
internalisierten Repräsentanzen. Zunächst muss sowohl auf der prototypischen
(Shedler u. Westen, s. Kap. 4) als auch auf der dimensionalen Ebene (s. Kap. 1)
eine Diagnose der Persönlichkeitspathologie aufgestellt werden. Danach wird
die dynamische Therapie anhand der differentiellen Merkmale des Patienten ge­
staltet.
Die in diesem Buch vorgenommene sorgfältige Untersuchung der bei den verschiedenen Persönlichkeitsstörungen angewandten Therapien deutet darauf hin,
dass die heutigen psychodynamisch orientierten Forscher und Kliniker es für
notwendig halten, die Therapie entsprechend den Besonderheiten der Persönlichkeitspathologie abzuändern. Nirgends in diesem Buch wird behauptet, es gebe
eine einzige psychodynamische Therapie, die für alle Persönlichkeitsstörungen
geeignet ist (früher wurde dies oftmals angenommen). Man könnte argumentieren, jede Behandlung, sei sie psychodynamisch oder kognitiv-behavioral, muss
über die allgemeine Therapie für einen Patienten mit einer bestimmten Persönlichkeitsstörung hinausgehen und seinen individuellen Bedürfnissen angepasst
werden, da seine Persönlichkeitsstörung durch die jeweilige Kategorie nicht adäquat erfasst wird. Sie wird nicht adäquat erfasst, weil sie durch die Stärken des
Patienten und sein soziales Umfeld individuell ist. In diesem Sinne stellen die
verschiedenen Kapitel in diesem Buch Vorlagen vor für den Umgang mit Pa­tien­
ten mit auffälligen (jedoch nicht ausschließlichen) Persönlichkeitsmerkmalen,
die einer bestimmten Kategorie zugeordnet werden können. Diese Vorlagen können an die Besonderheiten des einzelnen Patienten angepasst werden, also an
seine einmalige Kombination von Pathologie und Stärken, die in einer bestimmten, vom Patienten mitgestalteten Umgebung umgesetzt werden. Im Gegensatz
zu dem Klischee, die psychodynamische Therapie konzentriere sich auf die Vergangenheit des Patienten, liegt der Schwerpunkt der hier beschriebenen Therapien für Persönlichkeitsstörungen in erster Linie auf der Gegenwart.
Es gibt deutliche Überschneidungen zwischen modernen psychodynamischen
und kognitiv-behavioralen Therapien für Patienten mit einer Persönlichkeitsstö-
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rung. Das zeigt, dass sich sowohl die Ausrichtung als auch die häufigen Einschränkungen, denen die therapeutische Beziehung im Falle einer Persönlichkeitsstörung unterliegt, mit der Zeit verschoben haben. Bei den meisten Therapien
kommen die sogenannten gemeinsamen Faktoren wie Struktur, Unterstützung,
empathische Beziehung und therapeutisches Bündnis zum Tragen. Zusätzlich zu
den üblichen Strategien und Techniken werden bei manchen psychodynamischen
Therapien (s. z. B. Kap. 12) als psychodynamisch beziehungsweise kognitiv-behavioral bezeichnete Techniken explizit kombiniert. Generell haben wir bei der Zusammenstellung dieses Buches eine deutliche Konvergenz der therapeutischen
Ansätze sowie viele Anzeichen dafür bemerkt, dass die Zeit der strengen und
klaren Trennung zwischen psychodynamischen und anderen Therapien wohl
vorbei ist. In der Praxis findet die Einbeziehung kognitiv-behavioraler Techniken
in dynamische Therapien statt, und Autoren der kognitiv-behavioralen Richtung
legen mehr Gewicht auf die therapeutische Beziehung und den Widerstand des
Patienten (s. Leahy 2001).
Die kollegiale Unterstützung unserer erfahrenen Autoren hat uns als Herausgebern dieses Bandes die Arbeit sehr erleichtert. Nur durch ihre engagierte Mitarbeit war es möglich, die aktuellen Ansichten zu den Modellen, zur Bewertung
und zur Behandlung von Patienten mit einer Persönlichkeitsstörung zusammenzutragen.
John F. Clarkin, Ph.D.
Peter Fonagy, Ph.D., F.B.A.
Glen O. Gabbard, M.D.
Literatur
American Psychiatric Association. Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders,
3rd Edition. Washington, DC, American Psychiatric Association, 1980.
American Psychiatric Association. Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders,
4th Edition, Text Revision. Washington, DC, American Psychiatric Association, 2000.
Leahy R. Overcoming Resistance in Cognitive Therapy. New York, Guilford, 2001.
Lenzenweger MF, Lane MC, Loranger AW, et al. DSM-IV personality disorders in the National Comorbidity Survey Replication. Biol Psychiatry 62: 553–654, 2007.
Westen D, Gabbard GO, Blagov P. Back to the future: personality structure as a context for
psychotherapy, in: Personality and Psychopathology. Edited by Krueger RF, Tackett JL.
New York, Guilford, 2006, 335–384.
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