Einführung in das Problem des Skeptizismus - UK

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VL: Skeptizismus, Grundmann
SoSe 2004
5. Mai
Einführung in das Problem des Skeptizismus
§1
Bei dem Skeptizismus scheint es sich um eines der ‚ewigen‘ Probleme der Philosophie
zu handeln. Die Beschäftigung mit Skepsis hat im abendländischen Denken von der
Antike bis in unsere Tage eine zentrale Rolle gespielt (und zwar ganz unabhängig von
Schulen, Traditionen und Positionen). Selbst in der indischen Philosophie (im
Buddhismus) gibt es ähnliche Entwicklungen. Und dieses überhistorische und
interkulturelle Phänomen ist selbst erklärungsbedürftig.
Allerdings hat der Skeptizismus dabei sehr unterschiedliche Rollen und Funktionen
übernommen.
(1)
In der Antike (von den sogenannten Pyrrhoneern) wird die skeptische Haltung
(die sich jeglicher Überzeugungen enthält) als ausgezeichnete, nichtdogmatische Lebensform gesehen, die alleine zur Seelenruhe führen kann. Es
wird also nicht nur angenommen, dass die skeptische Haltung lebbar ist,
sondern auch, dass sie (ethisch) empfehlenswert ist.
„Die Skepsis ist die Kunst, auf alle mögliche Weise erscheinende und gedachte Dinge einander
entgegenzusetzen, von der aus wir wegen der Gleichwertigkeit der entgegengesetzten Sachen
und Argumente zuerst zur Zurückhaltung, danach zur Seelenruhe gelangen.“ (G I, 8)
Diese Auffassung ist von in der Neuzeit eigentlich durchgängig abgelehnt
worden. Am deutlichsten von dem berühmten Britischen Empiristen David
Hume, der sagt, dass die Natur uns gar kein handelndes Leben ohne
Überzeugungen erlaubt.
„Die Natur ist stets stärker als Prinzipien, und wenn auch ein Pyrrhoniker sich und andere
durch seine tiefgründigen Gedanken in momentanes Staunen und Verwirrung bringen mag, so
wird doch das erstbeste triviale Ereignis in seinem Leben all seine Zweifel und Bedenken
verscheuchen (...). Wenn er aus seinem Traum erwacht, wird er der erste sein, der in das
Gelächter über sich selbst einstimmt, und bekennen, dass seine ganzen Einwände nur der
Unterhaltung dienen und keine andere Tendenz haben, als die sonderbare Verfassung der
Menschen zu zeigen, die handeln, denken und glauben müssen, obgleich sie -–trotz der
sorgfältigsten Untersuchung – außerstande sind, sich hinsichtlich der Grundlage dieser
Vorgänge zu überzeugen oder die dagegen erhobenen Einwände zu beseitigen.“ (Hume,
Untersuchung über den menschlichen Verstand)
(2)
Auch der neuzeitliche Fideismus von Bayle, Kierkegaard u.a. sieht den
Skeptizismus (wenn man ihn als Begrenzung des Wissens versteht) durchaus
positiv. Eine solche Grenzziehung des Wissens öffnet nämlich dem Glauben
an Gott die Tür. Georg Hamann, berühmter Zeitgenosse von Kant, sieht die
Rolle Kants genau hier: Er ziehe mit seiner Erkenntniskritik dem Wissen
Grenzen, so dass dem Glauben Raum gegeben wird.
1
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(3)
Dann
gibt
es
diejenigen,
für
die
der
Skeptizismus
eine
rein
erkenntnistheoretische Rolle spielt und keinerlei praktische Relevanz hat.
(a) Descartes, Kant, aber auch neuere Erkenntnistheoretiker wie der
amerikanische Philosoph Laurence BonJour glauben, dass sich die Autorität
unseres Wissens gegen die skeptische Herausforderung behaupten muss.
Letztlich wird der skeptische Standpunkt also als eine Art Strohmann
aufgebaut, um widerlegt zu werden. Er dient methodisch dazu, Wissen zu
sichern.
„Der (skeptische) Idealismus mag in Ansehung der wesentlichen Zwecke der Metaphysik für
noch so unschuldig gehalten werden (...), so bleibt es immer ein Skandal der Philosophie und
allgemeinen Menschenvernunft, das Dasein (die Existenz) der Dinge außer uns (...) bloß auf
Glauben annehmen zu müssen, und, wenn es jemand einfällt, es zu bezweifeln, ihm keinen
genugtuenden Beweis entgegenstellen zu können.“ (KrV, B XL)
„Gäbe es keine Skeptiker (...), müsste der ernsthafte Erkenntnistheoretiker sie erfinden.“
(Bonjour, SEK, S. 15)
(b) Auf der anderen Seite behaupten die Skeptiker wie David Hume oder
neuerdings Barry Stroud, dass die philosophische Reflexion zeigen kann, dass
unsere Erkenntnisansprüche letztlich haltlos sind, obwohl dies nichts daran
ändern kann, dass wir im Alltag und in den Wissenschaften an unserem
vermeintlichen Wissen festhalten. Die philosophische Reflexion desillusioniert
uns über unsere eigene epistemische Situation.
„Der elende Zustand, die Schwäche und die Gesetzlosigkeit der geistigen Vermögen, auf die
ich bei meinen Untersuchungen vertrauen muss, erhöhen meine Befürchtungen. Und die
Unmöglichkeit, diesen Vermögen aufzuhelfen oder ihre Schäden zu bessern, bringt mich fast
zur Verzweiflung und könnte mich zu dem Entschluss veranlassen, lieber auf dem öden Felsen,
auf dem ich mich augenblicklich befinde, umzukommen, als mich auf jenen grenzenlosen
Ozean zu wagen, der sich in die Unendlichkeit erstreckt. Der plötzliche Gedanke an die Gefahr
macht mich melancholisch; und da es dieser Stimmung vor allen anderen eigen ist, sich mit
sich selbst zu beschäftigen, so kann ich nicht umhin, meine Verzweiflung mit den
niederdrückenden Überlegungen zu nähren, wie sie unser Gegenstand in solcher Fülle nahe
legt. (...)
Die intensive Betrachtung der mannigfachen Widersprüche und Unvollkommenheiten in der
menschlichen Natur hat ja derartig auf mich gewirkt und mein Gehirn so erhitzt, dass ich im
Begriffe bin, allen Glauben und alles Vertrauen auf unsere Schlüsse wegzuwerfen und keine
Meinung für möglicher und wahrscheinlicher anzusehen als jede beliebige andere. Wo bin ich,
oder was bin ich? Aus welchen Ursachen leite ich meine Existenz her und welches zukünftige
Dasein habe ich zu hoffen? (...) Ich werde verwirrt bei allen diesen Fragen; ich fange an mir
einzubilden, dass ich mich in der denkbar beklagenswertesten Lage befinde, dass ich umgeben
bin von der tiefsten Finsternis, des Gebrauchs jedes Gliedes und jedes menschlichen
Vermögens vollständig beraubt.“ (Traktat)
Hier steigert Hume seinen erkenntnistheoretischen Skeptizismus fast zu einem
existentiellen Pathos.
(c) Schließlich gibt es die diagnostische Haltung zum Problem des
Skeptizismus. Unbestreitbar kommen wir durch relativ einfache Überlegungen
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zu skeptischen Konsequenzen (das macht die Dauerhaftigkeit des Problems
aus).
Die
Diagnostiker
fragen
in
dieser
Situation
danach,
welche
erkenntnistheoretischen Annahmen (über Wissen und Rechtfertigung) dafür
verantwortlich sind. Auf diese Weise können wir unsere epistemischen
Grundannahmen nicht nur transparent machen, sondern angesichts ihrer
absurden
skeptischen
Konsequenzen
auch
problematisieren
und
neu
überdenken. Die Auseinandersetzung mit dem Skeptizismus würde dann also
unser Verständnis unserer erkenntnistheoretischen Grundbegriffe vertiefen.
So sagt beispielsweise der zeitgenössische Erkenntnistheoretiker John Greco:
„Ich behaupte, dass die Analyse skeptischer Argumente philosophisch nützlich und wertvoll
ist. Das liegt daran, dass diese Argumente plausible, aber falsche Annahmen über Wissen und
Rechtfertigung enthalten, und zeigen, dass diese Annahmen Konsequenzen haben, die
unannehmbar sind. Im Ergebnis sind wir gezwungen, substantielle Änderungen an diesen
Annahmen vorzunehmen.
Man könnte umgekehrt auch sagen, dass eine Analyse unserer epistemischen
Grundbegriffe nur dann plausibel sein kann, wenn sie uns zu erklären erlaubt,
warum skeptische Probleme für uns intuitiv so plausibel sind. Auch das wäre
eine diagnostische Einstellung.
(4)
Schließlich gibt es noch die therapeutische Einstellung zum Skeptizismus, die
vor allem von den Pragmatisten, Wittgenstein und einigen Logischen
Empiristen (wie Carnap) eingenommen wurde. Sie halten die skeptische
Herausforderung durch globale Täuschungsszenarien für sinnlos oder
irrelevant und sehen den Sinn einer philosophischen Auseinandersetzung mit
dem Problem nur darin, das Scheinproblem aufzulösen. Positiv lernen lässt sich
daraus nichts. Es hat nur eine befreiende Wirkung.
§2
Abgrenzung: Was ist erkenntnistheoretischer Skeptizismus?
Negativ (andere Verwendungen von „skeptisch“):
(1)
Haltung/Einstellung: Jemand ist skeptisch, wenn er (i) offen für verschiedene
Antworten auf eine Frage ist (also immer Alternativen berücksichtig) und (ii)
mit eigenen Irrtümern rechnet (also Wahrheit nicht dogmatisch, sondern
vorläufig beansprucht – bis zum Beweis des Gegenteils, mit der Möglichkeit
einer Korrektur). So jemanden nennen wir auch „kritisch“ oder „selbstkritisch“
(griech.: skopein – umherschauen; der Skeptiker wird auch als zetetike –
suchend bezeichnet, Sextus, GPS, I, 7)
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(2)
Pessimismus: „X ist unerkennbar“, aber für diese These wird gar kein
rationaler Grund angegeben (Empedokles).
(3)
Nihilismus / Irrealismus: Ein ganzer Bereich von Gegenständen existiert nicht
(Semantik, Werte). Deshalb sind die auf ihn bezogenen Aussagen falsch.
E
Hier gibt es keinen Bereich, der unerkennbar ist. Die Erkenntnis der Inexistenz
ist ja gerade eine Erkenntnis über den Bereich. Es handelt sich um eine
ontologische Position, keine erkenntnistheoretische.
Positiv:
ERKENNTNISTHEORETISCHER SKEPTIZISMUS: Es gibt (kann nicht geben) kein Wissen /
keine gerechtfertigten Überzeugungen einer bestimmten Art (partiell:
bestimmte Wissensarten – durch Wahrnehmung, aus reiner Vernunft etc.; oder
überhaupt – universell), in bezug auf die wir gewöhnlich Wissen beanspruchen
(Konflikt mit den intuitiven Vormeinungen über den Umfang unseres
Wissens).
Bem.:
(1)
„Erkenntnistheoretisch“ ist der Skeptizismus, wenn er darauf Bezug nimmt,
dass spezifisch epistemische Bedingungen von Wissen oder Rechtfertigung
nicht
erfüllt
sind.
In
dem
Sinne
wäre
der
Skeptizismus
nicht
erkenntnistheoretisch, wenn er durch einen Nihilismus begründet wäre (wir
könnten dann kein Wissen über den Bereich haben, weil es keine Objekte
dieses Bereiches gibt und deshalb die Wahrheitsbedingung des Wissens nicht
erfüllt wäre).
(2)
Es soll nicht nur gezeigt werden, dass Menschen unter kontingenten
Bedingungen kein Wissen / keine Rechtfertigung haben, sondern dass Wissen
und Rechtfertigung für sie unmöglich ist (modale These).
(3)
Anders als der Pessimismus handelt es sich beim erkenntnistheoretischen
Skeptizismus um eine argumentativ gerechtfertigte These. Es muss also ein
Argument für die These geben, dass Menschen kein Wissen / keine
gerechtfertigten Meinungen über einen bestimmten Bereich haben. Ansonsten
handelt es sich um eine harmlose Behauptung.
(4)
Generalitätsbedingung: Der Skeptizismus muss ganze Wissensarten und
Wissensbereiche betreffen. (Wir können vermutlich niemals herausbekommen,
ob es Leben in anderen Sonnensystemen gibt; aber das ist kein e.S.)
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(5)
Die skeptische Argumentation gegen Wissen und Rechtfertigung muss auf
unserem intuitiven Verständnis dieser Begriffe beruhen. Wenn wir – gemessen
an strengeren Maßstäben – kein Wissen oder keine Rechtfertigung haben, ist
das irrelevant.
Analogie: Jemand könnte sagen, dass es keinen Arzt in Köln gibt. Begründung:
„Arzt“ ist nur jemand, der in weniger als zwei Minuten jede erdenkliche
Krankheit heilen kann. Das würde unser Selbstverständnis nicht bedrohen.
(Stroud 1984, S. 40)
(6)
Radikal ist der erkenntnistheoretische Skeptizismus nur, wenn er jede
epistemische Auszeichnung betrifft (also nicht ausschließlich Wissen).
§3
Strategien skeptischer Argumentation (intuitiver Zugang)
(1)
Das Regressargument (Agrippa)
Wenn jemand, sagen wir Arne, beansprucht, etwas (sagen wir: dass T.G. am 5.
Mai 2004 seine Vorlesung über Skeptizismus in Köln beginnt) zu wissen, dann
kann man Arne fragen, wie er das weiß. Und seine Antwort wird in der Angabe
eines Grundes bestehen (es steht auf einem Aushang). Doch jetzt kann man die
Frage wiederholen: Wie weißt Du das? Und dieses Verfahren lässt sich
unbegrenzt häufig wiederholen. Solange man an kein Ende kommt, wird man
Arne nicht ernsthaft Wissen in bezug auf die erste Sache zuschreiben.
Normalerweise wird man sich irgendwo mit einer Antwort zufriedengeben,
ohne weiter nachzufragen. Doch ist das nicht relativ willkürlich? Wenn man
andererseits an irgendeiner Stelle das anführt, wofür man vorher allererst
Gründe angeben wollte, hat man sich offenbar unzulässig im Kreis gedreht.
Also weiß Arne die Sache nicht. Und dieses Ergebnis lässt sich
verallgemeinern. Wir wissen folglich nichts, weil jede Begründung entweder
an kein Ende kommt oder einfach willkürlich abbricht oder sich schließlich
einfach im Kreise dreht.
(2)
Das Fehlbarkeitsargument
Wenn man sagt „Ich weiß, dass Schnee weiß ist, aber es ist möglich, dass es
sich anders verhält“ klingt das eigenartig. Ähnliches gilt für folgenden Fall:
Wenn wir in einer Lotterie mitspielen, dann wissen wir unter Umständen, dass
nur eines von einer Million Losen gewinnt, alle anderen 999.000 Lose sind
Nieten. Nehmen wir nun an, jemand zieht eine Niete und sagt (bevor er das Los
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öffnet), ich weiß, dass es eine Niete ist. Das klingt eigenartig, obwohl seine
Überzeugung, dass es sich um eine Niete handelt, wahr ist und seine Gründe
die Wahrheit äußerst wahrscheinlich machen. Deshalb sagt man: Wissen
erfordert Irrtumsimmunität der Gründe bzw. wahrheitserzwingende Gründe.
Doch solche Gründe scheint es nicht zu geben. Irrtum ist immer möglich. Das
lehrt die Erfahrung: selbst bei der Beschreibung der eigenen gegenwärtigen
Erfahrung schleichen sich Fehler ein (Beispiel vom Burschenschaftler, der
glaubt, dass ihm ein glühendes Brandeisen aufgedrückt wird. Tatsächlich ist es
nur ein Stück Eis.; Rechenfehler in der Mathematik und Logik.) Also haben
wir kein Wissen.
Verstärkt: Irrtum ist immer denkmöglich. Descartes Hypothese vom
betrügerischen
Gott,
der
uns
lauter
falsche
Sinneseindrücke
und
Überzeugungen eingibt, ohne dass wir es bemerken.
(3)
Das Unterbestimmtheitsargument (Hume)
Wir gehen gewöhnlich davon aus, dass wir unsere Überzeugungen über die
Außenwelt auf unsere Sinneserfahrung stützen. Wir glauben, dass vor uns ein
Tisch ist, weil wir sehen, dass vor uns ein Gegenstand von der Form eines
Tisches ist. Wenn wir nun genauer darüber nachdenken, was uns unmittelbar in
der Wahrnehmung gegeben ist, dann können wir nur sagen, dass es nicht der
Gegenstand selbst ist. Denn eine tatsachengetreue Wahrnehmung vom Tisch
unterscheidet sich in nichts von einer illusorischen oder halluzinatorischen
Erfahrung eines Tisches. Streng genommen machen wir also einen Schluss von
einer subjektiven perzeptuellen Erscheinung auf objektive Dinge in der
Außenwelt und deren objektive Eigenschaften. Dabei kann es sich nicht um
einen deduktiven Schluss handeln, sondern es ist ein Schluss von der Wirkung
(perzeptuelle Erscheinung) auf deren externe Ursache. Doch es gibt sehr viele
verschiedene mögliche Ursachen dieser Wirkung. Eine Hypothese ist die
Normalursache (die Ursache entspricht ihrer perzeptuellen Erscheinung). Doch
es gibt beliebige damit konfligierende kausale Hypothesen. Die perzeptuelle
Erscheinung lässt unterbestimmt, welche Erklärung die richtige ist. Und
deshalb kann man keine Aussage über die Außenwelt durch die Wahrnehmung
rational rechtfertigen.
(4)
Das Problem der fehlenden Metarechtfertigung (Stroud)
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Die erkenntnistheoretische Rechtfertigung soll uns zur Wahrheit führen.
Unsere Gründe sind also nur dann gut, wenn sie die Wahrheit tatsächlich
wahrscheinlich machen. Dafür muss es einen Zusammenhang unserer
Rechtfertigungsverfahren mit der Wahrheit geben. Die Gründe müssen die
Wahrheit zwar nicht garantieren, aber eben doch der Wahrheit zuträglich sein.
Doch woher wissen wir, ob unsere Gründe dies tatsächlich leisten?
Stellen Sie sich die folgende, aus einem Roman der 50er Jahre entlehnte,
Geschichte vor. Harry beobachtet, dass Frank, ein Freund von ihm, gekidnappt
wird und von seinen Entführern in eine verlassene alte Villa am Stadtrand
gebracht wird. Harry schleicht sich in das Gebäude und wird Zeuge eines
grausigen Geschehens. Dunkle Gestalten schnallen den ohnmächtigen Freund
auf einen Tisch, öffnen mit einem Sezierbesteck seine Schädeldecke und
entnehmen sein blutiges Gehirn. Sie lagern es in einem Behälter mit
Nährflüssigkeit und schließen es mit Drähten an einen Computer an. In diesem
Moment wird Harry entdeckt und von den Entführern überwältigt. Sie erzählen
ihm, was sie mit Frank gemacht haben. Sie haben sein Gehirn nämlich an einen
leistungsstarken Computer angeschlossen, der seine Erfahrungen und sein
scheinbar aktives Eingreifen in die Welt komplett simuliert. Jetzt gerade würde
er erleben, wie er sich rasiert bevor er sich auf seinen täglichen Weg ins Büro
macht. Harry wird nun ebenfalls auf den Tisch geschnallt und sieht schon, wie
ein besonders skrupelloser Chirurg die Messer zu wetzen beginnt, da wird ihm
eröffnet: „Du glaubst jetzt vermutlich, dass wir Dir gleich genauso wie Frank
das Gehirn entnehmen. Aber da täuscht Du Dich. In Wirklichkeit haben wir es
bereits getan – vor drei Monaten.“ Mit diesen Worten entlassen sie Harry, der
in düsterer Verzweiflung herumirrt und nicht weiß, wie er herausbekommen
soll, ob es stimmt, was ihm seine Peiniger verkündet haben. Vielleicht handelt
es sich nur um einen grausamen Scherz, vielleicht aber auch um bittere
Wahrheit. Nichts kann ihm verraten, wie es sich wirklich verhält, denn wenn
seine Erfahrung tatsächlich manipuliert ist, dann könnte alles, was er noch über
sich in Erfahrung bringt, ja jede weitere Untersuchung selber zur Täuschung
gehören.
Wenn man sich in Harrys Situation versetzt, dann ist klar, dass Harry durch
nichts, aber auch gar nichts, was er in Erfahrung bringen kann, ausschließen
kann, dass er ein Gehirn im Tank ist. Doch es ist sogar noch schlimmer, er
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kann nicht einmal herausfinden, dass er ein solches Gehirn im Tank ist, denn
wie sollte er das anstellen? Wenn seine Erfahrungen manipuliert sind, dann
könnte auch die Erfahrung, dass er sich (im Spiegel) als ein solches Gehirn
erlebt, auf einer Täuschung beruhen. Es könnte sogar sein, dass jeder ihm sagt,
dass er ein GiT ist, weil sich alle gegen ihn verschworen haben und in
Wirklichkeit nichts an dieser Geschichte dran ist.
Solche und ähnliche Matrix-Geschichten zeigen, dass wir nicht wissen können,
ob unsere Erfahrungen und vermeintlichen guten Gründe wirklich verlässlich
sind. Es ist vorstellbar, dass sie es nicht sind. Und eine solche skeptische
Hypothese lässt sich durch keine guten Gründe ausräumen, weil diese Gründe
selbst nur dann gut sind, wenn die skeptische Hypothese falsch ist. Wir können
also nicht wissen, ob unsere vermeintlichen Gründe tatsächlich gute,
zuverlässige Gründe sind, weil wir nicht aus unserer Perspektive heraustreten
können.
(5)
Das Irrtumsargument
Wenn wir gewöhnliche Dinge über die Welt wissen (dass wir uns in einem
Hörsaal befinden, dass gerade ein Dozent redet, dass vor uns irgendwelche
Leute sitzen, die wir kennen), dann folgt logisch aus den Tatsachen, die wir da
wissen, dass bestimmte Irrtumsszenarien nicht vorliegen. Wenn ich also weiß,
dass ich mich gerade in einem Hörsaal befinde, dann folgt aus dem, was ich da
weiß, dass ich kein GiT bin, das in einem Laboratorium aufbewahrt wird und
dem durch einen Computer vorgegaukelt wird, dass es sich gerade in einem
Hörsaal beindet. Wenn es wahr ist, dass ich mich im Hörsaal befinde, dann
kann es nicht wahr sein, dass ich ein solches GiT im Laboratorium bin. Nun
erscheint aber das folgende Prinzip überaus einleuchtend: Wenn ich etwas
weiß, dann muss ich auch alles wissen, was aus dem, was ich da weiß, folgt.
Oder, anders formuliert (durch Kontraposition), wenn ich betimmte
Konsequenzen einer fraglichen Tatsache nicht weiß, dann weiß ich auch die
fragliche Tatsache nicht. Für fast jede alltägliche Tatsache gilt jedoch, dass sie
impliziert, dass ich mich nicht in einer Matrix-Situation oder einer GiT-Welt
befinde. Ich müsste also wissen können, dass ich mich nicht in einer MatrixSituation oder einer GiT-Welt befinde, um die alltäglichen Dinge wissen zu
können. Aber genau das kann ich nicht wissen, weil die Matrix-Situation oder
die GiT-Welt so konstruiert sind, dass man sie nicht erkennen könnte, wenn
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man sich in ihnen befände (die Erfahrungen sind global manipuliert bzw.
simuliert). Deshalb hat man keinerlei Wissen über alltägliche Dinge.
§4
Die Werkzeuge des Skeptikers
(A)
In den sogenannten cartesianischen Argumenten (Fehlbarkeitsargument,
Argument der fehlenden Metarechtfertigung, Irrtumsargument) für den
Skeptizismus spielen sogenannte skeptische Hypothesen eine wichtige Rolle.
Skeptische Hypothesen
(i)
skeptische Hypothesen sind nicht mit dem Skeptizismus selbst zu
verwechseln. Sie dramatisieren mögliche (denkbare) Situationen, in
denen wir alle die Belege und Gründe haben, die wir auch in der
normalen Welt haben, in der diese Belege und Gründe jedoch kausal so
erklärt werden, dass die auf diese Belege und Gründe gestützten
Meinungen universell oder wenigstens systematisch falsch sind.
(ii)
Denkbar sind solche Situationen nur, wenn die Tatsachen, die über die
Wahrheit oder Falschheit unserer Meinungen entscheiden, von den
Belegen, Gründen und Erfahrungen unabhängig sind. (Wenn die
Wahrmacher nicht auf die Rechtfertigungsverfahren reduzierbar sind,
spricht man von Wahrheitsrealismus.)
(iii)
Aus der Möglichkeit radikaler Täuschungsszenarien alleine folgt nicht
der
erkenntnistheoretische
Skeptizismus.
Es
bedarf
weiterer
erkenntnistheoretischer Annahmen.
(iv)
Zwei Typen von skeptischen Hypothesen
(DH) Dämonhypothesen
Ein betrügerischer Dämon verursacht in uns permanent
irreführende Gründe, so dass wir ausschließlich falsche
Meinungen über die Welt haben, ohne es zu bemerken.
(Descartes Dämonszenario, Gehirne im Tank, Matrix)
(TH) Traumhypothesen
Wir träumen permanent, ohne dass wir aufgrund qualitativer
Merkmale der Traumerfahrung feststellen können, dass wir uns
in diesem Zustand befinden. Die auf unsere Traumerfahrung
gestützten
Meinungen
können
(im
Unterschied
Dämonhypothese) wahr sein, aber wenn, dann rein zufällig.
9
zur
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(B)
Erkenntnistheoretische Annahmen
(1)
WW-These: Alle für Wissen relevante Tatsachen müssen ihrerseits
gewusst werden. (RA)
(2)
Unfehlbarkeitsbedingung:
Wissen
erfordert
zwingende,
wahrheitsgarantierende Gründe. (FA)
(3)
Rationalitätsbedingung: Alle guten Gründe müssen die auf sie
gestützten Überzeugungen rational stützten. (UA) / keine SH
(4)
Zuverlässigkeitsbedingung: Gute Gründe müssen die Wahrheit der auf
sie gestützten Meinungen objektiv wahrscheinlich machen. (FM)
(5)
Unabhängigkeitsbedingung: Wenn man Irrtumshypothesen ausräumen
will, dann muss man das mit Hilfe unabhängiger (durch die Hypothese
nicht gefährdeter) Gründe tun. (FM)
(6)
§5
Geschlossenheitsprinzip: Wp & pq  Wq
Programm der Vorlesung
5. Mai
Einführung
Skeptische Argumente
12. Mai
Pyrrhonische Skepsis (Sextus Empiricus)
Agrippas Trilemma / Kriteriumsproblem
19. Mai
Akademische Skepsis. Zwischen Skeptizismus und Fallibilismus
(Karneades, Cicero)
Ist die akademische Skepsis selbstwidersprüchlich?
26. Mai
Descartes‘ skeptisches Argument – verschiedene Interpretationen
2. Juni
Descartes‘ Skepsiswiderlegung: Cogito-Argument und Gottesbeweise
9. Juni
Humes Unterbestimmtheitsargumente
Außenweltsskeptizismus – Induktionsskepsis
16. Juni
Zeitgenössischer Skeptizismus: Barry Strouds Traumargument
Antiskeptische Strategien
23. Juni
Idealismus (Berkeley, Kant) und Wahrheits-Antirealismus
/Verifikationismus
30. Juni
Transzendentale Argumente und Letztbegründung
7. Juli
Common Sense (G.E. Moore)
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VL: Skeptizismus, Grundmann
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5. Mai
§6
14. Juli
Kontextualismus
21. Juli
Semantische Argumente gegen den Skeptizismus (Putnam / Davidson)
28. Juli
Erkenntnistheoretischer Externalismus
Die diagnostische Methode
Ich werde in der Vorlesung das Problem sehr breit diskutieren, auch unter
Berücksichtigung seiner praktischen Konsequenzen.
Gleichzeitig werde ich mich dem Problem jedoch mit einer bestimmten methodischen
Vorgabe annähern: Ich glaube, dass es sich bei dem erkenntnistheoretischen
Skeptizismus um ein echtes (genuines) Problem handelt. Wir dürfen deshalb nicht nur
einfach überlegen, wie man dieses Problem (durch eine direkte Widerlegung) lösen
kann oder (durch Manipulation unserer erkenntnistheoretischen Grundannahmen)
einfach zum Verschwinden bringen kann. (Viele sagen, die skeptische Konklusion sei
so absurd, dass die skeptische Argumentation automatisch auf eine reductio ad
absurdum der (semantischen oder erkenntnistheoretischen) Annahmen hinauslaufe, die
zu dieser Konklusion führen: skeptische Hypothesen sind semantisch sinnlos /
bestimmte erkt. Anforderungen sind einfach überzogen.)
Meine Methode wird etwas anders sein: Der Skeptizismus ist ein überzeitlich und
interkulturell so grundlegendes und intutiv / vor-theoretisch so schnell einleuchtendes
Problem, dass wir überlegen müssen, welche Analyse unserer erkenntnistheoretischen
Grundbegriffe es uns erlaubt, dieses Problem zu erklären und argumentativ zu
rekonstruieren. Adäquatheitskriterium: Die Analyse unserer erkenntnistheoretischen
Grundbegriffe kann nur dann adäquat sein, wenn sie dieses Problem nicht zum
Vesrchwinden bringt, sondern einsichtig macht! Damit sage ich nicht, dass der
Skeptizismus wahr ist, und ich sage auch nicht, dass er unwiderlegbar ist. Aber ich
halte an der basalen Intution fest, dass er ein echtes Problem thematisiert. Damit haben
wir einen Leitfaden für die Analyse unserer erkenntnistheoretischen Begriffe an der
Hand.
§7
Literatur zum Skeptizismus
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