Dossier zur Wirtschaft von BpB - Lise-Meitner

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Quelle:
http://www.bpb.de/themen/WCR0NL.html
Essay
"Was geht uns das Thema Wirtschaft
eigentlich an?"
Prof. Dr. Rüdiger von Rosen
"Geld regiert die Welt", sagt der Volksmund. Das mag zwar nicht immer richtig sein,
dennoch wird diesem Sprichwort kaum einer widersprechen. In welcher Weise Geld –
stellvertretend für die Wirtschaft – unser aller Leben bestimmt, dürfte vielen jedoch nicht
klar sein. Eine schulische Ausbildung in ökonomischen Fragen wird hierzulande erst in
einigen Bundesländern angeboten. Die private Beschäftigung mit wirtschaftlichen
Fragestellungen empfinden viele als zu anstrengend und unnötig. Was geht uns das
Thema Wirtschaft eigentlich an? Reicht es nicht, wenn man sich politisch einigermaßen
auf dem Laufenden hält?
Keine politische Verantwortung ohne das nötige Wissen
Die Wahrnehmung der politischen Verantwortung als Wähler ist wichtig – gerade in
Zeiten, in denen die Sozialordnung unseres Landes aufgrund des gewaltigen
demographischen Wandels der Bevölkerung zunehmend belastet wird. Eine fundierte
Auseinandersetzung mit den Strategien der politischen Träger sowie eine an Sachfragen
orientierte Entscheidung, welcher Partei man seine Stimme gibt, ist jedoch ohne
wirtschaftliche Grundkenntnisse nicht möglich. Ein einfaches Beispiel sind die
Tarifverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern: Die Gewerkschaften
argumentieren, dass höhere Löhne gerade auch in konjunkturell schlechten Zeiten die
Konsumnachfrage stärken und daraufhin die Wirtschaft wächst. Die Arbeitgeber
verweisen hingegen auf die zusätzliche Kostenbelastung durch höhere Löhne, die letztlich
zu Arbeitsplatzverlusten führt.
Die Argumentationen beider Seiten klingen zunächst einleuchtend. Um sie gegeneinander
abwägen und sich für eine entscheiden zu können, bedarf es jedoch wirtschaftlichen
Basiswissens über die Zusammenhänge zwischen Löhnen, Preisniveau und
Beschäftigung. Ähnlich verhält es sich bei Themen der Arbeitsmarkt-, Renten-,
Gesundheits- und Steuerpolitik: Nahezu alle Gesetzgebungsvorhaben haben
unmittelbaren oder mittelbaren Einfluss auf den Arbeitsmarkt und die Finanzierung der
Wirtschaft, der Sozialsysteme sowie des Staates. Die ökonomischen Folgen einer
politischen Forderung kann nur abschätzen, wer die möglichen Wirkungsmechanismen
kennt.
Verantwortungsvoll gelebte Demokratie erfordert daher selbstständiges Denken und
ökonomisches Grundlagenwissen, denn Politik und Wirtschaft sind untrennbar
miteinander verbunden. Mehr noch, die Politik – und damit auch der einzelne Wähler –
kann die Geschicke eines Landes nur erfolgreich lenken, wenn sie die Gesetze der
Wirtschaft kennt und beachtet. Walther Rathenau, Außenminister in der Weimarer
Republik, brachte diesen Zusammenhang bereits 1921 auf die Formel: "Die Wirtschaft ist
unser Schicksal". Vom Wohlergehen der Wirtschaft sind wir alle – gleich ob Arbeitnehmer
oder Selbstständiger – abhängig.
Wirtschaftswissen im Alltag
Wissen über Wirtschaft brauchen wir jedoch nicht nur als Wähler und Arbeitnehmer. Wir
alle sind auch Konsumenten, die ihren Lebensunterhalt von ihren Einkünften bestreiten
müssen. Fast täglich sind hier Entscheidungen zu treffen: Kann ich mir einen
Restaurantbesuch leisten? Soll ich die neue Waschmaschine bar bezahlen oder ein
Finanzierungsangebot nutzen? Wir müssen allerdings nicht nur an unser derzeitiges
Auskommen und größere Anschaffungen, sondern ebenso an die Zukunftssicherung
denken, d.h. für Berufsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit und Alter vorsorgen. Es geht im
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täglichen Leben also weniger um gesamtwirtschaftliche Anliegen als um die ureigensten
Interessen des Einzelnen.
Die Zeiten, in denen ein geregeltes Arbeitsverhältnis automatisch eine lebenslange
finanzielle Rundumversorgung durch Arbeitgeber und Staat bedeutete, gehören sicherlich
der Vergangenheit an. Der Bürger muss mehr Eigenverantwortung tragen. Ökonomisches
Wissen in Geld- und Finanzfragen ist daher unerlässlich, insbesondere für den
Vermögensaufbau und die Alterssicherung.
Gleichzeitig wird dem Subsidiaritätsprinzip wieder größere Bedeutung beigemessen:
Danach ist der Bund für alles zuständig, was "kleinere" Gemeinschaften – also Länder,
Kommunen und nicht zuletzt die Familien – nicht aus eigener Kraft sicherstellen können.
Erst wenn auf unterer Ebene keine Möglichkeit mehr besteht, ein Problem zu lösen, ist
die nächsthöhere Ebene gefordert. Früher – zu Zeiten der bäuerlichen Großfamilie – war
dies relativ einfach zu bewerkstelligen. Die heutige Welt ist aber viel komplizierter. Wer
Subsidiarität fordert, muss auch die Möglichkeiten hierzu schaffen. Wer z.B. die Mittel
und Wege zur Absicherung des eigenen Alters nicht kennt, weil er sie nie gelernt hat,
kann gar nicht die Verantwortung für seine Altersvorsorge übernehmen. Ökonomisches
Wissen in Geld- und Finanzfragen ist daher unerlässlich, und es dient nicht den
Interessen der Unternehmen, sondern jedes Einzelnen, die Zusammenhänge besser zu
verstehen.
Fazit
Das Thema Wirtschaft geht uns alle an – als Wähler, Arbeitnehmer, Konsumenten,
Anleger. Nur wer die ökonomischen Grundlagen und Zusammenhänge kennt, kann
fundiert urteilen und entsprechend (eigen-)verantwortlich handeln. Gleichzeitig ist auch
der Staat aufgefordert, dafür zu sorgen, dass die Kenntnisse weithin zugänglich sind. Der
Weg dahin führt über ein Schulfach Ökonomie, das in allgemeinbildenden Schulen mit
ausreichender Stundenanzahl unterrichtet wird. Dass ökonomische Bildung zur
Allgemeinbildung gehört, ist mittlerweile unstrittig. Allerdings hat sich die Einsicht, dass
es eines eigenen Faches bedarf, noch nicht in allen Bundesländern durchgesetzt.
Ökonomische Happen in anderen Fächern sind aber keine Lösung bei der Suche nach
einer fundierten ökonomischen Bildung, sondern oftmals nicht mehr als ein Alibi.
Gleichzeitig ist eine solche Bildung nur der Anfang. Denn auch wenn wir, in hoffentlich
nicht allzuferner Zukunft, in Deutschland an allen allgemeinbildenden Schulen dieses
Schulfach "Ökonomie" haben sollten, muss sich doch weiterhin jeder auch privat und
lebenslang mit diesem Thema beschäftigen – zum eigenen Vorteil!
04. Oktober 2005
Quelle:
http://www.bpb.de/themen/RLZHEK.html
Essay
"Wenn ich einmal reich wär" – Die Idee von Eigentum und Reichtum
Marc Brost
Jeder zweite Deutsche bangt, dass sein Einkommen sinkt und weniger zum Leben bleibt.
Jeder Dritte sorgt sich, im Alter zu wenig Geld zu haben. Jeder Fünfte fürchtet, soviel
Schulden zu machen, dass er sie nicht mehr zurückzahlen kann. Die Angst lähmt das
Land.
Mit der Reform der Sozialsysteme, etwa mit der Einführung von Hartz IV, hat der Staat
seine Unterstützung so weit wie nie reduziert – und verlangt von seinen Bürgern nun
soviel Engagement wie nie. Es ist der Abschied von einem System, das jedem von uns
die Sicherheit gab, der eigene Lebensstandard bleibe auf jeden Fall erhalten, ganz gleich,
wie lange man auch arbeitslos sei. Nun muss man am besten selbst finanziell vorsorgen.
Und plötzlich merken die Menschen, dass sie das nicht können.
Warum? Weil die traditionelle Ökonomie von einem falschen Menschenbild ausgeht.
Es war der Brite Adam Smith, der mit seinem 1776 veröffentlichen Buch "Wohlstand der
Nationen" dieses traditionelle Bild von Mensch und Wirtschaft geprägt hat. So basieren
heute alle ökonomischen Gesetze auf der Annahme, dass wir uns wie ein Homo
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oeconomicus verhalten: Unser Ziel ist es demnach, von allem mehr zu haben – mehr
Profit, mehr Geld, mehr Macht.
Das Streben nach Reichtum ist das Grundmotiv des wirtschaftlichen Handelns. Der Homo
oeconomicus will reich sein, damit schafft er Wachstum, und dieses Wachstum schafft
gesellschaftlichen Wohlstand, von dem wiederum alle profitieren. Damit das gelingt, so
Smith, sind wir in der Lage, ganz nüchtern und kühl unsere jeweilige Situation zu
analysieren. Wir bewerten alle Optionen und entscheiden uns für die beste. Kurz: Wir
handeln rational.
Aber tun wir das wirklich?
So wie wir die Dinge wahrnehmen, wie wir sie empfinden und einordnen, folgen wir eben
nicht den rationalen Verhaltensmustern der traditionellen Ökonomie. Statt dessen
orientieren wir uns an etwas, dass so ganz und gar nicht dem Bild des Homo
oeconomicus entspricht: An Werten etwa. Oder an sozialen Normen. Vor allem aber
lassen wir uns sehr leicht täuschen. Deshalb scheitern wir auch immer wieder beim
Umgang mit Geld. Und deshalb fühlen wir uns überfordert, wenn der Staat auf einmal
finanzielle Eigenverantwortung fordert, wo er doch immer so schön für uns gesorgt hat.
Experimentelle Ökonomen, wie der Schweizer Ernst Fehr in Zürich, haben
herausgefunden, dass Ungeduld und Willensschwäche unser Handeln beeinflussen. Selbst
wenn die Menschen die besten Mittel kennen, sind sie manchmal einfach nicht in der
Lage, diese Mittel auch anzuwenden. Ein Beispiel: Zwei Drittel der US-Bürger glauben,
dass sie fürs Alter zu wenig vorsorgen. Mehr als ein Drittel will daher mehr sparen. Fragt
man jedoch einige Monate später nach, hat kaum jemand mehr Geld auf die Seite gelegt.
Wir sind nicht die kühlen Kalkulierer, für die wir uns selbst gerne halten. Dazu schauen
wir viel zu gern auf andere: Wie sie leben. Wie sie sich kleiden. Und – vor allem – wie
viel Geld sie haben. So passiert es zum Beispiel, dass wir eine Lohnerhöhung bekommen,
sagen wir 500 Euro, und uns dennoch ärgern. Eigentlich ist es genau die Summe, die wir
haben wollten, eigentlich ist es genau der Betrag, von dem wir gestern noch sagten, es
wäre riesig, wenn uns der Chef soviel genehmigen würde. Eigentlich ist es eine
Lohnerhöhung, die uns zufrieden stellt. Bis wir erfahren, dass unser Kollege im Büro
nebenan 600 Euro bekommen hat. Dann sind wir neidisch. Und unzufrieden. Wer einen
Nachbar hat, der gerade im Lotto eine halbe Million gewann, wird selbst anfangen zu
tippen – ganz gleich, wie gering die Wahrscheinlichkeit ist, ebenfalls soviel Geld zu
gewinnen. Wer einen Arbeitskollegen kennt, der mit sibirischen Ölaktien binnen sechs
Monaten aus 10.000 Euro das Fünffache machte und der deshalb noch einmal investiert,
wird ebenfalls diese Aktien kaufen – und sich später, wenn von den eigenen 10.000 Euro
nur noch 500 übrig sind, grün und blau ärgern. Ungeduld und Willensschwäche verführen
uns zu Fehlern.
Durch die Reformen am Arbeitsmarkt werden diese Fehler sofort bestraft. Nicht nur, dass
das neue Arbeitslosengeld II so niedrig ist, dass jeder Einzelne selbst sehen muss, wo er
finanziell bleibt. Auch mit den neuen Unternehmensgründungen lässt sich die
Massenarbeitslosigkeit nur dann überwinden, wenn die Menschen unternehmerischer
denken – und handeln. Die staatliche Förderung hat zwar für einen wahren Gründerboom
bei Ich-AG's gesorgt. Aber nur wenn diese neuen Selbstständigen sich nicht von ihrer
Gier und ihrer Willensschwäche leiten lassen, werden sie am Markt langfristig überleben.
Damit der Traum vom Reichtum doch noch Wirklichkeit wird, müssen alle umdenken. Die
Politik muss erkennen, dass finanzielle Eigenverantwortung nur funktioniert, wenn die
Bürger finanziell gebildet sind. Etwa durch ein Schulfach Wirtschaft. Und durch einen
offenen Umgang mit dem Thema Geld in der Gesellschaft.
Und jeder Einzelne? Wenn die Menschen sich nur endlich bewusst würden, dass Neid und
Gier sie zu Fehlern verleiten, wäre schon viel gewonnen. Es gibt keinen Fehler, den man
nicht zweimal machen kann.
04. Oktober 2005
Quelle:
http://www.bpb.de/themen/6XHIBQ.html
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Von der lokalen zur globalen Ökonomie
Die Rindfleischsuppe von Liebig machte schon zu Kaisers Zeiten weltweit die
Runde
Hermannus Pfeiffer
"Globalisierung ist sicher das am meisten gebrauchte - missbrauchte - und am
seltensten definierte, wahrscheinlich missverständlichste, nebulöseste und
politisch wirkungsvollste (Schlag- und Streit-)Wort der letzten, aber auch der
kommenden Jahre."
Prof. Dr. Ulrich Beck, Soziologe
Reisen wir in eine ferne Vergangenheit zurück, lassen "Wirtschaftswunder" und NaziDiktatur einfach hinter uns, ziehen an Weltwirtschaftskrise und dem Großen Krieg 19141918 vorbei, an dem Untergang der Titanic und an Reichskanzler Otto von Bismarck, um
an der offiziellen Eröffnungsfeier der deutschen Moderne zu stoppen. Wir schreiben nun
das Jahr 1871. Im majestätischen Spiegelsaal von Versailles wird der greise
Preußenkönig Wilhelm I. am 18. Januar zum deutschen Kaiser ausgerufen.
Die pompöse Kaiserkrönung beendet die deutsche Kleinstaaterei und feuert nach einem
halben Jahrhundert politischer Streitereien endlich den Startschuss für eine vereinigte
deutsche Volkswirtschaft ab. Lange Zeit mussten Pfeffersäcke von Hamburg nach
München bis zu einem Dutzend Zollschranken überwinden. Im Pferdekarren, auf
schlechten Wegen und per Lastkahn über enge Flüsse ging die lange und beschwerliche
Reise unter anderem durch das Herzogtum Lauenburg, Königreich Hannover, Herzogtum
Braunschweig, Kurfürstentum Hessen-Kassel oder die thüringischen Staaten bis ins
Königreich Bayern. Nur wenige Kaufleute hatten Lust auf solche Strapazen, zumal sich
der Gewinn aufgrund der hohen Zollgebühren in Grenzen hielt. Daher blieb das
wirtschaftliche Leben in Deutschland - wie beispielsweise auch in Japan jahrhundertelang vor allem auf die lokale Ökonomie beschränkt, die Bauernfamilie
produzierte für sich, nur ein kleiner Teil wurde in der nahen Kleinstadt verkauft. Dort
arbeiteten auch Handwerker, Gewerbetreibende und Viehhändler, deren geschäftlicher
Horizont meistens nur so weit wie ein halber Tagesmarsch reichte, damit sie Abends
wieder rechtzeitig zu Hause waren. Diese Enge konnte selbst der Deutschen Zollverein
1834 nicht aufbrechen, wie der Volksmund wusste: "Bleibe im Lande und nähre dich
redlich."
Bewegung in die, im internationalen Vergleich, rückständige Wirtschaft brachte nach dem
Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 die Reichsgründung in Versailles bei Paris. Aus
kleinen Fabriken wachsen nun große Aktiengesellschaften, aus provinziellen
Privatbankiers entstehen Deutsche, Dresdner und Commerzbank, und neue Technologien
revolutionieren die Fabriken. Deutschland wächst endlich zu einer Volkswirtschaft heran,
wie sie in England, dem führenden Industriestaat, schon lange existiert.
Exportweltmeister
Reisen wir an dieser Stelle heim in unsere Gegenwart. Unterbrochen von der Ära der
Weltkriege und dem westdeutschen "Wirtschaftswunder" macht seit den 90er Jahren das
Schlagwort Globalisierung die Runde. Autos, Chemieprodukte, Werkzeugmaschinen und
andere Waren und Dienstleistungen im Wert von 733,5 Milliarden Euro exportierte
Deutschland alleine im Jahr 2004 ins Ausland –Exportweltmeister. Umgekehrt kommen
zu uns T-Shirts aus China, Computersoftware aus den USA, Containerschiffe aus
Südkorea und Apfelsinen aus Israel. Konzerne investieren zudem weltweit. So beteiligte
sich die Deutsche Bank 2005 an Finanzfirmen in China und Indien und Siemens
beschäftigt heute über 250.000 Menschen im Ausland, in Deutschland sind es nur rund
150.000. "Der Standort Deutschland ist nicht abgeschrieben, aber in einem globalen
Unternehmen muss die Wertschöpfung global verteilt werden", verteidigt SiemensAufsichtsrat Heinrich von Pierer den Abschied von der Volkswirtschaft.
Doch auch wenn alle ihn verwenden: Der Begriff Globalisierung bleibt schwammig. Klar
ist nur, dass er weniger Neuartiges beschreibt, als es zunächst scheint. Denken wir an
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Justus Liebig. Wen? Justus Liebig! Er dürfte manchem aus dem Filmklassiker
"Feuerzangenbowle" bekannt sein, anderen als weltberühmter Wissenschaftler. Der
Darmstädter revolutionierte als Chemiker die Landwirtschaft und erfand tatsächlich die
gleichnamige Trockensuppe, die heute immer noch ein Markenartikel ist. Vor 150 Jahren
benötigte er drei Kilogramm Fleisch, um einen einzigen Liter Brühe herzustellen - und das
war entschieden zu teuer. Liebig erfuhr in Gießen, dass im fernen Peru die Rinder
geschlachtet wurden, nur um die Häute zu gerben - das Fleisch landete auf dem Müll.
Seit 1862 ließ der professorale Unternehmer daher seine Suppenwürfel in Peru und
Uruguay, später auch in Deutsch-Südwestafrika produzieren. Von dort verschiffte er
seine Suppenpaste nach Europa und in die Kolonien.
Dynamischer Welthandel
Liebigs Geschichte klingt sehr modern, und sie ist sehr modern. Denn bereits zu Kaisers
Zeiten genossen Außenhandel und Auslandsinvestitionen eine überragende
volkswirtschaftliche Bedeutung. So wurde mit dem neuen Reich auch die Deutsche Bank
gegründet, um das deutsche Exportgeschäft anzukurbeln. Ohne Kredit lief schon damals
in Wirtschaft und Handel wenig. In den führenden Industriestaaten stieg der
Außenhandel bis auf ein Drittel des Bruttosozialproduktes an, und die Hafenstadt
Hamburg unterhält Konsulate in 279 Staaten; in der maritimen Logistikindustrie sprach
man spätestens zur Jahrhundertwende 1900 allgemein vom "Welthandel".
Also war die Dynamik bereits damals, in der "guten, alten Zeit", atemberaubend. Im
jungen Kaiserreich werden Millionen Menschen ihre Arbeitsplätze verlieren, werden Dorf
oder Kleinstadt in der Altmark und Ostpreußen verlassen, um vor Armut und Not nach
Frankfurt, Berlin oder München zu fliehen oder um von Bremen und Hamburg nach
Amerika zu segeln. Die revolutionären Technologien Chemie und Elektro werden ganze
Berufszweige vernichten. Ökonomen und Wissenschaftler sorgen sich um die
Auswirkungen des Weltmarktes und der "Gründerkrach" vernichtet tausende Firmen.
Telegrafie, Überseekabel und neue Verkehrssysteme beschleunigen Informationen und
Wirtschaftsabläufe in rasende Geschwindigkeitsbereiche, Informationen, die früher
mehrere Wochen brauchten, branden nun in Stunden von Kontinent zu Kontinent, von
New York nach London und Paris. Die Herausforderungen von damals sind die
Herausforderungen von heute, nennen wir sie Globalisierung.
04. Oktober 2005
Quelle:
http://www.bpb.de/themen/48YV3C.html
Wirtschaftssysteme, die die Welt beweg(t)en
Jörg Roesler
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts, nach der weltweiten Durchsetzung der von ihren
Gegnern als Neoliberalismus bezeichneten Angebotsökonomie ist es kaum noch
vorstellbar, dass im vorangegangenen Jahrhundert gleich drei Wirtschaftssysteme um die
Gunst der Menschen konkurrierten: Der ökonomische Liberalismus, die staatliche
Zentralplanwirtschaft und der Keynesianismus.
Ursache der Vielfalt war nicht der Gedanke, verschiedene Systeme auszuprobieren und
danach die beste Art des Wirtschaftens auszuwählen. Ursache war vielmehr die
Enttäuschung über das jeweils herrschende Wirtschaftssystem, das nicht halten konnte,
was es versprochen hatte.
Die klassische Ökonomie
Dabei war man Anfang des 20. Jahrhunderts ganz sicher, mit dem ökonomischen
Liberalismus ein Wirtschaftssystem gefunden zu haben, das "immerwährende
Prosperität" garantiert. Der Begründer der "klassischen Ökonomie", Adam Smith, hatte
Ende des 18. Jahrhunderts die Vorstellungen von einer freien Gesellschaft aus der Politik
auf die Ökonomie übertragen. Er vertrat die Idee, dass eine freie Marktwirtschaft, in der
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nur die Gesetze von Angebot und Nachfrage gelten und der Staat direkte Eingriffe
unterlässt, den Wohlstand aller Menschen vermehrt. Das 19. Jahrhundert brachte den
Siegeszug des ökonomischen Liberalismus in Europa und Amerika.
Doch die Weltwirtschaftskrise 1929-33 beendete die "Grand Prosperity" nicht nur in den
USA. Seit dem "Schwarzen Freitag" an der New Yorker Börse sank Jahr für Jahr die
Nachfrage. Je weniger abgesetzt werden konnte, desto weniger wurde auch produziert.
Die Massenarbeitslosigkeit erreichte bis dahin unvorstellbare Ausmaße. Wie Hohn klang
nun in den Ohren der ratlosen Wirtschaftspolitiker der 100 Jahre zuvor vom
französischen Ökonomen Jean Baptiste Say, einem Verbreiter der klassischen Lehre,
geprägte Satz, dass sich jedes Warenangebot seine Nachfrage auf dem Markt schaffe.
Wirtschaftliche Gleichgewichtsstörungen, d.h. Wirtschaftskrisen, konnten demnach, wenn
überhaupt, nur teil- bzw. zeitweise auftreten.
Mit Keynes aus der Krise
Die Weltwirtschaftskrise machte es jedoch deutlich: Nicht um das Angebot, sondern um
die Nachfrage drehte sich die Wirtschaft. Auf der Suche nach einem
Wirtschaftstheoretiker, der ihm einen Ausweg aus der Krise zeigen könnte, stieß der
amerikanische Präsident Roosevelt auf den Briten John Maynard Keynes.
Dieser hatte die Weltwirtschaftskrise sorgfältig analysiert. Er kam zu dem Schluss, dass
die Selbstheilkräfte des Marktes offensichtlich nicht ausreichten, um das wirtschaftliche
Gleichgewicht und damit die Konjunktur wieder herzustellen. Der Staat müsse eingreifen
und durch Staatsaufträge und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zusätzliche Nachfrage
nach Investitions- und Verbrauchsgütern schaffen. Die Mittel für eine volkswirtschaftliche
Steuerung des Konjunkturverlaufs müsse sich der Staat durch Umverteilung von den
Begüterten zugunsten der von Krisen am ehesten betroffenen abhängigen Beschäftigten
beschaffen.
Zum populärsten Instrument des Keynesianismus wurde das "Deficit Spending".
Demnach kann sich der Staat, wenn eine Wirtschaftskrise droht, verschulden, sofern er
sich in der darauf folgenden Wachstumsphase das geborgte Geld dank der dann wieder
reichlich fließenden Abgaben zurückholt. Auch Zusatzsteuern, mit denen in einer
Boomphase eine "Überhitzung" der Konjunktur verhindert werden soll, könnten die
Kassen dann wieder füllen. Dem Keynesianismus, dem Roosevelt in den 30er Jahren sein
Antikrisenprogramm "New Deal" zugrunde legte, folgten nach dem Zweiten Weltkrieg
auch die Wirtschaftspolitiker in Europa, Lateinamerika, Australien und Ostasien.
Das Gegenmodell
Allerdings war der Keynesianismus nicht das einzige Wirtschaftssystem, das als Antwort
auf die Misere des ökonomischen Liberalismus in der Welt Verbreitung fand. In der
Sowjetunion wurde unter Stalins Herrschaft seit Ende der 1920er Jahre die
staatssozialistische Planwirtschaft entwickelt. Auch sie misstraute dem Markt, schaffte ihn
aber im Unterschied zum Keynesianismus mit Ausnahme einer freien Arbeitsplatz- und
Konsumgüterwahl innerhalb eng gesetzter Grenzen ganz ab.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Zentralplanwirtschaft sowjetischen Typs in
Osteuropa und auf dem ostasiatischen Festland (Volksrepublik China) durchgesetzt.
Nach etwa drei Jahrzehnten traten die Schwächen der Zentralplanwirtschaft bezüglich
Wachstum und Modernisierung der Anlagen offen zu Tage. Fast zur gleichen Zeit, in den
1970er Jahren, erreichte auch die zunächst so erfolgreiche keynesianische Steuerung des
Konjunkturzyklus ihre Grenzen. Statt Beschäftigungssicherung und konjunkturellem
Aufschwung traten immer häufiger Inflation und Stagnation des Wachstums, die so
genannte "Stagflation" auf.
Der Monetarismus
Die "Stagflation" diskreditierte die keynesianische Nachfrageökonomie bald so sehr, dass
der zwischenzeitlich insbesondere vom US-amerikanischen Ökonomen Milton Friedman
modernisierte, als Monetarismus bezeichnete ökonomische Liberalismus wieder attraktiv
wurde. Der amerikanische Präsident Reagan und die britische Premierministerin Thatcher
machten ihn in den 80er Jahren zur Grundlage einer Wirtschaftspolitik, in der der
Rückzug des Staates aus der Wirtschaft und der Rückbau der sozialen
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Sicherungssysteme Merkmale der wiederbelebten Angebotsökonomie waren.
In den 1980er Jahren scheiterten auch die Versuche, die Zentralplanwirtschaft zu
reformieren. Danach wurde zu Beginn der 1990er Jahre der von seinen Gegnern als
Neoliberalismus bezeichnete Monetarismus nach sechs Jahrzehnten der Dominanz der
staatsinterventionistischen Wirtschaftssysteme Keynesianismus und Zentralplanwirtschaft
erneut zum weltweit unangefochten herrschenden Wirtschaftssystem.
Auf wie lange? Eine Antwort ist zur Zeit noch nicht möglich, doch ist es aus Sicht der
historischen Erfahrung wenig wahrscheinlich, dass mit dem 21. Jahrhundert das Ende der
Geschichte der Wirtschaftssysteme gekommen ist. Bemerkenswert ist jedenfalls, dass
seit etwa zwei Jahren in Deutschland – zumindest in den Medien – in Zusammenhang mit
Zweifeln an der Wirksamkeit der Agenda 2010 und der Steuerreform wieder auf den
Keynesianismus Bezug genommen wird.
04. Oktober 2005
Quelle:
http://www.bpb.de/themen/0HLPUW.html
Verdienen Führungskräfte zu viel?
Managervergütungen zwischen Neid, Leistung und Verteilungsgerechtigkeit
Dr. Ulrich Thielemann
Seit dem Ende der 90er Jahre, als die Finanzgemeinde der Welt Glauben machen wollte,
die Bäume würden in den Himmel wachsen, sind die Einkommen der Top-Manager
förmlich explodiert. Dies zeigt ein Blick auf die Entwicklung der "CEO-to-Worker-payRatio", die das Verhältnis zwischen der Vergütung der obersten Geschäftsleitung und
dem durchschnittlichen Gehalt der Angestellten benennt. Lag diese Rate in den USA und
in Deutschland in den 60er Jahren bis Mitte der 90er Jahre noch bei etwa 30-40, so
verdienten die amerikanischen Geschäftsführer im Jahre 2000, also zur Hochzeit der New
Economy, fünfhunderteinunddreißig Mal mehr als ein gewöhnlicher Angestellter; 2003 lag
der Faktor bei 301.
Ähnlich verhält es sich bei der Deutschen Bank, wenn auch hier der Anstieg nicht ganz so
deutlich ausfiel (31 im Jahre 1992, 286 im Jahre 2000, 240 im Jahre 2003). Dass es sich
hierbei durchaus um einen breiten Trend auch in der deutschen Führungslandschaft
handelt, zeigt sich etwa darin, dass die Bezüge der Vorstände der 30 DAX-Unternehmen
zwischen 1997 und 2003 um mehr als 80 Prozent stiegen, die der Angestellten, soweit
sie ihre Anstellung behielten, hingegen um lediglich 15 Prozent.
Eine Frage des Neides?
Die wachsende Einkommensschere innerhalb der Unternehmen wird gerne mit zwei
Argumenten zu rechtfertigen versucht: Der verbreitete Unmut in der Bevölkerung über
die hohen Vergütungen der Manager sei letztlich bloß Ausdruck von Neid. Und überdies
entspreche die Vergütung der Leistung, die die Manager erbringen. Bei genauerer
Betrachtung zeigt sich allerdings, dass diese Rechtfertigungen einer kritischen
Betrachtung nicht standhalten.
Das Neidargument setzt eine Art Dschungeltheorie der Einkommenserzielung voraus.
Diese nimmt an, Einkommen würden außersozial, im einsamen Kampf des Einzelnen im
Dschungel des anonymen Marktes, erwirtschaftet. Wer leistungsfähig und fleißig ist, der
kommt mit einer "fetten Beute" (sprich: mit einem hohen Einkommen) aus dem
Dschungel in die Gesellschaft zurück, wer weniger leistungsfähig oder fauler ist, bringt
halt weniger mit nach Hause.
In die Gesellschaft zurückgekehrt, erwartet die Erfolgreichen jedoch häufig nicht
Anerkennung für die von ihnen geschaffenen "Werte". Vielmehr sehen sie sich mit dem
Neid der Leistungsschwachen oder Faulen konfrontiert, und sie werden nicht belobigt,
sondern zuweilen ganz im Gegenteil gescholten: "Deutschland ist das einzige Land, wo
diejenigen, die erfolgreich sind und Werte schaffen, deswegen vor Gericht stehen",
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beklagte Josef Ackermann, Vorstandssprecher der Deutschen Bank, bei seinem Auftritt
im Mannesmann-Prozess, wo er wegen der Gewährung einer Abfindung an Klaus Esser in
Höhe von 30 Millionen Euro der Beihilfe zur Untreue angeklagt war.
Die Dschungeltheorie ignoriert den schlichten Umstand, dass Einkommen stets
arbeitsteilig erwirtschaftet werden und Anteile an einem Sozialprodukt bilden –
volkswirtschaftlich und betrieblich gesehen. Sie übersieht, dass wir, um im Bild zu
bleiben, im Dschungel unsere "Beute" mit und gegen eben dieselben Personen
erwirtschaften, die wir auch in der Gesellschaft sonst antreffen, also Mitarbeitende,
Kapitalgeber, Kunden und auch Konkurrenten, die wir aus dem Rennen geworfen haben.
Sie alle zusammen ermöglichen dem einzelnen die Erzielung eines Einkommens – auch
dem Vorstandschef.
Die hohen und in den letzten Jahren exorbitant gestiegenen Managervergütungen stellen
also nicht bloß ein Problem ausgebliebener – und verfehlter – Solidarität dar, sondern
werfen Fragen der Verteilungsgerechtigkeit auf, nicht bloß der "Umverteilung": Wie ist
die gemeinsame Wertschöpfung auf all diejenigen, die zu ihr beigetragen haben, in fairer
Weise zu verteilen?
Untiefen des Leistungsbegriffs
Hier kommt der Leistungsbegriff ins Spiel. Jeder nach seinen Leistungen – das ist
Verteilungsgerechtigkeit, Fairness. Jeder nach seinen Bedürfnissen – das ist Solidarität,
"Umverteilung". Aber was ist Leistung? Meinen wir den Einsatz, die Anstrengung, die
Fähigkeiten des Einzelnen? Oder meinen wir den Erfolg, das Ergebnis, die
Wertschöpfung? Meinen wir den Input oder den Output? In einer komplex-arbeitsteiligen
Marktwirtschaft besteht hier keine eindeutige Beziehung. Darum charakterisierte der
Ökonom Friedrich August von Hayek den Markt als eine "Mischung von Glücks- und
Geschicklichkeitsspiel".
Die Glücks- oder Zufallskomponente wird schlagend deutlich, wenn man sich
vergegenwärtigt, dass der Einkommenssprung der Manager Ende der 90er Jahre fast
vollständig auf dem "irrationalen Überschwang" (US-Notenbankchef Alan Greenspan) der
Börsen beruhte. Und an die Spitze etwa von Mannesmann, deren Börsenwert im
Gleichlauf mit den Konkurrenzunternehmen nach oben schnellte und mit ihm die
Managervergütung, hätte man, so prononciert der Hamburger Wirtschaftsrechtler Michael
Adams, "auch einen Gorilla setzen können".
Den Boom haben die Manager zwar mit angetrieben. Allerdings entsprach er kaum einer
nennenswerten realen Wertschöpfung, sondern erwies sich als Blase – eine hoch
lukrative Blase für gewisse Kreise. Einige Manager haben durch Einlösen ihrer
Aktienoptionen kurz vor dem Niedergang der Börsen still und heimlich Milliarden (kein
Druckfehler!) eingestrichen. Ein schöner Erfolg – für die einen. Und ein klarer Verlust für
die Anleger, die ihnen die Aktien dann noch abgekauft haben.
Ethische Grenzen des Einkommens
Schon weil jedem Einkommen ein Moment des Zufalls anhaftet, sind allzu weiten
Einkommensdisparitäten deutliche ethische Grenzen gesetzt. Doch selbst wenn wir
zwischen Input-Leistung und Output-Leistung einen Zusammenhang annehmen, bleibt
klärungsbedürftig, welcher der beiden Seiten wir welches Gewicht einräumen.
Mit Blick auf die Input-Leistung dürfte klar sein, dass niemand ein paar hundert Mal mehr
an Energie, Fähigkeiten, Einsatz "leisten" kann als ein anderer. Doch was kann der
Einzelne mit seinem mehr oder minder bescheidenen Einsatz bewirken (OutputLeistung)? Einige Manager, wie etwa der ehemalige Vorstandsvorsitzende von Siemens,
Heinrich von Pierer, scheinen anzunehmen, dass letztlich sie es sind, die die
Wertschöpfung erwirtschaftet haben. Die Einkommen der Siemens-Mitarbeiter, aus dem
diese schließlich "fast drei Milliarden Euro an Lohn- und Einkommenssteuern" zahlten,
fallen nicht etwa "vom Himmel", so Pierer, "sondern unsere Mitarbeiter bekommen es
vorher von uns." "Wir", das sind Pierer und die kleine Riege von Top-Managern aus
seinem Umkreis. Diese haben die milliardenschwere Wertschöpfung der Siemens AG
offenbar bewirkt. Sie sind es, die "Werte schaffen". Die Mitarbeiter sind dabei bestenfalls
Komparsen, schlechtestenfalls eher lästige Kostenfaktoren, die "unseren" Erfolg nur
schmälern.
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Integrität – und Millionenvergütungen?
Es ist die im Anspruch, Millionen im faktischen und moralischen Sinne zu verdienen zum
Ausdruck kommende Selbstüberschätzung, die den Ruf der Manager in den letzten
Jahren deutlich beschädigt hat. Vorstandsvergütungen mehrere hundert Mal so hoch wie
das Gehalt der übrigen Belegschaft passen nicht zum Bild eines integren Managers, dem
es letztlich nicht um die Maximierung des Shareholder Value und erst recht nicht um die
Maximierung seines eigenen Kontostands geht, sondern um eine ganzheitlich gute
Entwicklung des Unternehmens, dem er vorsteht.
Es dürfte kein Zufall sein, dass diejenigen Manager, die für sich Millionengagen
reklamieren – und dabei erfolgreich sind –, zugleich auch Meister im Entlassen,
Outsourcen und im nominellen Verlagern von Gewinnen in Steueroasen sind. Es ist zu
hoffen, dass diese Art der "Leistung", die im Wesentlichen darin besteht, den Aufsichtsrat
zum eigenen Freundeskreis zu machen, nicht mehr als eine Leistung zählt, die es
verdient, honoriert zu werden.
04. Oktober 2005
Quelle:
http://www.bpb.de/themen/0B7VJ7.html
Deutschland - (K)ein Freizeitvolk
Markus Sievers
"Samstags gehört der Vati mir" – mit dieser Parole feierte die Metallergewerkschaft in
den 50er Jahren Erfolge. Mehr Freizeit forderte sie für ihre Leute, mehr Freiraum für die
Familie. Möglich machte dies die steigende Produktivität der Arbeit. Die wachsende
Effizienz steigerte nicht nur die Kaufkraft, sondern erhöhte auch die Zahl der Stunden,
über die die Menschen selbst verfügen und bestimmen konnten. Zehn Jahre später sorgte
die 40-Stunden-Woche dafür, dass der Chef am ganzen Wochenende auf seinen
Angestellten verzichten musste. Gleichzeitig wuchsen die Urlaubsansprüche. Mit zwölf
Tagen wie noch 1950 wollte und musste sich der Wohlstandsbürger nicht zufrieden
geben. 1980 umfasste die schönste Zeit des Jahres für den Durchschnittsarbeitnehmer
schon 27 Tage, bis 1990 kletterte dieser Wert auf über 31 Tage. Auch die
Wochenarbeitszeiten sanken mit der schrittweisen Einführung der 35-Stunden-Woche
weiter.
Wieviel Freizeit kann sich Deutschland leisten?
Dann aber begann der Wirtschaftsriese Deutschland zu schwächeln. Mit
Wachstumsflaute, dem verschärften internationalen Wettbewerb durch Öffnung der
europäischen Grenzen, mit Globalisierung und der Krise des Standortes D wuchsen die
Zweifel, ob sich die Deutschen so viel Freizeit noch leisten können.
"Wir haben die kürzesten Wochenarbeitszeiten, den längsten Urlaub und eine hohe Zahl
von Feiertagen", meint Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt. "Diesen Luxus können wir uns
auf Dauer nicht leisten." Handwerkspräsident Dieter Philipp verlangt die 42-StundenWoche. Das sei kein Opfer, sondern eine Chance, den Wirtschaftsstandort Deutschland
wieder wettbewerbsfähiger zu machen. "Die 42-Stunden-Woche, wie sie in der Schweiz
etwa Normalität ist, würde auch bei uns viele Arbeitsplätze retten", glaubt Philipp. "Wir
müssen künftig wieder mehr arbeiten bei gleichem Gehalt."
Besser als der Ruf
Doch sind die Bundesbürger wirklich so viel weniger im Betrieb präsent als beispielsweise
Franzosen, Briten oder US-Amerikaner? Zweifel an diesem Bild meldet das Institut zur
Erforschung sozialer Chancen (ISO) in Köln an. Es befragte über 4.000 Arbeitnehmer und
fand heraus: Die Deutschen arbeiten mehr, als sie selbst von sich glauben. Zu einem
ähnlichen Ergebnis kommt das Institut Arbeit und Technik (IAT) in Wuppertal. "Die
tatsächlichen Arbeitszeiten entsprechen dem EU-Durchschnitt", heißt es in einer IAT-
9
Untersuchung. Und: "Die faktische Normalarbeitszeit abhängig beschäftigter
Vollzeitarbeitskräfte in beiden Teilen Deutschlands ist im Durchschnitt die 40-StundenWoche."
Wie ist das möglich im Land der 35-Stunden-Woche? Erstens bleiben viele Arbeitnehmer
so lange im Betrieb, bis die Arbeit geschafft ist. Sie beharren also nicht auf den
Tarifstandard und lassen nicht um Punkt 16.00 Uhr den Kugelschreiber oder den Pinsel
fallen. Zweitens schließen die Erhebungen häufig die Teilzeitkräfte mit ein – die aber
senken den Durchschnitt. "Deshalb sollten die Arbeitszeitvergleiche seriöserweise auf
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Vollzeitbeschäftigung beschränkt werden",
fordert das IAT. Drittens galt die 35-Stunden-Woche selbst auf ihrem Höhepunkt nur in
Teilbereichen der Industrie und nie flächendeckend.
Mehr Arbeit, für weniger Geld
Wer jedoch Handwerkspräsident Dieter Philipp genau zuhört, kann das eigentliche
Interesse der Unternehmen an längeren Arbeitszeiten heraushören: Für sie ist die
Ausweitung ein Vehikel, um die Arbeitskosten zu senken. "Die absoluten Einkommen
ließen sich in Deutschland nicht beschneiden", meint auch Arbeitgeberpräsident Hundt,
wohl aber die Stundenlöhne. Daher sei es eine "gute Lösung", wenn die Beschäftigten der
Firma ein wenig länger zur Verfügung stünden. Auf Geld müsse so keiner verzichten.
Dass die Freizeit geringfügig kleiner ausfalle, tue aber niemanden weh.
Diese Position findet in weiten Teilen des politischen Spektrums Anhänger. So haben sich
unter anderem Bundeskanzlerin Angela Merkel und CSU-Chef Edmund Stoiber wiederholt
für Mehrarbeit ausgesprochen. Viele Politiker, gerade aus den Reihen der
Sozialdemokraten oder Grünen, melden jedoch Bedenken an. Sie fürchten von längeren
Arbeitszeiten eher mehr als weniger Arbeitslose. Der kleinste gemeinsame Nenner, auf
den sich alle Parteien und auch die Wirtschaftsverbände verständigen können, sind
"flexible Betriebsregelungen". Das könnte in bestimmten Branchen und Unternehmen
auch kürzere Arbeitszeiten bedeuten.
Der Nutzen der Freizeit
Auf einen meist unterbelichteten Aspekt hat der US-Wissenschaftler Olivier Blanchard
hingewiesen. Er erinnerte daran, dass freie Zeit ihren Wert hat - Ökonomen würden
"Nutzen" sagen. Seiner Analyse zufolge dürfen sich die US-Amerikaner zwar über mehr
wirtschaftlichen Wohlstand freuen als die Europäer. Doch dafür zahlen sie einen hohen
Preis: Sie verzichten auf selbstbestimmte, auf freie Zeit.
Der überwiegende Teil des Wohlstandsgefälles zwischen den Vereinigten Staaten und den
Euro-Ländern geht laut Blanchard auf eine bewusste Entscheidung der Deutschen,
Italiener oder Franzosen zurück: Sie haben ihren Urlaub verlängert und die
Wochenarbeitszeiten verkürzt, weil ihnen mit wachsendem Wohlstand die Stunden zu
Hause oder im Sportverein wichtiger wurden als mehr Geld für Geländewagen oder
Anzüge.
01. Dezember 2005
Quelle:
http://www.bpb.de/themen/JTMDJR.html
Wirtschaftswachstum ohne Jobs
Ein steigendes Bruttoinlandsprodukt ist zu wenig, um das Problem der
Arbeitslosigkeit zu bekämpfen
Hermannus Pfeiffer
"Wir wollen uns jederzeit daran messen lassen, in welchem Maße wir zur
Bekämpfung der Arbeitslosigkeit beitragen."
Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner ersten Regierungserklärung im
November 1998 vor dem Deutschen Bundestag
10
Die Ampel für die Wirtschaft steht auf "grün", doch keiner gibt Gas und es fehlt an Jobs.
2004 wuchs die deutsche Volkswirtschaft um 1,6 Prozent, für eine entwickelte Ökonomie
durchaus ein respektabler Wert, und trotzdem verschärfte sich das Problem der
Arbeitslosigkeit. 2005 waren es dann nur noch 0,9 Prozent. Ökonomen gehen jedoch
davon aus, dass erst ab einem Wachstum von zwei Prozent plus X die Arbeitslosigkeit
dauerhaft sinken könnte.
Unter Kanzler Helmut Schmidt übersprang 1981 die Zahl der Erwerbslosen in der
Bundesrepublik erstmals dauerhaft die Millionen-Marke. Seither mangelt es grundsätzlich
an bezahlter Beschäftigung. Während beispielsweise mehr als 75 Prozent der Dänen
zwischen Schule und Rente ihr Geld mit einer bezahlten Tätigkeit verdienen, sind es
hierzulande nur etwa 65 Prozent. Aber immerhin, zuletzt zählte das Statistische
Bundesamt 38.777 Millionen abhängige und selbständige Erwerbstätige, vom Full-TimeJob bis zur geringfügigen Beschäftigung. Für eine tatsächliche Vollbeschäftigung fehlen
allerdings mindestens fünf Millionen volle Stellen in Wirtschaft und Verwaltung.
Das Arbeitsloch würde selbst eine anziehende wirtschaftliche Entwicklung nicht stopfen
können, da sind Sachverständigenrat und Nürnberger Arbeitsverwaltung einer Meinung.
Erst ab zwei Prozent Wirtschaftswachstum sei an Job-Wachstum zu denken. Auch die
Konjunkturexperten vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) zeichnen ein
tristes Zukunftsbild. "Für mehr Jobs benötigen wir ein jährliches Wirtschaftswachstum
von ungefähr zwei Prozent", heißt es beim Berliner DIW. Diese Zahl ergebe sich aus den
Erfahrungen der Konjunkturforscher und spiegle den Produktivitätsfortschritt plus die
steigenden Preise wider. Da sich an diesen beiden Punkten ebenfalls die Gewerkschaften
mit ihren Lohnforderungen orientieren, ergebe sich bei zwei Prozent ein Null-SummenSpiel am so genannten Arbeitsmarkt. DIW und Sachverständigenrat appellieren daher an
die Gewerkschaften, "den Produktivitätsspielraum nicht voll auszunutzen".
Selbst fünf Prozent Wachstum schafft kaum neue Arbeit
Selbst wer einen solchen Verzicht für politisch realistisch oder ökonomisch
wünschenswert hält - was die Memorandums-Gruppe um Rudolf Hickel, die jährlich das
Gegengutachten zum Sachverständigenrat erstellt, bestreitet, die Massenarbeitslosigkeit
wird sich auf diesem Wege jedenfalls nicht beseitigen lassen. DIW-Experte Victor Steiner
rechnet vor, dass wir drei Jahre lang ein Wirtschaftswachstum von vier bis fünf Prozent
benötigen, um wenigstens die "konjunkturelle" Lücke von 500.000 bis 800.000
Arbeitslosen zu schließen. Millionen Menschen würden dann trotzdem weiterhin
vergeblich nach Arbeit suchen, und die nächste Konjunkturdelle kommt bestimmt.
Seit dem Ende des "Wirtschaftswunders" in den Sechzigerjahren, mit einem
preisbereinigten Wachstum im Jahresdurchschnitt von acht Prozent sind forsche Anstiege
des Bruttoinlandsproduktes rar geworden, in den Achtzigern reichte es nur noch zu rund
zwei Prozent, und nach dem Ende des zwischenzeitlichen Vereinigungs-Booms ist der
Schnitt weiter deutlich gesunken - und eine grundlegende Wende ist realistischerweise
nicht zu erwarten. So wird in der Studie "Deutschland 2020", die von der renommierten
Prognos AG erstellt wurde, ein durchschnittliches Wachstum des Bruttoinlandsproduktes
bis 2020 von 1,9 Prozent im Jahr erwartet. Schön wär's, aber doch zu wenig, um neue
Jobs zu schaffen.
Für die Kluft zwischen Wachstum und Arbeit gibt es eine Reihe von Gründen. Zunächst,
"Arbeitslosigkeit" ist nicht deckungsgleich mit "Beschäftigung". Hier spielen - sehen wir
von den aktuellen Hartz-IV-Arbeitslosen einmal ab - vor allem demografische
Entwicklungen eine Rolle. Aber auch die "Beschäftigung" läuft nicht parallel zur
Wirtschaftsentwicklung. Schuld daran ist der technische Fortschritt und damit die
zunehmende Produktivität im Lande, mit immer weniger Menschen können immer mehr
Waren (oder Dienstleistungen) produziert werden.
Die Konsequenz ist bitter. Realistischerweise kann ein durchschnittliches
Wirtschaftswachstum von mehr als zwei Prozent nicht erwartet werden, die Politik darf
also bei ihrer Arbeitsmarktpolitik nicht allein auf den nächsten Konjunkturaufschwung
hoffen. Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte Erfolg oder Misserfolg seiner Regierung
an die Entwicklung der Arbeitslosigkeit geknüpft. Insofern sind die Ideen hinter den
Arbeitsmarktreformen "Hartz" nachvollziehbar. Aber: Die Job-Vermittlung zu verbessern,
schafft noch keine neuen Jobs. Daran werden auch die sozialpolitisch heiklen Ein-Euro-
11
Jobs und die neuen Ich-AG's nicht wirklich etwas ändern.
Wirtschaftswissenschaftler fordern daher - je nach wirtschaftspolitischer Orientierung eine weitere Liberalisierung des Arbeitsmarktes sowie mehr Billigjobs, nach britischem
Vorbild, oder staatliche, keynesianische Konjunkturprogramme, die notfalls auch per
Kredit finanziert werden, wie es die USA vormachen. "Ich hinterlasse meinen Kindern
dann nicht nur Schulden, sondern auch ein fertiges Haus", hält Starökonom Wilhelm
Hankel einen weiteren Schuldenberg für tragbar.
Chancen auf ein Job-Plus sehen fast alle Ökonomen in neuen Innovationen. BestsellerAutor Jeremy Rifkin empfiehlt zudem, den größten internen Markt der Welt schnell zu
vereinheitlichen: Europa könne Deutschlands "goldene Gans" werden. Ansonsten heilt
auch in diesem Fall die Zeit manche Wunde: Die Arbeitslosigkeit wird aufgrund der
Veralterung sinken. Heute sind weniger als ein Drittel der Bürger älter als 65 Jahre, in 20
Jahren werden es schon fast 40 Prozent sein.
04. Oktober 2005
Quelle:
http://www.bpb.de/themen/6LLA8B.html
Gewerkschaften heute: Alte Interessen und
neue Wege
Peter Laudenbach
Die Lage der deutschen Gewerkschaften ist so schwierig wie noch nie in der Geschichte
der Bundesrepublik. "Wir haben den neokonservativen Mainstream gegen uns. Wir haben
Reallohnverluste. Und wir haben in vielen Branchen klassische Formen von Lohnverzicht",
konstatiert der DGB-Vorsitzende Michael Sommer. Seine Stellvertreterin Ursula EngelenKefer diagnostiziert, dass "der Handlungsspielraum kleiner geworden ist. In der Offensive
sind diejenigen, die auf den Kapitalmärkten spielen. Das Machtungleichgewicht ist
zugunsten der Unternehmer gewachsen."
Dazu kommen selbst verursachte Probleme: Im Sommer 2005 beschädigte der Skandal
um korrupte Betriebsräte im Volkswagenkonzern das Ansehen der Gewerkschaften
massiv. Nach einer Allensbach-Umfrage leiden hauptberufliche Gewerkschaftsfunktionäre
zudem unter einem ausgesprochenen Negativ-Image: Sie genießen von allen
Berufsgruppen das geringste Ansehen. Für den liberalen Wirtschaftswissenschaftler HansWerner Sinn sind Gewerkschaften schlicht ein rücksichtsloses "Kartell" zur Durchsetzung
höherer Gehälter, das durch künstlich verteuerte Arbeit für erhöhten
Rationalisierungsdruck und Verlagerung von Produktionsstätten in Billiglohn-Länder
verantwortlich ist.
Wozu gibt es Gewerkschaften?
Solchen Frontalangriffen zum Trotz verfügen die deutschen Gewerkschaften nach wie vor
über erhebliche politische und wirtschaftliche Macht. In ihnen organisieren ca. acht
Millionen Arbeitnehmer ihre Interessen. Größte Einzelgewerkschaften sind die IG Metall
(2,6 Mio. Mitglieder) und die Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di (2,7 Mio.
Mitglieder).
Wichtigste Aufgabe der Gewerkschaften ist es, in Tarif-Auseinandersetzungen mit der
Arbeitgeberseite die abhängig Beschäftigten zu vertreten. Stärkstes, aber nur selten
genutztes Kampfmittel ist dabei der Streik. Die im Betriebsverfassungsgesetz geregelte
Mitbestimmung stärkt die innerbetriebliche Demokratie: Vertretern der Kapital-Seite
sitzen in Aufsichtsräten großer Unternehmen Arbeitnehmervertreter gegenüber.
Die weitreichenden Einflussmöglichkeiten der Gewerkschaften haben über viele
Jahrzehnte zum Erfolg der sozialen Marktwirtschaft in der Bundesrepublik beigetragen.
Der institutionell abgesicherte Zwang zum Konsens in der Sozialpartnerschaft hat nicht
nur die Teilhabe der abhängig Beschäftigten am erwirtschafteten Wohlstand gesichert. Er
hat auch dafür gesorgt, dass Interessenskonflikte moderater als in vergleichbaren
12
Volkswirtschaften ausgetragen werden. Nach einer Untersuchung des Nürnberger
Instituts für Arbeitsmarktforschung und Berufsbildung wurde in Deutschland zwischen
1991 und 2000 deutlich weniger gestreikt als in anderen Industriestaaten: 9,3 Streiktage
pro Jahr und 1.000 Beschäftigte. Nur in Österreich, Japan und der Schweiz (1,5 Tage),
also ähnlich konsens-orientierten Ländern, kam es zu noch weniger Streiks.
Goldene Zeiten vorbei?
Seit den Neunzigerjahren stehen die Gewerkschaften unter massivem Druck. Die durch
die Globalisierung verschärfte Standortkonkurrenz hat ihre Handlungsspielräume
eingeschränkt. "Aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit sind wir erpressbar geworden", stellt
der DGB-Vorsitzende Sommer fest. "Die Drohung, Produktionsstätten in Billiglohnländer
zu verlagern, hat uns bittere Niederlagen beschert in Bereichen, in denen wir uns
eigentlich stark wähnten: Siemens, VW, Opel."
Als Antwort auf die Globalisierung versuchen die deutschen Gewerkschaften ihre
Zusammenarbeit mit osteuropäischen Gewerkschaften zu intensivieren. "Man kann nicht
auf der einen Seite sagen, dass man gegen den Lohn-Dumping-Wettbewerb ist und von
den Kollegen aus Osteuropa verlangen, dass sie sich am Lohn-Dumping nicht beteiligen –
und sie gleichzeitig aussperren", meint Sommer.
Auf die Rezession reagieren Betriebsräte in zahlreichen Betrieben, indem sie
Öffnungsklauseln und Haustarifverträgen zustimmen. Das höhlt die Flächentarifverträge
aus und verschlechtert Bezahlung und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten, sichert
aber Arbeitsplätze und stabilisiert notleidende Unternehmen.
Gesetzesänderungen, die solche Haustarifverträge auch gegen den Willen der
Gewerkschaften erheblich erleichtern, werden immer wieder von Union und FDP ins
Programm genommen – so auch im Bundestagswahlkampf 2005. Gegen solche Pläne
haben die Gewerkschaften ihren massiven Widerstand angekündigt. Die Gewerkschaften
versuchen, die Deregulierung am Arbeitsmarkt zu verhindern und ihr die gemeinsam mit
Unternehmensleitungen entwickelten, flexiblen Arbeitszeitmodelle entgegenzusetzen.
Beispielhaft dafür ist das vom damaligen Personalvorstand der Volkswagen AG, Peter
Hartz, zusammen mit Betriebsräten entwickelte Modell der Vier-Tage-Woche (28,8
Stunden), die, je nach Auftragslage, jederzeit ausgedehnt werden kann. Mehrarbeit wird
dabei auf Zeitkonten gutgeschrieben.
Nachwuchs fehlt
Nicht nur Globalisierung und schwaches Wirtschaftswachstum schwächen jedoch die
Gewerkschaften. Waren 1990 noch 35 Prozent der Beschäftigten gewerkschaftlich
organisiert, sind es zwölf Jahre später gerade noch 25 Prozent. Von knapp zwölf Millionen
DGB-Mitgliedern im Jahr 1991 sind 2005 noch sieben Millionen übrig geblieben. Die
Ursachen für den Mitgliederschwund sind vielfältig: So ist es den Gewerkschaften kaum
gelungen, Belegschaften in den Unternehmen der Wissensgesellschaft und der New
Economy zu organisieren. "Wir haben damals beim Platzen der Blase eine Chance
versäumt", räumt der DGB-Vorsitzende Sommer ein. Die Gewerkschaften müssten noch
lernen, welche kollektive Dienstleistung beispielsweise ein Mitarbeiter von SAP braucht
und welche nicht. Mit einer klassischen einfachen Beraterleistung könne man da nicht
kommen.
Zusätzlich erschwert wird die Lage der Gewerkschaften durch die Erosion der
sozialversicherungspflichtigen Normalarbeitsverhältnisse. Wer nicht festangestellt
arbeitet, ist für Gewerkschaften schwer erreichbar. Scheinselbstständige und prekär
Beschäftigte sind gleichzeitig ungeschützter und schwerer gewerkschaftlich zu
organisieren als industrielle Kernbelegschaften – und die schrumpfen. Inzwischen
versuchen die Gewerkschaften auf diese Defizite zu reagieren. Der DGB-Vorsitzende
Sommer nennt ein Beispiel: "Wir haben die Leiharbeit aus der Schmuddelecke
herausgeholt und sie gesetzlich und tarifvertraglich normiert. Das war ein große Erfolg.
Noch vor fünf Jahren haben die deutschen Gewerkschaften gesagt, Leiharbeit ist
Sklavenarbeit. Aber ich kann ja nicht die Menschen verurteilen, die in solchen
Beschäftigungsverhältnissen arbeiten und leben."
Die Gewerkschaften befinden sich in einem Lernprozess. Entgegen anders lautenden
Parolen sehen sie ihre Aufgabe nicht darin, notwendige Reformen zu blockieren, sondern
13
darin, sie mitzugestalten. Gelingt ihnen das nicht, werden sie weiter an Einfluss verlieren.
Das wäre weder im Interesse der Beschäftigten noch im Interesse einer funktionierenden
sozialen Marktwirtschaft.
04. Oktober 2005
Quelle:
http://www.bpb.de/themen/67D9G6.html
Wer hat Angst vor Heuschrecken?
Tilo Barz
Als abwertendes Synonym für Finanzinvestoren war die Metapher aus Franz Münteferings
Arsenal ein politischer Volltreffer: Perfekt bedient sie antikapitalistische Ressentiments
beim Publikum, perfekt passte sie auch zu ganz realen Negativschlagzeilen aus der Welt
der Firmenjäger. Aber wie schlimm sind die "Heuschrecken" wirklich?
Objektive Antworten sind nicht leicht zu finden. Während die Kritiker Finanzinvestoren zu
skrupellosen Wertvernichtern erklären, verfolgen die Verteidiger eine kaum weniger
pauschale Strategie unter dem Motto "Gut aus Gier". Ihr Credo: Wer Renditen maximiert,
macht Unternehmen und ganze Volkswirtschaften effizienter, und das nutzt am Ende
allen.
Beide Seiten können eindrückliche Belege für ihre jeweilige Position anführen. Da ist der
Fall Grohe: Ein durchaus profitabler Armaturenhersteller wird von zwei Finanzinvestoren
nacheinander übernommen. Beide plündern die Kasse, so dass nun ein riesiger
Schuldenberg auf dem Unternehmen lastet. Beide verlangen hohe Gewinne, die nur mit
Produktionsverlagerung ins billigere Ausland zu erreichen sind. Und am Ende steht sogar
das Überleben des traurigen Restes auf dem Spiel, weil die Kundschaft vielleicht ohne
"Made in Germany" keine Grohe-Preise mehr zahlen will.
Auf der anderen Seite steht der Fall Wincor-Nixdorf: Ein lahmender
Geldautomatenhersteller wird von zwei Finanzinvestoren übernommen und auf Trab
gebracht. In wenigen Jahren entstehen Tausende neue Jobs, das Unternehmen kommt
erfolgreich an die Börse. Es gibt nur Gewinner: Die Finanzinvestoren ernten ein
Vielfaches ihres Einsatzes. Die neuen Mitarbeiter freuen sich über ihre Arbeitsplätze. Und
auch die Aktionäre jubeln – weil das Wachstum weitergeht, hat sich der Kurs seit dem
Börsengang vor anderthalb Jahren mehr als verdoppelt.
Wer einfache Wahrheiten sucht, wird also auch in Sachen "Heuschrecken" enttäuscht.
Kompliziertere Wahrheiten beanspruchen aber etwas mehr Detailkenntnis. Also schauen
wir einmal genauer hin.
Was ist eigentlich eine "Heuschrecke"?
Stein des Anstoßes sind die so genannten "Private-Equity-Fonds" (PE-Fonds), die in den
vergangenen Jahren einen zweistelligen Milliardenbetrag in Deutschland investiert haben.
Sie heißen Apax, Blackstone, KKR oder Permira, und haben zusammen in Deutschland
schon weit über 5.000 Firmen mit mehr als 400.000 Mitarbeitern unter Kontrolle.
Erfunden wurde Private Equity in den Siebzigerjahren in den USA. Aber erst seit den
Neunzigern tummelt sich die Spezies auch flächendeckend in Europa. Zum Begriff:
"Equity" steht für Unternehmensbeteiligung. "Private" heißt in diesem Fall "nicht
öffentlich", also nicht börsennotiert. Verwandt, aber nicht zu verwechseln sind sie
übrigens mit "Hedgefonds" - einer Sammelbezeichnung für Finanzinvestoren, die zumeist
kurzfristig an den Märkten spekulieren.
Wie tickt eine "Heuschrecke"?
Ein Private-Equity-Fonds ist eher mittel- bis langfristig ausgerichtet. Er sammelt bei
Kapitalanlegern gewaltige Geldsummen ein und investiert diese gezielt in wenige
Unternehmen, mit Vorliebe in Mehrheitsbeteiligungen und zu zwei Dritteln auf Kredit. Mit
großer Akribie suchen die Fondsmanager dafür Gesellschaften aus, in denen möglichst
große Reserven schlummern. Um diese zu mobilisieren, setzen sie anschließend Himmel
14
und Hölle in Bewegung. Die Unternehmen müssen profitabler werden und meist parallel
noch den Kredit abbezahlen, der zu ihrem Kauf aufgenommen wurde. Wenn das alles
geschafft ist, werden die Unternehmen wieder verkauft, am liebsten mit hohem Gewinn.
Dieser Gewinn wird an die Kapitalanleger ausgeschüttet.
Üblicherweise laufen Private-Equity-Fonds fünf Jahre oder länger und erwirtschaften in
dieser Zeit jährliche Renditen von bis zu 20 Prozent. Natürlich nicht alle und nicht immer.
Denn das Geschäft hat auch Risiken: Mal wird zu teuer eingekauft, mal scheitert der
Versuch, eine Beteiligung profitabler zu machen, mal klemmt es beim abschließenden
Verkauf.
Eine beliebte Variante für den Verkauf ist der Börsengang. Käufer sind in diesem Fall alle,
die die neue Aktie zeichnen – wie beim Fernsehsender Premiere und beim
Triebwerkshersteller MTU. Hier konnten die Verkäufer Permira und KKR ihre
Preisvorstellungen weitgehend durchsetzen, weil die Börsenstimmung gerade relativ gut
war. Anders im Jahr 2003: Weil damals niemand Aktien haben wollte, gelang in
Deutschland kein einziger Börsengang. Dieser "Exit" für Finanzinvestoren war also
verstopft.
Zu Risiken und Nebenwirkungen ...
Die nach Ansicht der Kritiker unanständig hohen Renditen sind also auch eine
Entschädigung für die langfristige Bindung des investierten Geldes und für das
eingegangene Risiko. Fatalerweise ist dieses Risiko allerdings um so geringer, je
skrupelloser der Investor agiert. Schafft er es beispielsweise, so viel Kapital aus der
Gesellschaft abzuziehen, dass er damit den Kaufpreis nachträglich abbezahlen kann,
dann ist das Verlustrisiko gleich Null – aber die Pleitegefahr dafür um so größer.
Doch auch wenn der größte anzunehmende Betriebsunfall ausbleibt, sind unangenehme
Nebeneffekte gewiss: Drastische Lohnsenkungen, extremer Leistungsdruck,
Entlassungswellen. Während sich der klassische mittelständische Unternehmer mit seiner
Firma identifiziert, viele Mitarbeiter schon seit Jahren kennt und ihre Bedürfnisse
respektiert, kennt der Finanzinvestor kein anderes Ziel als die höchstmögliche Rendite.
Kritiker wie der Management-Guru Fredmund Malik unterstellen der gesamten PEBranche, dass sie das kurzfristige Gewinnstreben systematisch überzieht und deshalb
volkswirtschaftlichen Schaden in großem Ausmaß anrichtet.
Immerhin: Dieses kompromisslose Gewinnstreben macht den Finanzinvestor
berechenbar, anders als einen alternden Patriarchen, eine zerstrittene Eigentümerfamilie
oder einen ineffizienten, verlotterten Großkonzern. Außerdem ist es keineswegs
ausgemacht, dass das "Ausschlachten" am Ende wirklich die renditeträchtigste Strategie
für den Umgang mit aufgekauften Unternehmen ist. Ist genug Substanz und Potenzial
vorhanden, kann eine "Fitnesskur" mit anschließendem Verkauf die Gewinne viel höher
treiben
Argumente und Fakten bleiben also zwiespältig. Fest steht aber: Ob nun gut oder
schlecht, ist Private Equity derzeit statistisch gesehen die mit Abstand lukrativste
Anlageform überhaupt.
Wollen Deutsche draußen bleiben?
So gesehen zeigt sich aus deutscher Sicht ein ganz anderes Problem - dass sich nämlich
die PE-Investoren weltweit eine goldene Nase verdienen, hiesiges Kapital aber kaum an
diesen Erträgen teil hat. Die einschlägigen Investitionen erreichten 2004 erst 0,17
Prozent des Bruttoinlandsprodukts, während es beispielsweise in Schweden und
Großbritannien bereits 0,59 bzw. 1,10 Prozent waren. Der Grund: Vielen deutschen
Großanlegern wie den Lebensversicherungen ist die schillernde neue Anlageform noch zu
riskant.
Kleinanleger haben erst seit kurzem sehr begrenzte Möglichkeiten, über Zertifikate oder
kleinere geschlossene Dachfonds in Private Equity zu investieren. Dagegen sind reiche
Privatleute wie die Quandt-Familie seit Jahren groß im Geschäft, an dem ansonsten vor
allem US-Pensionsfonds, britische Versicherer und die "Oberen Zehntausend" verdienen.
Ob die "Heuschrecken" durch "global koordinierte Maßnahmen" zu stoppen wären, sei
dahingestellt – Politiker, die so etwas fordern, sollten aber auch bei den
Realisierungschancen ehrlich bleiben. Immerhin hat ausgerechnet die rot-grüne
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Bundesregierung eine ganze Kollektion ihres Tafelsilbers vom Dualen System bis zu
Tank&Rast an die später so geschmähten Heuschrecken verkauft, weil sie keine anderen
risikofreudigen Interessenten fand.
Die Richtung ist klar, und die Aufgabe damit auch: Rahmenbedingungen zu schaffen, die
einerseits Private-Equity-Kapital anziehen, aber andererseits seine negativen Auswüchse
einschränken. Und auf der anderen Seite alles Nötige zu tun, um den Bereich für
deutsches Kapital jeder Größenordnung weiter zu öffnen. Denn auch am globalisierten
Finanzmarkt gilt: Wer mitspielt, kann verlieren. Wer nicht mitspielt, hat schon verloren.
04. Oktober 2005
Quelle:
http://www.bpb.de/themen/4DDNTH.html
Globalisierung ordnungspolitisch gestalten:
Die internationale Finanzarchitektur nach
den Finanzkrisen
Das Volumen und die rasche Beweglichkeit globaler Finanztransaktionen können selbst
gesunde Ökonomien oder auch einzelne Unternehmen gefährden. Um Finanzkrisen in
Zukunft zu vermeiden, muss die internationale Finanzarchitektur auf sicherere
Fundamente gestellt werden.
Auszug aus:
Globalisierung, Aus Politik und Zeitgeschichte (B 05/2003)
Dieter, Heribert
I. Warum benötigen Finanzmärkte eine andere Ordnung?
Die Finanzkrisen der vergangenen acht Jahre haben zu einer Debatte über eine neue
internationale Finanzarchitektur geführt. Seit der Mexiko-Krise in den Jahren 1994 und
1995 sind die Finanzmärkte immer wieder von Krisen geschüttelt worden. In keinem
Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg hat es so viele Finanzkrisen gegeben wie in den
neunziger Jahren. Davon betroffen waren auch solche Länder, die jahrelang als
Musterländer galten.
Für Entwicklungs- und Schwellenländer ist besonders problematisch, dass die
Kapitalströme sehr beweglich, volatil geworden sind. Während im Jahr 1996 noch
privates Kapital in Höhe von 234 Mrd. US-Dollar (netto) in die Entwicklungs- und
Schwellenländer floss, war im Jahr 2000 lediglich ein Nettozufluss von 0,5 Mrd. US-Dollar
zu verzeichnen. Noch problematischer ist die Lage bei privaten Bankkrediten: Während
1996 noch neue Kredite in Höhe von 26,7 Mrd. US-Dollar (netto) an Entwicklungs- und
Schwellenländer vergeben wurden, zogen Banken im Jahr 2000 in großem Maßstab
Kapital aus den Entwicklungs- und Schwellenländern ab: Diese Ökonomien mussten nun
per Saldo die Rückzahlung von Krediten in Höhe von 148,3 Mrd. US-Dollar verkraften
(vgl. Tabelle 1).
Diese Entwicklungen überraschen: Die Befürworter einer weitgehenden Liberalisierung
von Finanzmärkten hatten eine andere Entwicklung prognostiziert. Von der
Liberalisierung der Kapitalmärkte wurden nennenswerte Vorteile erwartet. Die
Finanzierungskosten für Unternehmen in Entwicklungs- und Schwellenländern sollten
durch den Rückgriff auf ausländische Ersparnisse sinken und damit die
Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen steigen. Stattdessen wurden Phasen größerer
Effizienz rasch abgelöst von schweren Finanzkrisen. Per Saldo sind die Kosten des
gegenwärtigen Systems für Entwicklungs- und Schwellenländer höher als der Nutzen.
Notwendig ist aber eine Differenzierung nach Art der Kapitalflüsse: Während ausländische
Kredite, insbesondere solche mit kurzer Laufzeit, mit hohen Risiken verbunden sind,
16
haben sich langfristige Kredite mit Laufzeiten von mehreren Jahren und ausländische
Direktinvestitionen als wesentlich unproblematischer erwiesen.[1]
Die im Folgenden erörterten Vorschläge zur Neuordnung verfolgen das Ziel der Schaffung
einer globalen Ordnungs- und Strukturpolitik auf den internationalen Finanzmärkten.
Diese brauchen einen soliden ordnungspolitischen Rahmen. Im nationalen Raum ist dies
seit langem verwirklicht: Sämtliche nationalen Finanzmärkte der OECD-Länder sind
hochgradig reguliert. So gibt es beispielsweise festgelegte Verfahren für den Fall eines
Konkurses. Kein Gläubiger kann sich seiner angemessenen Beteiligung an der
Überwindung eines Konkurses entziehen. In nationalen Finanzsystemen der
Industrieländer gibt es einen mächtigen "Gläubiger der letzten Instanz", die Zentralbank.
In Krisenfällen sorgt diese für die Bereitstellung von zusätzlicher Liquidität.
Die heutige internationale Finanzordnung ist also unvollständig. Die Schaffung eines
globalen Kapitalmarktes wurde bisher nicht begleitet von "global governance"Strukturen. Die Forderung nach der Schaffung eines internationalen "Gläubigers der
letzten Instanz" und eines Insolvenzverfahrens für souveräne Schuldner ist letztlich die
konsequente Fortsetzung des bisher verfolgten Weges der Globalisierung. Es ist
wahrscheinlich, dass sich Entwicklungs- und Schwellenländer von den globalen
Finanzmärkten zurückziehen würden, falls diese Institutionen und Verfahren nicht
geschaffen werden sollten.
Drei Ziele stehen im Mittelpunkt der hier diskutierten Einzelmaßnahmen: a) Die
Häufigkeit und Schärfe von Währungs- und Finanzkrisen muss reduziert werden; b)
Gläubiger müssen systematisch an der Krisenprävention und Krisenlösung beteiligt
werden; c) die Finanzsektoren der Entwicklungs- und Schwellenländer müssen gestärkt
werden, um mittel- und langfristig den Verzicht auf Kreditaufnahme im Ausland zu
ermöglichen.
Die Erreichung dieser Ziele würde dazu beitragen, die Weltwirtschaft stabiler zu
gestalten. Unterbleibt diese Stabilisierung, könnte die heutige liberale
Weltwirtschaftsordnung in Gefahr geraten. Ähnlich wie in der Großen Depression könnte
weit mehr als nur die Finanzmärkte in Gefahr geraten: Die partielle Abschottung
zahlreicher Ökonomien vom Weltmarkt und der Zusammenbruch der multilateralen
Handelsordnung könnte die Folge von weiterhin ungenügend regulierten globalen
Finanzmärkten sein.[2]
In diesem Beitrag beschäftige ich mich zunächst mit der Frage, inwieweit eine
Devisenumsatzsteuer die Finanzmärkte zu stabilisieren vermag. Anschließend betrachte
ich Ansätze für "global governance". Ein internationales Insolvenzverfahren und ein
"Gläubiger der letzten Instanz" könnten die zentralen Bausteine einer neuen
internationalen Finanzarchitektur werden. Scheitern diese Ansätze, gibt es auf der Ebene
des Nationalstaates allerdings Alternativen: Entwicklungs- und Schwellenländer können
sich durch sog. Roll-over-Optionen und Beschränkungen des Kapitalverkehrs vor den
negativen Konsequenzen deregulierter Finanzmärkte selbst schützen.
II. Tobin-Steuer und Spahn-Steuer: Wundermittel oder Holzwege?
Besonderes Interesse hat in jüngster Zeit ein Vorschlag des amerikanischen Ökonomen
James Tobin zu einer weltweit einzuführenden Devisenumsatzsteuer hervorgerufen.
Zahlreiche Kritiker der Globalisierung erhoffen sich von einer Tobin-Steuer die
Stabilisierung von Devisenmärkten sowie eine ergiebige Quelle zur Finanzierung von
entwicklungspolitischen Projekten.
Tobin hatte nach dem Zusammenbruch des Systems von Bretton Woods eine
geringfügige Steuer auf Devisentransaktionen gefordert. Die Idee war, die
Währungsspekulation durch Erhöhung der Transaktionskosten unattraktiver zu machen.
Tobins Vorschlag geht auf Überlegungen von John Maynard Keynes zurück, der durch
steuerliche Maßnahmen Spekulationen auf Finanzmärkten dämpfen wollte. Viele
Nichtregierungsorganisationen (NGOs), z. B. WEED und Attac, haben die Einführung einer
Tobin-Steuer zur zentralen Forderung erhoben. Nach genauer Prüfung bleiben aber
erhebliche Zweifel an den Erfolgsaussichten dieser Steuer. Die zentrale Schwachstelle der
Tobin-Steuer ist, dass sie alle internationalen Kapitalströme implizit als problematisch
bewertet. Tausende von nützlichen und vollkommen ungefährlichen Transaktionen
werden mit den wirklich destruktiven und spekulativen Kapitalströmen in einen Topf
17
geworfen.[3] Dies ist falsch und führt zur unnötigen Verteuerung beispielsweise des
internationalen Handels.
Weiterhin ist zu fragen, ob die Tobin-Steuer ihr vorrangiges Ziel erreichen kann: Leistet
sie einen nennenswerten Beitrag zur Vermeidung schwerer Währungskrisen? Die Antwort
ist, dass Spekulanten, die einen festen Wechselkurs attackieren wollen, von einer Steuer
in Höhe von 0,1 bis 0,25 Prozent des Umsatzes nicht abgeschreckt werden können. Wenn
Profite von 30 Prozent und mehr locken, ist mit einer derartig geringfügigen Steuer kaum
etwas auszurichten.[4]
Zu diesem Ergebnis kommen auch zwei neue Studien der Europäischen Kommission und
des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ): Das
eigentliche Ziel, die Stabilisierung von Wechselkursen und die Verhinderung von
spekulativen Attacken gegen einzelne Währungen, wird durch eine Tobin-Steuer nicht
erreicht werden.[5]
Zudem ist unklar, ob die Erhöhung der Transaktionskosten grundsätzlich ein Erfolg
versprechendes Mittel gegen Spekulation ist. Es gibt keinen empirischen Befund, der
diese Einschätzung stützt.[6]
Auch Wertpapiermärkte mit höheren Transaktionskosten weisen keine geringere
Volatilität auf als solche mit geringeren Transaktionskosten.[7] Ein Beispiel für eine Börse
mit vergleichsweise hohen Transaktionskosten ist überraschenderweise die London Stock
Exchange. Dort wird immerhin seit 1694 eine "stamp duty" erhoben. Diese Steuer ist
heute die älteste in England erhobene Steuer; sie beträgt 0,5 Prozent des Umsatzes, die
vom Käufer einer Aktie zu tragen sind. Die Einnahmen aus dieser Steuer sind
beträchtlich: 1999 - 2000 nahm der britische Finanzminister mehr als fünf Mrd. Euro aus
dieser Steuer ein, mehr als das Vierfache der Einnahmen des Fiskaljahres 1994 - 1995.
Gleichwohl hat sich die Londoner Börse nicht weniger volatil gezeigt als andere
Börsenplätze auch. Die Steuerungsfunktion einer Börsenumsatzsteuer, d. h. die
Dämpfung spekulativer Tendenzen, kann am Londoner Beispiel nicht nachgewiesen
werden.
Schaden würde die Tobin-Steuer denjenigen, die auf kleine Ausschläge der Wechselkurse
wetten. Aber diese kleinen Ausschläge sind kein Problem. Diese Arbitrage-Funktion
sichert einheitliche Preise und sorgt für liquide Märkte. Eine geringfügige Steuer könnte
daher sogar destabilisierende Auswirkungen auf die Devisenmärkte haben. Eine Senkung
des Liquiditätsniveaus durch die Reduzierung der Umsätze kann also dazu führen, dass
die Volatilität der Wechselkurse steigt.[8] Dies gilt insbesondere bei Währungen von
Entwicklungs- und Schwellenländern, bei denen die Liquidität und die Umsätze ohnehin
recht niedrig sind.[9] Ein aktuelles Beispiel für die negativen Konsequenzen der
Verknappung von Liquidität in Devisenmärkten liefert Südafrika: Dort wurden im Oktober
2001 Maßnahmen zur Beschränkungen des Devisenhandels verfügt, die zum Einbrechen
des Wechselkurses beitrugen.[10]
Eine Tobin-Steuer, die auf Dauer erhoben werden soll, erfordert einen multilateralen
Ansatz und die Bereitschaft, die Steuer zumindest auf den wichtigsten Finanzplätzen zu
erheben.[11] Deshalb erscheint es nicht übertrieben pragmatisch, wenn man die Frage
stellt, ob in absehbarer Zeit mit der Unterstützung eines solchen Konzeptes durch die
amerikanische Regierung zu rechnen sein wird. Ohne die Amerikaner wird dieses Konzept
keine durchschlagende Wirkung erzielen.
Obwohl es also eine Reihe von konzeptionellen und politischen Gründen gibt, die TobinSteuer als wenig hilfreich zu betrachten, ist die Debatte darüber nützlich. Regierungen
haben eine Verantwortung für die Gestaltung der Globalisierung, und es bestehen
Chancen für die Gestaltung von Finanzmärkten. Die Globalisierung hat nicht zu
machtlosen Regierungen geführt. Vielmehr haben Politiker lange ihre Verantwortung für
die Gestaltung der Märkte ignoriert und auf deren Selbstregulierung vertraut. Der
wachsende Widerstand gegenüber deregulierten und liberalisierten Finanzmärkten und
auch die Debatte um die Tobin-Steuer ermuntern möglicherweise die Regierungen der
OECD-Länder, die politischen und ökonomischen Vorteile verbesserter Regulierung
sorgfältig zu prüfen.
Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass die Debatte um die Tobin-Steuer auch den genau
entgegengesetzten Effekt haben kann: Von den eigentlichen Problemen der
internationalen Finanzmärkte wird abgelenkt, und die Neigung, sich mit komplexen
18
ökonomischen Zusammenhängen zu beschäftigen, wird gedämpft.[12] Sowohl in der
Politik als auch bei Kritikern der Globalisierung ist diese Gefahr erkennbar. Die
Verlockung erscheint groß: Mittels eines vermeintlichen Wundermittels sollen sowohl die
Finanzmärkte stabilisiert als auch eine ergiebige Quelle zur Finanzierung von
Entwicklungspolitik erschlossen werden. Weder das eine noch das andere wird aber mit
der Tobin-Steuer erreicht werden können. Andere Steuern, z. B. auf Flugbenzin, sind zur
Finanzierung von entwicklungs- und umweltpolitischen Projekten weitaus geeigneter als
die Tobin-Steuer.[13]
Angesichts der eklatanten Schwächen der Tobin-Steuer wird inzwischen über modifizierte
Varianten nachgedacht. Der Frankfurter Ökonom und Gutachter des BMZ, Paul Bernd
Spahn, hat eine zweistufige Steuer vorgeschlagen. Die erste Stufe erfasst alle
Wechselkurstransaktionen und gleicht hier der Tobin-Steuer. Allerdings soll der
Steuersatz sehr niedrig sein und sich zwischen 0,005 Prozent und 0,02 Prozent bewegen.
Damit würden Wechselkurse nicht stabilisiert, aber Steuern eingenommen. Die
Stabilisierung der Wechselkurse soll durch eine zweite Stufe erfolgen. Die Idee von
Spahn ist, dass ein Land den Wechselkurs der Währung innerhalb einer Bandbreite
festlegt. Um den administrativ festgelegten Wechselkurs herum können die Kurse
innerhalb einer Bandbreite von beispielsweise ± drei Prozent frei schwanken. Außerhalb
des Wechselkurskorridors würde aber eine hohe Steuer von zwischen 50 und 100 Prozent
greifen.[14] Diese Spahn-Steuer sollte unilateral von Transformations-, Schwellen- und
Entwicklungsländern sowie von außerhalb der großen Währungsräume gelegenen
Industrieländern eingeführt werden.[15]
Die Spahn-Steuer verspricht umfassende Vorteile: Entwicklungs- und Schwellenländer
müssen nur noch zwei Instrumente implementieren - die Wechselkurszielzone und die
Spahn-Steuer. Von der Steuer betroffen sind ausschließlich die als schädlich betrachteten
spekulativen Attacken außerhalb der Zielzone. Der Warenhandel und der zur
Bereitstellung von Liquidität notwendige Arbitragehandel werden nicht belastet. Der
Arbitragehandel nutzt Kursdifferenzen an verschiedenen Börsenplätzen aus. Arbitrageure
versuchen, am jeweils billigsten Markt zu kaufen und zugleich am teuersten Markt zu
verkaufen.
Auf den ersten Blick hat es den Anschein, dass Spahn ein überzeugendes Konzept
vorgelegt hat. Bei etwas genauerer Betrachtung wird hingegen deutlich, dass die SpahnSteuer nicht funktionieren kann. Das Problem ist ihre Reichweite: Die Währung eines
Landes wird nicht nur an den Finanzplätzen des eigenen Staates, sondern auch an
anderen Finanzplätzen und, dies ist besonders wichtig, an Offshore-Finanzplätzen
gehandelt. Um nun zu verhindern, dass spekulative Attacken gegen eine Währung
stattfinden, muss der Handel auf die landeseigenen Finanzplätze beschränkt werden. Nur
dort kann die Spahn-Steuer erhoben werden, nicht jedoch auf anderen Finanzplätzen und
schon gar nicht an unregulierten Offshore-Finanzplätzen. Die Spahn-Steuer funktioniert
also nur mit Kapitalverkehrskontrollen. Wenn aber ein Land Kapitalverkehrskontrollen
erlässt, braucht es keine Spahn-Steuer, da dann ohnehin nicht gegen die Währung des
Landes spekuliert werden kann. Mit anderen Worten: Ohne Kapitalverkehrskontrollen
funktioniert die Spahn-Steuer nicht, mit Kapitalverkehrskontrollen braucht man sie nicht.
III. Insolvenzverfahren und Anleiheklauseln
1. Internationales Insolvenzrecht
Die Liberalisierung des internationalen Kapitalverkehrs wurde bislang nicht begleitet vom
Aufbau jener Strukturen, die in nationalen Finanzmärkten als völlig selbstverständlich
betrachtet werden. Dazu gehört ein Insolvenzrecht, um den Konkurs eines staatlichen
Schuldners abwickeln zu können. Die Idee für ein solches internationales Insolvenzrecht
ist keineswegs neu. Bereits Mitte der achtziger Jahre wurde vorgeschlagen, nationales
Insolvenzrecht auf die internationale Ebene zu übertragen.[16]
Amerikanische Regulierungen können hier als Vorlage genutzt werden. In den USA
können sich Gebietskörperschaften nach Artikel 9 des amerikanischen Konkursrechts für
zahlungsunfähig erklären. Voraussetzung ist, dass die Absicht besteht, die vorhandenen
Schulden zu bedienen, dies jedoch die finanziellen Möglichkeiten nicht zulassen. Zudem
muss entweder die Bereitschaft sämtlicher Gläubiger zur Umschuldung vorliegen, oder es
muss ohne Erfolg versucht worden sein, die Gläubiger zu einer Umschuldung zu
19
bewegen.[17] Im internationalen Kontext könnte ein neutrales Gericht zur Lösung der
Insolvenz berufen werden. Die Mitglieder des Gerichts sollten zu gleichen Teilen von
beiden Parteien benannt werden. Aus diesen Reihen sollte dann ein Vorsitzender gewählt
werden, um durch ungerade Stimmenzahl eine Mehrheitsbildung zu ermöglichen.[18] Ziel
des Insolvenzverfahrens ist es, dem Schuldner einen wirtschaftlichen Neuanfang zu
ermöglichen. Durch die in der Regel erfolgende teilweise Entschuldung soll ein
Schuldenstand erreicht werden, der es ermöglicht, Zins und Tilgung zu leisten. Gewiss
kann man einwenden, dass dieses Verfahren heute von erheblich geringerer Bedeutung
als in der Vergangenheit ist, da staatliche Verschuldung nur noch eine geringe Rolle
spielt. Dieses Argument ist aber nur teilweise stichhaltig. Zum einen gibt es noch eine
Reihe von Fällen, bei denen Staaten überschuldet sind. Zahlreiche afrikanische Länder
fallen genauso unter diese Kategorie wie Argentinien. Zum anderen hat die Existenz
eines internationalen Insolvenzrechts disziplinierende Wirkung auf Kreditgeber, die bisher
davon ausgehen konnten, dass es kein Konkursverfahren für überschuldete Staaten gibt.
Ende November 2001 überraschte die stellvertretende Direktorin des Internationalen
Währungsfonds (IWF), Anne Krueger, mit einem Vorschlag zur Schaffung eines
Insolvenzverfahrens unter Führung des IWF. In ungewöhnlich deutlichen Worten wurde
von Krueger Kritik an Gläubigern geübt, die sich mit aggressiven juristischen Strategien
Vorteile verschafften. Krueger geißelte ein Unternehmen als Geier-Firma (vulture
company). Dieses Unternehmen, Elliott Associates, hatte auf dem Sekundärmarkt - dem
Markt für bereits im Umlauf befindliche Wertpapiere - Anfang 1997 Forderungen an Peru
zum Preis von 20,7 Mio. US-Dollar erworben. Im Oktober 1995 hatte Peru eine
Umschuldung von Altschulden im Rahmen eines vom IWF unterstützten Programms
erklärt. Im Zuge der Umschuldung Perus sollten diese Verbindlichkeiten in sog. Brady
Bonds umgetauscht werden.[19] Elliott Associates verklagte Peru aber auf Zahlung des
vollen Nennwertes von 56 Mio. US-Dollar und beantragte einen Vollstreckungstitel zur
Beschlagnahme peruanischer Aktiva in den USA sowie in Belgien. Die peruanische
Regierung hatte nicht genügend Zeit, um gegen die bereits erwirkten Vollstreckungstitel
gerichtlich vorzugehen. Vor diesem Hintergrund zahlte Peru.[20]
Die Vorschläge von Krueger, von der Financial Times zu Recht als Paukenschlag
bezeichnet, folgen der Idee eines internationalen Insolvenzverfahrens. Überschuldete
Länder sollen demnach in Absprache mit dem IWF für mehrere Monate die Zahlung von
Zinsen und Tilgung einstellen können. In der Zeit dieses Zahlungsstillstandes (standstill)
sollten die Länder zur Verhinderung von Kapitalflucht auch Kapitalverkehrskontrollen
erlassen können. Anne Krueger verspricht sich davon eine disziplinierende Wirkung auf
Gläubiger. Bereits die Existenz eines Mechanismus zur Regelung staatlicher Insolvenz
könnte zu einem Rückgang der Kapitalströme in Entwicklungs- und Schwellenländer
führen: Dies wäre aber nach Ansicht Kruegers ein willkommener Nebeneffekt,
insbesondere dann, wenn eine genauere Risikoprüfung die Ursache sinkender
Kapitalzuflüsse wäre.[21]
Der Vorstoß des IWF in der Frage der Gläubigereinbindung ist ebenso überraschend wie
begrüßenswert. Nach langem Zögern hat der IWF akzeptiert, dass Maßnahmen zur
geregelten Einbindung des privaten Sektors zur Überwindung von Schuldenkrisen nötig
sind. Dies ist jedoch nur der erste Schritt. Folgende Punkte bedürfen der Beachtung:
- Das von Krueger vorgeschlagene Verfahren funktioniert nur, wenn es in nationales
Recht der Mitgliedstaaten übertragen wird. Dies ist keine kleine Hürde.
- Zu klären ist, welche Form das Insolvenzgericht haben soll. Krueger sieht den IWF in
der besten Position, aber nicht jedes Land mag eine derartige Ausweitung des
Tätigkeitsfeldes des Fonds begrüßen.
- Die Festlegung von Kriterien, die zur Erklärung der Zahlungsunfähigkeit erfüllt sein
müssen, dürfte für einige Diskussionen sorgen. Sollte hier ein einheitlicher Katalog
gewählt werden oder vertraut man eher auf eine fallweise Feststellung der
Zahlungsunfähigkeit?
- Schließlich müssen während des Schuldenmoratoriums Maßnahmen getroffen werden,
die eine Wiederholung der prekären Situation verhindern. Welche Wirtschaftspolitik ist
geeignet, eine neuerliche Schuldenkrise zu verhindern?
Die Entwicklung in den kommenden Jahren wird zeigen, ob dieser Vorschlag realisiert
werden wird. Anne Krueger betrachtet es zu Recht als ungewiss, ob die Mitgliedsstaaten
20
des Fonds bereit sein werden, die Rechte ihrer Bürger, gegen eine ausländische
Regierung vor eigenen Gerichten zu klagen, zu beschränken. Die Einschränkung wäre, so
Krueger, der Preis für eine stabilere und daher wohlhabendere Weltwirtschaft.[22]
2. Anleiheklauseln
Im Vergleich zum internationalen Insolvenzverfahren weniger radikal wäre die Einführung
von Mehrheitsklauseln in Anleiheverträgen. Im internationalen Finanzierungsgeschäft
haben Anleihen gegenüber Bankkrediten an Bedeutung gewonnen. Vor den
Schuldenkrisen der achtziger Jahre wurden an staatliche Schuldner in Entwicklungs- und
Schwellenländern vor allem Kredite mittlerer Laufzeit vergeben, die von Bankkonsortien
bereitgestellt wurden. 1980 machten diese Kredite nahezu 100 Prozent der
Neuverschuldung von staatlichen Schuldnern auf internationalen Finanzmärkten aus.
Ende der neunziger Jahre fiel dieser Anteil auf weniger als 20 Prozent, während Anleihen
souveräner Schuldner entsprechend an Bedeutung gewannen.[23] Die wachsende
Präferenz für Anleihen basierte auch auf der Überlegung, dass diese Schuldentitel nur
sehr schwer umzuschulden sind und souveräne Schuldner daher alles tun würden, eine
Umschuldung zu vermeiden.[24] Nach den Anleihen staatlicher Schuldner gewannen in
den neunziger Jahren auch private Anleihen aus Entwicklungs- und Schwellenländern an
Bedeutung.
Diese Verschiebung hin zu Anleihen führte zu neuen Problemen bei der Bewältigung von
Schuldenkrisen. Gläubiger sind heute in der Regel Tausende von Anleihebesitzern, deren
Entscheidungen nur schwer koordiniert werden könnten. Deshalb ist es wichtig, auch
Anleiheverträge krisenfester zu machen. Notwendig sind Klauseln in Anleiheverträgen,
die Mehrheitsentscheidungen ermöglichen. Durch Mehrheitsentscheidungen der Halter
von Anleihen - statt, wie bisher, Einstimmigkeit - kann die Umschuldung im Krisenfall,
häufig verbunden mit Forderungsverzicht, deutlich erleichtert werden.[25] Eine
diesbezügliche Regelung gibt es bereits in Großbritannien. Bei dort emittierten Anleihen
können Schuldennachlässe beschlossen werden, wenn mindestens 70 Prozent der
Anleihebesitzer der Umschuldungsvereinbarung zustimmen. Auch Luxemburg verfügt
schon über "collective action clauses". Zu Kollektivklauseln haben sich der IWF, aber
auch die amerikanische Regierung bereits unterstützend geäußert.[26]
IV. Warum einen "lender of last resort"?
Beim Management von Finanzkrisen sollte aber vor der Umschuldung und
Restrukturierung versucht werden, den Ausbruch einer Krise zu vermeiden. Von zentraler
Bedeutung ist dabei die Bereitstellung von Liquidität. Soll der IWF in künftigen
Finanzkrisen Liquidität schneller und großzügiger bereitstellen?
Nach der Asienkrise hat der IWF neue Instrumente entwickelt, um schneller auf
Liquiditätskrisen reagieren zu können. 1997 wurde die Supplemental Reserve Facility
(SRF) geschaffen, 1999 folgte das Instrument der Contingent Credit Lines (CCL). SRF
sind Kredite, die an Mitgliedsländer vergeben werden, die wegen eines plötzlichen
Verlustes von Vertrauen der Finanzmärkte in Zahlungsbilanzschwierigkeiten geraten sind.
Die CCL sollen als finanzielles Schutzschild vor der Gefahr von so genannten
Ansteckungseffekten dienen. Bei Finanzkrisen in Nachbarländern soll Liquidität
vorsorglich bereitgestellt werden.
Der Hintergrund dieser Fragen ist, dass zumindest einige der jüngsten Finanzkrisen durch
Liquiditätsengpässe verursacht wurden. Die betroffenen Volkswirtschaften waren
temporär illiquide, aber nicht insolvent, wie beispielsweise Südkorea. Nach der
Bereitstellung von Liquidität erholte sich die Ökonomie sehr schnell. In derartigen Fällen
führt die verzögerte Bereitstellung von frischer Liquidität zu einer vermeidbaren
Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation.
Teilt man die Einschätzung, dass Liquidität rascher als bisher bereitgestellt werden sollte,
muss die Form einer solchen Hilfe genauer festgelegt werden. Drei Optionen stehen zur
Verfügung: a) Der IWF könnte, wie in der Vergangenheit, Liquidität in begrenztem
Umfang und nur in Verbindung mit Auflagen bereitstellen; b) alternativ könnten sich
Länder vorab für ebenfalls begrenzte Liquiditätshilfen qualifizieren. Dies ist der für die
CCL gewählte Ansatz; allerdings hat sich noch kein Land dafür beworben; c) schließlich
ist es denkbar, dass der IWF zu einem "Gläubiger der letzten Instanz"[27]
21
weiterentwickelt wird. Dies würde bedeuten, dass sich IWF-Mitgliedsländer ohne Auflagen
beim Fonds unbeschränkt mit Liquidität versorgen können.[28]
Die dritte Option ist sowohl die radikalste als auch die einfachste. Sie schafft im
internationalen Raum das, was in nationalen Finanzmärkten in Form der Zentralbanken
existiert. Walter Bagehot, englischer Ökonom und langjähriger Herausgeber des
"Economist", hat im 19. Jahrhundert die Bedingungen für einen "lender of last resort"
formuliert. Dieser sollte großzügig, zu hohen Zinsen und gegen gute Sicherheiten Kredite
vergeben.[29] Volkswirtschaften würden Zugang zu Liquidität bekommen, wenn sie
bereit wären, Zinsen oberhalb der jeweiligen Marktzinssätze zu bezahlen und
angemessene Sicherheiten leisten könnten.
Stanley Fischer, bis zum Sommer 2001 Vize-Chef des IWF, hat in dieser Debatte auf die
Eigendynamik einer Finanzkrise hingewiesen. Die nationale Notenbank kann die vom
Privatsektor und von der öffentlichen Hand benötigten Devisen nicht bereitstellen, da sie
nicht über unbegrenzte Devisenreserven verfügt. In dieser Situation hilft nur ein
internationaler "Gläubiger der letzten Instanz". Fischer begründet die Forderung nach
einem internationalen "Gläubiger der letzten Instanz" damit, dass internationale
Kapitalströme sehr beweglich sind und dass diese Volatilität ansteckend ist. Die den
Finanzmärkten innewohnende Instabilität kann durch einen internationalen "Gläubiger
der letzten Instanz" möglicherweise schon im Ansatz unterbunden werden.[30]
Die Umsetzung dieses Vorschlages stößt aber sowohl auf konzeptionelle als auch auf
politische Hemmnisse. Relativ unproblematisch ist die Findung eines angemessenen
Zinssatzes. Dieser müsste höher sein als in Nicht-Krisenzeiten, aber niedriger als die von
Geschäftsbanken in der Krise verlangten Sätze. Schwierig hingegen ist die Bereitstellung
angemessener Sicherheiten. Hier ist eine Unterscheidung zwischen einer temporären
Liquiditätskrise und einer Solvenzkrise zu machen. Für einen Kreditgeber ist es in einer
Krisensituation sehr schwer, die künftigen Deviseneinnahmen zu beurteilen. Am
leichtesten fällt dies noch bei Rohstoffexporten.[31] Bei anderen Exporten sind
Sicherheiten weniger leicht auszumachen.
Selbst wenn es gelänge, in ausreichendem Maß Sicherheiten bereitzustellen, müsste
zudem noch geklärt werden, wie verfahren werden soll, falls die Liquiditätshilfen nicht
ausreichen und das Land in eine Solvenzkrise geraten sollte. Dem "Gläubiger der letzten
Instanz" müsste dann die Möglichkeit eingeräumt werden, auf diese Sicherheiten
zurückzugreifen. Dazu ist ein internationales Insolvenzgericht oder ein anderes
geordnetes Verfahren vonnöten.[32]
Jenseits dieser konzeptionellen Probleme wären zudem erhebliche politische Hemmnisse
zu überwinden. Der Einfluss der OECD-Länder würde erheblich sinken, weil Kredite des
IWF nicht mehr zur Erlangung von politischen Konzessionen genutzt werden könnten. Der
Fonds würde in erster Linie ein Instrument, auf das seine Mitgliedsländer in Notfällen
zurückgreifen können, ohne sich dem Fonds unterwerfen zu müssen.
Fraglos besteht gegenwärtig eine größere Bereitschaft, die internationalen
Finanzbeziehungen gerechter zu gestalten. Die Weiterentwicklung des IWF zu einem
globalen "lender of last resort" übersteigt aber die Bereitschaft der meisten Akteure zu
weit reichenden Reformen. Dennoch ist die Forderung nach einem internationalen
"Gläubiger der letzten Instanz" letztlich nur konsequent: Wenn globale Finanzmärkte
geschaffen werden, verlieren nationale Notenbanken wichtige Instrumente, die dann auf
globaler Ebene bereitgestellt werden müssen. Umgekehrt heißt dies: Solange der globale
"lender of last resort" fehlt, ist die Abschaffung von Kapitalverkehrskontrollen gefährlich.
Zugleich wird immer deutlicher, dass der Verzicht auf den Ausbau des IWF zu einem
"Gläubiger der letzten Instanz" Ländergruppen dazu zwingt, eigene Systeme zur
Sicherung der Liquidität zu entwickeln. Besondere Anstrengungen werden hier in
Ostasien unternommen. Ostasiens Volkswirtschaften, deren Zentralbanken
Währungsreserven von 1 200 Mrd. US-Dollar halten, bauen gegenwärtig ein Netzwerk
von Vereinbarungen auf, um sich in kommenden Krisen gegenseitig zu helfen. Dies
reduziert natürlich die Bedeutung des IWF. Aus Sicht der Betroffenen ist das aber
zweitrangig, denn zunächst ist für diese Länder wichtig, dass ein regionaler "Gläubiger
der letzten Instanz" einen Ersatz für einen globalen "Gläubiger der letzten Instanz" bieten
kann.
22
V. Rollover-Optionen und Beschränkungen des internationalen Kapitalverkehrs
1. Rollover-Optionen
Bei einigen Finanzkrisen der jüngeren Vergangenheit haben sich Finanz- und
Währungskrisen gegenseitig verstärkt. Die Aufkündigung von Kreditverträgen führte zu
Kapitalabflüssen und damit zu einem Druck auf den Wechselkurs. Erst bei Eintritt einer
Finanzkrise über die Einbindung von Kreditgebern zu verhandeln, ist ordnungspolitisch
falsch. Sinnvoll sind vielmehr Maßnahmen, die den Schuldnern selbst die Möglichkeit
geben, auf Stabilisatoren zurückzugreifen. Zwei britische Ökonomen haben dazu 1999
einen Vorschlag gemacht: "Universal Debt-Rollover Options with a Penalty" (UDROP). Die
Idee ist recht simpel: Schuldner können sich entscheiden, einen Kredit bei Fälligkeit um
drei oder sechs Monate zu verlängern. Der Preis für diese Umschuldung (penalty) wird
bereits bei Abschluss des Kreditvertrages festgesetzt. Das Ziel der UDROP ist, durch
Panik verursachte Liquiditätskrisen zu verhindern.[33] Erreicht werden soll, dass
Schuldner bis zur Erreichung geordneter Marktverhältnisse von der Schuldenrückzahlung
befreit sind, die Schuld also gestundet wird.[34] UDROP sollen für alle in Fremdwährung
denominierten Kredite gelten. Erfasst werden sollen sowohl private als auch staatliche
Kreditaufnahmen mit kurzer und langer Laufzeit. Überziehungskredite sind ebenso zu
berücksichtigen.[35]
Dieses Konzept weist eine Reihe von Vorzügen auf. Erstens sind UDROP-Maßnahmen
klassische Ordnungspolitik: Der Staat legt Rahmenbedingungen fest und überwacht ihre
Einhaltung, ist aber in die Umsetzung nicht eingeschaltet. Zweitens würden UDROP sehr
rasch zur Reduzierung der Wahrscheinlichkeit von Liquiditätskrisen beitragen. Drittens
haben UDROP auch einen positiven, stabilisierenden Einfluss auf Wechselkurse.
Insbesondere bei flexiblen Kursen kann ein deutlicher Abfluss von Devisen zur Bedienung
von plötzlich fällig gestellten ausländischen Krediten für einen erheblichen Druck auf den
Wechselkurs sorgen.[36]
Darüber hinaus ist die Notwendigkeit, bereits bei Abschluss des Vertrages einen Preis für
die Umschuldungsoption zu finden, ein positiver Nebeneffekt. Dies zwingt Schuldner und
Gläubiger, die Risiken eines Kredits zu bewerten. In der Vergangenheit haben Gläubiger
zu oft die Risiken einer Kreditvergabe ignoriert - häufig in der Annahme, dass es im Falle
einer Kreditkrise zu öffentlichen Hilfen kommen würde. Mit der Einführung von UDROP
könnte deutlich gemacht werden, dass staatliche Hilfen nicht gewährt werden würden,
mithin eine angemessene Risikoprüfung durch die Gläubiger notwendig ist. Gleichwohl
haben auch Rollover-Optionen nennenswerte Nachteile: Möglicherweise steigen die
Kosten für Auslandskredite.[37] Dies ist allerdings nicht nur negativ zu bewerten, da
damit Kreditaufnahmen im Inland - relativ zu Auslandskrediten -billiger werden.
Inlandskredite in eigener Währung sind naturgemäß wesentlich weniger riskant als
Fremdwährungskredite.
Insgesamt erscheinen die Vorteile von UDROP die Nachteile erheblich zu übersteigen.
Gewiss ist dieses Konzept kein AIlzweckmittel zur Verhinderung von Finanzkrisen, aber
es trägt zur Stabilisierung von Finanzmärkten bei, ohne den Akteuren auf Finanzmärkten
inakzeptable Lasten aufzubürden.
2. Kapitalverkehrskontrollen zur Krisenprävention
Der langsame Fortschritt bei der Entwicklung stabilerer internationaler Finanzmärkte
unterstreicht die Bedeutung von auf nationaler Ebene implementierbaren Maßnahmen zur
Krisenprävention. Als Paradebeispiel werden hierbei immer wieder die Maßnahmen Chiles
genannt.[38] Das Ziel dieser Maßnahmen ist die Beschränkung des Zuflusses von nur
kurzfristig gebundenem Kapital. Durch die Förderung von langfristiger Anlage soll das
Risiko eines panikartigen Abzugs von Kapital reduziert werden.
Chile hat nach den Erfahrungen der schweren Finanzkrisen in den siebziger und achtziger
Jahren 1991 eine umfassende Bardepotpflicht eingeführt. Zunächst 20, später 30 Prozent
einer Kreditaufnahme im Ausland oder einer im Ausland aufgenommenen Anleihe
mussten zinslos bei der Zentralbank hinterlegt werden. Damit wurden zum einen
Kapitalzuflüsse verstetigt und zum anderen der inländische Finanzsektor gestärkt. Eine
Bardepotpflicht wirkt wie eine effiziente Steuer auf Kreditaufnahmen im Ausland (vgl.
Tab. 2).
Die Ergebnisse des chilenischen Ansatzes sind überzeugend. Zunächst fällt auf, dass es in
den neunziger Jahren in Chile keine Finanzkrise gab, trotz schwerer Turbulenzen in der
23
Region. Ein wesentlicher Grund für diese Stabilität ist die veränderte Komposition der
Kapitalzuflüsse. Während 1989 nur fünf Prozent der im Ausland aufgenommenen Kredite
eine Laufzeit von mehr als zwölf Monaten hatten, war dieser Anteil acht Jahre später auf
97,2 Prozent gewachsen. Dies wurde erreicht, ohne Chile von den internationalen
Finanzmärkten abzukoppeln. Die Kapitalzuflüsse wuchsen vielmehr von 1,52 Mrd. USDollar im Jahr 1989 auf 2,89 Mrd. US-Dollar im Jahr 1997.[39]
Die Bardepotpflicht in Chile begünstigt langfristige Kredite, da nach einem Jahr das
Bardepot erstattet wird. Je länger die Laufzeit eines Kredits, desto geringer ist also die
Belastung durch die Bardepotpflicht. Der Umfang der Bardepotpflicht war geringer, als
man dies auf den ersten Blick erwarten könnte. Erfasst wurden lediglich 40 Prozent der
Kapitalzuflüsse. Dies liegt zum einen an der Freistellung bestimmter Zuflüsse, z. B. von
ausländischen Direktinvestitionen, zum anderen an Lücken in der Regulierung.[40] Die
Anwendbarkeit von Importkontrollen sollte jedoch nicht überschätzt werden. Sie
funktionieren in Ökonomien mit solider Geld- und Fiskalpolitik. Aber in Volkswirtschaften
mit einer insgesamt instabilen und hektischen Wirtschaftspolitik kann auch eine
Bardepotpflicht nicht für Stabilität sorgen.
3. Kapitalverkehrskontrollen in einer Finanzkrise
Kapitalzuflusskontrollen werden inzwischen von vielen Beobachtern als wichtiges Mittel
zur Krisenprävention, d. h. vor allem zur Stabilisierung der Finanzmärkte in
Entwicklungs- und Schwellenländern, akzeptiert. Kein Konsens besteht aber hinsichtlich
der Nutzung von Kapitalverkehrskontrollen zur Bekämpfung von Finanzkrisen. Von vielen
Beobachtern wird unterstellt, dass die Einführung von Beschränkungen des
Kapitalverkehrs inmitten einer Krise eher krisenverschärfend wirkt. Hier ist es hilfreich,
die Erfahrungen Malaysias im Jahre 1998 genauer zu betrachten.
Die Regierung Malaysias erließ am l. September 1998 umfassende
Kapitalverkehrskontrollen, also mehr als ein Jahr nach Ausbruch der Asienkrise. Daher
findet sich oft die Einschätzung, Malaysias Kapitalverkehrskontrollen seien zu spät
eingeführt worden, die Krise sei ohnehin schon nahezu überwunden gewesen und das
Nachbarland Thailand habe sich auch ohne diese Maßnahmen rasch und dauerhaft erholt.
Eine neuere Untersuchung kommt hingegen zu einem anderen Ergebnis. Zunächst wurde
die Situation Malaysias vor Einführung der Kapitalverkehrskontrollen untersucht und
gefragt, ob die Krise tatsächlich schon überwunden war. Im Gegensatz zur geläufigen
Annahme stellen die Autoren eine Zunahme der Instabilität in den ersten acht Monaten
des Jahres 1998 fest. Insbesondere stiegen die Zinsen für Kredite in Offshore-Märkten
für malaysische Ringgit von sechs Prozent im Januar 1998 auf 23 Prozent im August
1998.[41]
Vor diesem Hintergrund, also der messbaren Zunahme von Instabilitäten auf den
Finanzmärkten vor Erlass der Kapitalverkehrskontrollen, ist das Ergebnis der Maßnahmen
Malaysias sehr positiv. Der Wechselkurs wurde stabilisiert und das inländische Zinsniveau
konnte weit genug sinken, um inländische Investitionstätigkeit anzuregen. Zudem
wurden die Kapitalverkehrskontrollen so gestaltet, dass weder ausländische
Direktinvestitionen noch der Außenhandel davon betroffen waren.[42] Ein weiterer
bemerkenswerter Punkt ist, dass die Kapitalverkehrskontrollen nur vorübergehend
angewendet wurden. Anders als dies der IWF angenommen hatte, führten die
Maßnahmen nicht dazu, dass Malaysia auf Jahre hinaus von den Akteuren auf
internationalen Finanzmärkten gemieden wurde. Bereits im Mai 1999, also weniger als
ein Jahr nach Beginn der Kontrollen, platzierte Malaysia erfolgreich eine Anleihe im
Umfang von 1,0 Milliarden US-Dollar.
Es zeigt sich also, dass vernünftig implementierte Kapitalverkehrskontrollen einen
bedeutenden Beitrag zur Überwindung einer Finanzkrise leisten können. Dies ist eine
wichtige Lektion für den IWF, der in den Fällen, wo er aktiv an der Formulierung eines
Maßnahmenpakets beteiligt war, stets auf Austeritätspolitik setzte und
Kapitalverkehrskontrollen als schädlich ansah.
VI. Die ordnungspolitische Gestaltung der Globalisierung tut Not
Lange Zeit verhallte der Ruf nach einer Stärkung der Regulierung von Märkten ungehört.
In nahezu allen OECD-Ländern genoss Deregulierung und Liberalisierung den höchsten
Stellenwert. Insbesondere die Finanzmärkte wurden dabei zu sehr sich selbst überlassen.
24
Die logische Folge der Internationalisierung der Finanzmärkte ist aber die Übertragung
bestimmter Strukturen aus dem nationalen Raum auf die globale Ebene. Hierzu gehören
die Schaffung eines internationalen Gläubigers der letzten Instanz ebenso wie die
Schaffung von regelgebundenen Strukturen zur Einbeziehung von Kreditgebern in die
Lösung von Finanzkrisen.
Die Gestaltung der Globalisierung ist eine politische Aufgabe. Es ist unrealistisch, von
Märkten eine vollständige Selbstregulierung zu erwarten. Die Regierungen der
Europäischen Union sollten sich dieser Verantwortung stellen und sich nachdrücklich für
eine ordnungspolitische Initiative einsetzen. Europa könnte eine führende Rolle bei der
Neuordnung der internationalen Finanzmärkte spielen. Nach der erfolgreichen Einführung
des Euro fällt das Fehlen einer gemeinsamen auswärtigen Finanzpolitik der EU auf.
Während die EU auf dem Gebiet der Handelspolitik seit Jahren mit einer Stimme spricht,
gibt es auf dem Gebiet der auswärtigen Finanzpolitik einen vielstimmigen Chor.
Zu fragen ist, welches Interesse die EU an einer stabileren Weltfinanzordnung haben
könnte. Zwei Gründe sind zu nennen: Erstens ist die EU der Welt größte Handelsmacht
und leidet mehr als jeder andere Akteur unter von Finanzkrisen verursachten
Turbulenzen im Welthandel. Stabile Finanzmärkte und nur wenig schwankende
Wechselkurse begünstigen internationalen Warenhandel. Zweitens wächst mit der
Osterweiterung der EU die Gefahr von Finanzkrisen in der Union selbst. Ein
ordnungspolitischer Rahmen, der Finanzkrisen zu verhindern hilft, liegt im Interesse der
EU. Bislang war Europa nicht willens, sich dieser Herausforderung zu stellen.
Die USA stehen Vorschlägen zur Re-Regulierung der Finanzmärkte auch nach dem 11.
September eher kritisch gegenüber. Zwar sind einige neue Töne aus Washington zu
hören. Diese beziehen sich allerdings meist auf Maßnahmen zur Verhinderung von
Geldwäsche, einem sehr kleinen Bereich. Die USA verfügen zudem über die
aggressivsten und wettbewerbfähigsten Akteure auf den Finanzmärkten. Es erscheint
unrealistisch, gerade von den USA eine Initiative zur Neuordnung der Finanzmärkte zu
erwarten.
Politisch brisant ist ein solches Vorhaben fraglos. Die Widerstände gegen eine
Regulierung und gegen eine stärkere Kontrolle der Finanzmärkte sind ohne Zweifel
erheblich. Die in den letzten Jahren sprunghaft gewachsene Finanzwirtschaft würde der
Beschränkung ihrer Operationsfelder energischen Widerstand entgegensetzen. Gleichwohl
würden sehr viele Menschen von stabileren internationalen Finanzmärkten profitieren,
und zwar nicht nur die unmittelbar von Finanzkrisen betroffene Bevölkerung. Eine
ordnungspolitisch gestaltete Globalisierung eröffnet der großen Mehrheit der
Weltbevölkerung die Chance auf mehr Wohlstand.
Fußnoten
1
Vgl. hierzu Stephany Griffith-Jones, Global Capital Flows: Should they be regulated?, Houndmills 1998, S. 38 f.
Vgl. Harold James, The End of Globalization, Cambridge, Mass. 2001.
Vgl. Heiner Flassbeck/Claus Noé, Abkehr vom Unilateralismus, in: BIätter für deutsche und internationale Politik,
(2001) 11, S. 1367.
2
3
4
Vgl. Michael Frenkel/Lukas Menkhoff, Stabile Weltfinanzen. Die Debatte um eine neue internationale Finanzarchitektur,
Berlin - Heidelberg 2000, S. 66.
5
Vgl. Commission of the European Communities, Responses to the Challenges of Globalization: A Study on the International Monetary and Financial System and on Financing for Development. Working document from the Commission
Services, Brüssel, 13. Februar 2002, DOC/02/04, S. 44; Paul Bernd Spahn, Zur Durchführbarkeit einer
Devisentransaktionssteuer, Gutachten im Auftrag des BMZ, Frankfurt/M., Februar 2002, S. 4.
6
Vgl. Robert Shiller, Irrational Exuberance, Princeton 2000, S. 227.
7
Vgl. ebd.
8
Vgl. Karl-Heinz Paqué, Kein Bedarf an Sand im Getriebe, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. 10. 2001.
Vgl. Commission of the European Communities (Anm. 5), S. 44.
10
Der Wechselkurs des Rand sank von acht Rand pro Dollar im Juli 2001 auf zwölf Rand pro Dollar im Dezember 2001.
11
Vgl. Commission of the European Communities (Anm. 5), S. 91.
25
Vgl. H. Flassbeck/C. Noé (Anm. 3), S. 1368.
Vgl. Commission of the European Communities (Anm. 5), S. 91.
Vgl. P. B. Spahn (Anm. 5), S. 21-28.
Vgl. ebd., S. 27.
12
13
14
15
16
Vgl. Kunibert Raffer, Applying Chapter 9 Insolvency to International Debts: An Economically Efficient Solution with a
Human Face, in: World Development, (1990) 2, S. 301-311.
Vgl. ebd., S. 302.
Vgl. ebd., S. 304.
17
18
19
Brady Bonds wurden 1989 entwickelt. Sie entstanden aus restrukturierten Bankkrediten: Diese wurden in Wertpapiere
umgewandelt, also verbrieft. Die Brady Bonds verdanken ihren Namen Nicholas Brady, dem damaligen USFinanzminister. Brady Bonds haben meist lange Laufzeiten und die verschiedensten Arten der Zinsausschüttung.
Vgl. Anne Krueger, International Financial Architecture for 2002: A New Approach to Sovereign Debt Restructuring.
Address given at the American Enterprise Institute, 26. 11. 2001
(www.imf.org/extemal/np/speeches/2001/112601.htm).
Vgl. ebd.
Vgl. ebd.
Vgl. Gabrielle Lipworth/Jens Nystedt, Crisis Resolution and Private Sector Adaptation, in: Finance and Development,
(June 2001).
Vgl. ebd.
20
21
22
23
24
25
Vgl. Stanley Fischer, On the Need for an International Lender of Last Resort. Essays in International Finance, No. 220
(November 2000), Department of Economics, Princeton University, S. 22.
Vgl. ebd.
26
27
Im engeren Sinn kann es auf globaler Ebene natürlich keinen "lender of last resort" geben, da dies an die Fähigkeit zur
Geldschöpfung gebunden ist. Solange es kein einheitliches Geld auf der ganzen Welt gibt, wird auch ein sehr gut
ausgestatteter IWF immer nur ein "quasi-lender of last resort" sein können. In der Praxis dürfte diese Unterscheidung
unerheblich sein.
Vgl. S. Fischer (Anm. 25).
Bagehot sprach von "lend freely, at penalty rates, against good collateral"; vgl. ebd., S. 9.
Vgl. ebd., S. 16.
28
29
30
26
So haben die USA 1995 Mexiko großzügig Kredite bereitgestellt, sich aber die Einnahmen aus den künftigen
Erdölexporten vertraglich gesichert.
Vgl. den Vorschlag von IWF-Vize Anne Krueger.
31
32
33
Vgl. Willem Buiter/Anne Sibert, UDROP - A Small Contribution to the New International Financial Architecture. Centre
for Economic Performance, London School of Economics and Political Science, Working Paper, Mai 1999.
Vgl. ebd., S. 3.
Vgl. ebd.
34
35
36
Dies gilt natürlich analog auch für feste Wechselkurse. Eine Zentralbank kann bei hoher Auslandsverschuldung rasch an
die Grenzen ihrer Devisenreserven geraten, wenn infolge einer Panik auf den Märkten Devisen in erheblichem Umfang
zur Bedienung der Außenschulden benötigt werden.
37
Langfristig können die Finanzierungskosten allerdings auch sinken, da das Finanzsystem stabilisiert wird und damit die
Risikoaufschläge abnehmen können.
Slowenien ist ein weiteres, aber weniger bekanntes Beispiel.
38
39
Vgl. Sebastian Edwards, Exchange Rate Regimes, Capital Flows and Crisis Prevention. Paper prepared for the National
Bureau of Economic Research Conference on Economic and Financial Crises in Emerging Market Economies, Woodstock,
Oktober 2000.
40
Vgl. Carlos Massad, The Liberalization of the Capital Account: Chile in the 1990s, Essays in International Finance, No.
207, Mai 1998, S. 34-46.
Vgl. Ethan Kaplan/Dani Rodrik, Did the Malaysian Capital Controls Work?, NBER working paper 8142; im Internet:
www.nber.org/papers/w8142.pdf.
Vgl. ebd., S. 11.
41
42
Quelle:
http://www.bpb.de/themen/PTTFHY.html
Weltwirtschaft und internationale
Arbeitsteilung
Gefördert durch die Idee des Wirtschaftsliberalismus weitete sich im 19. Jahrhundert der
Welthandel aus. Nach dem 2. Weltkieg wurden mit dem Allgemeinen Zoll- und
Handelsabkommen (GATT 1948) die Voraussetzungen für eine zunehmende
Liberalisierung des Welthandels geschaffen.
Auszug aus:
Globalisierung, Informationen zur politischen Bildung (Heft 280)
Georg Koopmann / Fritz Franzmeyer
Einleitung
Grundlage modernen Wirtschaftens ist die Arbeitsteilung. Sie führt zu Tausch oder - in
27
der Geldwirtschaft - zu Handel. Reger Handel ist daher Ausdruck hoch entwickelter
Arbeitsteilung. Dabei bringt internationale Arbeitsteilung insgesamt bessere Ergebnisse
hervor als eine Arbeitsteilung, die nur im nationalen Rahmen stattfindet. Nach diesem
Konzept spezialisiert sich nämlich diejenige Wirtschaftskraft auf die Produktion eines
Gutes bzw. einer Dienstleistung, die dies aus ökonomischer Sicht relativ am besten kann,
das heißt zu den geringsten Produktionskosten.
Kern der Globalisierung ist die Ausweitung internationaler Arbeitsteilung. Dabei bilden
sich weltweite Märkte heraus, auf denen Waren und Dienstleistungen gehandelt,
Investitionen getätigt, Technologien übertragen und Informationen ausgetauscht werden.
Internationale Arbeitsteilung ermöglicht es den einzelnen Ländern, ihre unterschiedlichen
Stärken auszuspielen und dadurch Einkommensgewinne zu erzielen.
Allerdings kennt die Globalisierung nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer. In den
Ländern, die relativ reichlich mit Kapital und qualifizierten Arbeitskräften ausgestattet
sind, steigen die Kapitaleinkommen tendenziell stärker als die Arbeitseinkommen, und
die Spreizung der Löhne zwischen einfacher und qualifizierter Arbeit nimmt zu. Hieraus
können Spannungen in den einzelnen Ländern und zwischen ihnen entstehen, die den
Sozialstaat westlicher Prägung in ein Dilemma stürzen. Denn bei dem Versuch, die
Einkommensverteilung zu Lasten der Arbeitnehmerschaft, die sich aus der Globalisierung
ergeben kann, wieder zu korrigieren, sind dem Staat gerade wegen der Globalisierung
die Hände gebunden. Eine schärfere Besteuerung von Kapitaleinkommen könnte zum
Beispiel das Kapital dazu veranlassen, in andere Länder abzuwandern, und damit den
Handlungsspielraum für die Lohnpolitik so stark einengen, dass am Ende die angestrebte
Korrektur nicht zu Stande kommt und die Regierung in der "Globalisierungsfalle"
gefangen ist.
Tatsächlich ist der Anteil von Kapital- und Vermögenssteuern am gesamten
Steueraufkommen in fast allen Industrieländern deutlich gesunken. Auch hat die
Spreizung der Einkommen in den Industrieländern zugenommen. Dies ist allerdings
faktisch weniger der Globalisierung anzulasten als technologischen Entwicklungen, die
gering qualifizierte Arbeitskräfte benachteiligen.
Entwicklungsländer werden durch die Globalisierung in die Lage versetzt, sich auf die
Herstellung arbeitsintensiver Produkte wie zum Beispiel Bekleidungserzeugnisse zu
spezialisieren, dabei die Löhne zu erhöhen und die Einkommensverteilung zu verbessern.
Tatsächlich haben Länder, die sich wirtschaftlich geöffnet haben, meist ein höheres
Wachstum erreicht und die Armut stärker reduziert als Länder, die sich der Öffnung
verweigert haben. Das Problem für alle am Globalisierungsprozess beteiligten Staaten ist,
dass sie sich stets aufs Neue wechselnden Bedingungen anpassen müssen und sich dabei
vielfach überfordert fühlen.
Historische Erfahrungen
Voraussetzung für internationale Arbeitsteilung ist die unterschiedliche Ausstattung der
Länder mit Energieträgern, Rohstoffen, Boden, Kapital und Arbeitskraft
(Produktionsfaktoren). Daraus resultieren von Land zu Land verschiedene
Preisverhältnisse zwischen den mit den Produktionsfaktoren hergestellten Erzeugnissen wenn die Grenzen geschlossen sind. Wenn die Grenzen geöffnet werden, spezialisieren
sich die Staaten auf die Produktion derjenigen Güter, die sie preiswerter anbieten können
als andere Länder. Dies ist die Quelle der Wohlfahrtsgewinne, die aus internationaler
Arbeitsteilung entstehen; sie gründen auf Unterschieden in den relativen Preisen und
komparativen Kosten zwischen den an ihr beteiligten Ländern.
Geschlossene Volkswirtschaften hat es kaum je gegeben. Bereits in der Antike wurde
innerhalb der zugänglichen Welt mit Gewürzen, orientalischen Stoffen, Gold, Silber und
Edelsteinen gehandelt. Die einzelnen Volkwirtschaften sind allerdings niemals völlig,
sondern immer nur mehr oder weniger offen für internationalen Handel. Der Grad der
Offenheit ist abhängig von der jeweiligen Wirtschaftsphilosophie, von den inneren
Konflikten und dem internationalen Spannungsreichtum der Zeit.
Im 17. und 18. Jahrhundert war der Merkantilismus weit verbreitet. Als Merkantilismus
werden die wirtschaftspolitischen Lenkungsmaßnahmen bezeichnet, die die Staaten in
jener Zeit zur Steigerung der nationalen Wirtschafts- und Handelskraft unternahmen. Vor
allem England, Frankreich, Preußen und Spanien setzten alles daran, Gold und Geld im
28
Lande zu mehren, indem sie möglichst viele Güter selbst herstellten und exportierten,
aber möglichst wenige importierten. Andere Länder wurden so daran gehindert, ihrerseits
zu exportieren, Fremdwährung zu verdienen und sie in Importe umzusetzen. Insgesamt
konnte sich der internationale Handel deshalb nicht entfalten; Gold und Geld flossen
spärlicher, als die Merkantilisten es sich gedacht hatten.
Der Merkantilismus wurde im 19. Jahrhundert durch den Liberalismus abgelöst. Die
Theorie des Wirtschaftsliberalismus, der Arbeitsteilung und des Freihandels, die den
Merkantilismus schließlich auch in der wirtschaftspolitischen Realität überwand, geht auf
die britischen Nationalökonomen Adam Smith (1723-1790) und David Ricardo (17721823) zurück. Grundlegend war das Theorem der "komparativen Kosten". Danach sind
internationaler Handel und internationale Arbeitsteilung selbst für solche Länder von
Vorteil, die alle Güter zu geringeren Kosten erzeugen können als das Ausland. Sie
müssen sich nur auf die Produktion jener Güter spezialisieren, die sie relativ (komparativ)
am günstigsten herstellen können.
Das hieraus abgeleitete Freihandelspostulat wurde von dem deutschen
Nationalökonomen Friedrich List (1789-1846) allerdings durch das "Schutzzollargument"
relativiert. Danach gibt es gute Gründe dafür, schwächere Länder in ihrer frühen
Entwicklungsphase noch nicht massiv dem harten internationalen Wettbewerb
auszusetzen. Vor allem junge Industrien (infant industries) sollten auch dann geschützt
werden dürfen, wenn die Handelspartner ihre eigenen Grenzen bereits weit für Importe
geöffnet haben.
Mit der Idee des Liberalismus begann das Zeitalter der wirtschaftlichen Globalisierung.
Eine erste Blüte erreichte der internationale Handel nach den napoleonischen Kriegen
und besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Mit dem deutschen Zollverein,
der handelspolitischen Einigung deutscher Staaten zur Herstellung einer deutschen
Wirtschaftseinheit ab 1834, waren - bei wenigen Ausnahmen - im gesamten späteren
Reich die wesentlichen Handelshemmnisse beseitigt worden. Die Rahmenbedingungen
waren stabil; im Großen und Ganzen herrschte Frieden. Neue Techniken begünstigten
eine sowohl umfangreichere als auch arbeitsteiligere Produktion. Transporte auf große
Distanz wurden schneller, billiger und sicherer. Die Handelsnationen verständigten sich
auf das Gold als Fundament für den internationalen Zahlungsverkehr (Goldstandard).
Diese Tendenz zur außenwirtschaftlichen Liberalisierung wurde durch restaurative Kräfte
(Bismarcks Schutzzollpolitik) insgesamt nur wenig beeinträchtigt.
Die Zeit von der Gründung des Deutschen Reiches 1871 bis zum Ausbruch des Ersten
Weltkrieges 1914 gilt als die Phase des Aufstiegs der Handelsglobalisierung und die
Schlussetappe dieser Phase (1895-1914) als das "Goldene Zeitalter" des Freihandels. Der
Außenhandel (gemessen als Durchschnitt aus Export und Import) stieg auf bis zu einem
Drittel des Bruttosozialproduktes der einzelnen Länder an.
Der Aufschwung des Welthandels wurde durch den Ersten Weltkrieg, die
Weltwirtschaftskrise, die mit dem Zusammenbruch der New Yorker Börse im Oktober
1929 begann, und den Zweiten Weltkrieg unterbrochen.
Liberalisierung nach 1945
Die Renaissance der Handelsglobalisierung begann in den fünfziger Jahren des 20.
Jahrhunderts. Schon während der Schlussphase des letzten Weltkriegs wurden die
Weichen für einen beispiellosen Abbau internationaler Handelshemmnisse in der
Nachkriegszeit gestellt. 1944 wurden in Bretton Woods in New Hampshire, USA, der
Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank gegründet. Der Marshall-Plan
schob seit 1947 den Wiederaufbau des zerstörten Europa an. 1948 wurde das Allgemeine
Zoll- und Handelsabkommen (General Agreement on Tariffs and Trade - GATT) in Kraft
gesetzt, in dessen Rahmen seitdem in acht multilateralen Liberalisierungsrunden die
mengenmäßigen Handelsbeschränkungen (Kontingente) und die tarifären
Handelshemmnisse (Zölle) weitgehend beseitigt wurden. Die Importzölle auf
Industrieprodukte in Industrieländern zum Beispiel sind durchschnittlich von etwa 40
Prozent auf weniger als fünf Prozent gefallen.
Quellentext
29
Internationaler Währungsfonds und Weltbank
[...] Zu den einflussreichsten Akteuren der Globalisierung gehören zweifellos die
Internationalen Finanzinstitutionen (IFI) und die ihnen assoziierten Organisationen, die in
jüngerer Zeit zugleich den Charakter von Institutionen globaler Reichweite gewonnen
haben. [...]
Aus der Neuordnung der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, haben der
Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank nach Überwindung des Ost-WestKonflikts nahezu universale Mitgliedschaft erreicht. [...]
Ein gutes halbes Jahrhundert nach Ratifizierung der Articles of Agreement hat sich der
Kreis der ursprünglich 29 unterzeichnenden Mitglieder des IWF auf 184 Länder erweitert;
die anfänglich 38 Mitgliedsstaaten der Weltbank sind auf über 180 angewachsen. Mit
zusammen 600 Milliarden Dollar Einlagen leiden Weltbank und IWF nicht unter der
notorischen Mittelknappheit anderer UN-Organisationen, sondern können in Krisenzeiten
mit Quotenerhöhungen und Sonderzuweisungen rechnen. [...]
Nicht zufällig polarisieren sich die Lager der Globalisierungskontroverse an
gegensätzlichen Einschätzungen der IFIs. Den einen gelten sie als die mächtigsten, mit
Anreizen und Sanktionskraft ausgestatteten Institutionen, die die entfesselte Welt der
Globalisierung gestalten könnten. [...] Tatsächlich haben die IFIs in den letzten Jahren
zahlreiche Aufgaben von weniger durchsetzungsfähigen UN-Institutionen übernommen
und spielen heute in die Umwelt-, Bevölkerungs-, Bildungs-, Sozial- und
Gleichstellungspolitik hinein. Die Chancen der Globalisierung aktiv nutzen und ihre
Risiken begrenzen - so lautet die neue Programmformel, der freilich auch die Erkenntnis
zugrunde liegt, dass die Überwindung von Armut der Schlüssel für den Frieden im 21.
Jahrhundert bleibt.
Den anderen dagegen erscheinen die IFIs und die WTO gerade angesichts der ungleich
verteilten Früchte der Globalisierung nicht als Problemlösung, sondern als neoliberales
Instrument zur Sicherung der westlichen Vormachtstellung zu Lasten fremder Kulturen
und alternativer Entwürfe, auf Kosten der Natur und um den Preis dramatisch
verschärfter Ungleichheiten [...]. Die nach Kapitaleinlagen gewichtete Stimmverteilung
zwischen den Mitgliedsländern, die Unterrepräsentation ganzer Weltregionen und eine
durch ihren Sitz in der Hauptstadt der USA geprägte Organisationskultur nähren den
Verdacht einer ganz auf die Interessen der Industrieländer zugeschnittenen Agenda. [...]
Der IWF war als multilaterale Institution zur Errichtung eines Währungssystems mit
stabilen Wechselkursen und zur Hilfe bei der Überwindung von Zahlungsbilanzdefiziten
konzipiert. Zu diesem Zweck schienen begrenzte Eingriffe in die Souveränität der
Mitgliedsstaaten durchaus legitim. Die in der Zwischenkriegszeit unternommenen
Versuche einzelner Länder, sich durch Abwertungen, das heißt die relative Verbilligung
ihrer Exporte, Handelsvorteile auf Kosten ihrer Nachbarn zu verschaffen, hatten lediglich
Abwertungswettläufe eingeleitet, in deren Folge der Welthandel zwischen Januar 1929
und Februar 1933 um 70 Prozent geschrumpft war (Kindleberger 1986). Um solche
kompetitiven Abwertungen zu verhindern, sollten Wechselkursänderungen jetzt nur noch
nach Konsultation mit dem IWF und zur Korrektur fundamentaler Ungleichgewichte
möglich sein. Kurzfristige Störungen sollten dagegen durch Devisen aus einem
gemeinsamen Fonds aufgefangen werden, an dem alle Mitgliedsstaaten gemäß der von
ihnen eingezahlten Quote (Reservetranche) beteiligt sind. Kredite über diese Quote
hinaus (Kredittranchen) waren und sind allerdings mit Zinskosten und
wirtschaftspolitischen Auflagen verknüpft, die das betroffene Land auf den Pfad
außenwirtschaftlicher Stabilität zurückführen sollen. [...]
Kennzeichnend für das erweiterte Tätigkeitsfeld des IWF seit den achtziger Jahren ist,
dass er nicht allein mit der Herstellung einer liberalen Weltwirtschaft beschäftigt war,
sondern sich zunehmend mit den Folgeproblemen von Liberalisierung und Globalisierung
konfrontiert sah. Erstes Resultat der jüngsten Globalisierungswelle war die
Weltschuldenkrise seit den achtziger Jahren, die eine bis in die Gegenwart ungelöste
Problematik aufwarf. Erst die Liberalisierung der Kapitalmärkte gab den neu
industrialisierten Ländern die Möglichkeit, ihre oft überzogenen Entwicklungsprojekte
durch Kreditaufnahme zu finanzieren - um sogleich die Erfahrung steigender Zinssätze,
sinkender Rohstoffpreise und erratischer Wechselkurse zu machen. [...]
30
Das neue Kapitel der Wirkungsgeschichte des IWF bestand daher in einem
Schuldenmanagement, das geordnete Umschuldungen und neue Kredite mit Auflagen im
Sinne marktorientierter Reformen verknüpfte, das heißt die Schuldenkrise zugleich als
Hebel für eine weitergehende Öffnung der verschuldeten Länder nutzte. Neuartig an der
"Strukturanpassung", der ersten weltweit geltend gemachten wirtschaftspolitischen
Programmatik, war, dass sie die politische Durchsetzung von Reformen ins Zentrum
rückte und damit entgegen der deklarierten Nichteinmischung in innere Angelegenheiten
tief in die Innenpolitik ihrer Klienten eingriff: Veränderte Steuern, Preise und
Eigentumsformen sollten die nötige Anpassungsbereitschaft von Individuen und
Interessengruppen herbeiführen. [...]
Die zunehmenden entwicklungspolitischen Aktivitäten des IWF sind insofern erstaunlich,
als seine Rolle zunächst auf Währungsangelegenheiten bechränkt war und keine
Unterschiede zwischen Industrie- und Entwicklungsländern vorsah. [...]
Entwicklungsaufgaben lagen dagegen von vornherein im Aufgabenfeld der Weltbank und
ihrer Tochterorganisationen. Die Weltbank war als Internationale Bank für Wiederaufbau
und Entwicklung ursprünglich dazu gedacht, die Rekonstruktion der
Nachkriegsökonomien durch projektbezogene langfristige Kredite vornehmlich im Bereich
der Infrastruktur zu fördern. Ihr tatsächlicher Wirkungskreis verschob sich jedoch auf
Entwicklungsprojekte in den ehemaligen Kolonien.
Ihre Geschäftsgrundlage sind die Kapitaleinlagen ihrer Mitgliedsländer, die als
Sicherheiten für an den Kapitalmärkten aufgenommene Kredite fungieren.
Weltbankkredite sollen in erster Linie den Devisenbedarf für die Finanzierung von
aussichtsreichen Entwicklungsprojekten abdecken, für die private Gelder allenfalls mit
hohen Risikoaufschlägen mobilisierbar wären. Indem die Weltbank die von ihr
aufgenommenen Mittel zu relativ günstigen Bedingungen an die Empfängerländer weiter
vergibt, kommt ihr jedoch zugleich eine Signalfunktion für weitere Investitionen des
privaten Sektors zu. Die sachgemäße Verwendung von Weltbankgeldern soll durch
eingehende Länderstudien vorbereitet und in Kreditabkommen mit den
Empfängerländern kodifiziert werden. Ihre Nettogewinne überweist die Weltbank an die
International Development Association (IDA), die als ihr entwicklungspolitischer Arm
fungiert und langfristige zinslose Kredite mit hohem Schenkungsanteil an gering
entwickelte Länder vergibt, deren Industrialisierungspläne zu den üblichen WeltbankKonditionen nicht finanzierbar wären.
Auch die Weltbank hat seit den achtziger Jahren im Kontext der
Strukturanpassungsprogramme und im Zuge der Globalisierung neue Aufgaben für sich
in Anspruch genommen, die über ihr traditionelles Ressort hinausgreifen, nämlich
allgemeine Expertisen über "marktfreundliche Reformen" des öffentlichen Sektors und
der Sozialsysteme vorzulegen. [...]
Kraft ihres intellektuellen und organisatorischen Kapitals hat die Weltbank die
Meinungsführerschaft in entwicklungstheoretischen Fragen übernommen und ist in der
bemerkenswerten Lage, entwicklungspolitische Kurswechsel initiieren zu können. [...]
Der jährlich herausgegebene Weltentwicklungsbericht besitzt aufgrund seiner
Verknüpfung problembezogener Theorie und vergleichender Empirie besondere Relevanz,
zumal seine Ergebnisse oft den marktorthodoxen Konzepten des IWF widersprechen und
auf Differenzen innerhalb der Weltbank selbst verweisen. [...]
Klaus Müller, Globalisierung, Bonn 2002, S. 86 ff.
Seit 1952 gibt es Bestrebungen zur wirtschaftlichen Vereinigung Europas mit nach innen
vollständig verwirklichter Handelsfreiheit. Die 1958 von zunächst sechs
Gründungsländern (Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Benelux-Staaten)
errichtete Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) wurde zur Europäischen Union
(EU) weiterentwickelt, deren wichtigster Baustein die Europäische Währungsunion (EWU)
ist. Die EU wurde zudem in mehreren Etappen auf heute 15 Mitgliedstaaten ausgeweitet;
am 1. Mai 2004 werden zehn weitere Mitglieder hinzu kommen, neben Malta und Zypern
acht mittel- und osteuropäische Länder (Polen, Tschechien, die Slowakische Republik,
Ungarn, Slowenien, Estland, Lettland und Litauen).
Zahlreiche Entwicklungsländer sind der EU "assoziiert" und genießen weitgehende
Zollfreiheit für ihre Exporte dorthin. Seit März 2001 können Produkte aus den 49 ärmsten
31
Entwicklungsländern frei von Zöllen und Quoten in die EU exportiert werden. Einige
"sensible" Produkte (Bananen, Reis und Zucker) sind aus dieser "Alles-außer-Waffen"Initiative allerdings vorerst ausgeklammert. Den übrigen Entwicklungsländern räumt die
EU - ähnlich wie die USA, Japan und weitere Industrieländer - Zollvorteile ein (Allgemeine
Handelspräferenzen). Mit den anderen westeuropäischen und einigen nichteuropäischen
Ländern (wie zum Beispiel Chile und Mexiko) hat sie Freihandel vereinbart. Die
Europäische Gemeinschaft wurde als Zollunion und Wirtschaftsgemeinschaft zum Vorbild
für zahlreiche regionale Zusammenschlüsse in anderen Teilen der Welt. Auch mit diesen
Regionalzusammenschlüssen wie etwa dem von Argentinien, Brasilien, Paraguay und
Uruguay gebildeten Mercosur (Mercado Comœn del Sur) in Südamerika strebt die EU eine
auf Freihandel basierende wirtschaftliche Zusammenarbeit an.
Die letzte Runde des GATT, die so genannte Uruguay-Runde (1986-1994), brachte eine
gravierende Ausweitung der Handelsfreiheit. Die Liberalisierung erfasste erstmals auch
den traditionell geschützten Handel mit Agrarerzeugnissen und mit Textilien/Bekleidung
sowie den Dienstleistungshandel. Es wurden Regelungen für einen besseren Schutz
geistiger Eigentumsrechte (zum Beispiel Schutz vor Plagiaten) und zugunsten
ausländischer Investitionen getroffen. So wurde es etwa verboten, den Investoren
vorzuschreiben, Vorprodukte im Gastland einzukaufen (oder herzustellen) oder eine
ausgeglichene Handelsbilanz zu präsentieren.
Als weiteres Resultat der Uruguay-Runde wurde 1995 das GATT durch die
Welthandelsorganisation (World Trade Organization - WTO) abgelöst. Insbesondere die
Entwicklungsländer sehen ihre spezifischen Anliegen bei ihr besser aufgehoben als beim
GATT, das sie eher als eine Interessengemeinschaft der Industrieländer betrachteten. Die
WTO mit Sitz in Genf ist eine eigenständige internationale Organisation mit einem
transparenten und wirksamen Streitschlichtungsverfahren, bei dem sich der Stärkere
nicht automatisch durchsetzt. Unter ihrer Ägide wurde im November 2001 in Doha, der
Hauptstadt Katars, die neunte Welthandelsrunde eingeleitet. Die Doha-Runde soll die
Liberalisierung des Waren- und Dienstleistungssektors weiter vorantreiben, das
multilaterale Regelwerk verbessern und ausbauen sowie insbesondere Fairness
gegenüber Entwicklungsländern gewährleisten.
Quellentext
Institutionen der Weltwirtschaft
G 8 - Great Eight (engl.: die acht Großen). Aus der Gruppe der sieben führenden
Wirtschaftsnationen (G 7: Kanada, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien,
Japan, USA), die regelmäßige Weltwirtschaftsgipfeltreffen durchführen, entstand 1997
die G 8 durch die Umwandlung des Beobachterstatus Russlands in eine
Vollmitgliedschaft. An den Gipfeltreffen nimmt neben den acht Regierungschefs auch der
Präsident der EU -Kommission teil.
OECD - Organization for Economic Cooperation and Development/Organisation
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.Die OECD mit Sitz in Paris
wurde 1961 als Nachfolgeorganisation der Organisation für europäische wirtschaftliche
Zusammenarbeit (OEEC) gegründet. Die Hauptaufgaben der OECD sind: Sicherung der
Währungsstabilität, Förderung des Welthandels, Planung und Förderung des
wirtschaftlichen Wachstums und Koordination der Wirtschaftshilfe für die
Entwicklungsländer. Hierzu veröffentlicht die OECD, der 30 Mitglieder angehören, eine
Anzahl regelmäßig erscheinender Länder -, Wirtschafts - und statistischer Berichte.
GATT - General Agreement on Tariffs and Trade/Allgemeines Zoll - und
Handelsabkommen.Vorläufer (bis 1995) der Welthandelsorganisation (WTO) mit dem
Ziel, den weltweiten Handel durch Senkung der Zölle und Beseitigung anderer
Außenhandelsbeschränkungen zu fördern. Im Mittelpunkt der handelspolitischen
Vereinbarungen stand die Meistbegünstigung (d.h. Zollvergünstigungen eines Landes
müssen gegenüber allen Handelspartnern gelten) und die Nichtdiskriminierung (d.h.
erlaubte Ausnahmen vom Verbot der Mengenbeschränkung müssen für alle Teilnehmer
gelten). Das GATT wurde 1947 von 23 Staaten geschlossen und verzeichnete zuletzt 123
Vollmitglieder.
32
WTO - World Trade Organization/Welthandelsorganisation. Die WTO wurde 1995
als Nachfolgeorganisation des Allgemeinen Zoll - und Handelsabkommens (GATT)
gegründet; Sitz ist Genf. Die WTO ist eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen,
hat derzeit 146 Mitglieder und ist neben dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und
der Weltbank die wichtigste Institution zur Behandlung internationaler
Wirtschaftsprobleme. Wichtigste Aufgaben der WTO sind: die weitere Liberalisierung des
Welthandels, Senkung der Zölle, Überwachung internationaler Handels - und
Dienstleistungsregelungen, Abkommen über Eigentumsrechte, Patente etc.
Zusammengestellt nach: Klaus Schubert, Martina Klein, Das Politiklexikon, Bonn 2001.
Die Liberalisierung der Rahmenbedingungen für den regionalen wie für den Welthandel
spiegelt sich eindrucksvoll in den Statistiken des internationalen Güteraustauschs wider.
Im Jahre 2002 war das Volumen der Weltexporte mehr als zehnmal so groß wie 1960. In
der gleichen Zeit hat sich die binnenwirtschaftliche Produktion, aus der die Exportgüter
stammen, insgesamt nur gut vervierfacht. Die Differenz ist Ausdruck intensivierter
internationaler Arbeitsteilung und damit zunehmender Globalisierung. Diese schritt, von
konjunkturellen Einbrüchen in den Jahren 1974/75, 1981/82, 1992/93 und zuletzt
2001/2002 abgesehen, relativ stetig voran. Sie wurde auch durch die scharfe Zäsur in
der Nachkriegsentwicklung, die 1973 das Ende der "goldenen Jahre" hoher
Wachstumsraten herbeiführte, kaum beeinträchtigt.
Wesentliche Merkmale der "neuen" Globalisierung, die seit den achtziger Jahren immer
deutlicher hervortreten, sind die rasante Entwicklung der Informations- und
Kommunikationstechnologie, die verstärkte Herausbildung globaler Unternehmen und
Produktionsnetzwerke, die beschleunigte Internationalisierung der Finanzmärkte sowie
die Deregulierung und Privatisierung zentraler Dienstleistungsbereiche und
"Netzsektoren" wie Telekommunikation, Post/Logistik, Transport und Energie. Außerdem
haben zahlreiche Entwicklungsländer, namentlich in Südostasien und Lateinamerika,
einseitig Importbarrieren abgebaut und Restriktionen gegenüber ausländischen
Investoren gelockert. Dies geschah parallel zur multilateralen Liberalisierung und meist
im Rahmen einer Neuausrichtung der gesamten Wirtschaftspolitik an
marktwirtschaftlichen Grundsätzen, die seit Mitte der achtziger Jahre in immer mehr
Entwicklungsländern zu beobachten ist.
Merkmale des internationalen Handels
Die Struktur der internationalen Arbeitsteilung ist in der aktuellen Globalisierungsetappe
weitreichenden Veränderungen unterworfen. Der "klassische" Außenhandel mit Waren
wird zunehmend durch den Handel mit Dienstleistungen ergänzt, der mit wachsender
Produktkomplexität und -differenzierung immer wichtiger wird. Durch die Entwicklung der
Informations- und Kommunikationstechnologie, die in größerem Maße als bisher eine
räumliche Trennung zwischen der Bereitstellung und dem Konsum von Dienstleistungen
erlaubt, werden Dienstleistungen verstärkt international "handelbar". Von 1980 bis 2002
ist der weltweite Dienstleistungshandel um mehr als das Vierfache gewachsen, nämlich
von 364 auf 1538 Milliarden US-Dollar. Damit ist er deutlich stärker als der
Weltwarenhandel angestiegen, der sich um mehr als das Dreifache erhöht hat, nämlich
von 2034 auf 6424 Milliarden US-Dollar. Dementsprechend ist der Dienstleistungsanteil
am Welthandel von 15 Prozent auf fast 20 Prozent gewachsen.
33
Die Verwendung dieser Grafik ist honorarpflichtig.
Funktionale Netzwerke
Dienstleistungen erfüllen vielfach eine Unterstützungsfunktion für den Warenverkehr. Je
anspruchsvoller die zu vermarktenden Produkte sind, desto wichtiger wird es für ihren
Absatzerfolg fern der heimischen Basis, dass sich das Unternehmen vor Ort auch um
Werbung, Beratung, Finanzierung, Versicherung, Anlieferung, Reparaturservice und
Entsorgung kümmert. Dies alles bindet erhebliche Investitionen.
Darüber hinaus bilden Dienstleistungen - und die Möglichkeit, sie grenzüberschreitend
bereit zu stellen - eine wichtige Voraussetzung für die Ausweitung internationaler
Wertschöpfungsketten in und zwischen Unternehmen. Ganze Unternehmensfunktionen
(wie zum Beispiel Forschung und Entwicklung oder Produktion) und einzelne
Unterfunktionen (wie zum Beispiel Herstellung von Vorprodukten und Montage der
Endprodukte) werden dabei in verschiedenen Ländern durchgeführt; die
Wertschöpfungskette wird international "aufgespalten". Derartige Produktions-,
Leistungs- und Wissensverbünde (funktionale Netzwerke) sind ein wesentliches
Strukturelement der "neuen" internationalen Arbeitsteilung.
Regionale Verdichtung
Im Welthandel bilden sich neben funktionalen zunehmend auch regionale Netzwerke
heraus (Grafik "Inter- und intraregionale Handelsverflechtung 2001). Der
Globalisierungsprozess bedeutet daher nicht nur eine weltweite Verflechtung der
Volkswirtschaften, sondern auch eine räumliche Konzentration der Wirtschaftsaktivität
(Clusterbildung). Die drei Großregionen Europa, Nordamerika und Asien-Pazifik (Triade)
dominieren den Welthandel; sie liefern mehr als 80 Prozent der globalen Warenexporte.
Europa ist mit über 40 Prozent der weltweit größte Warenexporteur, obwohl sein Anteil
gesunken ist. Es folgen Asien-Pazifik mit 25 Prozent und Nordamerika mit über 15
Prozent; diese Regionen konnten ihren Anteil ausbauen. Die "peripheren" Cluster Afrika,
Lateinamerika und übriges Asien liegen weit hinter der Triade. Während Lateinamerika
aber aufgeholt hat, ist Afrika im Welthandel weiter zurückgefallen.
34
Die Handelsbeziehungen
konzentrieren sich zudem auf eine
kleine Anzahl von Staaten. Etwa die
Hälfte der weltweiten Warenexporte
wird von acht Ländern abgewickelt;
die Spitzengruppe bilden die USA,
Deutschland und Japan. Besonders
auffällig ist daneben die starke
Expansion des chinesischen
Außenhandels, der seit Beginn der
neunziger Jahre mehr als doppelt so
schnell gewachsen ist wie der globale
Handel insgesamt. Damit ist China
inzwischen der fünftgrößte
Warenexporteur in der Welt (Grafik
"Führende Länder in der
Weltwirtschaft").
Blickt man auf den Warenhandel
zwischen diesen Ländern, die
bilateralen Ströme, so zeigt sich
ebenfalls ein Muster der
Handelsverdichtung. Zum Beispiel
liefert Japan fast ein Drittel, China
ein Fünftel seiner Warenexporte in
die USA, die wiederum ein Fünftel
ihrer Exporte in Kanada absetzen.
Auch die enge deutsch-französische
Handelsverflechtung belegt die
Verdichtung im Welthandel: Mehr als
ein Zehntel der deutschen Exporte
geht nach Frankreich und umgekehrt
etwa ein Sechstel der französischen
nach Deutschland. Insgesamt sind
regionale und bilaterale
Konzentrationen damit ein
hervorstechendes Charakteristikum
des Welthandels.
Intraregionale Handelsströme haben
stark an Bedeutung gewonnen. Der
intraregionale Warenaustausch lag in
den fünfziger Jahren bei einem Drittel
des Welthandels, 1980 bei über 40
Prozent und macht heute bereits
mehr als die Hälfte aus. Der mit
Abstand größte intraregionale
Handelsstrom ist in Europa zu
verzeichnen. Allerdings nimmt der Anteil des innereuropäischen Handels am Welthandel
nicht mehr zu, sondern stagniert auf hohem Niveau. Demgegenüber expandiert der
Handel in Nordamerika und in der asiatisch-pazifischen Region erheblich schneller als der
Welthandel. In Lateinamerika und Afrika wiederum spielt der intraregionale Handel nur
eine geringe Rolle und wächst im Übrigen in ähnlichem Tempo wie der Welthandel.
Die Länder der Triade beherrschen auch den interregionalen Handel. Die größten
Handelsströme verlaufen zwischen Europa, Nordamerika und Asien-Pazifik. In diesem
"Dreieck" ist der transpazifische Handel zwischen Nordamerika und der asiatischpazifischen Region der weitaus gewichtigste interregionale Warenstrom, gefolgt vom
transatlantischen Handel zwischen Nordamerika und Europa und dem euro-asiatischen
Handel zwischen Asien-Pazifik und Europa. In Regionen wie Afrika und Lateinamerika
35
dominiert dagegen klar der interregionale Handel mit Industrieländern - ihre
Haupthandelspartner sind in diesem Falle Europa bzw. die Vereinigten Staaten. Es zeigt
sich also ein Spannungsverhältnis zwischen dem Bedeutungszuwachs des intraregionalen
Handels und einer wachsenden Handelsverflechtung in der Triade einerseits und der
Abhängigkeit weniger entwickelter Regionen vom interregionalen Handel mit den TriadeStaaten andererseits.
Wandel der Warenstruktur
Auch in sektoraler Hinsicht hat sich die Struktur des internationalen Handels erheblich
gewandelt. Das Vordringen des Dienstleistungshandels wurde bereits erwähnt. Im
Warensektor ist der ehemals dominierende Agrarhandel von annähernd 50 Prozent
(1950) auf einen Anteil von weniger als zehn Prozent (2001) des gesamten Handels
geschrumpft. Der Handel mit Bergbauprodukten und Energieträgern, der von fossilen
Brennstoffen wie Erdöl und Erdgas geprägt wird, ging in den achtziger Jahren stark
zurück. Darin zeigen sich die Folgen der Erdölpreiskrise von 1979/80: die
Energiesparmaßnahmen, die stärkere Nutzung nichtfossiler Energieträger und die
beschleunigte Erschließung heimischer Energiequellen. Diese Trends bestehen zwar
weiterhin, aber in abgeschwächter Form. Dementsprechend hat sich der Handel mit
Energieträgern bei etwa einem Zehntel des globalen Warenhandels stabilisiert. Das
dynamische Element in diesem Sektor ist hingegen der Handel mit Industriegütern.
Innerhalb des Industriegüterhandels haben sich die Gewichte deutlich zugunsten der
Informations- und Nachrichtentechnik verschoben. Die Produkte dieser Branche zeichnen
sich durch ständige Erneuerung (Innovation) aus, die aus einem hohen Einsatz von
Forschung und Entwicklung (Technologie) im Wertschöpfungsprozess resultiert. Auch der
Anteil chemischer und pharmazeutischer - ebenfalls wertschöpfungs- und
technologieintensiver - Produkte am Industriegüterhandel ist (leicht) gestiegen, während
andere - eher kapital- und arbeitsintensive - Bereiche wie der Handel mit Eisen und
Stahl, Automobilen, Textil- und Bekleidungserzeugnissen stagnieren oder an Gewicht
verloren haben. Dies bedeutet allerdings nur, dass sie langsamer als der insgesamt
florierende Industriegüterhandel gewachsen sind.
Den weltweiten Entwicklungen liegen unterschiedliche regionale Trends zugrunde. Die
Entwicklungsländer Afrikas, des Mittleren Ostens und Lateinamerikas und die
"Transformationsländer" (Länder im Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft) Mittelund Osteuropas sind noch in relativ hohem Maße (und teilweise zunehmend) vom Handel
mit landwirtschaftlichen Produkten und Rohstoffen abhängig. Führend in diesem
traditionellen Sektor des internationalen Warenhandels sind allerdings Nordamerika und
Westeuropa, was hauptsächlich durch eine künstliche Verbilligung der Erzeugung - und
des Exports - von Agrargütern durch Subventionen zu erklären ist.
Im Bereich Bergbau und Energie fließen hingegen die Handelsströme überwiegend aus
Entwicklungs- und Transformationsländern in die industrialisierte Welt, wobei der Mittlere
Osten mit seinen riesigen Ölexporten herausragt. Bei Industriegütern wiederum hängt die
Arbeitsteilung zwischen den Ländern wesentlich von der Art der gehandelten Produkte
bzw. ihrer sektoralen Zuordnung ab. Die Grundregel dabei ist, dass gleich entwickelte
Länder eher intraindustriellen Handel (zum Beispiel Maschinen gegen andere Maschinen),
ungleich entwickelte dagegen stärker interindustriellen Handel (zum Beispiel Maschinen
gegen Bekleidung) treiben.
Aus diesem Grunde ist der Handel zwischen Industrieländern (Nord-Nord-Handel) in
hohem Maße intraindustriell und damit auch weitgehend substitutiv: Ausländische
Produkte ersetzen inländische Erzeugnisse der gleichen Kategorie. Insgesamt ist der
Anteil des intraindustriellen Handels am gesamten Industriegüterhandel kräftig
gewachsen. Berechnungen zufolge lag er zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei etwa 50
Prozent und erreicht heute bereits mehr als 80 Prozent.
In der Angebotspalette der Entwicklungsländer spielt die Produktdifferenzierung noch
eine relativ geringe Rolle. Sie handeln deshalb bei Industriegütern überwiegend auf
interindustrieller/komplementärer Basis und mit Industrieländern (Nord-Süd-Handel).
Dabei werden arbeits- und rohstoffreich produzierte Waren gegen technologie- und
humankapitalintensive Produkte getauscht. Hierin spiegeln sich die unterschiedlichen
Kostenstrukturen der Länder und ihre unter-schiedliche Ausstattung mit
Produktionsfaktoren wider. In den Industrieländern sind die Lohnkosten hoch,
36
qualifizierte Arbeitskräfte ("Humankapital") und Technologie sind vergleichsweise
reichlich und Naturressourcen oft eher spärlich verfügbar, während es sich in
Entwicklungsländern häufig umgekehrt verhält. Industrieländer sind daher weitgehend
auf hochwertige Erzeugnisse spezialisiert und importieren hauptsächlich einfache
Produkte aus Entwicklungsländern.
Allerdings kommt dieses traditionelle Muster mehr und mehr ins Wanken. Viele
"Industrieländer der zweiten und dritten Generation" (Schwellenländer) fächern ihr
Angebot auf (diversifizieren) und stoßen dabei in den Bereich der Technologiegüter vor.
Damit verbessern sich nicht nur die Chancen für mehr Handel der Entwicklungsländer
untereinander (Süd-Süd-Handel). Diese Länder dringen vielmehr auch in die Domänen
der Industrieländer ein. Das beste Beispiel für einen solchen Prozess ist das heutige
Hochtechnologieland Japan, das noch vor wenigen Jahrzehnten den Status eines
Entwicklungslandes hatte. Aktuellere Beispiele sind die Erfolge etwa Südkoreas bei
Unterhaltungselektronik und Automobilen sowie Indiens und Israels bei
Softwareprodukten.
Dabei verändert sich das überkommene Muster des Nord-Süd-Handels. Unternehmen aus
Entwicklungsländern treten verstärkt als Konkurrenten auf Industrieländermärkten in
Erscheinung und umgekehrt. Gleichzeitig werden Entwicklungsländerstandorte immer
häufiger in Produktionsnetzwerke international tätiger, zumeist aus Industrieländern
stammender Unternehmen einbezogen. In diesem grenzüberschreitenden arbeitsteiligen
Wertschöpfungsprozess übernehmen sie in der Regel Teilfertigungen, bei denen in relativ
hohem Maße (importiertes) Sachkapital und (mehr oder weniger qualifizierte)
Arbeitskraft eingesetzt wird. Humankapital- und technologieintensive Prozesse finden
dagegen eher in Industrieländern statt.
Ein gutes Beispiel für diese komplementären Beziehungen innerhalb von
Wertschöpfungsketten ist der Handel mit Produkten der Informations- und
Nachrichtentechnik. Sein Anteil am Nord-Süd-Handel und auch am Süd-Süd-Handel mit
Industriegütern ist stark gewachsen und bildet hier bereits den größten Posten. Dies liegt
aber nicht so sehr daran, dass Entwicklungsländer selbstständig - "integriert" Hochtechnologiegüter in diesem Sektor produzieren und exportieren, sondern erklärt sich
eher durch die Auslagerung einzelner Produktionsstufen in den "Süden". Dort werden
nämlich hauptsächlich importierte Vorprodukte (wie zum Beispiel Mikrochips), die bereits
viel Technologie enthalten, mit relativ geringem Technologieeinsatz zu Endprodukten
(wie zum Beispiel PCs) zusammengesetzt. Aus diesem Grunde schlägt sich auch der
wachsende Entwicklungsländeranteil am Handel mit Technologiegütern nicht in einem
entsprechenden Einkommenszuwachs in Entwicklungsländern nieder; die
"einkommensträchtigen" Wertschöpfungsabschnitte werden bislang eher in
Industrieländern durchgeführt.
Grenzüberschreitende Unternehmensaktivitäten
Im Zuge der Globalisierung hat die Bedeutung von Unternehmen, die nicht nur im
Außenhandel tätig sind, sondern auch jenseits ihrer nationalen Grenzen Waren
produzieren und Dienstleistungen erbringen (multinationale oder transnationale
Unternehmen - MNU/TNU), rapide zugenommen. Gab es zu Beginn der neunziger Jahre
circa 7000 MNU, so existieren heute bereits etwa 65000 Muttergesellschaften und
850000 dazugehörige ausländische Tochtergesellschaften, die in allen Ländern der Welt
Güter erstellen und vermarkten, Forschung und Entwicklung betreiben und mit
Unternehmen der Gastgeberländer oder anderen ausländischen Unternehmen
kooperieren. Die jährlichen Umsätze der Auslandstöchter werden auf annähernd 20
Billionen US-Dollar geschätzt. Sie sind deutlich stärker als der internationale Handel
expandiert und übersteigen inzwischen den Weltexport von Waren und Dienstleistungen,
der sich auf weniger als acht Billionen US-Dollar beläuft, um ein Mehrfaches. Gleichzeitig
dominieren MNU im Welthandel. Auf sie entfallen etwa zwei Drittel der internationalen
Warenströme, wobei allein ein Drittel Intrafirmenhandel darstellt, das heißt Handel der
Muttergesellschaften mit ihren Auslandstöchtern und der Auslandstöchter untereinander
(Schwestergesellschaften).
37
Zur vorherrschenden Form der multinationalen Unternehmensexpansion haben sich Fusionen
und Übernahmen, im Unterschied zu Neugründungen im Ausland, entwickelt. So ist zum
Beispiel der britische Telekommunikationskonzern Vodafone durch die Übernahme des
deutschen Konkurrenten Mannesmann im Jahr 2000 zum - gemessen an den Kapitalanlagen
im Ausland - größten transnationalen Unternehmen in der Welt (außerhalb des Finanzsektors)
aufgestiegen. Im folgenden Jahr wurde der kontinuierliche und progressive Anstieg der
grenzüberschreitenden Fusionen und Übernahmen allerdings jäh unterbrochen. Im Jahr 2001
sank auch, erstmals wieder seit 1982, das reale Volumen des weltweiten Warenhandels. Aus
diesen Entwicklungen sollte jedoch noch nicht auf ein "Ende der Globalisierung" geschlossen
werden; es handelt sich eher um ein konjunkturell bedingtes Einhalten.
Obgleich das Bild der MNU durch "Giganten" wie Exxon Mobil, General Motors oder
DaimlerChrysler geprägt wird, deren Unternehmenswert das Bruttoinlandsprodukt von
Ländern wie Peru oder Ungarn übertrifft, stellen kleine und mittlere Unternehmen (KMU)
zahlenmäßig das weitaus größte Kontingent. Die multinationalen KMU investieren aber
vorzugsweise in benachbarten Ländern und präferieren zwischenbetriebliche
Kooperationen und Gemeinschaftsunternehmen (Joint Ventures) mit ausländischen
Partnern. Für sie ist es nämlich grundsätzlich schwieriger, jenseits der Grenzen zu
operieren. Neben höheren Informationskosten haben die KMU auch in der immer
wichtiger werdenden Finanzierungssphäre eindeutige Nachteile gegenüber den
Großkonzernen.
Strategien multinationaler Unternehmen
Die Globalisierungsstrategien der MNU lassen sich insgesamt in vier Kategorien
unterteilen:
 Ressourcenstrategien,
 Marktstrategien,
 Effizienzstrategien,
38
 Wertstrategien.
Die Erschließung von Rohstoffquellen zur Sicherung der Versorgung mit natürlichen
Ressourcen (Ressourcenstrategie - Resource-Seeking) ist das "klassische"
Investitionsmotiv international tätiger Unternehmen. Es ist auch weiterhin bedeutend,
aber in dieser Form nicht mehr dominant.
Das Hauptmotiv der multinationalen Unternehmen ist vielmehr die bessere
Durchdringung der Auslandsmärkte, das heißt die Sicherung und Ausweitung des
Absatzes im Ausland (Marktstrategie - Market-Seeking). Dieses Motiv ist umso wichtiger,
je größer der betreffende Markt ist. China, Indien und einige große lateinamerikanische
Länder sind daher bevorzugte Zielregionen für absatzorientierte Direktinvestitionen.
Liberale Einfuhrregelungen zwischen kleinen Ländern einer wirtschaftlich expandierenden
Region sind ein weiteres, annähernd gleichrangiges Investitionsmotiv. Aus diesem
Grunde haben Belgien, Irland, Neuseeland und die Niederlande in den neunziger Jahren
die höchsten Direktinvestitionsbestände (im Verhältnis zum Sozialprodukt) unter allen
OECD-Gastgeberländern verzeichnet.
Von wachsender Bedeutung sind Effizienzstrategien (Efficiency-Seeking), bei denen
Kostensenkung das entscheidende Motiv ist. Westliche Investoren in den mittel- und
osteuropäischen Ländern nutzen beispielsweise die Tatsache, dass dort das Lohnniveau,
zu Wechselkursen umgerechnet, deutlich niedriger als im Heimatland liegt, zur billigen
Herstellung von Vorleistungen für den eigenen Produktionsprozess oder auch zur
Endmontage mit anschließendem Export.
Immer häufiger betreiben multinationale Unternehmen im Ausland Fabriken, die auf
bestimmte Fertigungen spezialisiert sind und jeweils für den gesamten Weltmarkt
(beziehungsweise große - meist regionale - Segmente des Weltmarktes) oder für den
weltweiten Bedarf des Unternehmens selbst (respektive des Unternehmensnetzwerkes,
dem es angehört) produzieren.
Ein Beispiel ist die Montage von Farbfernsehgeräten im Norden Mexikos, nahe der Grenze
zu den USA, durch amerikanische und japanische Konzerne. Bei diesen Produkten ist
Mexiko heute der weltweit größte Exporteur. Niedrige Löhne, Zoll- und
Steuervergünstigungen, eine starke Kostenminderung durch hohe Stückzahlen und die
Vorteile, die aus einer räumlichen Ballung verwandter industrieller Aktivitäten herrühren
(Agglomerationsvorteile), sind wesentliche Ursachen dieser Entwicklung.
Immer wichtiger werden Wertstrategien (Asset-Seeking), die zusammen mit den
Bemühungen um mehr Effizienz die "neuen" - auch als "Netzwerkstrategien"
bezeichneten - Globalisierungsmaßnahmen der Unternehmen darstellen. Ziel ist die
Steigerung des Unternehmenswertes durch Nutzung strategischer Ressourcen (Strategic
Assets) des Auslandes. Konkret geht es hauptsächlich um den Zugang zu ausländischen
Wissensquellen (Knowledge-Seeking) und speziell zu lokal gebundenem Wissen (Tacit
Knowledge), das nicht international handelbar ist, sondern durch persönlichen Kontakt
am Arbeitsplatz weitergegeben wird. Außer der Produktion führen multinationale
Unternehmen deshalb verstärkt Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten im Ausland
durch, häufig in Kooperation mit wissenschaftlichen Einrichtungen vor Ort, wie zum
Beispiel Universitäten, die auf dem betreffenden Gebiet tonangebend sind.
Internationale Direktinvestitionen
Das Hauptinstrument multinationaler Unternehmenstätigkeit sind grenzüberschreitende
Direktinvestitionen. Im Unterschied zu anderen Formen der Auslandsinvestition, wie zum
Beispiel Anlagen in ausländischen Wertpapieren (Portfolioinvestitionen), werden
Direktinvestitionen in der Absicht vorgenommen, einen entscheidenden Einfluss auf die
Führung des neu gegründeten oder erworbenen Unternehmens im Ausland auszuüben.
Weltweit haben sie wesentlich schneller zugenommen als die internationalen
Handelsströme: Die globalen Bestandswerte der Direktinvestitionen im Ausland sind
zwischen 1980 und 2001 viermal so schnell gestiegen wie die Warenexporte und dreimal
so schnell, wie der internationale Dienstleistungshandel gewachsen ist.
39
Direktinvestitionen stammen weiterhin hauptsächlich aus Industrieländern. Allerdings
treten immer häufiger auch Unternehmen aus "Schwellenländern" wie China, Hongkong,
Taiwan, Malaysia, Singapur, Südkorea, Brasilien, Mexiko und Südafrika als multinationale
Akteure in Erscheinung. In Industrieländern werden auch die meisten Direktinvestitionen
getätigt, doch ist ihr Anteil an den weltweit eingeflossenen Direktinvestitionen seit 1990
von etwa drei Vierteln auf ungefähr zwei Drittel gesunken. Umgekehrt ziehen
Entwicklungs- und Transformationsländer verstärkt Direktinvestitionen an. Mit der
Umstrukturierung ihrer Volkswirtschaften haben vor allem China und die Länder Mittelund Osteuropas in den letzten Jahren als Investitionsstandorte erheblich an Bedeutung
gewonnen. Dabei hat China inzwischen traditionelle Empfängerländer wie Brasilien und
Mexiko übertroffen.
Zwischen den Industrieländern fallen insbesondere die unterschiedlichen Entwicklungen
in Westeuropa und Nordamerika auf. Während sich in Westeuropa die Schere zwischen
aus- und einfließenden Direktinvestitionen immer weiter geöffnet hat, haben sich die
Investitionsströme in Nordamerika zunehmend angeglichen. Von 1980 bis 2001 ist der
Anteil Westeuropas an den weltweit im Ausland getätigten Direktinvestitionen von 45 auf
57 Prozent gestiegen, während der Anteil Nordamerikas von 46 auf 25 Prozent gefallen
ist. Bei den aus dem Ausland empfangenen Direktinvestitionen sind dagegen die Anteile
weitgehend stabil geblieben, bei etwa 40 Prozent im Falle Westeuropas und 25 Prozent
im Falle Nordamerikas.
In sektoraler Hinsicht ist bei Direktinvestitionen, stärker noch als im Außenhandel, ein
Trend zum tertiären Sektor (Dienstleistungen) zu erkennen, insbesondere zu
Finanzdienstleistungen und Handelsunternehmen, während der Primärsektor (Rohstoffe)
weiter schrumpft und nunmehr auch der sekundäre Sektor (Industrieprodukte)
insgesamt Anteile einbüßt. Innerhalb des Industriesektors sind jedoch Direktinvestitionen
in wissensintensiven Branchen wie der Chemie-, Pharmazie-, Automobil-, Elektronik- und
Datenverarbeitungsindustrie ähnlich expansiv wie Dienstleistungsinvestitionen.
Direktinvestitionen sind auch ein Indikator für die Attraktivität und Qualität eines
Produktionsstandortes. Vom Zu- oder Abfluss derartiger Kapitalinvestitionen hängt es ab,
ob gewerbliche Arbeitsplätze entstehen oder fortfallen und ob die Produktion am Standort
wächst oder schrumpft. Allerdings wäre es falsch, von einem Überschuss abfließender
über zufließende Direktinvestitionen auf Standortmängel zu schließen. Direktinvestitionen
im Ausland dienen nämlich nicht zuletzt auch der Abstützung des Exports.
Unternehmensbefragungen in vielen Industrieländern zeigen, dass die Exportbegleitung,
also etwa der Aufbau eines kundennahen Vertriebs- und Servicenetzes im Ausland, eines
der wichtigsten Direktinvestitionsmotive ist.
Auswirkungen auf die Empfängerländer
40
Für Entwicklungsländer können die Firmennetzwerke große Wachstumschancen
bedeuten, da über solche Kanäle enorme Wissensströme laufen und das Know-how der
ausländischen Tochtergesellschaften auf die Wirtschaft des Gastgeberlandes
überspringen kann (Spillover-Effekt). Ermöglicht wird der Technologietransfer durch die
dramatischen Fortschritte in der Informations- und Kommunikationstechnik. Zugleich
haben die Unternehmen in den Aufnahmeländern Südostasiens oder Lateinamerikas
meist eine hohe Lernbereitschaft der heimischen Bevölkerung vorgefunden.
Obwohl multinationale Unternehmen in vielen Branchen, etwa in der Elektronik-,
Nahrungsmittel-, Glas- und Kunststoffindustrie, in Entwicklungsländern vor allem die
Niedriglohnkomponenten ihrer Erzeugnisse herstellen, bieten sie dort doch zahlreiche und
im Vergleich zur heimischen Wirtschaft gut bezahlte, gesicherte und mit sozialen
Leistungen verbundene Arbeitsplätze.
Alles in allem ist die Tätigkeit multinationaler Unternehmen in Entwicklungsländern damit
eine gute Grundlage für deren weltwirtschaftlichen Aufholprozess. Mit zunehmendem
Entwicklungsstand eines Landes emanzipieren sich zudem immer mehr heimische Firmen
und übernehmen als Lizenznehmer oder Kooperationspartner Produktions- oder
Dienstleistungsfunktionen vom ursprünglichen Direktinvestor.
Die positiven Impulse für Beschäftigung und Einkommen vor Ort haben bewirkt, dass
multinationale Unternehmen von den Ländern der Dritten Welt als Direktinvestoren
umworben werden. Allerdings gibt es in Industrieländern Unternehmen, etwa in der
chemischen Industrie und in der Metallerzeugung, die einen hohen Verbrauch an
Umweltressourcen haben und niedrige Umweltstandards in Entwicklungsländern nutzen,
um Investitionskosten zu sparen. Auch gibt es Investoren, die sich undemokratischer und
die Menschenrechte missachtender Regime bedienen, um billige Arbeitskräfte besser
ausbeuten zu können.
Die Verletzung von Umwelt- und Sozialstandards ist allerdings keine zwingende
Begleiterscheinung der Expansion multinationaler Unternehmen. Empirische Studien
zeigen eher ein gegenteiliges Bild. Staaten mit einem relativ niedrigen Niveau sozialer
Regelwerke erhalten danach nur geringe Investitionszuströme, während Länder, in denen
relativ hohe Sozialstandards vorherrschen, auch aus diesem Grunde stärkere Zugänge
verzeichnen.
Multinationale Unternehmen, die im Heimatland angesichts strenger Auflagen bereits
Erfahrungen im betrieblichen Umweltschutz gesammelt haben, transferieren außerdem in
beträchtlichem Umfang "saubere" Technologien und umwelttechnisches Know-how in
Entwicklungsländer. Umweltstandards wie die Norm ISO 14001, mit der Betriebe
zertifiziert werden, die ihre Prozesse umweltschonend ausgerichtet haben (zum Beispiel
in der Abfallentsorgung), finden auch in Entwicklungsländern mit hohen
Direktinvestitionen vermehrt Akzeptanz.
Ausgewählte Wirtschaftsbereiche
Die Unternehmen sind den Einflüssen der Globalisierung unterschiedlich stark ausgesetzt.
Auch die jeweils eigenen Möglichkeiten, die Globalisierung aktiv zu nutzen, sind von
Branche zu Branche, von Unternehmen zu Unternehmen verschieden. Bevor dies hier
anhand konkreter Beispiele gezeigt wird, sei es kurz in allgemeiner Form und in den
Kategorien der Handelstheorie und Industrieökonomik skizziert. Die Unterschiede
ergeben sich vor allem aus
 der Standortgebundenheit des Unternehmens (Rohstoffbasis, Transportkosten,
Qualifikation des Arbeitskräfteangebots),
 den Faktoranforderungen und Faktorintensitäten (Einsatzverhältnis der
Produktionsfaktoren Arbeit, Kapital und Wissen) in der Produktion,
 den Möglichkeiten, die Produktion arbeitsteilig zu gestalten (räumliche
Zerlegbarkeit der "Wertschöpfungskette"),
 den Produktionskostenverläufen in Abhängigkeit von der hergestellten Stückzahl,
das heißt je mehr produziert wird, desto geringer sind die Durchschnittskosten pro
Stück (Skalenerträge),
 den Eigenschaften der Produkte (Homogenitätsgrad, Nachahmbarkeit,
Austauschbarkeit, Veraltensgeschwindigkeit) und
41

den Wettbewerbsbedingungen auf den Märkten ("Bestreitbarkeit" der Märkte,
Bedeutung technologischer Marktzutrittsschranken).
Wichtig ist auch, ob der Staat als Regulierer, Eigentümer, handelspolitischer Akteur,
Auftrags- oder Subventionsgeber ein besonderes strategisches, strukturelles oder
soziales Interesse ins Spiel bringt.
Energiewirtschaft
Steinkohle bestimmter Güte ist ein "homogenes", das heißt wegen seiner
weitestgehenden Gleichartigkeit gegenseitig austauschbares Produkt, bei dem der
Abnehmer kaum Vorlieben für bestimmte Anbieter hat, so dass der Preis zum wichtigsten
Unterscheidungsmerkmal wird.
Demzufolge ist die teure deutsche Ruhrkohle im Prinzip stark der überseeischen
Konkurrenz ausgesetzt. Die Produktionskosten etwa in Südafrika oder Australien sind
zwar erheblich niedriger als in Deutschland, doch bilden die hohen Transportkosten einen
begrenzten natürlichen Einfuhrschutz. Nach der Öffnung Ostmitteleuropas ist nun mit der
oberschlesischen Kohle eine transportkostengünstigere Konkurrentin hinzugekommen.
Außerdem kann Steinkohle in vielen Fällen leicht durch billigeres Erdöl oder Erdgas
ersetzt (substituiert) werden.
Nun bewirkte ein strategisches Interesse des Staates an der "energiewirtschaftlichen
Versorgungssicherheit" - kein Stromausfall und kein Fahrverbot bei einem Lieferboykott
der Erdöl produzierenden Staaten - und an der "sozialpolitischen Abfederung des
Strukturwandels" - vor allem Verhinderung regional konzentrierter Massenarbeitslosigkeit
bei massierten Zechenstilllegungen - die Zahlung hoher Produktionsbeihilfen
(Subventionen). Diese wurden jedoch im EU-Rahmen wettbewerbsrechtlich für unzulässig
befunden. Deshalb soll die Steinkohlenbeihilfe aus dem Bundeshaushalt von umgerechnet
etwa 3,5 Milliarden Euro im Jahre 1998 auf weniger als zwei Milliarden Euro im Jahre
2005 zurückgeführt werden.
Außerdem ist geplant, die Steinkohle-Subventionen in Nordrhein-Westfalen von 2006 bis
2012 jährlich um 40 Millionen Euro zu kürzen. Weil aber die deutsche
Steinkohlenproduktion wegen der ungünstigen Flözlagen und der hohen Lohnkosten auf
gleichbleibend hohe Subventionen angewiesen wäre, um mit der Importkohle preislich
konkurrieren zu können, und weil in Anbetracht des regional wie nach Energieträgern
beachtlich diversifizierten (aufgefächerten) Energieangebots auch das
Versorgungsargument nicht mehr greift, sind die Tage des deutschen
Steinkohlenbergbaus gezählt; das Ruhrrevier muss noch stärker umstrukturiert werden
als bisher. Erdöl ist ein Musterbeispiel für den Einfluss der Gobalisierung auf die
nationalen Volkswirtschaften. Es dient als Vorprodukt für zahlreiche Güter und ist eine
zentrale Energiequelle für Haushalte, Industrieunternehmen und den Verkehrssektor. Der
weltweit bedeutendste Energierohstoff ist zugleich eines der am meisten gehandelten
Produkte.
Dabei wird das Angebot weitgehend von der Organisation der Erdöl exportierenden
Länder (Organization of Petroleum Exporting Countries - OPEC) kontrolliert, die
regelmäßig die Fördermengen ihrer Mitgliedsstaaten festsetzt. Da diese circa 60 Prozent
des insgesamt geförderten Öls liefern, übt das OPEC-Kartell entscheidenden Einfluss auf
den Preis des Produktes aus, von dessen Entwicklung wiederum der Gang der
Weltwirtschaft mitbestimmt wird. Im Krieg um den erdölreichen Irak im Frühjahr 2003
war der Ölpreis den stärksten Schwankungen seit langer Zeit ausgesetzt. Der Preis der
Sorte Brent stieg von circa 23 US-Dollar pro Fass/Barrel (ein Barrel entspricht 159 Litern)
im November 2002 auf über 34 US-Dollar Anfang März 2003, bevor er Anfang April nach Kriegsende - wieder auf knapp 25 US-Dollar zurückfiel.
Textilindustrie
Bekleidungsgegenstände sind arbeitsintensive Güter, die teils auf geringe, teils auf
ausgeprägte Vorlieben der Verbraucher treffen. Die Hochlohnländer mit ihren
anspruchsvollen Käufern überlassen folglich die Produktion der austauschbaren
"Stapelware" den Entwicklungsländern, da sie mit deren niedrigen Löhnen nicht
konkurrieren können und auch die Transportkosten gering sind. Sie besetzen aber den
Teil des Marktes, in dem durch Einsatz von hochwertigen Dienstleistungen (Design,
Materialveredelung, Markenpflege) hoch differenzierte und prestigebesetzte Ansprüche
bedient werden und die Zahlungsbereitschaft der Käuferschaft groß ist. Da die Produkte
42
aber relativ leicht imitiert werden können und der Urheberschutz bzw. dessen Kontrolle
international trotz WTO immer noch zu wünschen übrig lässt, sind die Erzeuger immer
wieder darauf angewiesen, neue Produkte mit frischem Prestigewert herauszubringen.
Der Wettbewerbsdruck wird durch
Handelsliberalisierung verschärft: Es
ist vorgesehen, den Textilsektor, der als
einziger Industriesektor bislang von
den multilateralen Handelsregeln
ausgenommen war, bis Ende 2004 in
die WTO-Disziplin "einzubinden".
Dies bedeutet, dass die zahlreichen
mengenmäßigen
Handelsbeschränkungen (Quoten) bei
Textil- und Bekleidungserzeugnissen,
die noch immer vor allem den Export
der Entwicklungsländer in
Industrieländer stark behindern, dann
beseitigt sein sollen. In der laufenden
WTO-Verhandlungsrunde (DohaRunde) sollen außerdem die relativ
hohen Zölle im Textilsektor deutlich
reduziert werden. Beides zusammen
(Quotenabbau und Zollsenkung) wird
auf der einen Seite zu beträchtlichen
Wohlfahrtsgewinnen in der Welt
führen - die Rede ist von über 300
Milliarden US-Dollar pro Jahr -, aber
auch in einzelnen Ländern und
Regionen erhöhte Arbeitslosigkeit
hervorrufen und eine Beschleunigung
des Strukturwandels erzwingen.
Information und Kommunikation
Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) sind Teil der Neuen Ökonomie
(New Economy), die sich in den neunziger Jahren immer stärker herausgebildet hat. Die
Neue Ökonomie schließt auch die Mikroelektronik, Bio- und Gentechnologie ein. Sie bildet
das Gegenstück zu den traditionellen Wirtschaftszweigen der Alten Ökonomie wie zum
Beispiel Textil, Kohle und Stahl. Information gilt als Rohstoff der New Economy. Motor
des raschen Wachstums im IKT-Sektor sind technologische Entwicklungsschübe. Dadurch
sind zum Beispiel die Kosten der Speicherung, Analyse und Verbreitung von
Daten/Informationen in den letzten Jahren kräftig gesunken. Der Informationsfluss im
World Wide Web (Internet) wird kaum mehr durch nationale Grenzen gehemmt.
Dementsprechend schreitet die Globalisierung des IKT-Sektors schnell voran. Weltweit
wächst der Handel mit IKT-Gütern fast doppelt so schnell wie der gesamte Güterhandel.
Die rapide Entwicklung der IKT-Branche verzeichnet jedoch nicht nur Gewinner. Während
die Informationstechnologie für Schwellenländer wie zum Beispiel Mexiko neue
Wachstumschancen eröffnet, fehlt in Entwicklungsländern wie einer Reihe afrikanischer
Staaten noch die Infrastruktur für moderne Kommunikation. In den ökonomisch
stärksten Ländern, mit weniger als einem Sechstel der Weltbevölkerung, leben mehr als
drei Viertel der Internetnutzenden. Auch innerhalb einzelner Staaten droht die
Entstehung einer digitalen Kluft (Digital Divide), wie das Beispiel Bangalore zeigt - der
technologische Übersprung von dieser Softwaremetropole Indiens auf die übrige
Wirtschaft des Landes ist bisher anscheinend ausgeblieben. Gleichzeitig besteht in
Entwicklungsländern aber die Möglichkeit einer relativ kostengünstigen IKT-Einführung,
43
da technische Entwicklungsstufen übersprungen werden können. Auf diese Weise könnte
der Wissens- und Bildungsrückstand in diesen Ländern deutlich verringert werden.
Forschung und Entwicklung
Einen immer größeren Raum im Wirtschaftsgeschehen nehmen Forschungs- und
Entwicklungsaktivitäten ein. Forschung und Entwicklung (FuE) ist ein Schlüsselfaktor für
die internationale Wettbewerbsfähigkeit einzelner Unternehmen und die technologische
Leistungsfähigkeit ganzer Volkswirtschaften. Dieser "Querschnitts-Sektor", der ähnlich
wie der IKT-Sektor Unternehmens- und Branchengrenzen übersteigt und in erheblichem
Umfang externe Effekte erzeugt (und damit Nutzen für die Allgemeinheit stiftet), erhält
deshalb auch starke staatliche Unterstützung. So ist der Staat etwa als Betreiber und
Finanzier von Grundlagenforschung tätig, fördert anwendungsorientierte Forschung und
technologische Entwicklung/Innovation und setzt Impulse auf Technologiefeldern, die
besonders zukunftsträchtig erscheinen und ein breites Anwendungsspektrum verheißen
(Beispiele: Nanotechnologie, Biotechnologie oder Mikrosystemtechnik). Außerdem ist er
Wegbereiter für technologische Kooperation zwischen Unternehmen und
wissenschaftlichen Einrichtungen (durch Förderung von "Verbundprojekten") oder
Veranstalter technologischer "Schönheitswettbewerbe" (Beispiel: "BioRegio" zwischen
Regionen in Deutschland). Neuerdings zieht sich jedoch der Staat in den meisten
Industrieländern angesichts steigender Defizite in den öffentlichen Kassen mehr und
mehr aus der Finanzierung privater FuE-Aktivitäten zurück, während das FuEEngagement von Seiten der Wirtschaft zunimmt.
FuE-intensive Industriezweige (zum
Beispiel Luft- und Raumfahrt,
Nachrichten- und Computertechnik)
und Dienstleistungsbranchen mit
hohem Wissensanteil (zum Beispiel
Nachrichtenübermittlung,
Datenverarbeitung oder
Softwareentwicklung) expandieren
deutlich stärker als technologisch
weniger anspruchsvolle Tätigkeiten.
In den technologieintensiven
Bereichen schreitet auch die
internationale Arbeitsteilung schneller
voran als in der übrigen Wirtschaft.
Dies ist zum einen am wachsenden
Gewicht FuE-intensiver Produkte im
Welthandel zu erkennen. Dabei
zeigen Erzeugnisse der
Spitzentechnologie (Beispiele:
Elektronische Bauelemente,
Datenverarbeitungsgeräte,
Prozesssteuerungsanlagen,
pharmazeutische Substanzen) die
stärkste Dynamik: Ihr Anteil am
Welthandel ist von rund 15 Prozent
gegen Ende der achtziger Jahre auf
gegenwärtig etwa 25 Prozent
angestiegen, während das Segment technologisch einfacher Produkte kontinuierlich
geschrumpft ist.
Zum anderen findet eine immer stärkere Vernetzung technologischer Aktivitäten in der
Welt statt. Immer öfter vergeben Unternehmen FuE-Aufträge an ausländische
Unternehmen und Forschungseinrichtungen, um Entwicklungs- und Innovationszeiten zu
verkürzen und Zugang zu spezifischem und komplementärem Wissen zu gewinnen, das
intern nicht verfügbar ist. Darüber hinaus investieren die Unternehmen in zunehmendem
44
Maße selbst im ausländischen FuE-Sektor. Die chemisch-pharmazeutische Industrie, die
am stärksten internationalisierte Branche der deutschen Wirtschaft, tätigt bereits etwa
ein Drittel ihrer FuE-Ausgaben im westlichen Ausland.
Häufiges Motiv der FuE bei ausländischen Tochtergesellschaften inländischer
Unternehmen ist die Anpassung im Heimatland entwickelter Produkte an die lokalen
Gegebenheiten im Gastgeberland (Anpassungsentwicklung). Verstärkt entwickeln die
Auslandstöchter der Unternehmen aber auch eigenständig neue Produkte
(Innovationsentwicklung), die weltweit vermarktet werden, und führen grundlegende
Entwicklungsaufgaben für das gesamte Unternehmen oder den Gesamtmarkt einzelner
Geschäftsbereiche des Unternehmens durch.
Voraussetzung hierfür ist die Erschließung ausländischer Technologiequellen. Deshalb
unterhalten zum Beispiel zahlreiche deutsche Unternehmen eigene Forschungszentren in
der Nähe führender amerikanischer Universitäten. Dies zeigt, dass die Nutzung
komparativer Vorteile des Forschungsstandortes ein wichtiges Motiv bei den FuEAktivitäten deutscher Unternehmen in den USA ist. Weitere Motive kommen hinzu. So
bevorzugen einige deutsche Pharma- und Nahrungsmittelunternehmen für ihre
Forschungsabteilungen US-amerikanische Standorte, weil sie dort weniger strengen
gentechnologischen Rechtsbestimmungen unterworfen sind und leichteren Zugang zu
den einschlägigen Forschungszentren haben.
Bauwirtschaft
Die Bauwirtschaft galt bis vor kurzem als einer der Produktionsbereiche, die der
Globalisierung am wenigsten ausgesetzt sind. Hohe Transportkosten für Baustoffe,
Immobilität des Endprodukts, überwiegend handwerkliche Bautechnik, Regionalität des
Facharbeitermarktes, nationale Bauvorschriften und Zugangsbeschränkungen
(öffentliches Vergabewesen) schützten sie vor internationaler Konkurrenz. Dies hat sich
radikal geändert: Immer mehr Teile werden fabrikmäßig vorgefertigt (Elementbauweise,
Fertighäuser), sodass sowohl die Transportkosten, bezogen auf die Wertschöpfung, als
auch in der Produktion die Stückkosten in Abhängigkeit von der produzierten Menge
sinken. Für größere öffentliche Projekte besteht Ausschreibungspflicht, und die
Auftraggeber dürfen heimische Anbieter dabei nicht mehr in ähnlichem Maße wie früher
bevorzugen.
Entsprechend diesen Veränderungen hat sich auch die Marktstruktur internationalisiert.
Wenige Großunternehmen beherrschen den Markt für Großprojekte. Sie können ihre
gesamte Baulogistik international organisieren und sich die preiswertesten Zulieferer
aussuchen. Damit verweisen sie die traditionell mittelständische Bauwirtschaft mehr und
mehr auf die regionale und lokale Nischenproduktion in Form von Eigenheimen,
begrenzten Tiefbauarbeiten und Instandsetzungen. Um im Wettbewerb bestehen zu
können, setzen kleine und mittlere Unternehmen vielfach auch preiswerte Arbeitskräfte
aus dem Ausland ein.
Unter diesen Bedingungen werden kurzfristig nach Tarif bezahlte Bauwerker immer
häufiger arbeitslos; mittelfristig geraten auch die Tariflöhne unter Druck. Um einer
solchen Entwicklung entgegenzutreten, wurden in der Europäischen Union
"Entsenderegelungen" eingeführt. Das deutsche Arbeitnehmer-Entsendegesetz etwa
bestimmt, dass für ausländische Arbeiter auf deutschen Baustellen der im Tarifvertrag für
die deutsche Bauwirtschaft festgelegte Mindestlohn gilt. Langfristig wird jedoch der Beruf
des Bauarbeiters von den Einkommenschancen her weniger attraktiv. Es sei denn, die
heimischen Interessenten bilden sich besser aus und besetzen das - wachsende - obere
Segment der bauwirtschaftsbezogenen Berufe.
Dienstleistungen
Besonders geschützt bzw. national zersplittert waren bis vor kurzem auch die
Dienstleistungsmärkte. Dies gilt für viele Sparten auch heute noch, so vor allem für
Handwerk, Reinigung, Gesundheits- und Hygienedienste, aber auch für öffentliche und
soziale Dienstleistungen im weiteren Sinne. Dagegen sind die - auch oder ausschließlich unternehmensnahen Dienste heute einerseits stark der internationalen Konkurrenz
ausgesetzt und können andererseits selber Auslandsmärkte besetzen oder mit
ausländischen Partnern kooperieren. Oft ist die Globalisierung hier sogar extrem
ausgeprägt. Elektronische Dienste sind überhaupt nicht mehr standortgebunden. Die
großen Banken sind allgegenwärtig. Versicherungspolicen können europaweit vertrieben
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werden. Auch Unternehmen aus Drittländern können sich niederlassen und haben dann
die gleichen Rechte.
Die großen Anwaltskanzleien, Steuer- und Unternehmensberatungsbüros sind in
angelsächsischem wie in deutschem und französischem Recht gleichermaßen zu Hause.
Allerdings handelt es sich hier vielfach um Aktivitäten, bei denen das Vertrauen der
Kundschaft eine besondere Rolle spielt. Sie bevorzugt deshalb meist bewährte heimische
Anbieter. Doch längst haben diese mit ausländischen Partnern Allianzen gebildet oder mehr noch - ausländische Firmen übernommen, um deren standortgebundenes
Vertrauenskapital zu nutzen. Diese Tendenz ist mittlerweile im Dienstleistungssektor
ausgeprägter als in der Industrie und unter den Dienstleistungsbranchen besonders stark
bei den Finanzdiensten und den unternehmensnahen Diensten.
Allerdings wird die Internationalisierung des Dienstleistungssektors noch vielfach durch
staatliche Interventionen erheblich beeinträchtigt. Nicht Zölle und Quoten
(Grenzschranken), wie in der Industrie, sondern Regulierungen im Inneren der Länder
(Inlandsschranken) bilden im Dienstleistungssektor das Haupthindernis gegen mehr
internationale Arbeitsteilung. Vorschriften, Auflagen und Beschränkungen
unterschiedlichster Art erschweren hier den Marktzugang ausländischer Anbieter und
diskriminieren diese gegenüber inländischen Unternehmen.
Verbreitet sind ebenfalls Diskriminierungen zwischen ausländischen Unternehmen aus
verschiedenen Ländern. In der Uruguay-Runde des GATT wurde mit dem Allgemeinen
Dienstleistungsabkommen (General Agreement on Trade in Services - GATS) die
Grundlage für den Abbau der Zugangshindernisse und Diskriminierungen geschaffen, und
in zwei sektoralen Abkommen (Telekommunikation und Finanzdienstleistungen) wurden
bereits erste Liberalisierungserfolge erzielt.
Die laufende Doha-Runde der WTO soll das Regulierungsdickicht weiter lichten und mehr
Marktzugang, Gleichbehandlung in- und ausländischer Unternehmen (National
Treatment) und Meistbegünstigung (Gleichbehandlung ausländischer Anbieter)
gewährleisten. Dabei wird es in einigen "sensiblen" Bereichen zu harten
Auseinandersetzungen kommen, etwa im Bereich öffentlicher Versorgungsleistungen
(Gesundheitswesen, soziale Dienstleistungen, Bildung) oder bei audiovisuellen
Dienstleistungen.
Die Europäische Union will zum Beispiel, entgegen den Forderungen der USA, die
Bevorzugung europäischer audiovisueller Produktionen (in Fernsehprogrammen und bei
der Filmförderung) beibehalten und macht hier - im Verein mit mächtigen
Interessengruppen - die "kulturelle Ausnahme" geltend. Danach würde das Gut "Wahrung
kultureller Vielfalt" über das Gut "Freihandel" gestellt.
Von besonderem Interesse für Entwicklungsländer ist eine Liberalisierung bei der
Freizügigkeit der Arbeitskräfte. Einige Industrieländer möchten diese verhindern, weil sie
negative Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt fürchten, die eine "vorübergehende Einreise
natürlicher Personen zur Erbringung von Dienstleistungen" haben könnte.
Quellentext
Wachstumssektor Dienstleistungen
In deutschen Programmkinos bekommt das "sehr geehrte Publikum" dieser Tage einen
irritierenden Spot zu sehen. "Der angekündigte Film musste leider aus dem Programm
genommen werden", steht da in weißer Schrift auf schwarzer Leinwand. Schnitt. "Er
wurde mit Hilfe öffentlicher Filmförderung finanziert." Schnitt. "Das bedeutet einen klaren
Verstoß gegen die Prinzipien des freien Welthandels." Schnitt.
Verstoß gegen den freien Welthandel? So bestimme es, erklärt das Schriftband in den
Kinos weiter, das General Agreement on Trade in Services, kurz GATS, das "am 1. 1.
2005 in Kraft getreten" sei. Die Zukunftsvision des globalisierungskritischen Netzwerkes
Attac endet lakonisch: "Sie sehen statt dessen einen aktuellen Blockbuster." Denn
Hollywood-Produktionen rechnen sich von allein. "Gute Unterhaltung. Ihre WTO."
[...] Reine Panikmache oder reale Perspektive? Anfang dieser Woche (erste Aprilwoche
2003 - Anm. d. Red.) hat jedenfalls die heiße Phase bei einem der umstrittensten
Themen der laufenden Welthandelsrunde begonnen. Bei der WTO trudeln seit dem 31.
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März die Liberalisierungsangebote und -forderungen für den Dienstleistungssektor ein,
die Regierungen aus aller Welt an andere Länder gerichtet haben. Bis zum Herbst wird
um Kompromisse gerungen, im September müssen die Minister im mexikanischen
Cancœn verhandeln, und spätestens 2005 soll der neue GATS-Vertrag unterschrieben
sein. [...]
Dienstleistungen sind ein Riesengeschäft. Allein im vergangenen Jahr wurden mit dem
Service an Mensch, Maschine und Umwelt weltweit 1,34 Billionen Dollar umgesetzt. In
den OECD-Ländern erwirtschaftet dieser Sektor inzwischen 60 Prozent des
Bruttoinlandsproduktes, er beschäftigt zwei von drei Arbeitnehmern. Schon jetzt
exportiert Europa jährlich Services im Wert von 300 Milliarden Dollar; die Reinigung von
Abwasser, den Verkauf von Versicherungen oder den Betrieb von Telefonnetzen.
Doch noch beschränkt sich der Anteil der Dienstleistungen auf nur ein Fünftel des
gesamten Welthandels, noch hemmen Zölle und nationale Auflagen das Wachstum.
Würden sie abgebaut, könnten laut einer OECD-Studie jährlich Wohlfahrtsgewinne von
130 Milliarden Dollar entstehen. Kein Wunder, dass in den Blütenträumen der
Liberalisierungsfans alle Handelshemmnisse schnell aus dem Weg geräumt werden. [...]
So fordert der Vertrag, der als Teil des Welthandelsabkommens 1995 in Marrakesch von
der Bundesregierung und mehr als 140 weiteren Ländern unterzeichnet wurde, die
"fortschreitende Liberalisierung" sämtlicher Dienstleistungsmärkte. Kontinuierlich soll der
globale Handel mit Planung und Kompetenz, Versicherungen und Sozialleistungen
ausgeweitet werden, in immer mehr Ländern, auf zwölf Feldern vom Transport bis zum
Tourismus, von Post- und Kurierdiensten bis zur Energieversorgung. [...] Die
empfindlichsten Bereiche Bildung, Gesundheit und audiovisuelle Dienstleistungen
hingegen sind ausdrücklich ausgeklammert. Also keine schwarzen Leinwände [...].
Nichtregierungsorganisationen fürchten, dass GATS ganz unterschiedlichen Ländern die
gleichen Technologien, gleichen Systeme, gleichen Entwicklungswege aufdrängt. Zudem
ohne Rückfahrkarte, wenn sich die Strategie nicht bewähren sollte. Denn wer sich beim
GATS einmal zur Marktöffnung verpflichtet hat, der muss bei einer Umkehr hohe
Kompensationen bezahlen. [...]
"Die WTO wird niemanden zwingen, seine Dienstleistungsmärkte für ausländische
Konkurrenten zu öffnen", beschwichtigt WTO-Chef Supachai Panitchpaktdi. [...] Die
Realität jedoch, wissen Beobachter von Handlungsrunden, entsteht am Ende unter Druck,
nach dem Motto: gibst du mir, geb ich dir. [...] Starke Länder sind in der Lage, die
Liberalisierung zu steuern und zu ihrem Vorteil zu nutzen. Doch die Ärmeren? [...] 23
Staaten, darunter viele Schwellenländer, haben bislang GATS-Forderungen an die
Europäische Union gerichtet - während diese in 109 Ländern Liberalisierungsschritte
fordert. Dies zeigt, wer an dieser Entwicklungsrunde das größte Interesse hat.
[...] "Während sie ihre Versprechen nicht erfüllen, drängen sie uns ihre Interessen auf",
sagt Aileen Kwa. Die Wissenschaftlerin aus Bangkok zieht in einer Studie für die DritteWelt-Organisation Focus on the Global South eine traurige Bilanz: "Viele
Entwicklungsländer sind sehr nervös, dass ihre kleinen Dienstleistungsindustrien
demnächst der Konkurrenz aus dem Norden ausgeliefert werden." Sie fürchteten zudem,
dass neue Regeln zum Schutz von ausländischen Direktinvestitionen und neue
internationale Wettbewerbsregeln ihren Spielraum weiter einschränken.
Hinzu kommt, dass die Interessen der armen Staaten bei der WTO in Genf nicht so gut
vertreten werden wie jene der Reichen. Oft können sich Entwicklungsländer nur einen
Vertreter leisten, und der sieht sich dann einer Phalanx von gut ausgebildeten
Handelsjuristen aus Washington und Brüssel gegenüber. Wer würde da nicht kapitulieren.
[...]
Christian Grefe, Petra Pinzler, "Immer fair, sagt die Katze zu den Mäusen", in: Die Zeit
Nr. 15 vom 3. April 2003.
Finanzmärkte
Nirgendwo hat sich die Globalisierung so deutlich beschleunigt wie in der Finanzsphäre.
Die Mobilisierungskosten sind hier besonders gering. Seit in der EU, in der OECD und
auch weltweit nicht mehr oder kaum noch Kapitalverkehrsbeschränkungen existieren,
können Anleger minutenschnell ihr Geldvermögen (Portefeuille) international
umschichten oder ihr flüssiges Geld in den verschiedensten Währungen anlegen. Die
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Schwankungen der Devisenmärkte (Volatilität) waren ein Grund für die politisch
Verantwortlichen, den Europäischen Binnenmarkt, zu dem wesentlich auch die
Kapitalverkehrsfreiheit gehört, durch eine Währungsunion zu "krönen". Denn dadurch
wird die durch Volatilität verursachte Unsicherheit bei grenzüberschreitenden
Transaktionen in Europa ausgeschaltet. Auf der Grundlage wechselseitig verflochtener
(integrierter) Märkte und sich angleichender (konvergenter) Wirtschaftspolitik wurden die
nationalen Währungen durch die Einheitswährung "Euro" ersetzt.
Voraussetzung dafür war, dass die zwölf Teilnehmerländer - es fehlen Großbritannien,
Dänemark und Schweden - die so genannten Konvergenzkriterien erfüllten: Sie mussten
ihre Preise erfolgreich stabilisiert haben, ihr Zinsniveau durfte nicht wesentlich von dem
der preisstabilsten Mitgliedstaaten abweichen, ihre laufende Staatsverschuldung durfte
und darf künftig nicht die Marke von drei Prozent, die ihres gesamten öffentlichen
Schuldenstandes nicht die Marke von 60 Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsproduktes
überschreiten.
Der Schritt zur Währungsunion bringt für die Mitglieder einige Vorteile mit sich, wie zum
Beispiel die Verminderung von Unsicherheit und eine Vereinfachung ökonomischer
Transaktionen. Er bedeutet für sie aber zugleich ein weiteres Stück Globalisierung bzw.
Regionalisierung, da er alle anderen Systemelemente, vor allem die nationalen Löhne,
unter verstärkten Anpassungsdruck setzt. Denn bei einer Einheitswährung kann sich ein
beteiligtes Land dem Kostenwettbewerb nicht mehr einfach durch eine
Währungsabwertung entziehen. Der Markt wird durchsichtiger und der Wettbewerb noch
härter.
Der Handel an den Devisenmärkten konzentriert sich seit der Einführung des Euro auf
das Währungsdreieck US-Dollar - Euro - Yen. Daneben haben auch das Britische Pfund
und der Schweizer Franken erhebliches Gewicht. Hauptakteure sind neben den beteiligten
Notenbanken die "institutionellen Anleger", also "Kapitalsammelstellen" wie
Versicherungen, Pensions- und Investmentfonds. Sie geben die Richtung vor, an der sich
die kleinen Anleger orientieren. Der Euro beeinflusst in hohem Maße das Marktverhalten
der Anleger. In Europa zählt nun nicht mehr das Länderrisiko, sondern nur noch das
Branchen- oder das individuelle Unternehmensrisiko.
Entkoppelung der Finanz- und Warenmärkte
Tagtäglich werden kaum vorstellbare Beträge an Finanzkapital "um den Globus gejagt".
Ziel ist es, Ertragsdifferenzen - zum Beispiel Zinsunterschiede zwischen verschiedenen
Währungsräumen - auszunutzen (Arbitrage). Solche Differenzen ergeben sich vor allem
aus von den Marktteilnehmern erwarteten Wechselkursänderungen. Diese sind nach wie
vor auch Ausdruck von Unterschieden in den so genannten Fundamentaldaten: Wenn die
Preissteigerungsraten in den einzelnen Ländern, ausgedrückt in der jeweiligen
Landeswährung, zu unterschiedlich sind, entsprechen die Umrechnungskurse bald nicht
mehr der gegenseitigen "Kaufkraftparität" und müssen daher angepasst werden.
Ähnliches gilt, wenn ein Land auf Dauer mehr Waren und Dienstleistungen importiert als
exportiert und nicht länger in der Lage ist, zum Ausgleich ausländisches Kapital - zum
Beispiel in Form von Aktien - anzuziehen. Dann wird zur Begleichung der entsprechenden
Rechnungen die Währung dieses Landes am Devisenmarkt andauernd stark angeboten
und schwach nachgefragt, so dass der Wechselkurs fällt. Diese Veränderung der
"relativen Preise" im Außenhandel bremst den Importanstieg und fördert den Export des
Landes und sorgt damit für einen Ausgleich von Angebot und Nachfrage auch auf den
Gütermärkten.
Eine Währungsabwertung gilt jedoch als Ausdruck wirtschaftlicher Schwäche eines
Landes. Deshalb ist sie politisch oft nicht erwünscht. Hinzu kommt, dass ständige
Kursschwankungen ein Unsicherheitsmoment in die internationalen
Geschäftsbeziehungen hineintragen. Daher interveniert die Notenbank eines Landes oft
mit Stützungskäufen bzw. -verkäufen am Devisenmarkt, oder sie erhöht das Zinsniveau,
um Kapitalabflüsse größeren Ausmaßes zu verhindern. Das kann sie natürlich nur in
engen Grenzen durchhalten, weil sich mit zunehmender Intervention ihre
Devisenreserven erschöpfen und weil ein zu hoher Zins der Konjunktur im Lande schadet.
Früher oder später muss der aufgestaute Anpassungsbedarf daher in eine
Wechselkurskorrektur münden.
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Bei einem Wechselkursregime der "Stufenflexibilität" wie im Europäischen
Währungssystem (EWS) bildet sich der Wechselkurs nicht ausschließlich durch privates
Devisenangebot und private Devisennachfrage. Vielmehr bestimmen auch
Regierungsentscheidungen, an die die beteiligten Notenbanken in ihrem
Devisenmarktverhalten gebunden sind, die Kursentwicklung. Durch
Wechselkurskorrekturen wurden deshalb zuweilen enorme Ertragssprünge realisiert. Dies
hat dazu geführt, dass zumindest auf kürzere Sicht immer weniger die zu Grunde
liegenden Handelsgeschäfte und die Fundamentaldaten als vielmehr die davon abgelöste
Spekulation oder Arbitrage den Kurs bestimmen und andere Devisenmarktteilnehmer
verunsichern. Weil es in Anbetracht der immensen Transaktionssummen den
Notenbanken kaum noch möglich war, die Spekulation durch Kursstützung zu
entmutigen, wurde 1993 in der EU das EWS faktisch außer Kraft gesetzt, indem die
vereinbarten höchstzulässigen wechselseitigen Kursschwankungen der
Teilnahmewährungen von ±2,25 Prozent auf ±15 Prozent erweitert wurden.
Derivatenhandel
Die Schwankungen der Devisen- und Finanzmärkte haben seit den achtziger Jahren neue
Finanzinstrumente hervorgebracht, die vom Basisgeschäft abgeleitet sind und deswegen
Derivate heißen. Hierzu gehören in erster Linie Terminkontrakte (Futures, Forwards,
Options). Diese beinhalten die Pflicht bzw. das Recht zum Kauf/ Verkauf beispielsweise
von Aktien, festverzinslichen Wertpapieren, Devisen und Rohstoffen. Dabei wird zum
Beispiel für einen bestimmten Rohstoff, der erst später geliefert werden soll, schon zu
Beginn des Geschäfts der Kaufpreis festgelegt. Das Geschäft wird also gegen
Schwankungen des Preises für diesen Rohstoff zwischen Vertragsabschluss und Lieferung
abgesichert. Mit Derivaten wird am Terminmarkt gehandelt.
Derivate bilden nicht per se eine Gefahr für das internationale Finanzsystem. Doch kann
mit ihnen auch spekuliert werden. Die Volatilität der Devisen- und Finanzmärkte, die das
Derivatgeschäft ja erst hervorgebracht hat, könnte hierdurch noch gesteigert und
dadurch die Stabilität des internationalen Finanzsystems erschüttert werden.
Wenn sich Finanzinstitute verspekulieren und zusammenbrechen, kann es zu
Kettenreaktionen kommen (Domino-Effekt), da die Institute häufig untereinander
verschuldet sind oder ihr Geld gemeinsam in Großprojekte investiert haben. Dann
nehmen auch die Einleger Schaden. Großes Aufsehen erregte im Februar 1995 in diesem
Zusammenhang der Kollaps der 232 Jahre alten britischen Handelsbank Barings: Ein in
Singapur tätiger Devisen- und Derivatenhändler von "Baring Futures Singapore" hatte
unkontrolliert auf Kurssteigerungen für eine bestimmte Gruppe japanischer Aktien
spekuliert. Doch die Kursentwicklung verlief anhaltend genau seinen Erwartungen
entgegengesetzt, er musste sich zu den Fälligkeitsterminen jeweils teuer eindecken und
verspielte fast 1,4 Milliarden Dollar. Nicht nur das Singapurer Tochterunternehmen, auch
die britische Muttergesellschaft brach daraufhin zusammen.
Finanzinstitute und staatliche Aufsichtsbehörden sind deshalb nunmehr bemüht, dem
Marktgeschehen und insbesondere dem Handel mit Derivaten Grenzen zu setzen. Eine
Möglichkeit wäre, Devisengeschäfte durch eine Steuer wie zum Beispiel die Tobin-Steuer
zu verteuern - dies träfe freilich auch die "normale" Risikoabsicherung. Eine andere
Möglichkeit bestünde darin, den Handlungsspielraum der Akteure dadurch
einzuschränken, dass ihre Engagements an den Devisenmärkten strenger an die
Ausstattung mit Eigenmitteln gebunden werden. Die Institute selber setzen mehr auf
innere Transparenz und Professionalisierung des Risikomanagements. Die Entwicklung
eines internationalen Ordnungsrahmens für die Finanzmärkte steckt noch in den
Anfängen.
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