Der Fragebogen 1. Einführung Es dürfte relativ wenige erwachsene Bundesbürger geben, deren Meinungen, Ansichten, Einstellungen usw. nicht schon einmal mittels eines Fragebogens erhoben worden sind. Über diesen Kontakt haben viele von uns mehr oder weniger genaue Vorstellungen von einem Fragebogen sowie von den Umständen und dem Ablauf einer Befragung. Das mag einer der Gründe sein, warum bei der Auswahl einer geeigneten Forschungsmethode im Team so häufig der Fragebogen genannt wird. Erstellung und Einsatz eines Fragebogens erscheinen den meisten relativ einfach („na ja, stellen wir halt ein paar Fragen zusammen“). Dass dem aber nicht so ist und dass bei der Entwicklung eines brauchbaren (!) Fragebogens eine Reihe von Gesichtspunkten zu beachten sind, soll im Folgenden verdeutlicht werden. Der Fragebogen gehört wie das Interview zu den Befragungsmethoden. Während das Interview eine mündliche Form der Befragung ist, stellt der Fragebogen eine schriftliche Befragungsform dar. Aus dem Tatbestand, dass hierbei Personen schriftlich fixierte Fragen zur Beantwortung vorgelegt werden, ergeben sich besondere Anforderungen und Schwierigkeiten bei der Entwicklung und Verwendung dieses Datenerhebungsinstruments. Daraus resultieren nämlich u.a. besondere Ansprüche an die sprachliche Formulierung von Fragen, weshalb das eigentliche Kernproblem der Fragebogenkonstruktion in der „Kunst der Frage“ zu sehen ist. Wer fragt, will Antworten bekommen. Welche Antworten ForscherInnen erhalten, hängt im wesentlichen von der Frageformulierung ab (s. unten). 2. Wissensgrundlage und Methodenentscheidung Das Stellen von Fragen setzt das Vorhandensein einer Wissensbasis voraus. Man kann nur nach einem Gegenstand, Tatbestand usw. fragen, dessen Existenz einem bekannt ist. Die Frage „Können Sie mir sagen, wie ich hier zum Bahnhof komme?“ setzt bspw. voraus, dass dem Fragenden bekannt ist oder dass er zumindest begründet vermutet, dass es in diesem Ort einen Bahnhof gibt. Sollte ihm dies unbekannt sein, wird er vermutlich andere Fragen stellen, bspw.: „Mit welchen Verkehrsmitteln komme ich von hier fort?“ Sachdienliche Antworten wird der Fragende nur erhalten, wenn (a) der Befragte den Fragenden versteht, d.h. wenn beide dieselbe Sprache sprechen (es wäre müßig, diese Fragen einem der deutschen Sprache nicht mächtigen Chinesen zu stellen) und (b) wenn beide in etwa das Gleiche unter den in der Frageformulierung verwendeten Begriffen/ Konzepten („Bahnhof“, „Verkehrsmittel“) verstehen. Das Frage-Antwort-Spiel klappt also nur unter der Bedingung, - dass A und B denselben Kode beherrschen und - dass bei A und B eine teilweise sich überschneidende, gemeinsame Wissensbasis (eine gewisse Übereinstimmung hinsichtlich der verwendeten Konzepte) vorhanden ist. Diese Gesichtspunkte (gemeinsamer Kode, geteilte Wissensbasis) werden bei der Fragebogenerstellung als gegeben unterstellt. Das den ForscherInnen zu dem Untersuchungsgegenstand verfügbare Wissen geht in den Fragebogen ein und ist Grundlage und Ausgangspunkt der Frageformulierungen. Deshalb ist bei der Entscheidung, einen Fragebogen einzusetzen, im Team ausführlich darüber zu diskutieren: - Was wissen wir über den fraglichen Gegenstand, Objektbereich, das zu untersuchende Problem? - Welche Teilaspekte sind bekannt? - Welche Gesichtspunkte sind im Zusammenhang unseres Erkenntnisinteresses bzw. der Forschungsfrage von Belang? Das gegenstandsbezogene Wissen der ForscherInnen kann durchaus lückenhaft sein. Einige „Leerstellen“ sollen ja gerade durch die Befragung aufgefüllt werden. Aber man muss zumindest die Aspekte benennen können, zu denen man nähere Auskünfte haben möchte, sonst kann man sie im Fragebogen nicht thematisieren. Sollte sich herausstellen, dass das gegenstandsbezogene Wissen nicht hinreicht, um darauf aufbauend einen Fragebogen zu entwerfen, empfiehlt sich ein zweischrittiges Verfahren: 1. Über Felderkundungen, Beobachtungen, offene Befragungen (z.B. unstrukturierte Interviews) verschafft man sich weitere Informationen. 2. Auf der Grundlage der gewonnenen Informationen wird der Fragebogen entwickelt. An die bei einer reflektierten Methodenentscheidung grundlegenden Fragen - Bekommen wir mit dieser Methode die Daten, die wir haben wollen und brauchen? - Was spricht für und was spricht gegen den Einsatz dieser Erhebungsmethode? schließen sich, sofern die Entscheidung für eine Fragebogenerhebung gefallen ist, noch eine Reihe spezifischer Fragen an, die im Team schrittweise abzuarbeiten sind: - Was soll erfragt werden? - Wer soll befragt werden? - Wie soll der Fragebogen gestaltet und strukturiert werden? - Wie und wann wird die Befragung durchgeführt? Wer führt sie durch? - Wie sollen die Daten ausgewertet und dargestellt werden? Wer wertet aus? 3. Die Kunst der Frage Brauchbarkeit und Ergiebigkeit eines Fragebogens hängen wesentlich von der Frageformulierung ab. Bei dieser wiederum kommt es darauf an, wer befragt werden soll. „Die Formulierung von Fragen wird zwar weitgehend vom Erhebungsziel bzw. vom Erhebungsgegenstand determiniert, aber die Qualität der Antworten ist abhängig von (...) der Anpassung (...) der Fragen an die Adressaten. Der Wortschatz, das Sprachverständnis der Befragten muß (...) berücksichtigt werden !“ (Völkl, 1980, S. 24). GrundschülerInnen sind anders formulierte Fragen vorzulegen als bspw. Lehrerinnen und Lehrern. Falls möglich, sollte man sich vorab über das Sprachverständnis der Befragten, über von ihnen verwendete Begrifflichkeiten usw. informieren. Die Fragen sollten die befragten Personen nicht überfordern. Sie sind dem Entwicklungsstand, den Kenntnissen usw. der Befragten anzupassen. Keinesfalls darf vom eigenen Wissensstand auf den der Befragten geschlossen werden. Fähigkeiten, Vorstellungskraft und Erinnerungsvermögen von „Datenlieferanten“ werden häufig überschätzt. In der Literatur werden folgende „Faustregeln“ für das Formulieren von Fragen genannt (vgl. Atteslander, 1993, S. 188 ff.; Schnell, Hill & Esser, 1995, S. 303 ff.): - Fragen sollten eindeutig und klar formuliert sein. Nur eindeutige Fragen können richtig beantwortet werden. Der Befragte soll nicht lange grübeln müssen, was gemeint ist und worauf die Frage abzielt. - Fragen sollten einfache Worte enthalten, die Umgangssprache der Adressaten ist zu berücksichtigen. Zu vermeiden sind Fremdworte, Abkürzungen und Fachbegriffe. - Fragen sollen kurz sein und sich jeweils nur auf einen Sachverhalt beziehen. Doppelfragen (zwei oder mehr Sachverhalte werden in einer Frage angesprochen) sind zu vermeiden. - Man sollte von schwierigen grammatikalischen Konstruktionen (Schachtelsätze, doppelte Verneinung usw.) Abstand nehmen. - Fragen sollten Tatbestände direkt und konkret ansprechen. Abstrakte Begriffe sind zu konkretisieren. - - Die Fragen sollten keine bestimmte Antwort provozieren (Suggestivfragen). Die Fragen sollten neutral formuliert sein und möglichst keine „belasteten“ bzw. wertenden Begriffe beinhalten (z.B. „Bürokrat“, Boss“ usw. - Also nicht: „Wie reagiert Ihr Boss, wenn Sie...?“, sondern „Wie verhält sich Ihr Vorgesetzter, wenn Sie...?“). Die Fragen sollten „formal balanciert“ sein, d.h. sie sollten ein möglichst breites Antwortspektrum ermöglichen. Hypothetische Fragen sollten nicht gestellt werden („Angenommen, Sie würden im Lotto gewinnen, würden Sie das Geld sofort ausgeben oder sparen?“). Begründung: Hypothetische Fragen zielen auf Sachverhalte ab, zu denen die Befragten keine Erfahrungen und über die sie bisher meist nicht nachgedacht haben. Die Antworten dürften deshalb wenig zuverlässig sein. Trotz dieses Vorbehalts sind hypothetische Fragen manchmal nützlich, man muss sich dann allerdings über den Stellenwert der Antworten im Klaren sein. Ähnliches gilt übrigens auch für die Verwendung retrospektiver Fragen („Wie war das damals zu Beginn Ihres Aufenthalts in der BRD...?“). Angaben zu solchen Fragen gelten als wenig zuverlässig, weil sie durch Erinnerungslücken, nachträgliche Rationalisierungen usw. beeinträchtigt sind (Schnell, Hill & Esser, 1995, S. 314). Die letztgenannten Formulierungsregeln verweisen auf den Aspekt der Gültigkeit der Antworten. Aus Untersuchungen sind folgende Zusammenhänge bekannt: - Je weiter ein Ereignis zurückliegt, desto ungenauer werden die Angaben. - Je mehr sich eine Person für ein Thema interessiert, desto gültiger und zuverlässiger sind die Antworten. - Je wichtiger ein Ereignis für eine Person ist, desto genauer werden die Angaben. - Je bedrohlicher ein Ereignis war, umso eher wird es vergessen. - Über sozial missbilligte Sachverhalte wird wenig berichtet; man bekommt hierzu selten offene Antworten (s. unten). - Je höher etwas sozial bewertet ist, umso eher sind die Angaben zu hoch (Verzerrungseffekt). - Bei geschlossenen Fragen mit zwei Antwortalternativen hat die letzt genannte Alternative die größere Anziehungskraft. 4. Fragetypen und Antwortformen Grundsätzlich wird zwischen offenen und geschlossenen Fragen unterschieden. Bei offenen Fragen können die Befragten die Antwort frei formulieren, sie können persönliche Schwerpunkte setzen und bestimmen Inhalt, Form und Ausführlichkeit der Beantwortung. Das Stellen offener Fragen bietet sich an, wenn die ForscherInnen über ein geringes Vorwissen hinsichtlich der Einstellungen, Ansichten usw. der Adressaten zu einem Thema verfügen und deshalb keine detaillierte Aufgliederung des zu untersuchenden Gegenstands vornehmen können. Angezeigt sind offene Fragen, wenn der Bezugsrahmen von Personen ermittelt werden soll und wenn Begründungen für Meinungen, Einstellungen usw. erhoben werden sollen. Der Befragte kann innerhalb seines Bezugssystems antworten, so dass das Wissen und die Einstellungen, die bei der befragten Person tatsächlich vorhanden sind, ans Licht kommen. Die Verwendung offener Fragen hat den Nachteil, dass man dadurch persönliche und nur begrenzt vergleichbare Daten erhält. Außerdem hängt die Qualität der Antworten seht stark von Artikulationsfähigkeit und –bereitschaft der Befragten ab. Wir konnten bei Teamforschungsvorhaben wiederholt beobachten, dass viele SchülerInnen ungern schreiben, entsprechend karg und unergiebig fallen oft die Antworten zu offenen Fragen aus. Offene Fragen sind also eher geeignet für Personen, die sich differenziert ausdrücken können und wollen. Bei offenen Fragen erhält man qualitative Daten (Texte). Das bedeutet: Es entsteht ein relativ hoher Auswertungsaufwand, da die Texte inhaltsanalytisch bearbeitet und mittels eines Kategoriensystems erschlossen werden müssen. Für die Abwägung, ob man eher offene oder eher geschlossene Fragen verwendet, gelten die Thesen von Eikenbusch (1998, S. 103): - Am einfachsten zu erstellen sind offene, am einfachsten auszuwerten sind geschlossene Fragen. - Offene Fragen schränken die Antworten nicht ein, geschlossene Fragen bieten den Respondenten Anhaltspunkte für die Meinungsbildung. - Offene Fragen können helfen, Problemlagen zu identifizieren, geschlossene Fragen helfen, Sichtweisen zu quantifizieren (vgl. auch die Übersicht bei Burkhard & Eikenbusch, 2000, S. 117 f.). Wir kommen damit zu den geschlossenen Fragen, bei denen Antwortmöglichkeiten vorgegeben sind. Die Nachteile offener Fragen sind gleichzeitig Vorteile geschlossener Fragen. Personen, die sich (noch) nicht differenziert ausdrücken können oder wollen, kommen mit geschlossenen Fragen besser zurecht; geschlossene Fragen werden häufiger beantwortet als offene. Die Daten geschlossener Fragen lassen sich relativ gut vergleichen, man erhält quantitative Ergebnisse, die natürlich auch zu interpretieren sind. Geschlossene Fragen thematisieren das Bezugssystem der ForscherInnen; es werden nur die Gesichtspunkte angesprochen, die dem Forschungsteam wichtig sind. Über die Gesichtspunkte, die darüber hinaus für die Befragten relevant sind, erfährt man nichts. Problemtisch kann dies werden, wenn sich die Befragten mit Gesichtspunkten konfrontiert sehen, zu denen sie sich noch keine Meinung gebildet haben. Verstärkt wird diese Problematik durch eingeschränkte Antwortmöglichkeiten. Um dem zu entgehen, bieten sich „Indifferenzangebote“ (Kategorie „weiß nicht“) und das Hinzufügen von „Öffnungskategorien“ („Sonstiges“) an (vgl. Schnell, Hill & Esser, 1995, S. 341 f.). Vom Antwortformat her lassen sich folgende Typen geschlossener Fragen unterscheiden: - Alternativfragen: Es sind nur zwei Antwortmöglichkeiten gegeben (ja – nein; stimmt – stimmt nicht o.ä.). - Auswahlfragen: Von mehreren Antwortvorgaben soll eine Antwort ausgewählt und angekreuzt werden. Man kann auch die Auswahl mehrerer Anworten aus 5 bis 7 vorgegebenen Alternativen zulassen (Mehrfachwahlfrage). Es empfiehlt sich, die Auswahl zu begrenzen („maximal 3 Nennungen“). Eine Sonderform stellt die Skalenfrage dar. Sie ist dann geeignet, „wenn die vorgegebenen Alternativen als Abstufungen einer Fragedimension interpretiert werden können.“ (Hagmüller, 1979, S. 98) (z.B.: „Kreuzen Sie bitte nach Grad der Zustimmung an: trifft völlig zu/ trifft teilweise zu/ trifft eher nicht zu/ trifft überhaupt nicht zu“. – Oder: Nummerisch skaliert (sog. Likert-Skala): 1 – 2 – 3 – 4. Achtung: Bei „ungerader“ Skalierung (z.B. 5stufig) gibt es eine „Mitte“, die besonders von unschlüssigen Personen oder Befragten ohne dezidiertes Urteil angekreuzt wird („Tendenz zur Mitte“). Will man polarisieren, muss man eine „gerade“ Skalierung (z.B. 4stufig) wählen. Anmerkung: Von der Art der Antwortvorgaben hängt ab, welche Operationen hinterher bei der Auswertung möglich und zulässig sind; Stichwort: Skalenniveau). - Listen-, Kartei- bzw. Katalogfragen: Aus einer Reihe von Begriffen, Eigenschaften, Aussagen usw. sind solche auszuwählen, die hinsichtlich einer bestimmten Fragestellung zutreffen. Neben dieser Klassifizierung können Fragen allgemein (offene wie geschlossene) nach Inhalt oder Zweck der Fragestellung unterschieden (Einstellungs-, Meinungs-, Überzeugungs-, Verhaltens-, Eigenschaftsfragen usw.) oder nach ihrer befragungstechnischen Funktion eingeordnet werden. Dann spricht man – um nur die wichtigsten zu nennen – von: - Kontakt- oder Einleitungsfragen: Sie sollen leicht zu beantworten sein und zur Beantwortung der weiteren Fragen motivieren. - Pufferfragen: Sie haben die Aufgabe, den Einfluss eines behandelten Themas auf nachfolgende Fragenkomplexe bzw. Themenblöcke zu verhindern (Ausstrahlungseffekt; vgl. Hagmüller, 1979, S. 102). - Kontrollfragen: Derselbe Sachverhalt wird in abgewandelter Formulierung an anderer Stelle des Fragebogens erneut angesprochen. Dies dient der Überprüfung, ob die Respondenten Frageinhalte zutreffend erfassen und konzentriert „bei der Sache“ sind. - Filterfragen: Sie dienen der Ausschaltung solcher Personen, auf die die Hauptfragen nicht zutreffen (s. unten). - Ergänzungs- oder Folgefragen: Sie dienen der Weiterverfolgung einzelner Aspekte vorheriger Antworten. 5. Unangenehme Fragen und soziale Erwünschtheit Es kommt immer wieder vor, dass ForscherInnen von Personen Angaben zu Themen haben wollen, zu denen sich die Befragten nur ungern offen äußern. Die Frage „Wovor hast du Angst?“ ist in der Tat angstauslösend. Fragen nach Kindererziehung, Einkommen, Familienverhältnissen usw. sind den Befragten unangenehm. Es gibt Bereiche, zu denen Kinder und Jugendliche Erwachsenen gegenüber keine Auskunft geben möchten. Dies muss bei der Entwicklung eines Fragebogens beachtet werden, eine solche Reflexion darf aber nicht in eigene Unsicherheit münden. Um auch bei „Tabu-Themen“ verwertbare Ergebnisse zu bekommen, empfiehlt sich eine indirekte Frageformulierung. Es wird nicht direkt nach Verhaltensweisen, Einstellungen usw. der jeweiligen Person gefragt, sondern Sachverhalte werden als Verhalten anderer Personen, zu dem man sich äußern kann, dargestellt. Den Befragten bleibt somit erspart, das eigene Verhalten preisgeben zu müssen. Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Neigung der Befragten, im Sinne sozialer Erwünschtheit zu antworten. In der Regel ist Personen deutlich bewusst, was positiv und was negativ zu bewerten ist, was man tun und was man eher lassen sollte usw. Die Befragten wollen sich den ForscherInnen gegenüber möglichst positiv darstellen und geben deshalb Antworten, die sie „ins rechte Licht setzen“. Die Zusage der Anonymität schwächt diese Tendenz eventuell etwas ab, verhindert sie aber nicht völlig. Bei Frageformulierungen und Antwortvorgaben ist deshalb zu überlegen, ob diese nicht auch Signale im Sinne sozialer Erwünschtheit beinhalten. Ein breites Spektrum von Antwortvorgaben und die Verwendung möglichst nicht-wertender Begriffe in der Frageformulierung (s. oben) sind dazu angetan, dieser Tendenz entgegenzuwirken. 6. Fragebogenstruktur Nach der Formulierung ist der Anordnung und Reihenfolge der Fragen sowie der Abfolge inhaltlich-thematischer Fragebogenkomplexe die meiste Beachtung zu schenken. Auch hierzu gibt es einige beherzigenswerte Tipps. So wird empfohlen, allgemeine Fragen den besonderen, bekannte Sachverhalte den unbekannten und einfache Fragen den komplizierten voranzustellen. Fragen zu heiklen Themen (Sex, Drugs & Rock ´n´ Roll) wird man frühestens im mittleren Teil des Fragebogens platzieren, da sie bei späteren Fragen zu einer Antwortverweigerung führen können. Entgegen der vielfach geübten Praxis sollten Sozialdaten (Alter, Konfession, Einkommen, Schulbildung usw.) erst am Schluss des Fragebogens erhoben werden, da die Befragten diese Angaben meist ungern machen („das geht niemanden etwas an“) und ein Nachfragen Verstimmung auslösen kann. Meist werden zu einem inhaltlichen Teilaspekt mehrere Fragen formuliert. Diese Fragen werden zu thematischen Blöcken zusammen gefasst. Es ist nun darauf zu achten, dass diese Fragebogenkomplexe in eine logische Reihenfolge gebracht werden, um „Brüche“ und „Herumspringerei“ zu vermeiden. Die Befragten müssen sich ja auf jedes Teilthema kognitiv einstellen und erleben das „Umschalten“ als anstrengend und ermüdend. Diekmann (1995, S. 414 f.) gibt folgende Empfehlungen: 1. Am Beginn des Fragebogens stehen Eröffnungsfragen, die auf das Thema hinführen und Interesse wecken sollen (warming up). 2. Die wichtigsten Fragen sollten im zweiten Drittel des Fragebogens untergebracht werden. 3. Die einzelnen Fragebogenkomplexe (Module) sollten in sich nach dem Trichterprinzip strukturiert werden. Damit ist eine Fragenfolge gemeint, bei der man von allgemeinen zu immer spezielleren Fragen übergeht – oder umgekehrt. Fragetrichter der ersten Art werden bspw. verwendet, um Antworthemmungen zu überwinden. Der umgekehrte Trichter (erst spezielle, dann allgemeine Fragen) bietet sich an, wenn man die Befragten, ausgehend von konkreten Beispielen, zu allgemeinen Äußerungen hinführen will, zu denen man sonst nur schwer Zugang findet. Wo es sinnvoll ist, sollten Filterfragen (s. oben ) und Gabelungen eingebaut werden, um überflüssige Fragen zu vermeiden und die Befragungszeit zu reduzieren. Beispiele: „Wenn „ja“ angekreuzt, dann weiter zu Frage X“; „Wenn Lehrer/in, dann bitte Fragen 8 – 12 beantworten, wenn Schüler/in bitte mit Frage 13 fortfahren“. Manchmal ist es angebracht, in den Fragebogen Erläuterungen und Definitionen zu integrieren, um den Befragten Anhaltspunkte zu geben, wie die ForscherInnen einzelne Begriffe verstehen. Es sollte aber nur die Richtung angedeutet werden, in welche die Befragten denken sollen; man muss aufpassen, dass man dadurch die Antworten nicht zu sehr beeinflusst. Zulässig sind auch Überleitungssätze zwischen den einzelnen Themenblöcken. Man könnte auch von einer „Befragten-Führung“ sprechen. Ein abrupter Themenwechsel kann für die Befragten irritierend sein. Mit Überleitungsformulierungen kann man den Themenwechsel erträglicher gestalten und auf das neue Thema vorbereiten (Diekmann, 1995, S. 415). 7. Fragebogenentwicklung Das Team bietet besonders günstige Voraussetzungen für die Entwicklung eines Fragebogens. Es leuchtet ein, dass bei der Formulierung von Fragen in einer Gruppe mehr Einfälle zustande kommen, als wenn ein einzelner Forscher am Schreibtisch über der Erstellung eines Fragebogens brütet. Bei der folgenden Schrittfolge kann das Teampotential an mehreren Stellen genutzt werden: 1. Problemanalyse und Festlegung des Befragungsziels (was wollen wir wissen?). 2. Festlegung thematischer Blöcke (Module): Der zu untersuchende Gegenstand wird in Hauptaspekte bzw. Bereiche zerlegt. 3. Sammlung und Formulierung von Fragen zu jedem Modul. Vor allem hier kommt das kreative Potential des Teams zum Tragen. (a) Jede(r) formuliert so viele Fragen zu jedem Aspekt, wie ihm/ ihr einfallen ( Einzelarbeit). Die Fragen werden auf Karteikarten geschrieben. (b) An einer Stellwand werden die Karteikarten unter den Überschriften der Themenblock angeheftet. Danach wird der zu jedem Themenkomplex entstandene Fragen-Pool gemeinsam durchgearbeitet (Ausscheiden von Doubletten; bei ähnlichen Formulierungen abwägen, welche Formulierung die bessere, treffendere usw. ist; zumeist findet man auch noch weitere Fragen). (c) Reduktion des „Angebots“ auf die Fragen, die in den Fragebogen aufgenommen werden sollen. 4. Überprüfung der Fragen nach inhaltlichen und sprachlichen Kriterien (s. oben). 5. Festlegung der Reihenfolge (Sortieren), und zwar (a) der Reihenfolge der Fragen innerhalb jedes Themenkomplexes (b) der Reihenfolge der Themenkomplexe. 6. Festlegung der Auswertungsverfahren (spätestens hier können noch offene durch geschlossene Fragen ersetzt werden – und umgekehrt). 7. Pretest: Der vorläufige Fragebogen sollte in einem „Probelauf“ getestet werden. Dabei kommt es vor allem auf die Überprüfung der Verständlichkeit von Formulierungen an. Außerdem kann man die Befragungszeit ermitteln. Meist erhält man von den Probanden Hinweise, wie Fragen besser formuliert werden können bzw. welche Fragen fehlen. Die Rückmeldungen werden berücksichtigt, so dass danach der endgültige Fragebogen vorliegt. 8. Durchführung der Befragung (s. unten). In diese Schrittfolge sollten Zwischen-Überprüfungen eingebaut werden. Zum Beispiel muss bei Schritt 3 immer wieder reflektiert werden: „Warum stellen wir diese Frage?“ „Steht“ der Fragebogen in den Grundzügen, sind die Antwortformate noch einmal zu überprüfen. Ebenso muss man sich vergewissern, ob für alle Fragen Operatoren angegeben sind. Darunter versteht man Anweisungen, was die Befragten jeweils tun sollen bzw. was man von ihnen erwartet (z.B. „Zutreffendes ankreuzen“; „Mehrfachnennungen möglich“ usw.). Fragen ohne Angabe von Operatoren sind wertlos. Für einen Abschluss-Check kann eine entsprechende Prüfliste herangezogen werden (z.B. Burkhard & Eikenbusch, 2000, S. 125 f.). Etwas Zeit sollte in die optische Gestaltung des Fragebogens investiert werden. Der Fragebogen sollte klar gegliedert und übersichtlich gestaltet sein. Kästen, verschiedene Schrifttypen usw. optimieren das Lay out. Wenn man bei offenen Fragen zu wenig Platz lässt, darf man sich nicht wundern, wenn die Befragten nur wenige Stichworte eintragen. Zuguterletzt geht es darum, ein Anschreiben zu formulieren (unverzichtbar, wenn die ForscherInnen in der Erhebungssituation nicht zugegen sind). Das Anschreiben soll die Befragung legitimieren und die Befragten zur Mitarbeit bzw. zum Ausfüllen motivieren. Das gelingt am ehesten, wenn sie den Sinn der Befragung einsehen und sich davon auch einen (persönlichen) Nutzen versprechen (Rückmeldung der Ergebnisse; welche positiven Folgen sind erwartbar?). Das Anschreiben sollte folgende Punkte beinhalten: - Name/ Adresse des Absenders - Thema der Befragung - Zusammenhang von Thema, Verwertungsziel und Interessen - Anonymität der Befragung - eventuell Begründung, warum gerade diese Person/ Personengruppe befragt wird - eventuell Hinweis auf Rückmeldung der Ergebnisse - Rückgabetermin eventuell Anreize für die Rücksendung. Einen persönlichen Charakter erhält das Anschreiben durch eine Original-Unterschrift (Beispiele für Anschreiben: Eikenbusch, 1998, S. 105; Friedrichs, 1973, S. 240). 9. Durchführung der Befragung Es gibt verschiedene Varianten, eine Befragung durchzuführen. Die Erhebungssituation hat Auswirkungen auf die Qualität einer Befragung (wann und wo wird der Fragebogen ausgefüllt?). Es ist auch nicht unerheblich, ob die ForscherInnen bei der Bearbeitung des Fragebogens anwesend sind oder nicht. Räumt man den Befragten ein, den Fragebogen beispielweise zu Hause ausfüllen und zu einem späteren Zeitpunkt abgeben zu können, wird man mit einer geringeren Rücklaufquote rechnen müssen, als wenn Fragebögen in Gegenwart der ForscherInnen ausgefüllt und anschließend von ihnen gleich eingesammelt werden. Die Anwesenheit der ForscherInnen in der Erhebungssituation gibt den Befragten Gelegenheit zu Rückfragen. Der Wert einer Befragung wird dadurch in der Regel nicht beeinträchtigt. Allerdings muss vorab geklärt werden, welche Erläuterungen ggf. gegeben werden. Es ist strikt auf ein übereinstimmendes Vorgehen und auf das Einhalten verabredeter „Spielregeln“ zu achten (wenn z.B. in einer Gruppe Rückfragen zugelassen werden, muss dies auch bei anderen Befragten gelten). Man muss auch aufpassen, dass die Erläuterungen, Erklärungen usw. so formuliert werden, dass sie den Befragten nicht bestimmte Antworten nahe legen. 10. Ein Beispiel ====== hier den Fragebogen UEG Leer, zur Facharbeit einsetzen; scannen, dabei evtl. leicht stauchen – auf alle Fälle sollte das schlampige Lay out erhalten bleiben Kommentar: Der Fragebogen stellt kein positives Muster dar, sondern soll zur kritischen Analyse anregen, ob die zuvor genannten Gesichtspunkte beachtet wurden. Dazu gebe ich einige Reflexionsimpulse: - Wie sind Gliederung und Lay out zu beurteilen? - Sind die Kriterien zur Frageformulierung beachtet worden? (z.B. Klarheit, Verständlichkeit, breites Spektrum von Antwortmöglichkeiten, Kategorien „weiß nicht“, „Sonstiges“). - Wissen die Befragten, was sie jeweils tun sollen? (Angabe von Operatoren). - Wo werden sich vermutlich Probleme bei der Auswertung ergeben? 11. Vorteile – Nachteile Vorzüge: - Fragebögen sind geeignet, Auskünfte von einer großen Anzahl von Personen zu bekommen („Breite“). - Sie können ohne großen organisatorischen Aufwand eingesetzt und in relativ kurzer Zeit ausgefüllt werden (Praktikabilität: geringe Kosten, geringer Zeitaufwand). - Da Fragebögen in der Regel anonym bearbeitet werden, erhält man tendenziell ehrlichere Antworten als bei anderen Methoden. - Der Befragte hat im Vergleich zum Interview mehr Zeit für das Beantworten einer Frage, er kann Fragen durchdenken und überlegte Antworten geben. Nachteile: - Unter Umständen ist die Rücklaufquote gering. - Das Reaktionsspektrum der Befragten ist eingeengt. - Unklare Antworten können aufgrund der Anonymisierung und der Abwesenheit der Befragten während der Auswertung nicht hinterfragt werden. 12. Literatur Kirchhoff, Kuhnt, Lipp, Schawin: Der Fragebogen, UTB 2245, 2. Aufl., 2001 (