Der psychisch traumatisierte Patient in der ärztlichen Praxis

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Günter H. Seidler1
Arne Hofmann2
Christine Rost3
Zusammenfassung
Schwere psychische Traumafolgen mit den
Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) werden in ihrer Häufigkeit und klinischen Bedeutung meist unterschätzt. Im ersten Kontakt präsentieren die Patienten oftmals nicht die spezifische Traumasymptomatik, sondern andere, komorbide
Symptome, sodass ein Zusammenhang zu einer psychischen Traumatisierung schwer eruiert werden kann. Als zumeist erster Anlaufstelle ist gerade die Rolle des Hausarztes bedeutsam. Man unterscheidet zwischen akuter
und chronisch komplexer Traumatisierung.
Traumafolgen sollten weder bagatellisiert
noch als aus der Kindheit stammende Entwicklungsstörung oder als Ausdruck unbewusster
Konflikte interpretiert werden. Für die Herausbildung der spezifischen Traumasymptomatik,
insbesondere für die intrusiver Erinnerungen,
wird eine wahrscheinlich traumaspezifische
T
raumatisierende Ereignisse sind
ubiquitär und können jeden treffen. Unter „Trauma“ wird in der
Psychotraumatolgie ein Ereignis verstanden, das im DSM-IV (309.81) (3)
wie folgt beschrieben ist: „Die Person
erlebte, beobachtete oder war mit einem oder mehreren Ereignissen konfrontiert, die tatsächlichen oder drohenden Tod oder ernsthafte Verletzung oder eine Gefahr der körperlichen Unversehrtheit der eigenen
Person oder anderer Personen beinhalteten. Die Reaktion der Person
umfasste intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen.“
Medienwirksam sind dabei Ereignisse wie zum Beispiel die Terroranschläge in New York und Washington
oder die Unfälle in Kaprun und Eschede; Unfälle jeder Art oder Gewaltverbrechen sowie sexualisierte Gewalt
mit sofortigen und/oder späteren Folgen können diese Kriterien allerdings
ebenfalls erfüllen. Als umschriebene
Traumafolgestörungen sind die „akute
Belastungsreaktion“ (ICD-10 [45]
F43.0) beziehungsweise die „akute
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Der psychisch
traumatisierte Patient in
der ärztlichen Praxis
Informationsverarbeitung angenommen, die
durch eine fehlende Verknüpfung von sensorischen Erinnerungen und Affektivität sowie
eine fehlende Einbindung in biografische Zusammenhänge gekennzeichnet ist. Fachärztlich stehen wirksame traumaadaptierte Therapieverfahren zur Verfügung.
Schlüsselwörter: posttraumatische Belastungsstörung, psychisches Trauma, Allgemeinmedizin, öffentliches Gesundheitssystem
Summary
Post Traumatic Stress Disorder Patients
in General Practice
The post traumatic stress disorder (PTSD) symptomatology that developes after psychological
traumatization is often underdiagnosed and its
clinical importance is underestimated. In a first
contact patients often don´t report the typical
Belastungsstörung“ (DSM-IV 308.3),
die „posttraumatische Belastungsstörung“ (PTBS beziehungsweise PTSD:
Posttraumatic Stress Disorder, ICD10 F43.1; DSM-IV 309.81) und die
„andauernde Persönlichkeitsänderung
nach Extrembelastung“ (nur im ICD10: F62.0) sowie die noch nicht klassifizierbare „komplexe posttraumatische Belastungsstörung“ beschrieben.
Häufig, gerade bei der PTBS, liegt ein
lediglich partielles Symptombild vor,
während die charakteristischen Symptome erst bei Nachfragen von Patienten genannt werden. In der Regel ist
zudem eine ausgeprägte Komorbidität
festzustellen. So werden zahlreiche
Patienten oftmals mit Beschwerden
und Symptomen vorstellig, bei denen
ein Zusammenhang zu einem trauma-
1 Abteilung Psychosomatik (Direktor: Prof. Dr. med. Gerd
Rudolf) der Psychosomatischen Universitätsklinik Heidelberg
2 EMDR-Institut (Leiter: Dr. med.Arne Hofmann), Bergisch
Gladbach
3 Zentrum für Psychotraumatologie (Leiterin: Dr. med.
Christine Rost), Frankfurt
symptoms of PTSD, but present with other
comorbidity, where the connection to an earlier
psychological traumatization is more difficult
to make. As a first contact to the health system
the general practitioner is of critical importance.
Clinically acute and chronic stress disorders can be
differentiated. The psychological consequences
of trauma should neither be played down nor
interpreted as consequences of childhood
deficits nor unconscious conflicts. The basic for
the specific symptomatology of psychological
trauma, especially the intrusive symptoms,
seems to be a failure of central information processing systems. These seem to be unable to link
the sensory and affective memory fragments
of the trauma to the general autobiographic
memory. For the specialist a number of effective
treatment methods are available.
Key words: post traumatic stress disorder,
psychological trauma, general practitioner,
public health
tisierenden Ereignis nur durch eine
sorgfältige, traumabezogene Anamnese kriteriengeleitet hergestellt werden kann.
Aspekte zur Geschichte
des Krankheitsbildes
Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts
gibt es eine Reihe systematischer Beobachtungen zu den häufig auffälligen
Folgen von schweren psychischen
Belastungen. Damit verbunden wurden theoretische Ansätze zum Verständnis der posttraumatischen Auswirkungen entwickelt (32).
Als erster verwendete Oppenheim
(26) den Begriff der „traumatischen
Neurose“; das Konzept ist schon bei
Charcot (7) zu finden. Oppenheim beschrieb Desorientiertheit, Probleme
zu sprechen sowie Schlafstörungen in
der Folge von Eisenbahn- und Arbeitsunfällen. Sein Konzept stieß auf Ablehnung, da er die ursächliche Beziehung zum belastenden Ereignis und
damit eine Entschädigungspflicht an-
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erkannte. In Frankreich wies vor allem Janet (21) auf die Bedeutung realer psychischer Traumata für Erinnerungsstörungen und andere mentale
Symptome hin.
Auf Belastungen durch Kampfhandlungen in den Weltkriegen reagierten Soldaten mit vielfältigen Symptomen. Am bekanntesten wurden
hier die als „Kriegszitterer“ auffälligen Soldaten des Ersten Weltkrieges.
Während Freud (14) die Situation im
Verlauf einer Traumatisierung als
Überflutung des psychischen „Reizschutzes“ verstand, entwickelte Kardiner (22) die These, dass es sich bei
der traumatischen Neurose im Wesentlichen um eine „Physio-Neurose“
handele. Auf der Grundlage von Beobachtungen an ehemaligen Soldaten
beschrieb er Amnesien für das traumatische Ereignis, aber auch dessen
ständige erlebnismäßige Präsenz.
Zur aktuellen
Konzeptualisierung der PTBS
Zu einer intensiven Zunahme der Forschung im Bereich psychischer Traumatisierungen kam es jedoch erst,
nachdem aus dem Krieg in Vietnam eine zunehmende Zahl junger wehrpflichtiger Männer zurückkam, die
vorher psychisch unauffällig gewesen
waren und nun schwere psychische
Veränderungen zeigten (11, 25).
In der Folge wurde 1980 die Diagnose der „posttraumatischen Belastungsstörung“ in das DSM-III (2) aufgenommen. Bedeutsam war dabei die
Beobachtung, dass traumatisierende
Gewalteinwirkungen relativ gleichförmige Spuren in der Physiologie der jeweiligen Individuen hinterlassen, unabhängig von der Art des auslösenden
Ereignisses (Unfall, Kriegsereignisse,
Vergewaltigung, Folter et cetera). So
weisen alle Opfer psychischer Traumata Erinnerungsveränderungen (Hypermnesien und Amnesien), Vermeidungsverhalten sowie die erst später
dem Syndrom der PTBS zugeordneten Symptome von Übererregung auf
(20, 43).
Ein psychisches Trauma zeigt sich
so nach aktueller Auffassung als eine
physiologisch verankerte, psychische
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Verletzung, die durch ein schwer belastendes Ereignis ausgelöst wird. Dabei
wird eine wahrscheinlich traumaspezifische Informationsverarbeitung für
„the very core of the pathology of
PTSD“ gehalten (42, S. 523); eine Einwirkung auf diese Vorgänge steht im
Zentrum aktuell relevanter Traumatherapieverfahren.
Bemerkenswert ist, dass Untersuchungen mithilfe bildgebender Verfahren bei diesen Patienten Veränderungen in den Bereichen des Gehirns zeigen, die auch klinisch funktionell auffällig sind. So beschrieben Rauch und
Mitarbeiter (28) eine Unterdrückung
des Broca-Areals, wenn traumatische
Erinnerungen erlebt werden – Kliniker wissen von der „Sprachlosigkeit“
Traumatisierter. Gleichzeitig scheinen
Bereiche im limbischen System, überwiegend der rechten Hemisphäre, die
für die Verarbeitung von Wahrnehmungen, Erinnerungen und Emotionen relevant sind, überaktiv zu sein
(28, 29).
Von diesem Teil der rechten Hemisphäre ist bekannt, dass er besonders
dicht mit den die Erregung steuernden
Zentren des Hirnstammes verbunden
ist (35). Weitere Untersuchungen zeigen, dass zusätzlich andere, vor allem
frontale Hirnareale, bei traumatischer
Erinnerung ebenfalls in ihrer Funktion
eingeschränkt zu sein scheinen (37, 38).
Diese Befunde werden als Ausdruck
einer nicht kontextualisierten, nicht in
die Biographie des Betroffenen eingebundenen, wahrscheinlich traumaspezifischen Erinnerungsbildung verstanden. Diese ist durch eine fehlende
Verknüpfung von Bild, sensorischer
Erinnerung und Affektivität gekennzeichnet, mit der Konsequenz für die
Therapie, dass derartige Erinnerungsbruchstücke mit ausschließlich sprachlichen Mitteln, ohne eine zeitgleiche Aktualisierung der verschiedenen
„Bruchstücke“, kaum zu erreichen und
zu integrieren sind.
Diesen Symptomen kommt auch
keine „unbewusste“ Bedeutung im
Sinne der Krankheitslehre etwa der
Psychoanalyse zu (22). Ebenfalls werden deutliche Veränderungen des Erregungsniveaus und der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenachse
beschrieben (40, 41, 46).
Klinisches Erscheinungsbild
von Traumafolgekrankheiten
Die Symptome der PTBS lassen sich
drei Gruppen zuordnen:
> intrusiven, nicht intendierten, belastenden Erinnerungen an das Trauma, häufig in Form von Bildern, aber
auch in Wahrnehmungen anderer Sinneskanäle;
> Vermeidungsverhalten;
> einer Gruppe von Symptomen als
Ausdruck eines anhaltenden physiologischen Hyperarousals (Übererregung).
Insgesamt können so neben anderen folgende Symptome zu finden
sein: Alpträume, Flashbacks (jemand
erlebt die traumatische Situation innerlich wie in einem Film), physiologische Reaktionen, Amnesien, Entfremdungsgefühle, Ein- und Durchschlafstörungen, erhöhte Reizbarkeit, Konzentrationsstörungen, Hypervigilanz
und erhöhte Schreckhaftigkeit. Aktuell findet der schon lange bekannte
Zusammenhang von Trauma und dissoziativen Symptomen große Beachtung (10, 15, 16, 17, 34).
Komorbiditäten
Die Mehrzahl vor allem chronisch psychisch Traumatisierter wird nicht zuerst durch ihre posttraumatische Symptomatik klinisch auffällig. Störungen der Affektivität (Depression) und
der Affektregulation sind eine sehr
häufige Komorbidität. Dysphorie und
Freudlosigkeit gehört zu den vielfach
gesicherten Befunden sowohl bei KZÜberlebenden (8, 24) als auch bei Opfern von sexualisierter Gewalt in der
Kindheit (5). Häufig sind komorbide
Angststörungen (4), Somatisierungsstörungen, insbesondere die somatoforme Schmerzstörung (9) sowie Diagnosen aus der Gruppe der Persönlichkeitsstörungen, vor allem die der
Borderline-Persönlichkeitsstörung
(15). Insbesondere Kinder weisen eine
höhere Empfindlichkeit für psychische Traumatisierungen auf (1); bei
wiederholten schweren Traumatisierungen in der frühen Kindheit können
schwere dissoziative Störungsbilder
entstehen (16, 17, 23).
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Symptompräsentationen in
der ärztlichen Praxis
Wichtig ist die Unterscheidung zwischen akuter Traumatisierung und länger zurückliegender. Akut Traumatisierte suchen häufig zuerst den Hausarzt
auf. Sie stellen meist selbst den Zusammenhang her zwischen ihren Beschwerden und dem auslösenden Ereignis
(Überfälle, Unfälle und Ähnliches). Bei
dem Bericht über das traumatische Ereignis wirken sie meist emotional deutlich belastet. Sie berichten spontan über
allgemeine psychische und körperliche
Beschwerden wie Nervosität, erhöhte
Schreckhaftigkeit, gedrückte Stimmung, Neigung zum Weinen, Schlafstörungen sowie Magen- und Darmprobleme, Kopf- und Kreuzschmerzen,
mangelndes Interesse an sozialen Aktivitäten und Konzentrationsstörungen.
Aus Angst, für „verrückt“ gehalten zu
werden, werden Flashbacks kaum spon-
tan geäußert. Eher schon wird von auftretenden Bildern direkt vor dem Einschlafen berichtet, die zu Angst vor dem
Einschlafen führen können. Da die spezifischen Symptome der PTBS fast nie
spontan geäußert werden, sollte nach
dem spontanen Bericht noch einmal explizit nach ihnen gefragt werden.
Liegt das Trauma schon lange, oft
mehrere Jahre, zurück, stehen eher
depressive oder Angstsymptome, körperliche Beschwerden oder Suchtprobleme im Vordergrund, wegen derer
vorwiegend fachärztliche Hilfe gesucht wird. Deren Zusammenhang zu
einem Traumaereignis ist oft Jahre danach weder für die Betroffenen noch
die behandelnden Ärzte auf Anhieb
erkennbar. Deshalb ist es wichtig, die
Lebensumstände vor dem Auftreten
der Symptomatik genau zu erfragen.
Trotzdem kann es sein, dass traumatische Hintergründe erst im Verlauf einer Psychotherapie deutlich werden.
Grafik
Übersicht über therapeutische Strategien bei posttraumatischer Belastungsstörung. PTSD, Posttraumatic Stress Disorder, EMDR, Eye Movement Desensitization and Reprocessing. (Aus: Flatten G, Hofmann A, Liebermann P, Wöller W, Siol T und Petzold E: Posttraumatische Belastungsstörung – Leitlinie und Quellentext. Stuttgart: Schattauer Verlag 2001; 8; mit freundlicher Genehmigung des Schattauer Verlags, Stuttgart)
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Ist es bei einer traumatischen Situation zu einer körperlichen Verletzung
gekommen, wenden die Betroffenen
sich zuerst an einen entsprechenden
Facharzt (Chirurgie, Orthopädie,
Gynäkologie und andere). Hier ist
wichtig zu wissen, dass die psychischen
Symptome sich manchmal eher noch
verstärken oder sogar erst auftreten
können, wenn die körperlichen Verletzungen nicht mehr im Vordergrund
stehen. Die Betroffenen sollten hierüber informiert werden, und es sollte
ihnen Mut gemacht werden, sich spezifische Hilfe für eine Unterstützung
der Verarbeitung zu holen. Das gilt
nicht nur für die, die umgangssprachlich als „hysterisch“ bezeichnet werden, sondern gerade auch für solche,
die emotional völlig unbeteiligt wirken. Diese scheinen auch ein höheres
Risiko zu haben, an einer PTBS zu erkranken.
Epidemiologie der PTBS
Etwa drei Viertel der Allgemeinbevölkerung in den USA hat ein Ereignis
erlebt, das dem Stressorkriterium des
DSM entspricht (18). Nicht alle entwickeln aber eine posttraumatische
Belastungsstörung. Lediglich ein Viertel der Betroffenen scheint das
Störungsbild einer PTBS zu entwickeln, wobei die größte Häufigkeit
für Vergewaltigungen angegeben
wird. Bei etwa einem Drittel dieser betroffenen Personen mit PTBS-Symptomen kommt es zu einer langjährigen chronifizierten Störung. Wichtig
ist, außer den Vollbildern auch die
partielle PTBS zu berücksichtigen: In
einer Stichprobe aus der amerikanischen Allgemeinbevölkerung fand
sich eine PTBS bei 1,2 Prozent der
Männer und 2,7 Prozent der Frauen,
partielle Störungsbilder waren bei 3,4
Prozent der Frauen und 0,3 Prozent
der Männer zu diagnostizieren (39). In
einer Untersuchung bei 14- bis 24jährigen Deutschen zeigte sich eine etwas niedrigere Lebenszeitprävalenz
mit einer posttraumatischen Belastungsstörung (beziehungsweise eines
PTBS-Teilsyndroms) bei Männern
von 0,4 Prozent (0,7 Prozent) und bei
Frauen von 2,2 Prozent (3,5 Prozent)
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(27). Auch wenn ausführlichere Studien bei der erwachsenen Allgemeinbevölkerung in Deutschland fehlen,
kann die Prävalenz schwerer psychischer Traumafolgen mit PTBS-Symptomatik auf etwa ein Prozent geschätzt werden. Deutlich mehr Frauen
als Männer sind von dem Störungsbild
betroffen.
Hilfreiche und hindernde
Intervention im Erstgespräch
Gerade der erste Kontakt entscheidet
oft, ob ein gutes Arbeitsbündnis zwischen den Betroffenen und dem Arzt
oder der Ärztin entsteht. Scham, der
Anspruch, mit den Folgen alleine fertig werden können, und die Befürchtung, wegen der Flashbacks für verrückt gehalten zu werden, können die
Annahme von Hilfe erschweren. Das
gilt besonders für Männer aus Berufsgruppen wie beispielsweise Polizei
und Feuerwehr, die im beruflichen
Kontext nicht selten mit traumatischen Situationen in Berührung kommen. Die Information, dass die Symptomatik eine normale Reaktion auf
ein unnormales Ereignis sei, ist oft
hilfreich.
Als negativ haben sich sowohl eine
negierende Haltung den psychischen
Problemen („So schlimm war es doch
gar nicht!“; „Es ist doch nichts passiert!“) als auch verstärkende Äußerungen erwiesen („Da werden Sie lange nicht drüber hinweg kommen!“;
„Das werden Sie nie verkraften!“).
Ebenfalls schädlich sind Äußerungen,
die andeuten, dass die psychischen Beschwerden auf ungelöste kindliche
Konflikte zurückzuführen seien. Auch
sollten Interventionen auf implizite
oder explizite Schuldzuweisungen geprüft werden, gerade bei sexuell Traumatisierten („Sie haben es ihm aber
auch leicht gemacht!“; „Was ist denn
Ihr Anteil an dem Geschehen?“). Im
Unterschied zur Behandlung von neurotischen Störungen geht es bei der
Behandlung von Traumafolgestörungen nicht um ein Verständnis unbewusster Wünsche, sondern um die
Etablierung von Sicherheit und Erleichterung der seelischen Verarbeitung. Dies gilt auch in der Versorgung
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akut Traumatisierter, die direkt nach
einem belastenden Ereignis vor allem
Schutz vor weiterer Traumatisierung
und einen Bereich brauchen, in dem
(zum Beispiel nach einem Verkehrsunfall oder einem Terroranschlag) relative äußere Sicherheit besteht und in
dem vor allem eigene seelische Erholungsmöglichkeiten wieder greifen
können.
Hauptlinien einer
fachärztlichen Traumatherapie
Trotz weiteren Forschungsbedarfs besteht international ein deutlicher Konsens bezüglich des therapeutischen
Vorgehens, der in den entsprechenden
Leitlinien formuliert wurde (12, 13).
Danach gliedert sich eine traumaadaptierte psychotherapeutische Behandlung meist in drei Phasen:
> Stabilisierung,
> Verarbeitung der traumatischen
Erinnerungen,
> abschließende Neuorientierungsphase.
Wichtig ist bei Festlegung des Behandlungsplans die vorrangige therapeutische Berücksichtigung schwerer
komorbider Störungen, etwa schwerer
Depressionen und signifikanter Suchtstörungen.
Traumaspezifische
Stabilisierung
Neben der Stabilisierung der psychosozialen Situation geht es hier vor allem um die körperliche und psychische Stabilisierung. Der traumatischen Vergangenheit soll eine sichere Gegenwart entgegenstellt werden.
Hauptziel dieser Behandlungsphase
ist die körperliche, soziale und psychische Stabilisierung sowie der Aufbau von äußeren und inneren Ressourcen, die Entwicklung von Affekttoleranz, insbesondere aber die Aneignung spezieller, meist psychoimaginativer Techniken, mit denen sich
der Patient gegen das Eindringen intrusiver Erinnerungsfragmente schützen kann (30, 31). Eine unterstützende
Pharmakotherapie ist in ihrer Effektivität vor allem bei Serotonin-Reup-
take-Hemmern nachgewiesen (12). Die
Stabilisierungsphase dauert unterschiedlich lange (einige Wochen bis
Jahre!); darüber hinaus wird sie meist
auch während der nachfolgenden Expositionsphase weitergeführt.
Verarbeitung der
traumatischen Erinnerungen
Zentral in der Behandlung psychisch
traumatisierter Patienten scheint nach
allen Studien eine Wiederbegegnung
mit dem Trauma und seinen fragmentarischen Erinnerungsspuren unter den
geschützten Bedingungen einer psychotherapeutischen Beziehung zu sein.
Empirisch sind kognitiv behaviorale,
hypnotherapeutisch imaginative, modifizierte psychodynamische und die
EMDR-Methode in ihrer Wirksamkeit
gut belegt (12, 13, 44). EMDR (Eye
Movement Desensitization and Reprocessing) ist dabei ein neues Behandlungsverfahren für Patienten mit Traumafolgestörungen, in dem das traumatisierende Erlebnis – über eine einfache
Exposition hinaus – durch eine rhythmische bilaterale Stimulation (zum Beispiel Augenbewegungen) beschleunigt
verarbeitet zu werden scheint (19, 36).
Die neuartige Methode zeigte sich in 14
kontrollierten Studien bei über 200
Traumaopfern mit dem Vollbild einer
PTBS (oder PTBS-Teilsyndromen) als
empirisch effektiv und wurde seit 1998
von verschiedenen wissenschaftlichen
Kommissionen und Leitlinienkommissionen als wirksam anerkannt (6, 12, 13,
33, 44). Ungeeignet scheinen für traumatisierte Patienten nicht traumaadaptierte Psychotherapieverfahren sowie
eine alleinige Pharmakotherapie zu
sein. Jede Methode setzt eine ausreichende psychische Stabilität der Betroffenen, mit den häufig auftretenden intensiven Affekten umgehen zu können,
und entsprechende Erfahrungen und
Fortbildung der Behandler voraus. Ziel
einer derartigen Behandlung ist, die
sensomotorischen Fragmente der Erinnerung zu integrieren, affektiv zu entladen und die damalige Situation in der
aktuellen Gegenwart kognitiv angemessen bewerten zu können. Vor allem
im stationären Bereich haben sich adjuvante Verfahren in dieser Phase be PP
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währt, zum Beispiel künstlerische oder
traumaadaptierte körperorientierte Therapien. Kontrollierte Studien liegen dazu
jedoch leider noch nicht vor.
Integration und
Neuorientierung
Vor allem bei über lange Zeit misshandelten Traumaopfern, die durch
Traumatisierung, Traumafolgestörungen und die oft langen Behandlungen
häufig „Lebensjahre verloren“ haben,
ist diese Phase nach der Traumabearbeitung speziell nötig. Viele Traumaopfer
stellen fest, dass zwar nach dem Trauma
„nichts mehr wie vorher“ sei, erleben jedoch in dieser Phase Erleichterung
durch die unterstützende Begleitung
ihrer Trauer um verlorene menschliche Beziehungen und verlorene eigene
Möglichkeiten. Viele Traumaopfer finden aber, besonders wenn die belastenden Erlebnisse erfolgreich bearbeitet
werden konnten, wieder Ansätze zu einem inneren, aber auch sozialen und
beruflichen Neuanfang. Nicht in jedem
Fall sind alle Probleme aber wirklich
befriedigend zu lösen; einfühlsame, unterstützende Begleitung und informierende Beratung (zum Beispiel zur Notwendigkeit weiterer therapeutischer
Maßnahmen oder hinzunehmender
Verluste und verbleibender Restsymptome) gehören hier zu den Aufgaben
des behandelnden Arztes. Auch Hilfestellungen im in der Regel schwierigen
Umgang mit zum Beispiel noch lebenden Tätern gehören in diese Phase (30).
Manuskript eingereicht: 29. 5. 2001, revidierte Fassung
angenommen: 5. 11. 2001
❚ Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2002; 99: A 295–299 [Heft 5]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das über den Sonderdruck beim Verfasser
und über das Internet (www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.
Anschrift für die Verfasser:
Priv.-Doz. Dr. med. Günter H. Seidler
Abteilung Psychosomatik der Psychosomatischen
Universitätsklinik Heidelberg
Thibautstraße 2, 69115 Heidelberg
E-Mail: [email protected]
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Referiert
Angststörungen bei Kindern
Therapieerfolge mit
FRIENDS-Programm
V
iele Studien stützen die Hoffnung,
dass Kindern mit Angststörungen
durch psychosoziale Behandlungsprogramme geholfen werden kann. Eine
Erfolg versprechende, kognitiv-behaviorale Form der Gruppentherapie für
betroffene Kinder und ihre Eltern stellte das australische Psychologenteam
Alison Shortt, Paula Barrett und Tara
Fox vor: das FRIENDS-Programm
(F=Feeling worried?; R=Relax and feel
good; I=Inner thoughts; E=Explore
plans; N=Nice work so reward yourself;
D=Don’t forget to practice; S=Stay calm,
you know how to cope now). Es gibt eine Form für Kinder (6 bis 11 Jahre) und
eine für Jugendliche (12 bis 16 Jahre).
Aufgaben und Ziele des FRIENDSProgramms bestehen in der Einbindung
der Eltern in die Therapie, im Aufbau
sozialer Netzwerke und in der täglichen, praktischen Anwendung des Gelernten.
„Ganz wichtig ist es, dass die Isolation, zu der Angststörungen oft führen,
durchbrochen wird“, betonen die Autoren. Die Kinder werden dazu angehalten, ihren Körper als Freund zu betrachten, sich selbst ein Freund zu sein, sich
Freunde zu suchen und mit ihnen über
ihre Ängste zu sprechen. Sie sollen lernen, sich gegenseitig zu unterstützen
und aus den Erfahrungen anderer betroffener Kinder zu lernen. Neben der
Aufmerksamkeit wird auch die Fähigkeit geschult, die eigenen Leistungen
und Erfolge internal zu attribuieren,
das heißt den eigenen Fähigkeiten zuzuschreiben. Die Arbeit mit den Eltern
beinhaltet kognitive Restrukturierung
und Partnertrainings: Die Eltern werden dazu angeleitet, die eigenen Ängste
zu erkennen und damit umzugehen.
Anschließend lernen sie Verstärkungsund Belohnungsstrategien kennen. In
Rollenspielen sollen die Eltern verschiedene Methoden ausprobieren, um
das ängstliche Verhalten ihrer Kinder
handhaben zu können. Außerdem erhalten sie ein kurzes Training in Kom-
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munikationstechniken, partnerschaftlicher Unterstützung und Problemlösefähigkeiten. Weiter sollen sie ein unterstützendes soziales Netzwerk aufbauen
und die Bildung von Freundschaften
unter den Kindern fördern.
Um die Effektivität des FRIENDSProgramms zu überprüfen, baten die
Autoren 71 Kinder mit verschiedenen
Angststörungen (unter anderem Trennungsangst, soziale Phobie, generalisierte Angststörung) und ihre Eltern
um Teilnahme. 54 Kinder wurden in die
Untersuchungsgruppe aufgenommen,
17 Kinder stellten die Kontrollgruppe.
Zehn wöchentliche Sitzungen wurden
abgehalten. Sowohl die Therapeuten als
auch die Kinder und die Eltern bekamen Arbeitsbücher, in denen die Aktivitäten, Strategien und Ziele des Programms dargestellt waren. Die Therapeuten arbeiteten in den Sitzungen abwechselnd mit den Kindern und den
Eltern und auch mit beiden Gruppen
zusammen. Alle Sitzungen wurden auf
Video aufgezeichnet und von zwei unabhängigen Therapeuten ausgewertet.
Außerdem füllten die Eltern Bewertungsbögen aus.
Ergebnisse: 69 Prozent der behandelten Kinder waren nach Abschluss des
Programms beschwerdefrei – aber nur
sechs Prozent der Kontrollgruppe.Auch
nach zwölf Monaten waren immer noch
68 Prozent der FRIENDS-Kinder ohne
diagnostische Befunde. Neben diesen
Erfolgen zeigte sich, dass das Programm den Kindern und den Eltern
Spaß gemacht hatte und sie neue und
nützliche Fertigkeiten gelernt hatten.
Als besonders hilfreich wurden der
Einsatz von Belohnungen und verschiedenen kognitiven Strategien bewertet.
Wie die Autoren berichten, profitierten
offenbar nicht nur die Kinder davon:
„Die Eltern meinten, dass die Strategien, die ihren Kindern helfen sollten,
ms
auch für sie selbst nützlich sind.“
Shortt AL, Barrett PM, Fox TL: Evaluating the FRIENDS
Program: A cognitive-behavioral group treatment for anxious children and their parents. Journal of Clinical Child
Psychology 2001; 30: 4:525–535.
Paula Barrett, School of Applied Psychology, Faculty of
Health Science, Psychology Building Mt. Gravatt, Griffith
University, Brisbane, Australia 4111, E-Mail: p.bar
[email protected]
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