Finanzmärkte als fünfte Gewalt?

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Kontrovers diskutiert: Finanzmärkte als "fünfte Gewalt"?
a) Rolf Breuer: Die fünfte Gewalt
Am Beginn des 21. Jahrhunderts mangelt es nicht an Stimmen, die vor den Folgen der
Globalisierung warnen. Das Tempo der wirtschaftlichen Integration habe sich von der
politischen Sphäre in einem Maße gelöst, dass die Souveränität der Nationalstaaten sowie
das Primat der Politik über die Wirtschaft fundamental infrage stünden. Mehr noch als
internationaler Handel und grenzüberschreitende Investitionen der Unternehmen stehen
dabei die internationalen Kapitalströme und damit die Banken und andere
Finanzinstitutionen in der Kritik.
Ist die Politik im Schlepptau der Finanzmärkte? Wer sich im Schlepptau befindet, ist
gezwungen, passiv der Richtung und der Geschwindigkeit des Schleppers zu folgen.
Diese Sicht unterstellt einen Interessengegensatz zwischen den Zielen der
Finanzmarktteilnehmer und den Zielen der Politik. Doch ist nicht beiden Bereichen der
Wunsch nach stabilem Wachstum und der Mehrung von Wohlstand gemeint? […]
Wachstum muss auch deswegen Ziel der Politik sein, weil zum einen die
Handlungsfähigkeit des Staates auf wirtschaftlicher Potenz gründet: Ohne florierende
Wirtschaft keine sprudelnden Steuerquellen. Zum anderen ist eine leistungsfähige
Wirtschaft die Voraussetzung für eine stabile demokratische Entwicklung.
Anders als die Politik haben "die Finanzmärkte" per se keine eigenen Ziele. Sie sind
Instrumente, mittels deren die Akteure ihre individuellen Ziele erreichen. Gemäß der Logik
der Marktwirtschaft führen die individuellen Aktionen einzelner Kapitalanbieter und nachfrager dabei im Ergebnis zu einer Erhöhung der gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrt.
Der Sparer, der auf der Suche nach der besten Verzinsung ist, lenkt bewusst oder
unbewusst sein Kapital in jene Investitionsprojekte, die am rentabelsten sind und damit
das gesamtwirtschaftliche Wachstum am meisten fördern.
Eine arbeitsteilige Weltwirtschaft und Wachstum sind ohne moderne Finanzmärkte und die
in ihnen agierenden Banken nicht vorstellbar. Banken und Finanzmärkte erfüllen zwei sehr
grundlegende wirtschaftliche Funktionen. Sie vermitteln Kapital von Gläubigern zu
Schuldnern, und sie verteilen finanzielle Risiken auf diejenigen, die diese am besten
tragen können und wollen. […] Die Öffnung der nationalen Finanzmärkte gegenüber dem
Ausland erweitert diese positiven Effekte. Die Unternehmen können auf den weltweiten
Pool des Anlage suchenden Kapitals zurückgreifen. Umgekehrt stehen inländischen
Anlegern nicht nur die heimischen Finanzprodukte zur Verfügung, sondern sie können
weltweit die passenden Anlageformen auswählen. […]
Die Aktienmärkte schließlich spiegeln nicht nur die Einschätzung der internationalen
Anleger über die individuellen Wachstumsaussichten der Unternehmen wider. Die Anleger
erwägen auch die Rahmenbedingungen, innerhalb deren die Unternehmen arbeiten.
[Kolleg Politik und Wirtschaft]
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Insofern schließen die Börsenbewertungen von Unternehmen immer auch indirekt eine
Bewertung der jeweiligen nationalen Wirtschaftspolitik, der Qualität des Standorts ein.
Die negativen Folgen geschwächter Unternehmen für die Wohlfahrt eines Landes werden
dank der Finanzmärkte heute schneller wahrgenommen als früher. Verminderte
Innovations- und Investitionsfähigkeit reduzieren das Wachstumspotenzial einer
Volkswirtschaft und damit die Aussicht auf die Schaffung von Arbeitsplätzen.
Finanzmärkte sind effiziente Sensoren für […] Fehlentwicklungen, doch sie erzwingen
nicht eine bestimmte Politik: Keinem Land mit eigener Währung ist es verboten, eine
expansive Geldpolitik zu betreiben, wenn dieses den Wünschen der Bevölkerung oder
dem Willen der jeweiligen Regierung entspricht - selbst wenn dies mit hohen
Inflationsraten einhergeht. Die Finanzmärkte prüfen nur ständig, ob die Politik in sich
konsistent ist oder ob es nicht früher oder später zu einer Korrektur kommen muss.
Insofern sollte man weniger von einer "Disziplinierungsfunktion" der Finanzmärkte als
vielmehr von einer "Wächterfunktion" sprechen […].
Die autonomen Entscheidungen, die Hunderttausende von Anlegern auf den
Finanzmärkten treffen, werden im Gegensatz zu Wahlentscheidungen nicht alle vier oder
fünf Jahre, sondern täglich gefällt, was Regierungen ständig unter einen erheblichen
Erklärungszwang setzt. Die Politik kann es sich daher nicht leisten, nur fallweise (kurz vor
den Wahlen) an der Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu arbeiten.
Insofern erzwingen offene Märkte im positiven Sinne einen Entscheidungsdruck
hinsichtlich der Auswahl der wirtschaftspolitischen Ziele und Instrumente. Dass dieser
Entscheidungsdruck für die Politik nicht immer willkommen ist, trägt sicherlich zum
Unbehagen gegenüber offenen Kapitalmärkten bei. [...]
Obwohl der Finanzmarkt nur ein Instrument ist, besteht zwischen Instrumenten und
Werten eine Wechselwirkung. Die gegenwärtige Struktur der globalen Finanzmärkte
spiegelt den Wertekanon der westlichen Industriestaaten wider, die das Weltwährungsund -finanzsystem nach dem Zweiten Weltkrieg maßgeblich gestaltet haben.
Vertragsfreiheit, das Ziel freien Kapitalverkehrs und der Schutz bestehender Verträge
auch im internationalen Rahmen sind Beispiele dafür, wie sich Grundwerte der
Demokratien, hier: die Freiheit des Individuums und die Rechtssicherheit, in der
Gestaltung der Instrumente niederschlagen. […]
Unbehagen lösen das Geschehen an den Finanzmärkten und dessen Einfluss auf
wirtschaftliche Tendenzen und wirtschaftspolitische Entscheidungen schließlich auch aus,
weil Märkte irren können und bisweilen übertreiben. Der Glaube an die Rationalität der
Sanktionsgewalt des Finanzmarktes ist in den Finanz- und Währungskrisen der letzten
Jahre erschüttert worden. […]
[Kolleg Politik und Wirtschaft]
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Wirklich gefährlich sind spekulative Blasen oder "irrationaler Überschwang", also nicht
gerechtfertigte Erwartungen im Zuge eines Herdentriebs an den Finanzmärkten. Auch an
den Finanzmärkten agieren fehlbare Menschen, die kollektiven Stimmungen ebenso
ausgesetzt sind wie kurzfristigem Entscheidungsdruck. So negativ die Auswirkungen von
Fehlentwicklungen auf Finanzmärkten sind, so haben marktwirtschaftliche Ordnungen
zumindest den Vorteil, dass Fehler relativ schnell aufgedeckt werden.
Die negativen Auswirkungen eines möglichen Marktversagens müssen jedoch
grundsätzlich in Relation zu den Wohlfahrtsgewinnen gesehen werden, die durch die
Liberalisierung geschaffen werden. Das bedeutet nicht, Marktversagen und seine
bisweilen dramatischen Folgen fatalistisch hinzunehmen. Es bedeutet aber wohl
anzuerkennen, dass es immer wieder neu abzuwägen gilt zwischen periodischen
Fehlleistungen der Finanzmärkte und den Wohlfahrtsgewinnen offener Finanzmärkte. […]
Politik muss […] heute mehr denn je auch mit Blick auf die Finanzmärkte formuliert
werden. Die berechtigten Interessen in- und ausländischer Investoren, der Wunsch der
Finanzmarktteilnehmer nach Rechtssicherheit und Stabilität müssen respektiert werden.
[...] Offene Finanzmärkte erinnern Politiker […] etwas häufiger und bisweilen etwas
deutlicher an diese Zielsetzungen, als die Wähler dies vermögen. Wenn man so will,
haben die Finanzmärkte quasi als "fünfte Gewalt" neben den Medien eine wichtige
Wächterrolle übernommen. Wenn die Politik im 21. Jahrhundert in diesem Sinn im
Schlepptau der Finanzmärkte stünde, wäre dies vielleicht so schlecht nicht.
Aus: Die Zeit vom 27.4.2000.
Rolf-E. Breuer war bis 2006 Aufsichtsratsvorsitzender der Deutschen Bank.
[Kolleg Politik und Wirtschaft]
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b) Heribert Prantl: Demokratiealarm
Wenn die Familie Huber schlecht wirtschaftet, kommt der Gerichtsvollzieher. Wenn die
Firma Maier schlecht wirtschaftet, kommt der Konkursrichter. Wenn eine Großbank
katastrophal wirtschaftet - dann kommen die Spitzenpolitiker mit dem Milliarden-Geldsack.
Ist das die Belohnung für Zocker? Muss ein Schädiger nur dreist genug und der Schaden
nur groß genug sein, damit der Staat das Desaster nobilitiert? Sind die Hilfsfonds Fässer
ohne Boden? Wird das gute Geld dem schlechten hinterhergeworfen?
Sind das dumme Fragen? Sie sind so wenig dumm wie die konsternierte Feststellung,
dass der Kapitalismus gerade dabei ist, private Verluste zu sozialisieren. Die
Bundeskanzlerin spürt, dass es in der Finanzkrise keine dummen Fragen gibt, sondern
allenfalls dumme Antworten. Dumm sind die politischen Antworten, die das Vertrauen der
Bürger in das demokratische System noch weiter gefährden und zerstören. Deswegen
agieren Angela Merkel und ihr [damaliger] Finanzminister Peer Steinbrück so vorsichtig.
In der globalen Finanzkrise geht es ja nicht nur um das Vertrauen in den Geldmarkt, die
Banken und die Finanzstabilität. Es geht auch um das Vertrauen in die Souveränität und
die Gestaltungskraft der Demokratie. In den vergangenen Wochen sind auf den
Finanzmärkten viele Milliarden Dollar und Euro verbrannt. Das ist schlimm genug. Noch
viel schlimmer wäre es, wenn in dem Feuer auch noch das demokratische Grundvertrauen
verbrennen würde. Es geht also nicht nur darum, gigantische Geldlöcher zu stopfen,
sondern auch darum, dass aus der Krise des globalen Kapitalismus nicht eine globale
Krise der Demokratie wird.
Die Dirigenten des internationalen Geldmarkts haben viel dafür getan, dass es so kommt.
Sie haben erfolgreich versucht, die Politik demokratisch gewählter Regierungen ihrer
Disziplin zu unterwerfen. Sie haben Regierungen genötigt, sie haben den Abbau von
Kontrollen erzwungen - und sind gleichwohl mit eigens gegründeten Zweckgesellschaften
in die Nischen der Welt geflohen, in denen sie ihre riskanten Geschäfte noch besser
verstecken konnten.
Die Großmanager des Geldmarkts taten so, als sei die Demokratie eine Spielwiese für
Kleinbürger, und als hätten Wahlkämpfe und Wahlen nur eine Funktion ähnlich der, wie
sie "Brot und Spiele" im alten Rom hatten - weil die wahren Wahlakte der Überzeugung
der Großmanager nach auf dem Börsenmarkt stattfanden. Die Börsen als fünfte Macht im
Staat: Das ist keine Übertreibung eines Globalisierungskritikers von Attac. Das ist die
Beschreibung eines früheren Vorstandschefs der Deutschen Bank.
Rolf Breuer legte einst dar, warum sich Regierungen nach den Wünschen der Anleger
richten müssten: "Die autonomen Entscheidungen, die Hunderttausende von Anlegern auf
den Finanzmärkten treffen, werden im Gegensatz zu den Wahlentscheidungen nicht alle
vier oder fünf Jahre, sondern täglich gefällt." Die Interessen der Kapitalverwertung wurden
[Kolleg Politik und Wirtschaft]
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der Demokratie untergeordnet mit der Behauptung, dass die Finanzmärkte sich viel mehr
an Wohlstand und Wachstum orientieren als die Wähler.
Die demokratische Kontrolle der Regierungen durch die Bürger wurde so überflüssig, weil
nach dieser Philosophie die freien Finanzmärkte die Politik wirkungsvoller kontrollieren
konnten. Das war leider auch wahr. Genau das gehört zu den Ursachen der Finanzkrise.
Demokratie ist eine Gemeinschaft, die ihre Zukunft miteinander gestaltet. Die Dirigenten
der Finanzmärkte haben sich aus diesem Miteinander ausgekoppelt. Kraft und Zukunft
demokratischer Politik hängen nun davon ab, diese Entwicklung zu revidieren und
Regularien für die Märkte durchzusetzen. Dies ist die eigentliche Aufgabe bei den Treffen
der Politiker der Industrienationen.
Die gewaltigen Geldmittel, welche die Demokratien zur Stabilisierung der Finanzsysteme
zur Verfügung stellen sollen, sind also an Kautelen [= Bedingungen] zu knüpfen, die zur
Stabilisierung der Demokratie beitragen und das Vertrauen in demokratische
Gestaltungskraft herstellen. Der regulierte Finanzmarkt ist eine Satansmühle. Die
Demokratien können dort nicht ihr Geld hineinwerfen und dann zuschauen, wie sie sich
auf die alte Weise weiterdreht.
Das Urbild des Markplatzes kennt jeder: Er ist umrahmt von Kirche, Krankenhaus,
Rathaus, Wirtshaus und Schule. Ohne diese regelnden Institutionen hätte es nie einen
Marktplatz gegeben. Man kann dieses simple Bild auf den Markt von heute übertragen.
Und dann kann man sich fragen, was auf diesem Markt wieder Vertrauen schafft. […]
Aus: Süddeutsche Zeitung vom 6.10.2008.
Heribert Prantl ist Chef der Innenredaktion der Süddeutschen Zeitung.
[Kolleg Politik und Wirtschaft]
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