Vorlesungstext:

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Vorlesungsunterlage:
Friedrich WOLFRAM
Einführung in die Religionsphilosophie: G n o s i s
(SS 1992, überarbeitet SS 2005)
1. Einleitung
1.1 Drei Texte (Perlenlied, Böhme, Bloch)
Beim Überlegen, wie ich am besten in der ersten Stunde eine Vorstellung dessen vermitteln könnte,
was in diesem Semester Gegenstand meiner Einführung in die Religionsphilosophie sein wird,
bin ich zu dem Ergebnis gekommen, daß als allererstes Texte für sich sprechen sollten. Ich meine
nämlich, daß es keine Erkenntnis und kein Verstehen gibt ohne entsprechende vorangehende
Verstehenserwartung, ohne Inter-esse, als das zwischen Verstehendem und Verstandenem in der
Mitte liegende, Vermittelnde. Dieses Interesse will ich vorweg ansprechen bzw. erfragen. Bevor
davon die Rede ist, was "Gnosis" bedeutet, sollen drei Texte für sich sprechen: ein antiker, ein
frühneuzeitlicher und einer aus dem 20. Jahrhundert. Nebenbei ist mit diesen drei Texten
angedeutet, daß der Gegenstand der Vorlesung kein zeitlich leicht einzugrenzender sein wird.
Der erste Text heißt "Gesang des Apostels Judas Thomas im Lande der Inder", besser bekannt unter
dem Titel "Perlenlied", und ist uns im Kontext der Thomasakten überliefert, als deren Heimat
Syrien anzusehen ist. Diese Akten waren nicht nur bei gnostischen Gruppen sehr beliebt, sondern
wurden auch in kirchlichen Kreisen gern gelesen. Die vorliegende Übersetzung aus der syrischen
Textfassung stammt vom Wiener Judaisten Kurt Schubert.1
Der zweite Text stammt von Jakob Böhme (1575 - 1624), dem Schuhmacher, Philosophen,
Mystiker und Theosophen, und hat den Titel "Neue Wiedergeburt".2
Der dritte Text stammt von Ernst Bloch (1885-1877) und heißt: "Fremdes Zuhause, urvertraute
Fremde"; er stammt aus seinem Buch: Spuren, Frankfurt /M. (Bibliothek Suhrkamp) 1969, 80-81.3
Das Perlenlied schildert in Versform (was in dieser Übersetzung nicht berücksichtigt wird) die
Fabel von der Entsendung eines Prinzen aus dem Osten zu einem verborgenen Schatz, der Perle,
nach Ägypten, die er nach zeitweiligem Vergessen seines Auftrags erringt. Dadurch wird er
zugleich zur Heimkehr veranlaßt, die er glücklich besteht. Dahinter und mit dieser Erzählung
verflochten steht der gnostische Mythos von der Erlösung der Seele aus der Finsternis zum
Lichtreich. Die Fabel ist also zugleich eine Parabel und hat symbolische Bedeutung.
Die Acta Thomae liegen in syrischer und griechischer Sprache vor. Der
syrische Text wurde auf Grund einer Londoner Handschrift von W.Wright
publiziert: Apocryphal Acts of the Apostles, London-Edinburgh 1871, Bd. I, 171
ff. Kleinere Abweichungen des syrischen Texts auf Grund einer Berliner
Handschrift sind in der von P.Bedjan besorgten Neuausgabe berücksichtigt (Acta
martyrum et sanctorum III, Paris 1892, 3 ff.). Der griechische Text wurde auf
Grund von 21 Handschriften hergestellt und von M.Bonnet herausgegeben
(R.A.Lipsius et M.Bonnet, Acta Apostolorum Apocrypha II, 2, Leipzig 1903, 99288.). Es steht heute fest, daß die Acta Thomae ursprünglich syrisch abgefaßt
waren. Diese Tatsache hindert jedoch nicht, daß vom historischen Standpunkt aus
im allgemeinen dem griechischen Text der Vorzug zu geben ist, weil die uns
heute überkommene syrische Textform bisweilen großkirchliche Umarbeitungen
aufweist. Im Fall des Perlenlieds jedoch neigt die moderne Forschung dazu, dem
syrischen Text trotz der ihm anhaftenden Unklarheiten den Vorzug zu geben (Vgl.
z.B. A.F.J.Klijn, The Acts of Thomas, Leiden 1962, 273, 274; A.Adam, Die
Psalmen des Thomas und das Perlenlied als Zeugnisse vorchristlicher Gnosis,
Berlin 1959, 48.) <Handout 1>
2 Jakob Böhme, Ausgewählte Schriften, hrsg.v. Hans Kayser, Leipzig (InselVerlag) 1920, 222-224. <Handout 2>
3 Wichtige Werke Blochs: Geist der Utopie, 1918/1923; Spuren, 1930; Erbschaft
dieser Zeit, 1935; Das Prinzip Hoffnung, 1954-1955; Experimentum Mundi, 1975;
Gesamtausgabe (Suhrkamp), 1975. <Handout 2>
1
2
Der Böhme-Text ist eine offenkundig religiöse Exhortatio mit deutlichen Anspielungen an die
Bilderwelt des Alten (Manna) und Neuen Testaments (Bräutigam, Jungfrau, Umkehr,
Wiedergeburt...), in der aber die Welt als Fremde, ja als Gefängnis bezeichnet wird, aus dem
auszubrechen sei. Es erschallt der Ruf, daß "durch die Wollust dieser Welt durchzureißen" sei; die
Seele soll nach dem Vaterlande forschen, aus dem sie ausgewandert.
Ernst Bloch bringt dieses Gefühl des Fremdseins in der Welt in Verbindung mit dem romantischen
Lebensgefühl: "Dort wo du nicht bist, wohnt das Glück." und erzählt eine dem Perlenlied
vergleichbare alte persische Geschichte, um sie als Beleg für seine Theorie zu deuten: der Mensch
ist des Sprungs zum Niegewesenen, bisher gänzlich Fremden fähig. "Wohl dem, der sich unter
vorhandenen oder vorgemachten Stillungen nicht diesen appetitus verlegen läßt."
Ein altorientalisches Märchen, ein christlicher Mystiker, ein Marxist sind hier zusammengestellt.
Es geht diesen dreien um deutlich Verschiedenes, nämlich um Popularisierung eines kosmischen
Mythos, um christliche Erneuerung und um den Geist der Utopie; aber es verbindet sie auch etwas.
Ist das ein charakteristischer Weltbezug? - vielleicht; aber ist das nicht eine noch völlig
unzulängliche Feststellung? Warum werden sie in Verbindung mit "Gnosis", also mit "Erkenntnis",
gebracht? Und: Was geht das uns an? Was spricht Sie unmittelbar an?
1.2 Zugänge
Mich selbst geht es einfach deswegen etwas an, weil mich die Beziehungen von Philosophie und
Religion interessieren. "Gnosis" ist ein Paradigma für die "Wiederkehr der Religion".4
o Biographisch gesprochen, bin ich von der Klassischen Philologie und Judaistik zur Philosophie
gestoßen und habe in der Philosophie zunächst das gemacht, was ich am besten konnte, Geschichte
der antiken Philosophie mit besonderem Augenmerk auf den Begegnungsraum von griechischem
Denken und orientalischer Religiosität. (Womit nicht gesagt sein soll, daß die Griechen areligiös
dachten und die Orientalen gedankenlos religiös waren; es gibt aber Akzentunterschiede.) Ich habe
mich sehr mit dem Begriff "Glauben" (pístis) im Rahmen der vorchristlichen griechischen
Philosophie, also einem zunächst erkenntnistheoretischen und ethischen Begriff, der für die
Bildung eines theologischen Glaubensbegriffs Grundlage war, beschäftigt. Es ist allgemein
bekannt, daß ein theologischer Begriff "Glauben" der Christen der ersten Jahrhunderte nicht nur
mit einem philosophisch-wissenschaftlichen Begriff "Erkenntnis" in Konfrontation gekommen ist,
sondern - siehe Paulus an die Korinther - auch mit einem religiösen Begriff "Erkenntnis", "Gnosis"
zu kämpfen hatte. Kaum bekannt ist, wieviel die Christen gerade in ihrem Glaubensbegriff von den
heidnischen Philosophen gelernt haben. Biographisch-zufällig habe ich die Bekanntschaft mit dem
Wiener Gnosis-Forscher Robert Haardt gemacht, dem ich bei der Herausgabe eines Buchs helfen
durfte.5 Das war vor fast 40 Jahren. Warum komme ich jetzt darauf zurück?
o Die Formulierung "Wiederkehr der Religion" scheint mir ein Phänomen unserer Zeit, wenn auch
noch gänzlich unbestimmt, zutreffend zu benennen. In kirchlichen Kreisen kann man heute
manchmal das Wort von der "Religiosität ohne Gott" hören, was eine von mehreren Variationen
einer großen Rat- und Orientierungslosigkeit ist, die die Theologie heute kennzeichnet. Theologieintern ist ja heute praktisch alles möglich: "Während der eine Theologe religionslos an Gott
glauben will (Dietrich Bonhoeffer), bekennt sich der andere zu einem Glauben ohne Gott
Zum Thema "Wiederkehr der Religion" wurde im Jahr 1990 in der Evangelischen
Akademie in Tutzing am Starnberger See eine "zeitdiagnostische Konsultation"
abgehalten. Die Initiative dazu war von den Philosophen Thomas H. Macho
(Österreich) und Peter Sloterdijk (Deutschland) ausgegangen. 1991 brachten
diese beiden unter dem Titel "Weltrevolution der Seele" ein zweibändiges Leseund Arbeitsbuch der Gnosis von der Spätantike bis zur Gegenwart heraus
(Gütersloh, Artemis & Winkler).
5 Robert Haardt, Die Gnosis. Wesen und Zeugnisse. Otto Müller Verlag Salzburg
1967.
4
3
(Dorothee Sölle). Wenn für diesen der personhafte, theistische Gott erst verschwinden muß, damit
der größere, wirkliche nicht-theistische 'Gott über Gott' (Paul Tillich) erscheinen kann, hält jener
das Wort Gott für unverzichtbar 'gebunden an die singularische und personale Bedeutung' der
theistischen Redeweise der Bibel (Helmut Gollwitzer). Und während für den einen aus dem
unendlichen Abstand zwischen Mensch und Gott sich die Unmöglichkeit ergibt, von Gott zu reden,
es sei denn durch ein Wunder (Karl Barth), statuiert die dogmatische Konstitution des Ersten
Vaticanums, 'daß Gott, der Ursprung und das Ziel aller Dinge mit Sicherheit erkannt werden kann'
(Vat.Sess.3,c.2)."6
o In dieser Situation plädiere ich vehement für jene Wiederbegegnung von Philosophie und
Theologie, die Hans Urs von Balthasar lange vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil gefordert hat.7
Intentionsbewegungen zu dieser Wiederbegegnung gibt es in Menge,8 die Sache selbst ist noch
ausständig. Dafür boomt die Literatur über "Gnosis", was einerseits die gnostische Literatur
breiteren Kreisen zugänglich macht, anderseits der Forschung neue Impulse gibt.9 Gelegentlich
wird auch die Grenze, die zwischen besonders cleverem Marketing und grober Unseriosität doch
irgendwo gezogen werden sollte, deutlich überschritten.10 Kritische Sichtung von Wildwuchs, der
ja durchaus handfeste ideenpolitische Zwecke verfolgen kann,11 ist allein schon der Mühe wert.
o Es geht aber um mehr. Es geht um Verständnis für das, was man heute gerne das "Projekt der
Moderne" nennt. Um kontroverse Meinungen wie die Eric Voegelins, der das neuzeitliche Denken
als "gnostisch" denunziert hat,12 und deren Umkehrung durch Hans Blumenberg, der die Neuzeit
als "Überwindung der Gnosis" darstellt.13 Noch aktueller: Jakob Taubes spricht von einem
"gnostischen Rezidiv" seit den 20er Jahren unseres Jahrhunderts als Symptom für eine Krise im
Selbstverständnis der Gegenwart.14
o Schließlich ist das Thema "Gnosis" auch ein brauchbares Paradigma für viele Probleme, die die
Religionsphilosophie immer begleiten, weil sie, die Religionsphilosophie von einem ganzen Kranz
von Hilfsdisziplinen umgeben ist, deren laufende neue Erkenntnisse zu integrieren sind:
Aus der Diskussion in: S,Moser und E.Pilick (Hrsg.), Gottesbilder heute,
Königstein 1979, 129; zitiert von Kurt Wuchterl, Philosophie und Religion,
Stuttgart 1982, 10.
7 Hans Urs von Balthasar, Schleifung der Bastionen. Johannes Verlag, Einsiedeln
1952.
8
Z.B. Emerich Coreth SJ, Walter M.Neidl, Georg Pfligersdorffer (Hrsg.),
Christliche Philosophie im katholischen Denken des 19. und 20. Jahrhunderts. 3
Bde. Verlag Styria, Graz Wien Köln, 1987. Oder: Richard Schaeffler, Die
Wechselbeziehungen
zwischen
Philosophie
und
katholischer
Theologie.
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 1980.
9 Z.B. Gnosis. das Buch der verborgenen Evangelien. Herausgegeben und übersetzt
von Werner Hörmann. Pattloch Verlag / Weltbild Verlag, Augsburg 1990. Oder: Die
andere Bibel, mit Altem und Neuem Testament. ediert u. hsg.v. Alfred Pfabigan.
Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1990. J. Taubes (Hrsg.), Gnosis und Politik,
München/Paderborn 1984 (Religionstheorie und Politische Theologie Band 2). P.
Koslowski (Hrsg.), Gnosis und Mystik in der Geschichte der Philosophie.
Zürich/Darmstadt 1988.
10 M.Baignant/R.Leigh, Verschlußsache Jesus. Die Qumranrollen und die Wahrheit
über das frühe Christentum. München 1991.
11 Siehe den Versuch in der Zeitschrift Trenta Giorni, ein winziges Textfragment
aus Qumran als Evangeliumstextstelle zu deuten, was den Hintergedanken vermuten
läßt, daß die ganze mühselige Arbeit der modernen Bibelwissenschaft vom Tisch
gewischt und die fundamentalistischen Anhänger einer Verbalinspiration in ihre
angeblichen Rechte gesetzt werden sollen.
12 Eric Voegelin, Wissenschaft, Politik, Gnosis, 1959
13 Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, 1963.
14 Jakob Taubes, Das stählerne Gehäuse und der Exodus daraus oder ein Streit um
Marcion, einst und heute. In: J.Taubes, Hrsg., Religionstheorie und Politische
Theologie, Bd. 2: Gnosis und Politik. München 1984. 9-15.
6
4
Religionspsychologie, Religionssoziologie, Religionsgeschichte, Religionsphänomenologie, nicht
zu vergessen philosophische Arbeitsfelder wie die Hermeneutik. Darunter finden sich
ausgesprochen religionskritische Ansätze. Daneben spielt sich das Verwirrspiel der Dichter ab, die
einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zum "Diskurs Religion" leisten, angefangen von den
großen Mythologen Homer und Hesiod, über dichterisch begabte Philosophen wie Parmenides, der
in Hexametern besser philosophieren konnte als andere in Prosa, und Plato mit seinen
faszinierenden Kunstmythen. Vermutlich bewirken manche religiöse Sätze im dichterischen Werk
eines Peter Turrini oder Peter Handke ebensoviel an religiöser Bewußtseinsbildung wie jahrelanger
kirchlicher und staatlich anerkannter Religionsunterricht. Das Perlenlied hat ja auch mindestens
den Einfluß gewonnen, den der christliche Mystiker Böhme oder der marxistisch-atheistische
Philosoph Bloch hatten und haben. (Der Atheismus Blochs ist, das muß man dazusagen, ein auf
Schritt und Tritt biblisch unterfütterter.15) Die Wissenschaft vom Wort (in der Antike wurde
"Logik" in diesem umfassenden Sinn verstanden) umfaßt noch andere Bereiche, die nicht zu
vergessen sind: die Grammatik, die Linguistik, die Rhetorik. Sie zu vernachlässigen, wäre ein
Fehler.
Sie werden sich vielleicht im Stillen bereits gefragt haben: Warum sagt er nicht zuallererst, was er
unter "Religion" einerseits und unter "Religionsphilosophie" anderseits versteht; wie er diese
Begriffe definiert. Das kann ich schon tun, aber es geht mir dabei wie der Naturwissenschaft mit
der Natur; wenn sie den Begriff der Natur zufriedenstellend definiert hätte, wäre sie an ihr Ende
angelangt. Auch die Religionsphilosophie könnte ihr Werkzeug einpacken und heimgehen, wenn
sie wüßte, was das ist, die Religion. Sie ist noch nicht fertig mit ihrer Aufgabenstellung.
Religionsphilosophie ist per definitionem eine philosophische Disziplin, deren Gegenstand die
Begriffs- und Wesensbestimmung der Religion ist. In engerem Sinn kann man sie bestimmen als
philosophische, ausschließlich mit rationalen bzw. wissenschaftlichen Methoden und
Argumentationsverfahren operierende Reflexion der Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen
von Aussagen der (positiven) Religion(en) und über die Religion(en) einschließlich der kritischen
Auseinandersetzung (Religionskritik). Es mag eine Frage des Temperaments sein, ob man darüber
zufrieden ist, daß wegen der Ungelöstheit der Probleme weiterhin Gehaltszahlungen vom
Wissenschaftsministerium fließen, oder ob man unter der Ungelöstheit leidet. Jedenfalls gibt es ein
Grundproblem, das in der Geschichte die größten Kulturkonflikte verursacht, aber auch die größten
kulturellen Leistungen, Kulturschöpfungen angeregt hat. In diesem Zusammenhang ist der
evangelische Theologe Paul Tillich zu zitieren, der dieses Grundproblem m.E. unübertrefflich
beschrieben hat:
"In der Religion tritt der Philosophie ein Objekt entgegen, das sich dagegen sträubt, Objekt der
Philosophie zu werden. Die Religion macht, je stärker, ursprünglicher, reiner sie ist, desto
nachdrücklicher den Anspruch, der verallgemeinernden Begriffsbildung enthoben zu sein. ...
Religion fühlt einen Angriff auf ihr innerstes Wesen, wenn sie Religion genannt wird. ... Die
Religionsphilosophie ist also der Religion gegenüber in der eigentümlichen Lage, daß sie das
Objekt, das sie erfassen will, entweder auflösen oder sich vor ihm auflösen muß. Beachtet sie den
Offenbarungsanspruch der Religion nicht, so verfehlt sie ihr Objekt und spricht nicht von der
wirklichen Religion. Erkennt sie den Offenbarungsanspruch an, so wird sie zur Theologie.
Beide Wege sind für die Religionsphilosophie ungangbar. Der erste führt sie an ihrem Ziel vorbei,
der zweite führt nicht nur zur Auflösung der Religionsphilosophie, sondern der Philosophie
überhaupt. Gibt es einen Gegenstand, der der Philosophie grundsätzlich verschlossen bleibt, so ist
ihr Recht auf jeden Gegenstand fragwürdig geworden. Denn sie würde ja außerstande sein, von
sich aus die Grenze zwischen diesem verschlossenen Gegenstand, also der Religion, und den
übrigen Gebieten zu ziehen. Ja, es wäre möglich, daß die Offenbarung Anspruch auf alle Gebiete
machte; und die Philosophie hätte keine Waffe, sich diesem Anspruch zu widersetzen. Gibt sie sich
Kein Zufall, daß ein Buchtitel Blochs lautet: "Atheismus im Christentum. Nur
ein Atheist kann ein guter Christ sein, nur ein Christ kann ein guter Atheist
sein." (Frankfurt/M.: suhrkamp 1968.)
15
5
an einem Punkte auf, so gibt sie sich überhaupt auf."16
Die verschiedenen aporetischen Wege, auf denen man bisher einen Begriff der Religion zu
gewinnen suchte, möchte ich ein andermal behandeln. Das ist ein wichtiger Teil der Wissenschaft.
Es geht dabei nämlich nicht darum, sich über die Denkfehler anderer lustig zu machen. (Manche
Journalisten gehen so mit den Politikern um: Wenn in der Politik der ganz normale Fall eintritt, daß
ein Gesetz novelliert werden muß, dann wird das in den Medien häufig auf die Unfähigkeit der
Politiker zurückgeführt, das Gesetz von Anfang an optimal zu formulieren. Wer so kritisiert,
verkennt aber das Wesen des Fortschritts, ist ein verkappter Fundamentalist. Die rechten wie die
linken Integralisten vertragen es nicht, daß wir das Ganze nur im Fragment haben.) Zur Ausbildung
der neuzeitlichen Wissenschaftsidee gehört die docta ignorantia, das Wissen des Nichtwissens, das
mehr ist als bloße "erkannte Negativität", vielmehr Erkenntnis aus der Negativität; d.h. weniger zu
wissen, daß man nichts weiß, als vielmehr zu wissen, was man nicht weiß, vielleicht sogar, was
man nicht wissen kann, und ganz wesentlich, was man nicht zu wissen braucht; diese negative
Weisheit, die zu den immer wichtiger werdenden Orientierungen in einer Welt des
Wissensüberflusses gehört. Es ist ein konstitutives Moment der Neuzeit, daß sie durch
Einschränkung expandiert, durch Reduktionen Progressionen erzielt.17
Diesmal will ich auch nicht näher auf die innere Problematik der Religionsphilosophie eingehen,
sondern nur die Frage wiederholen: Wozu treibt man heute eigentlich Religionsphilosophie? Was
könnte daran interessant sein? Implizit müßte damit auch beantwortbar sein, warum man sich mit
Gnosis beschäftigen soll.
Willi Oehlmüller 18 nennt drei Probleme, die bisher ungelöst sind und die Religionsphilosophie
interessant machen.
(1) Der "garstige breite Graben" (so Lessing) zwischen der religiösen Überlieferung und den
Erfahrungen der kritischen Subjektivität in der sich ausbildenden geistig-wissenschaftlichen und
gesellschaftlich-politischen Welt wird seit der Aufklärung immer breiter. Wo dieser Zwiespalt
erwacht ist, da erweisen sich alle Formen der Vermittlung, die nicht an diesen Erfahrungen der
kritischen Subjektivität anknüpfen, als unglaubwürdig und unwirksam. Für die Subjektivität kann
die religiöse Überlieferung nur noch dadurch lebendig bleiben, daß sie den einmal begonnenen
Aufklärungsprozeß fortsetzt. Nicht durch Beschwörung dessen, was man einmal auf Treu und
Glauben hin angenommen hatte, sondern allein durch kritische Erinnerung kann das bewahrt
werden, was die unaufgeklärte Aufklärung allzu kurzschlüssig preisgegeben hat.
(2) Das Verhältnis des Christentums und der Kirchen zu den nichtchristlichen Religionen bildet ein
zweites immer dringlicheres Problem der Religionsphilosophie. In der gegenwärtigen Gesellschaft
ist das Christentum nicht mehr wie in der mittelalterlichen res publica christiana die Religion, die
die Gesamtgesellschaft integriert, so daß die Heiden im Grunde "draußen" stehen. In dieser
Gesellschaft kann man ferner nicht mehr wie im Mittelalter der Meinung sein, daß man mit Hilfe
metaphysischer Überlegungen und geschichtsphilosophischer Modelle und Zeitalterschemata das
Verhältnis des Christentums als der einen wahren Religion zu den anderen Religionen für alle
Paul Tillich, Religionsphilosophie. Stuttgart 1962, 7 ff.
Z.B.: Der Verzicht auf das Prinzip der Finalität erschließt erst die volle
Wirksamkeit der Anwendung der kausalen Kategorie auf die Natur; die
Ausschaltung der Frage nach der Substanz und ihre Ersetzung durch die
universale
Anwendung
der
Quantität
ermöglicht
die
mathematische
Naturwissenschaft;
der
Verzicht
auf
das
Phantom
der
absoluten
Genauigkeitsforderung macht eine Exaktheit möglich, die sich selbst Toleranzen
ihrer Ungenauigkeit zu setzen vermag.
18 Willi Oehlmüller, Artikel "Religionsphilosophie" in Sacramentum Mundi IV,
250ff.
16
17
6
zureichend erklärt hat.
(3) Die Stellung und Funktion der Religion und der Kirchen innerhalb der neuen politischen und
gesellschaftlichen Welt bildet ein drittes bis heute ungelöstes Problem der Religionsphilosophie.
Nach der Aufklärung, die die Freiheit aller zum Prinzip der Ethik und Politik erklärt und die
Verwirklichung solcher sittlicher, gesellschaftlicher und politischer Institutionen fordert, die die
Freiheit und das Recht aller Menschen schützen und sichern, ist eine Deutung des Verhältnisses der
Religion und der Kirchen zur Politik und Gesellschaft im Sinne der Politischen Theologie der
Antike und der mittelalterlichen Vorstellungen unmöglich geworden.
Soweit Oehlmüller. Versuchen wir den Zusammenhang mit dem Thema Gnosis herzustellen:
Ad (1): Der "garstige breite Graben", der Zwiespalt zwischen alter religiöser Überlieferung und
neuer Erfahrungswelt. Hier geht es um den Umgang mit "Alt" und "Neu" - ein eminent religiös
besetzter Topos ("Siehe, ich mache alles neu"), im 20. Jahrhundert durch die deutsche und
österreichische Jugendbewegung (mit Namen wie Bund Neuland, Neue Jugend, Quickborn...),
auch durch politische Bewegungen (Theodor Herzls "Alt-Neuland", Jörg Haiders Ausdruck
"Altparteien") aktualisiert, bejubelt und erbittert bekämpft. (In einer Arbeit zur Geschichte der
Katholischen Aktion, von Kramer, hrsg. von der Katholischen Akademie der Erzdiözese Wien,
wurde bitter Klage geführt über die Abwertung bewährter Traditionen mittels des Ausdrucks
"neu".)
Theodor Haecker hat einmal die Frage gestellt: "Was ist mehr, eine tote Wahrheit oder eine
lebendige Lüge?" Radikal gedacht, ist das Thema der "Geschichtlichkeit" all dessen, was
Menschen für wahr halten, in der Tat das Thema "Tod oder Leben", der Gedanke an die ersten und
die letzten Dinge. Geschichtsphilosophie wie Geschichtstheologie sind Kinder der Eschatologie.19
Nun hat Thomas H.Macho in einem Essay, der den zweiten Band des schon erwähnten Lese- und
Arbeitsbuchs der Gnosis, "Weltrevolution der Seele" einleitet, darauf aufmerksam gemacht, daß es
nicht nur lebende und tote Sprachen gibt, sondern auch lebende und tote Weltbilder, lebende und
tote Religionen. Der Bildungsbürger freut sich, wenn für ihn das Tote noch nicht ganz tot ist, wenn
manche Alltagsworte durch die lateinischen oder griechischen Lektionen an unvermuteter Tiefe
gewinnen. "Wir finden das Vergangene im Gegenwärtigen und das Lebendige im Toten. Wer lernt,
übt sich in solcher Dialektik. Er betrachtet seine Zeit, um deren Vorgeschichte zu verstehen, und er
studiert die Äußerungen der Vergangenheit, um den Geist der Gegenwart zu begreifen."20 Und nicht
als erstem ist Thomas Macho aufgefallen, daß nicht alle Gestalten der Geistesgeschichte sich
diesem Schematismus fügen. "Es gibt ideenhistorische 'Wiedergänger', Systeme einer Welt- und
Lebensanschauung, die sich dem Entweder - Oder von lebendig und tot, vergangen und
gegenwärtig, einflußreich und ohnmächtig, mit Eigensinn entziehen; Gedankengebäude, die - allen
Abbruchunternehmungen zum Trotz - immer wieder von neuem errichtet werden; Haltungen und
Evidenzen, die offenkundig nicht mit dauerhaftem Erfolg überwunden werden können. Selten zwar
- doch um so eindrucksvoller - erwachen Ideen, die längst für tot erklärt wurden, plötzlich wieder
zum Leben. Was ausgestorben schien, beginnt abermals zu glänzen, sich zu vermehren und
menschliches Bewußtsein in seinen Bann zu schlagen. Ein solcher ideengeschichtlicher
Wiedergänger ist beispielsweise der Pythagoreismus, der im 20. Jahrhundert eine veritable, noch
keineswegs zu Ende gekommene Renaissance erlebt hat; eine andere Wiedergängerin ist die 'idea
innata', die im Kontext linguistischer Grundlagenforschung und evolutionärer Epistemologie zu
neuen Ehren gelangt ist.
Eine von Anfang an vehement bekämpfte, mehrfach ausgerottete und später ebenso gründlich wie
Vgl. Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen
Voraussetzungen
der
Geschichtsphilosophie. 1949/1953. In: Karl Löwith,
Sämtliche Schriften, Stuttgart 1983. Sowie der spätere Aufsatz von 1963: "Das
Verhängnis des Fortschritts", o.c. 392-410.
20 Macho, o.c. 485.
19
7
vergeblich totgesagte Wiedergängerin der Ideen- und Religionsgeschichte ist die Gnosis: und mit
ihr eine Vielzahl von Diskussionen und theoretischen Begründungen, Widerlegungen und
Plädoyers, Überwindungsdeklaratioen und Auferstehungszeugnissen, die häufig genug vom
gnostischen Geist kaum unterschieden werden können. Solche Resistenz des gnostischen Impulses
gegen alle Anstrengungen zu seiner Auslöschung verdient unser besonderes Interesse. Auf
seltsamen Wegen haben sich die Weisheiten einer spätantiken Religion verbreitet, deren Herkunft
bis auf den heutigen Tag dunkel und umstritten geblieben ist. Kein frühchristlicher Bannfluch, kein
hochmittelalterliches Autodafé (wie es beispielsweise in Montségur veranstaltet wurde), keine
wissenschaftliche Erkenntnis und keine technische Erfindung konnte offenbar jene zeitgenössische
Renaissance der Gnosis verhindern, die einerseits zu einer fast nicht mehr überschaubaren Fülle
von Fachliteratur, und andererseits zu einer geradezu überwältigenden Vielfalt neognostischer
Glaubensgemeinden und Sekten geführt hat. Womöglich ist die Gnosis erst im späten 20.
Jahrhundert endgültig zur 'Weltreligion' (Gilles Quispel) aufgestiegen!"21
Ad 2: Das Verhältnis des Christentums zu den nichtchristlichen Religionen. Das Versuchslabor
dafür ist längst errichtet, es ist die sog. "Welt der drei Ringe", der drei biblischen Religionen
Judentum, Christentum und Islam. Diese drei Religionen sind gewissermaßen eine aus der anderen
und die dritte aus den beiden ersteren entstanden. Sie sind Folgen einer Dissidenz und grenzen sich
auch so gegeneinander ab, daß sie das Gemeinsame kennen und schätzen und das
Nichtgemeinsame als Korruption und Abfallen disqualifizieren. Alle drei weisen eine Aura von
Randerscheinungen auf, die mit den Randerscheinungen der jeweils anderen Religion viel
gemeinsam haben. Die Geschichte der jeweiligen Orthodoxie ist zugleich die Geschichte der von
dieser Ausgegrenzten. Damit ist sie aber auch eine Geschichte von drei kommunizierenden
Gefäßen. Es war das besondere Verdienst des Wiener Historiker-Philosophen Friedrich Heer, die
europäische Geistesgeschichte in ihrer ganzen Polyphonie darzustellen.22 Es ist nun die Frage, ob
das Element, die Stimmen der gnostischen Häresien in dieser Symphonie der Geschichte
ausschließlich aus den Quellen des Altertums zu verstehen sind oder spontan immer wieder neu
erklingen. Die bedenkenswerte These Peter Sloterdijks geht dahin, letzteres anzunehmen. "Es liegt
in der Natur der gnostischen Wissenszustände, daß ihre Seinsweise nicht die einer stetigen
Überlieferung ist, sondern die einer sporadischen Neuentdeckung in geeigneten kulturellen
Konjunkturen: in den schwersten Krisen der Welt schützen Gnosen aller Art das Leben vor der
Versuchung der Anpassung an das, was kein Leben mehr wäre. Wann immer sie sich durch
Selbstentzündung neu konstituierte, war 'Gnosis' das Gegenteil einer Weltreligion, die sich in
positiven Institutionen und kanonischen Schriften etabliert hätte. Sie flackerte auf und verging als
eine Nicht-Welt-Religion im doppelten Sinn des Wortes. Sie blieb ohne expansive Organisation in
Raum und Zeit und ohne Glauben daran, daß es der Welt gemäß sei, sich in ihr weltreligionsartig
zu institutionalisieren. Daher ist die Geschichte gnostischer Phänomene weithin identisch mit der
Folge ihrer wiederholten Selbsterfindungen. Folglich ist 'die Gnosis' auch mit sich selber dissident;
die Häretikerjäger der frühen Kirche hatten in gewisser Weise recht, wenn sie den
Erfindungsreichtum und die spontanmythologische Unberechenbarkeit der häretischen Systeme
beklagten; man hat es bei der älteren Gnosis - wie bei ihren neueren Avataren - tatsächlich eher mit
einer Gattung von metaphysical fiction zu tun als mit festgefügter wiederholungsfähiger
Dogmatik. Irenäus, Hippolytus, Epiphanius wissen gut, wo sie den Feind zu suchen haben: in jener
polymythischen Frechheit der Häretiker, die sich die Freiheit nehmen, selbst zu erdichten, woran
sie 'glauben' werden. Die Kirchenmänner denunzieren instinktsicher alle Manifestationen des freien
Geistes, der noch im Allerheiligsten erfinderisch zu sein wagte. Sie rufen Alarm angesichts der
gnostischen Mythopoiese, die den christlichen Stoff ins Nicht-mehr-Christliche weiterdichtet."23
Macho, o.c. 486 f.
Friedrich Heer, Europäische Geistesgeschichte. W.Kohlhammer Verlag Stuttgart
1953.
23
Peter
Sloterdijk,
Die
wahre Irrlehre. Über die Weltreligion der
Weltlosigkeit. In: P.Sloterdijk / Th.Macho, op.cit. I, 24.
21
22
8
Gnosis ist für Sloterdijk "nicht der Name einer positiven Konfession; das Wort Gnosis
kennzeichnet eine Haltung des metaphysischen Essayismus. Es umschreibt einen Typus logischer
und seelischer Experimente an der Grenze der Welt. Gnosis ist ein möglicher Name für die Zukunft
dessen, was an den Religionen mehr sein mag als Illusion."24
Ad 3: Die Stellung der Religion und der Kirchen innerhalb der neuen gesellschaftlichen und
politischen Welt, nämlich nach der Aufklärung, die die Freiheit aller zum Prinzip der Ethik und der
Politik erklärt. Es besteht die Vermutung, daß ein besseres Verständnis für die Gnosis auch ein
besseres Verständnis für die Zusammenhänge von Religion und Politik, von Weltanschauung und
Weltgestaltung ergeben dürfte. Die Tatsache des Zusammenhangs als solchen, daß es so etwas wie
religiös-politische Ideen gibt, die in der Geschichte immer wieder das revolutionäre Potential
gezündet haben, hat Friedrich Heer in seinen meisterhaften Arbeiten über das Mittelalter
dargestellt. Eine dieser Ideen, die vom heiligen Reich, von der Herstellung des Reiches Gottes hier
und jetzt, in den verschiedensten Ausprägungen von chiliastisch inspirierten Aufstandsbewegungen
und offiziellen Reichstheologien, bis hin zum Mißbrauch solcher religiös-politischer Sehnsüchte
durch faschistische Parteien und Militärjuntas im 20. Jahrhundert, ist vielleicht das wichtigste
Beispiel. Es läßt sich zurückverfolgen auf das Denkschema, das Großkirche und Häresien
gemeinsam war: das Schema des "In der Welt - nicht von der Welt". Diese Formulierung findet sich
im Brief an Diognet, einem Glanzstück früher christlicher apologetischer Literatur, gegen 200
entstanden.25 "Diese Entkräftung des Weltglaubens ist es, was Elan in die frühgnostischfrühchristliche Erfolgsgeschichte bringt."26 Größte Nähe und zugleich unüberbrückbare Distanz
von Kirche und Gnosis muß sich anhand der Deutung dieser Formel erweisen lassen. Der Geist der
U-topie erwacht mit der Unterscheidung der Orte des Hier und Nicht-Hier. Mit Hilfe des zuvor
undenkbaren Unterschieds von In-der-Welt und Von-der Welt kann der menschliche Geist zum
ersten Mal sein eigenes Existieren denken; überspitzt gesagt "gibt es" erst seit dem Aufbrechen
dieser Unterscheidung das, was wir modern mit Existenz bezeichnen. Das Pneuma, die gnostische
Geistseele, die von "oben" kommt, ist das Organ dieses logisch neuartigen Wissens vom Existieren:
es ist das Pneuma, welches sich "in der Welt" wie etwas von außen Hineingeratenes sehen kann etwas Differentes, Nichtzugehöriges, Rückzugsfähiges. Die "Entzündung des menschlichen
Selbstbewußtseins durch den Grundgedanken des Existierens 'in der Welt'" - ist das Gnosis? Dann
wäre der christliche Schreiber des Briefs an Diognet ebenso Gnostiker wie der Jude Philo von
Alexandrien, der bereits 200 Jahre vor ihm geschrieben hat: "Denn jeder von uns ist in diese Welt
gekommen wie in eine fremde Stadt, an der wir vor unserer Geburt keinen Anteil hatten, und in
dieser Stadt hält er sich wie ein Gast auf, bis er die ihm zugemessene Lebensspanne erschöpft
hat."27
1.3 Überblick über die Vorlesung und Literaturempfehlung
Das bisher Gesagte ist keine wissenschaftstheoretische Einleitung im strengen Sinn, sondern ein
Herangehen ans Thema und vorläufiges Begründen des Interesses am Thema. Ich will nun nur noch
P.Sloterdijk, op.cit. 27.
Griechische Apologeten des zweiten Jahrhunderts. In Auswahl übertragen von
Berthe Widmer. Einleitung von Hans Urs von Balthasar. Johannes Verlag
Einsiedeln 1958. Der Brief an Diognet 89-106, s. insbes. 97 f.
26 P.Sloterdijk, op.cit. 37.
27 Philo Alexandrinus, Über die Cherubim, 120 f. (Philo von Alexandria, Die
Werke in deutscher Übersetzung, hrsg.v. Leopold Cohn, Isaak Heinemann,
Maximilian Adler u. Willy Theiler, Bd.3, Walter de Gruyter & Co Berlin 1962,
S.202.) Das griechische "paroikein", das in diesem Sinn des "als Fremder in
einer Stadt wohnen" auch im NT vorkommt, ist ein staatsrechtlicher Begriff.
Interessant, daß Philo im Folgenden den Vergleich weiterspinnt und das volle
Bürgerrecht Gott allein zuspricht. (Griech.Originaltext: Philonis Alexandrini
opera quae supersunt, vol. I edidit Leopoldus Cohn, Berlin, Georg Reimer, 1896,
unveränd.Nachdr. W. de Gruyter 1962, S.198)
24
25
9
eine Vorschau der weiteren Kapitelüberschriften geben, wie ich sie mir fürs erste zurechtgelegt
habe.
2. Umfang des Sachgebiets, Definitionsfragen
3. Gnosis als Zentralbegriff der spätantiken Gnosis - Fragen zur Typologie
4. Quellenkunde
5. Zur Geschichte und Methodologie der Forschung
6. Gnosis und Neues Testament
7. Gotteserkenntnis, Schau und Vollendung bei Philo von Alexandrien
8. Plotins Schrift "Gegen die Gnostiker" II 9 (33)
9. Die christlichen Alexandriner
10. Augustins manichäische Phase und sein Einfluß auf die Dogmenentwicklung
11. Gnosis als ideenpolitischer Begriff des 20. Jahrhunderts.
Literaturempfehlung zur Orientierung:
- Kurt Rudolph, Die Gnosis, Wesen und Geschichte einer spätantiken Religion. Mit zahlreichen
Abbildungen und einer Faltkarte, 3., durchgesehene und ergänzte Auflage, Vandenhoek & Ruprecht
in Göttingen 1990 (Uni-TB 1577).
- Wege der Forschung Bd. 262: Gnosis und Gnostizismus. Hrsg.v.Kurt Rudolph. Wissenschaftliche
Buchgesellschaft Darmstadt 1975.
2. Umfang des Sachgebiets, Definitionsfragen
2.1 Der Terminus "Gnosis"
"gnosis" gehört zum Verbum ginóskein (ältere Form gignóskein), das im griechischen
Sprachgebrauch das verstehende Erfassen eines Gegenstands oder Sachverhalts bedeutet. Dieser
Gegenstand kann entweder neu bzw wieder in den Gesichtskreis des Erfassenden treten, so daß
ginóskein dann "kennenlernen, erfahren, (wieder)erkennen" bedeutet, oder er kann schon in ihm
vorhanden sein, dann bedeutet es "erkennen". Die Endung auf -sko ist eine sog. inchoative Bildung,
zeigt etwas Ingressives am Akt des Erfassens an, das aber zurücktreten kann, so daß der Sinn der
von "kennen, verstehen, wissen" ist. (Das Perf. égnoka ist weithin von oida verdrängt, und
umgekehrt ist das Subst. zu eidénai ("wissen"): eídesis fast ganz durch gnosis oder gnóme
verdrängt.
Der Sinn von ginóskein in der Reflexion der Griechen und ihr Verständnis des Phänomens der
Erkenntnis wird deutlich durch eine doppelte Abgrenzung:
a) gegen aisthánesthai, das die Wahrnehmung bezeichnet, ohne daß das in ihr liegende Moment des
Verstehens betont zu sein braucht. Da menschliches Wahrnehmen nie ohne Verstehen ist, sind
ginóskein und aisthánesthai im gewöhnlichen Sprachgebrauch freilich nicht streng unterschieden,
ja aisthánesthai kann geradezu das verstehende Wahrnehmen bezeichnen, <sofern es ein
unreflektiertes, instinktives ist.> In der Diskussion des Erkenntnisproblems ist jedoch die
Unterscheidung der aísthesis als der Sinneswahrnehmung von der gnosis bzw der durch das
ginóskein erworbenen epistéme als der Erkenntnis, die auf den nous oder lógos zurückgeht,
befestigt worden, wobei bald mehr der Gegensatz, bald mehr die Zusammengehörigkeit beider
Vermögen betont wird.28
Es ist beides in einem, was der Terminus pístis (etwa in der Phrase
"pisteuein tois phainoménois" anzeigt; vgl. auch Demokrit: Er relativierte die
28
10
b) gegen dokeîn und doxázein, welche bedeuten: eine Meinung (dóxa) über einen Gegenstand oder
Sachverhalt haben ohne Gewähr, daß die Sache wirklich die ist, für die sie gehalten wird. Im
Unterschied davon erfaßt das ginóskein die Sachen, wie sie wirklich sind, es erfaßt das ón oder die
alétheia. Freilich kann auch eine Meinung richtig (alethés) sein, aber nur der ginóskon hat die
Sicherheit, daß er die alétheia erfaßt, daß er epistéme hat; gnosis ist also mit epistéme verwandt
(Plato Resp V 476 c ff; 508 e), wird jedoch nicht absolut gebraucht wie epistéme, sondern erfordert
einen Objektsgenitiv und bedeutet zunächst nicht die Erkenntnis, sondern den Akt des Erkennens.
Da ginóskein das Erkennen dessen, was wirklich ist, bedeutet, gewinnt es den Sinn von
"konstatieren"; und da für den Griechen das Auge ein sichererer Zeuge ist als das Ohr (Heracl fr
101 a; Hdt I 8), weil der Gesichtssinn den Vorrang vor dem Gehör hat (Plat Phaedr 250 d; Resp VI
507 c), so ist das Konstatieren zunächst ein solches durch den Augenschein, und schon die
Verbindung der Verben ginóskein und eidénai zeigt, daß das Erkennen als eine Weise des Sehens
verstanden worden ist; denn eidénai heißt: auf Grund einer Anschauung wissen.29
Wenn man das Verständnis des Erkennens als einer Weise des Sehens im Auge behält, wird Sinn
und Bedeutung des griechischen Erkenntnisideals deutlicher.
Diesem Verständnis des Erkennens korrespondiert das Verständnis dessen, was die Wirklichkeit
konstituiert: es sind die Formen und Gestalten bzw die formgebenden Elemente oder Prinzipien.
Deshalb bezieht sich das ginóskein des Forschers und Philosophen eben auf diese; das eîdos (oder
die idéa) ermöglicht ebenso die Erkenntnis, wie es den Dingen das Wesen gibt.
Ich möchte keinesfalls den Fehler begehen, eine griechische Denkweise generell einer
orientalischen oder speziell hebräischen Denkweise gegenüberzustellen. das ist eine in der
modernen Theologie leider gang und gäbe gewordene Gewohnheit. Man unterscheidet dabei gern
zwischen statisch und dynamisch, abstrakt und konkret, ohne sich zu überlegen, was daraus folgt,
wenn ein Jude wie Philon von Alexandrien in eine griechische Schule geht und die Bibel in einer
griechischen Übersetzung liest. James Barr hat sich verdient gemacht, solche Unsitten
fachlinguistisch zu durchleuchten.30
Sehr wohl möchte ich aber darauf aufmerksam machen, daß in der griechischen Philosophie eine
sehr intensive und breite Reflexion und Diskussion der Termini der Erkenntnistheorie vorliegt. Das
gilt auch für "gnosis". Ein Beispiel soll das veranschaulichen: Plato Resp 476 c ff. wird
unterschieden zwischen bloßen Schaulustigen und Hörbegierigen einerseits, den Philosophen
anderseits. Letztere sind dadurch charakterisiert, daß sie das Wahre selbst schauen:
"Die Hörbegierigen und Schaulustigen, sprach ich, lieben doch die schönen Töne und Farben und
Gestalten und alles, was aus dergleichen gearbeitet ist, die Natur des Schönen selbst aber ist ihre
Seele unfähig zu sehen und zu lieben. - So freilich, sagte er, verhält es sich. - Die nun aber dem
Schönen selbst zu nahen vermögen und es an sich betrachten, sind die wohl nicht selten? -Gar sehr.
- Wer nun schöne Sachen zwar anerkennt, die Schönheit selbst aber weder anerkennt noch auch,
wenn ihn jemand zur Erkenntnis derselben führen will (án tis hegêtai epì tèn gnôsin autoû), ihm zu
folgen vermag, dünkt dich der wachend oder träumend zu leben? Bedenke nur: Das Träumen,
besteht das nicht darin, wenn jemand, es sei nun im Schlaf oder auch wachend, etwas einem
Phänomene, indem er feststellte: nómo chroié, nómo glyky, nómo pikrón - Farbe,
Süßes, Bitteres gibt es nur aufgrund menschlicher Setzung, Übereinkunft,
Konvention. In Wirklichkeit gibt es Atome und den leeren Raum dazwischen. Er
läßt aber dazu die aisthéseis / Wahrnehmungen sprechen - Fr. B 125 <II 168,8>
Diels: "Armseliger Verstand, von uns nimmst du deine Gewißheiten und uns willst
du fällen? Dein Fall wird dein Fällen sein."
29
Vgl. Bruno Snell, Die Ausdrücke für den Begriff des Wissens in der
vorplatonischen Philosophie, in: Philolog. Unters. 29, Berlin 1924. Ders., Die
Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den
Griechen, Hamburg 1946, 3. erw. Aufl. 1955.
30 James Barr, Bibelexegese und moderne Semantik. Theologische und linguistische
Methode in der Bielwissenschaft. Chr.Kaiser Verlag München 1965.
11
Ähnliches nicht für ähnlich, sondern für jenes selbst hält, dem es gleicht? - Ich wenigstens, sprach
er, würde sagen, daß ein solcher träume. - Wie aber? Wer ganz im Gegenteil die Schönheit selbst
für etwas hält und auch sie selbst sowohl als das an ihr Teilhabende wahrnehmen kann und weder
das Teilhabende für sie selbst noch sie selbst für das Teilhabende hält, wie dünkt dich wiederum
dieser, wachend zu leben oder auch er schlafend? - Gar sehr, sagte er, wachend. - Dessen
Gedanken also, weil er erkennt, würden wir wohl mit Recht sagen, seien Einsicht, des anderen aber
Meinung, weil er nur etwas meint oder sich vorstellt. - Allerdings."
Wir werfen hier einen Blick auf eine Vorstellungs- und Gedankenwelt. Es wird unterschieden
zwischen "schön" und "Schönheit" - an anderen Stellen wird deutlich, daß es dabei einmal um das
Allgemeine im Besonderen geht, zum anderen um das Wesen gegenüber der Erscheinung; weiters
um das Verhältnis, das als "Teilhabe" bezeichnet wird (was bekanntlich Aristoteles geärgert hat: es
erklärt ja nichts). Um die Metapher des Wachens für Erkenntnis und des Schlafs für bloßes Meinen.
Erinnern Sie sich an die Textbeispiele von voriger Woche, in denen ebenfalls von Schlaf die Rede
war und von einem erweckenden Ruf. Vergleichen wir noch die Stelle Resp VI 508 c ff.:
"Die Augen, sprach ich, weißt du wohl, wenn sie einer nicht auf solche Dinge richtet, auf deren
Oberfläche das Tageslicht fällt, sondern worauf die nächtlichen Schimmer: so sind sie blödsichtig
und scheinen beinahe blind, als ob keine reine Sehkraft in ihnen wäre? - Ganz recht, sagte er. Wenn aber, denke ich, auf das, was die Sonne bescheint: dann sehen sie deutlich, und es zeigt sich,
daß in eben diesen Augen die Sehkraft wohnt. - Freilich. - Ebenso nun betrachte dasselbe auch an
der Seele. Wenn sie sich auf das heftet, woran Wahrheit und das Seiende (alétheia kaì tò ón) glänzt:
so bemerkt und erkennt sie es, und es zeigt sich, daß sie Vernunft (noûn) hat. Wenn aber auf das mit
Finsternis Gemischte; das Entstehende und Vergehende: so meint sie nur, und ihr Gesicht
verdunkelt sich so, daß sie ihre Vorstellungen (dóxas) bald so und bald so herumwirft und
wiederum aussieht, als ob sie keine Vernunft hätte. - Das tut sie freilich. - Dieses also, was dem
Erkennbaren die Wahrheit mitteilt (tò tèn alétheian paréchon toîs gignoskoménois) und dem
Erkennenden das Vermögen hergibt (kaì tô gignóskonti tèn dynamin apodidòn), sage, sei die Idee
des Guten (tèn toû agathoû idéan); aber sofern sie der Erkenntnis und der Wahrheit, und zwar
letzterer als erkanntseiender verstanden, Ursache allerdings ist (aitían d' epistémes oûsan kaì
aletheías): so wirst du doch, so schön auch diese beiden sind, Erkenntnis und Wahrheit (gnóseos
kaì aletheías), nur wenn du dir jenes als ein anderes und noch Schöneres als beide denkst, richtig
denken. Erkenntnis aber und Wahrheit (epistémen dè kaì alétheian), so wie dort Licht und Gesicht
für sonnenartig zu halten zwar recht war, für die Sonne selbst aber nicht recht, so ist auch hier
diese beiden für gutartig zu halten zwar recht, für das Gute selbst aber gleichviel welches von
beiden anzusehen nicht recht, sondern noch höher ist die Beschaffenheit des Guten zu schätzen. Eine überschwengliche Schönheit, sagte er, verkündigst du, wenn es Erkenntnis und Wahrheit
hervorbringt, selbst aber noch über diesen steht an Schönheit."
Hier ist die Erkenntnis mit der Metaphorik des Lichts zusammengebracht und weiters die Differenz
von Licht und deren Ursprung, der Sonne, in Parallele gesetzt zur Differenz zwischen Erkenntnis
und Wahrheit einerseits, und deren Grund - hier als die Idee des Guten bezeichnet - anderseits. (Im
berühmten Höhlengleichnis Platons im selben Buch sitzen die Menschen im Dunkeln und nehmen
nur indirekt dem Sonnenlicht verdankte Schattenbilder wahr.) Das ist die Kinderstube der
Metaphysik. Ihr geht es nicht um das Erkennen von Zusammenhängen der verschiedenen
Sachgebiete, sondern um den Zusammenhang im Erkennen selbst: den Zusammenhang von
Seiendem, Wahrheit und deren Grund. Der Gedanke an etwas, das Erkenntnis und Wahrheit an
Schönheit übersteigt, wird als "überschwenglich", überwältigend (améchanon kállos) bezeichnet.
Plato holt sich von diesem Unausdenkbaren mit einem kleinen Spaß zurück auf die Erde. Er läßt
den Dialogpartner fragen. "Du sprichst doch nicht jetzt etwa von der Lust (hedonén)?" "Frevle
nicht (euphémei)", wird ihm lächelnd geantwortet.
Es bleibt offen, ob die überlieferte Religion der Griechen, die mit dem Wort "Frevle nicht" anklingt
(es ist das rituelle Gebot wie im lateinischen "favete linguis", das im Heiligtum vor der religiösen
12
Zeremonie gerufen wurde) interpretierend gestützt oder umgekehrt die philosophische Theorie
durch die Religion interpretiert werden soll. Philosophische Erkenntnis konnte jedenfalls als
religionskritisch aufgefaßt werden und wurde es auch, wie die Anklageschrift im Prozeß gegen
Sokrates, der zu seiner Verurteilung zum Tod geführt hat, beweist.
Diese philosophische Redeweise über "gnosis", von den Höhen der Lehrgespräche in der Akademie
Platons im 4. Jh. v.Chr. trivialisiert und in alle Möglichkeiten der Halbbildung zerflossen, gehört zu
den Bedingungen der "Gnosis". Was aber ist "Gnosis"?
Der Terminus Gnosis bezeichnet zweierlei:
einerseits eine sich in mannigfaltigen Gemeinschaftsbildungen manifestierende, im Grunde
nichtchristliche religiöse Erlösungsbewegung der Spätantike; anderseits den Zentralbegriff dieser
Religionsbewegung, die vor und mit dem jungen Christentum auftrat und sich in Samaria, Syrien,
Kleinasien, Ägypten, Italien, Nordafrika usw. verbreitete.
2.2 Gnosis als historische religiöse Bewegung
2.2.1 Die Frage ihrer Herleitung
Letztes Mal zitierte ich Quispel, der 1951, nach dem Studium der Textfunde von Nag Hammadi
feststellte: "Eine Weltreligion ist neu entdeckt". Das ist also eine relativ junge Deutung.
Das ganze 19. Jh. von Baur bis Harnack ist noch von der Behauptung der Kirchenväter geleitet
worden, die Gnosis sei eine christliche Häresie des 2.Jh., die den christlichen Heilsgehalt in
hellenistischen Denkformen philosophisch interpretieren wollte, dann aber in Mythologie
ausgeartet sei.
Inzwischen hat sich aber dank der Forschungen aus der "religionsgeschichtlichen Schule" die
Auffassung durchgesetzt, daß die Gnosis eine Religion sui generis gewesen ist und gleich alt oder
älter als das Christentum. [„Religionsgeschichtliche Schule“ = Sammelbezeichnung für eine
Gruppe von Exegeten des Alten und Neuen Testaments vom Ende des 19. / Beginn des 20.Jh. aus
dem kreis der Vertreter der liberalen Theologie. Ihre Ziele waren die Darstellung der Einflüsse der
außerbiblischen Religionen auf die Bibel, die Herausstellung des eigenständigen Beitrags der
biblischen Religion, die Darstellung der Entwicklung der Religion in der Bibel als
religionsgeschichtlicher Prozeß. Ihre Grundlagen: Literarkritik, Formgeschichte, Quellenscheidung
im Pentateuch, Zweiquellentheorie für die Evangelien. Wichtigste Vertreter: Baudissin, W.Bousset,
H.Greßmann, H.Gunkel, P.Wernle, W.Wrede, E.Troeltsch.]
"Das Phänomen freilich ist viel zu komplex, als daß die verschiedentlich versuchten
Kurzdefinitionen befriedigen könnten."31
Beispiele für solche Kurzdefinitionen:
"Große religiöse Bewegung der Spätantike, die das Heil in der Erlösung der Auserwählten aus
dieser materiellen Welt in das ferne Lichtreich des wahren Gottes hinein suchte" (Georg
Kretzschmar in Ev.Theol. 1953, 354). Oder:
"Die absolute Abwertung der geschichtlichen Existenz zugunsten der durch Eingebung von oben
wiederzuerlangenden eigentlichen überweltlichen Existenz" (L.Goppelt, Christentum und
Judentum im ersten und zweiten Jahrhundert, Gütersloh 1954, 130).
Über den Ursprung der Gnosis sind sehr viele verschiedene Theorien in Umlauf gekommen, deren
jede sich auf den Nachweis bestimmter Ähnlichkeiten und Parallelen stützen konnte. Es lassen sich
unterscheiden:
- Hellenistische32 Theorien - z.B. Hans Leisegang, H.J. Schoeps.
Hans Joachim Schoeps, Theologische Literaturzeitung. 81 (1956), Sp. 413-422.
Der
Terminus
"hellenistisch"
ist
durch
J.G.
Droysen
(1833)
als
Kulturepochenbegriff für die in Hellas stattgehabte Vermischung griechischer
31
32
13
- Orientalische, d.h. ägyptische, babylonische, zumeist aber iranische - Bousset, Greßmann,
Reitzenstein, Jonas, Widengren.
- Heterodox-jüdische - A.D. Nock, G. Scholem, K. Schubert, G. Quispel. Letztere Richtung hat
dadurch Auftrieb bekommen, daß durch die Publikation der sog. Disziplinrolle unter den
Schriftrollen vom Toten Meer (Dead-Sea-Scrolls, 'Ain Feshka bzw. Qumran) der "älteste derzeit
bekannte gnostische Text" (Schubert) entdeckt worden sei -und zwar im Umkreis eines
vorchristlichen Judentums heterodoxer Prägung. (Heterodox - Gegensatz zu Orthodox - ist
theologisch ein Urteil über wahr und falsch, soziologisch ein Begleitphänomen jeder Religion, die
eine eigene Lehre kennt.)
Die interpretatio graeca hat alte Ahnen. Schon Hippolyt (Vorwort zum Elenchos) und Porphyrius
(Vita Plotini 16) haben auf die "Weisheit der Hellenen" bzw. die altgriechische Philosophie
verwiesen neben aufgegriffenen Mysterien und Weisheit herumziehender Astrologen. Unter den
Modernen wurde für die hellenistische Ableitung der Gnosis insbesondere das Verständnis Gottes
und der Götter als Seinsweisen oder Wesenheiten wichtig sowie die Beurteilung des Menschen von
seinem Erkenntnisdrang aus. Deshalb hat C. Schneider33 den Geist der Gnosis "nur griechisch, und
zwar überwiegend platonisch" genannt: "Die Gnosis gehört in die Geschichte des Spätplatonismus
als eine seiner Abzweigungen, allerdings eine sehr merkwürdige." Kosmogonie, mythische
Götterentstehung, physischer Dualismus, Mysteriengemeinde, die drei Menschenklassen
(Pneumatiker, Psychiker, Hyliker) usw. - dies alles sei altes griechisches Erbgut und entstamme
speziell dem Platonismus. Eine iranische Motivunterwanderung wird aber dabei z.B. von Schneider
nicht ausgeschlossen. Ebensowenig von H.Leisegang34, der einen wichtigen Fixpunkt in der
visionär entstellten Ideenlehre Platons sieht und von einer Entartung griechischer Philosophie
spricht.
Bousset, Reitzenstein und ihre Nachfolger haben, um den orientalischen Charakter der stark
mythologisch gefärbten Gnosis nachzuweisen, wieder andere Motive aufgenommen wie die sieben
Archonten oder Äonen (Halbgötter; vgl. die "Regenten" in der Astrologie), den Herabstieg des
Himmelsmenschen resp. der Sophia (gefallener Äon) in die Materie und sein sich Wiedererheben,
die Himmelfahrt der Seele, den meist mit Astrologie gekoppelten Zwang der Heimarmene, den
eschatologischen Weltbrand usw. und haben dies alles aus dem Parsismus bzw. auch aus einem
frühen persisch-babylonischen Synkretismus hergeleitet. Sie bleiben freilich nicht ohne
Widerspruch, da sich manche Motive auch anderwärts finden ließen, z.B. die Himmelfahrt der
Seele in Mesopotamien (Widengren), der Weltbrand in der Stoa (P.Schnabel), die Heimarmene bei
Apulejus (Nilsson). Da sich nun auch in den hellenistischen Mysterienreligionen gnostische
Elemente finden lassen und zumal im Poimandres das früheste "Beispiel einer rein heidnischen
Gnosis" vorliegt, mußten diese Forscher die Gnosis zum Produkt eines antiken Synkretismus aus
hellenistischen und rein orientalischen Vorstellungsbildern werden lassen. Nach Widengren sei die
eigentliche Heimat das Partherreich gewesen.35 Gnosis ist von dieser Richtung als ein
enthistorisierter Mythos, ein zeitloser Befreiungsprozeß der Seele angesehen worden, der vom
Mysten abbildlich nachvollzogen wird. Im manichäischen Mythos vom "erlösten Erlöser", daß der
ins Weltall entsandte Urmensch mit dem Kosmos sich selber erlöst, erhält das gnostische Weltbild
nach einer mindestens 200-jährigen Entwicklung seine intellektuelle Vollendung (Schaeder, Puech,
und orientalischer Kulte eingeführt worden. Harnack Dogmengeschichte I
(4.Aufl.), 250 hat im Anschluß an Franz Overbeck die Gnosis als "akute
Hellenisierung des Christentums" bezeichnet, mit welchem Begriff auch noch F.C.
Burkitt (Church and Gnosis, Cambridge 1932, 40) operiert. H. Lietzmanns
(Geschichte der alten Kirche I , 317) definitorische Modifikation lautet:
"akute Rückorientalisierung".
33 C.Schneider, Geistesgeschichte des antiken Christentums I, München 1954, 268.
34 Hans Leisegang, Die Gnosis, Leipzig
1941, 13 u.ö.
35
Geo Widengren, ZRGG 1952, 97 ff. versucht das anhand des Perlenlieds
nachzuweisen.
14
Quispel).
Die bereits von Hegesipp vertretene heterodox-jüdische Herleitung schließlich baut entweder auf
Bousset-Greßmanns36 Nachweisen auf, daß in Babylon und Mesopotamien während des Exils und
wohl auch noch hinterher jüdische Rezeptionen aus dem Parsismus erfolgt seien. (Engellehre, vgl.
jer. Rosch hasch. 1, 56 d). Oder sie spricht von der "Auseinandersetzung des jüdischen oder
samaritanischen Menschen mit gewissen hellenistischen Vorstellungen" (Quispel) bzw. von einer
"Berührung atl. Theologie mit hellenistischer Popularphilosophie" (Schubert), d.h. mit platonischpythagoräisch durchsetzter Stoa, was in der Diaspora, speziell in Alexandrien geschehen sein soll.
Das dortige hellenistische Judentum, repräsentiert durch den aus Eusebius bekannten Exegeten
Aristobul und 150 Jahre später durch den Allegoriker Philon - den Goodenough37 gnostisch
präpariert hat - sei um die Zeitenwende heterodox gewesen und habe die Quelle Gnosis entsprudeln
lassen. Auf das Konto dieses synkretistischen Judentums wären folgende gnostische Motive
abzuschreiben: die ganze Hypostasenlehre (gnostische Äonenspekulationen), die Sophia resp. der
Logos als Baumeister der Welt oder einer Art Weltseele, die Teilnahme der Engel am
Schöpfungswerk usw.
Sicher ist bei allen diesen oft bestechend vorgetragenen Theorien nur eines, daß man auf diesem
Weg zu keinem schlüssigen Ergebnis kommen wird. Die eine Ableitung hebt die andere auf und
Evidenzgewißheit hat keine von ihnen. Es wird auch nie ganz klar, was die einzelnen Forscher
unter "griechisch" und unter "orientalisch" subsumieren, etwa wenn von einer griechischen
Deutung altorientalischer Mythen gesprochen wird. Die meisten Mythen und Begriffe der Gnosis
haben doch geradezu ein griechisch-orientalisches Doppelantlitz, so daß von einer gnostischen
"Alchemie der Weltanschauungen" gesprochen werden konnte.38 Daß das aut-aut durch ein et-et zu
ersetzen ist, war übrigens schon Wilhelm Boussets Meinung gewesen. Der gnostische Mythos sei
aus griechischen und orientalischen Elementen zusammengesetzt gewesen.39
2.2.2 Die Frage ihres "Wesens"
Sloterdijk schreibt (o.c. I 27): "Über die Frage, was Gnosis 'eigentlich' sei, herrscht unter den
Gelehrten das, was rechtmäßig zu erwarten ist: Uneinigkeit. Man hat zu ihrem Kriterium den
metaphysischen Dualismus machen wollen - und mußte damit schon an den monistischen und
triadischen Varianten der älteren Systeme scheitern; man hat die Verbindung von
Kosmosfeindschaft und Antijudaismus als das markante Muster definieren wollen, und damit jene
Gnosen verfehlt, die ohne nennenswerte polemische Spannungen gegen das "Bestehende" und
seinen Urheber zum überweltlichen Schweben aufzusteigen wußten. Man hat der Gnosis den
"wisserischen" Grundzug nachgesagt und hat dabei ihre poetischen, asketischen, experimentellen
und kathartischen Dimensionen verkannt; auch hat man ihr das Merkmal "Selbsterlösungs-Kult"
anhängen wollen und hat dabei die Vielzahl von soteriologischen Lehren übersehen, in denen an
die verdüsterte Seele im Weltgefängnis ein Ruf von fremder Seite ergeht. Die Definierer hatten bei
der Gnosis - wie bei so vielen Phänomenen spontaner Spiritualität - bisher kein Glück."
Bousset-Greßmann, Religion des Judentums im spät-hellenistischen Zeitalter,
Tübingen 1926, 478 ff., 506 ff.
37 Goodenough, By Light Light, the mystic Gospel of Hellenistic Judaism, New
Haven 1953. behauptet ähnl. wie vorher J.Pascher den starken Einfluß von
Mysterienfrömmigkeit für Philon.
38 Vgl. Karl Stürmer, Judentum, Christentum und Gnosis, ThLZ 1948, 592: "Es
scheint hier (in der Gnosis) wirklich eine Alchemie der Weltanschauungen
vorzuliegen, durch die aus zwei gegebenen Stoffen ein neues Drittes zur
Darstellung gebracht wurde."
39 Bousset, Hauptprobleme der Gnosis 118 f.; Kyrios Christos 184; Art. Gnosis in
PWK, Sp.1510.
36
15
Das Gnosisproblem erweist sich als Paradigma für das Grundproblem der Religionsphilosophie
überhaupt, wie ich es letztes Mal erläutert habe: daß Religion sich dagegen sträubt, zum
Gegenstand der Philosophie gemacht zu werden. Schon die Kirchenväter sind sich der für sie
erschreckenden Vielgestalt der gnostischen Lehren bewußt gewesen; sie vergleichen sie mit der
vielköpfigen Hydra der griechischen Sage.40 Dieses Bild wird tatsächlich voll und ganz von den
Nag-Hammadi-Texten bestätigt. Auf den ersten Blick ist die Vielfalt der Entwürfe und
Spekulationen verwirrend und entmutigend. Erst nach längerem Zusehen entpuppen sich gewisse
Grundgedanken, die immer wieder, wenn auch anders formuliert, auftreten und zum Kern des
Ganzen führen. Die äußere Mannigfaltigkeit der Gnosis ist natürlich nicht von ungefähr, sondern
offensichtlich in ihrem ganzen Wesen angelegt. Es gibt keine gnostische "Kirche" oder
normgebende Theologie, keine gnostischen Glaubensrichtlinien oder ein Dogma von
ausschließlicher Bedeutung. Der freien Darstellung und theologischen Spekulation sind keine
Grenzen gesetzt, soweit sie im Rahmen der gnostischen Weltauffassung liegen. daher finden wir
schon bei den Häresiologen die unterschiedlichsten Systeme und Verhaltensweisen unter dem
gemeinsamen Nenner "Gnosis" ausgewiesen, und die gnostische Bibliothek von Nag Hammadi
bietet eine der besten Illustrationen dieses Sachverhalts, da hier die verschiedensten Schriften mit
oft divergierenden Anschauungen zusammengefaßt sind. Die gnostischen Gemeinden vertraten
offenbar keinen Ausschließlichkeitsanspruch untereinander, was gegenseitige Polemik der Lehrer
und Schulgründer wohl nicht ausschloß (leider wissen wir darüber zu wenig). Es gibt auch keinen
gnostischen Schriftkanon, es sei denn die "Heiligen Schriften" anderer Religionen, wie die Bibel
oder Homer, die man zum Zweck der Autorisierung der eigenen Lehren verwendete und auslegte.
Die Gnostiker scheinen sich besonders darin gefallen zu haben, ihre Lehren auf vielfältige Weise
zum Ausdruck zu bringen, und handhaben ihre Schriftstellerei mit großer Fertigkeit, die uns
allerdings heute mitunter schwer verständlich und zugänglich ist. Wie überall finden sich neben
eindrucksvollen Produkten auch weniger ansprechende oder gar minderwertige, aber überall spürt
man die souverän geübte Methode, möglichst viel aus seinen Gedanken herauszuholen und sie auf
immer neue Weise auszudrücken. Dabei wird die in der Antike verbreitete Auslegungskunst der
Allegorie und Symbolik weidlich angewandt, d.h. man unterlegt einer Textaussage einen oder gar
mehrere tiefere Sinngehalte, um sie für die eigene Lehre in Anspruch nehmen zu können oder ihren
inneren Reichtum aufzuweisen. Diese Methode der Exegese ist in der Gnosis ein Hauptmittel,
unter dem Deckmantel älterer Literatur - vor allem der heiligen und kanonischen - die eigenen
Vorstellungen vorzuführen. Darunter finden sich wahre Akrobatenstücke und man kann regelrecht
von einer "Protest-Exegese" sprechen, insofern sie dem äußeren Wortlaut und herkömmlichen
Verständnis zuwiderläuft.
Eine weitere, damit zusammenhängende Eigenart der gnostischen Überlieferung liegt darin, daß sie
sich vielfach ihr Material aus den verschiedensten bereits vorliegenden Traditionen holt, sich an sie
anlehnt und sie gleichzeitig in einen neuen Rahmen stellt, wodurch sie einen anderen Charakter,
eine völlig neue Beleuchtung erhalten. Von außen gesehen sind die gnostischen Schriften oft
Kompositionen, ja Kompilationen aus den mythologischen oder religiösen Vorstellungen der
unterschiedlichsten Religions- und Kulturbereiche: wie gesagt aus dem griechischen, jüdischen,
iranischen, christlichen (im Manichäismus auch aus dem indischen und fernöstlichen).
An wesentlichen Grundzügen der Gnosis, auch wenn sie verschiedenen Überlieferungen zu
entnehmen sind, werden etwa die folgenden genannt:
Der Begriff der Gnosis selbst, der, wie gesagt, aus dem Griechischen stammt und "Wissen,
Erkenntnis" bedeutet. Er war tatsächlich ein Schlagwort der Bewegung. Schon das Neue Testament
spricht warnend von den Lehrsätzen der "falschen Gnosis" (1.Tim 6,20); die Kirchenväter, voran
Irenäus, nehmen den Ausdruck als gängige Charakterisierung auf und stellen ihm die "wahre
Gnosis" der Kirche gegenüber. Die Vertreter dieser "falschen Gnosis" nennen sich selbst häufig
"Gnostiker", d.h. "Wissende, Erkenntnisbesitzende", und vom "Wissen" ist auch häufig in ihren
40
Irenäus, Adv. haer. I 30, 15. Hippolyt, Refutatio V 11.
16
Schriften die Rede, allerdings in einer besonderen Weise. Sie streben kein philosophisches
Erkenntnisideal, kein erkenntnistheoretisches Wissen an, sondern ein Wissen, das zugleich eine
erlösende, befreiende Wirkung hat. Der Inhalt dieses Wissens oder dieser Erkenntnis ist ein primär
religiöser, insofern er um die Hintergründe von Mensch, Welt und Gott kreist, aber auch weil er
nicht auf eigenem Forschen, sondern auf himmlischer Vermittlung beruht. Es ist
Offenbarungswissen, das nur den dafür Empfänglichen und Auserwählten verfügbar gemacht
worden ist, also einen esoterischen Charakter hat. Dieses geschenkte Wissen kann von der
grundlegenden Einsicht in die göttliche Natur des Menschen und sein Woher und Wohin bis zu
einem ganzen System reichen. Alle gnostischen Lehren sind in irgendeiner Form ein Stück des
erlösenden Wissens, das Erkenntnisgegenstand (die göttliche Natur), Erkenntnismittel (die
erlösende Gnosis) und den Erkennenden selbst zusammenschließt. Die intellektuelle Kenntnis der
Lehre, die als offenbarte Weisheit dargeboten wird, hat hier eine unmittelbare religiöse Bedeutung,
da sie zugleich als überweltlich verstanden wird und Grundlage des Erlösungsvorgangs ist. Einer,
der "Gnosis" hat, ist daher ein Erlöster: "Wenn jemand Gnosis hat", heißt es im "Evangelium der
Wahrheit", 41 "ist er ein Wesen, das von oben stammt... Er vollbringt den Willen dessen, der ihn
gerufen hat. Er wünscht ihm zu gefallen, er empfängt die Ruhe... Wer auf diese Weise Gnosis haben
wird, weiß, woher er gekommen ist und wohin er geht. Er erkennt wie jemand, der trunken war und
von seiner Trunkenheit ernüchtert worden ist und, wiederum zu sich zurückgekehrt, sein Eigenes
wieder hergestellt hat." (NHC I 3, 22, 1 ff.) Der Unwissende ist demgegenüber einer, der dem
Vergessen und der Vernichtung anheimfällt; er hat keinen Stand. (NHC I 3, 23, 35 ff.) "Wer die
Erkenntnis (gnosis) der Wahrheit hat, ist frei", steht im Philippusevangelium. "Die Unwissenheit ist
Sklave." (NHC II 3,77 (125), 14 f.; 84 (132), 10).42 Aber nicht nur die
Das Evangelium Veritatis ist ein auf koptisch (näher: subachmimisch)
vorliegender Text der zweiten der insgesamt fünf Schriften des Codex Jung
(Codex II nach der Zählung von H.-Ch. Puech und Codex I nach der
Klassifizierung des Koptischen Museums zu Alt-Kairo). Es wurde zum größten Teil
(Seite 16-32 und Seite 37-43) im Jahr 1956 von M. Malinine, H.-Ch. Puech und G.
Quispel ediert. Die in dieser Edition fehlenden Seiten wurden jedoch inzwischen
im Koptischen Museum zu Alt-Kairo gefunden und als Photokopie publiziert,
hierauf von W.C. Till ediert (Orientalia 28, 1959, 170ff.) und schließlich in
einem Nachtrag zur Ausgabe von 1956 veröffentlicht. <M.Malinie, H.-Ch.Puech,
G.Quispel, W.C.Till, Evangelium Veritatis (Supplementum) Zürich 1961.>
Die Schrift ist wahrscheinlich eine aus dem 4.Jh. stammende Übersetzung eines
verlorenen griechischen Originals. Sie ist ohne Titel überliefert. Da sie mit
den Worten: "Das Evangelium der Wahrheit ist Frohlocken..." beginnt, gaben ihr
die Herausgeber den Namen "Evangelium Veritatis". Die lateinische Form des
Titels wurde von den Herausgebern bevorzugt, da sie in unserer Schrift das um
180 von Irenäus, adv.haer. III, 11,9 für die Valentinianer bezeugte und seither
verschollene "Evangelium Veritatis" vermuten. Die Herausgeber verfechten nicht
nur den valentinianischen Charakter der EV genannten Homilie, sondern sie
nehmen mit Wahrscheinlichkeit an, sie stamme von Valentinos selbst, dem
bedeutendsten gnostischen Schulhaupt. W.C. Van Unnik behauptet, Valentinos habe
die Schrift zwischen 140 und 145 in Rom verfaßt, also um die Zeit, als er mit
der Großkirche in Konflikt geraten war. Detailliertere Erwägungen dazu bei
Haardt o.c. 173 ff. <Handout 3>
42 Das Evangelium nach Philippus, das nicht mit dem von Epiphanius (Panarion 26,
13) für Gnostiker bezeugten Evangelium gleichen namens identisch ist, liegt uns
in koptischer Sprache im Codex II (nach Puech: III) von Nag Hammadi 51, 29-86,
19 vor. Derselbe Codex enthält auch das Thomasevangelium sowie fünf weitere
gnostische
Schriften.
Unser
Evangelium
ist
höchstwahrscheinlich
eine
Übersetzung aus dem Griechischen. Die Edition des koptischen Textes besorgte
Walter C. Till (Das Evangelium nach Philippos, Berlin 1963) auf Grund der nicht
immer sehr klaren photomechanischen Wiedergabe des Textes bei P. Labib, Coptic
Gnostic Papyri in the Coptic Museum at Old Cairo, I, Cairo 1956, Tafel 99-134.
Es sind deshalb bei der Lektüre des koptischen Textes die von M. Krause in der
Zeitschrift für Kirchengeschichte I/II-1964, 168-182, veröffentlichten, auf
einem Vergleich des edierten Textes mit den Originalphotographien beruhenden
41
17
Unwissenheit steht im Gegensatz zum "Wissen" des Gnostikers, sondern auch der Glaube, da er
nicht um sich selbst weiß und nur im Vordergründigen bleibt. Gerade dieser Gegensatz von Glaube
und Wissen ist eines der zentralen Themen in der Auseinandersetzung der Kirche mit der
gnostischen Häresie gewesen. Es ging hier nicht nur um Recht und Anspruch des Glaubens als
allein gültiges Heilsmittel, sondern auch um das Problem der doppelten Wahrheit, die mit dem
Einzug der esoterischen Gnosis in die frühe Kirche zur Diskussion stand.
Mit gutem Recht ist also der Begriff der Gnosis als Bezeichnung dieser Religionsbewegung
beibehalten worden. erst im 18. Jh. hat man dann - über das Französische - daraus die Form
"Gnostizismus" gebildet, die einen abwertenden Klang hat. Sie hat sich bis in unsere Zeit hinein
gehalten und wird in erster Linie für die christlich-gnostischen Systeme des 2. und 3.Jh. verwendet,
worin wohl Harnacks Einfluß nachwirkt. Das Nebeneinander der beiden Begriffe für den im
Grunde gleichen Gegenstand hat in der Forschung häufig Verwirrung gestiftet und in letzter Zeit
dazu geführt, beide schärfer zu bestimmen und gegeneinander abzugrenzen. Auf dem Kongreß über
die "Ursprünge des Gnostizismus" 1966 in Messina wurde von mehreren Teilnehmern ein solcher
Versuch in thesenhafter Form zur Diskussion gestellt.43 Danach sollte unter "Gnosis" ein "Wissen
um göttliche Geheimnisse, das einer Elite vorbehalten ist" (also esoterischen Charakter hat),
verstanden werden, "Gnostizismus" aber in dem genannten Sinn für die gnostischen Systeme des 2.
u.3.Jh. gebraucht werden. "Gnosis" wird damit zu einem ungewöhnlich ausgeweiteten Terminus,
der auch den "Gnostizismus" umfaßt. Diese Auseinanderreißung der beiden im Grunde historisch
und wissenschaftsgeschichtlich zusammengehörigen Namen ist allerdings nicht sehr sinnvoll und
hat sich auch nicht allgemein durchgesetzt. Deshalb bleibe ich bei der v.a. im deutschsprachigen
Raum üblichen Verwendung und verstehe unter Gnosis und Gnostizismus dasselbe; erstere als
Selbstbezeichnung einer spätantiken Erlösungsreligion, letzterer als neuere Bildung davon.
Natürlich bleibt nach wie vor der neutrale Gebrauch von "Gnosis" im Sinne philosophischer
Erkenntnis oder erkenntnistheoretischer Bemühung ("Gnoseologie") davon unberührt. Gnosis in
unserem Zusammenhang ist zunächst eine historische Kategorie, die eine bestimmte Form
spätantiker Weltanschauung erfassen will und dabei an deren eigenes Selbstverständnis anknüpft.
Fragen wir weiter nach einigen spezifischen Elementen dieser "Gnosis", so sind es eine Reihe von
Vorstellungen, die in den meisten Überlieferungen immer wiederkehren und ihr grundlegendes
"Gerüst" bilden. In diesem Sinn verstehen wir hier die Frage nach "Struktur" oder "Wesen". Es geht
um das "Gefüge" der Gnosis.
In den Messinaer Vorschlägen zur Terminologie werden als Kerngedanke - als zentraler Mythos des Gnostizismus folgende "zusammenhängende Charakteristika" angeführt:
"die Vorstellung von der Gegenwart eines göttlichen 'Funken' im Menschen..., welcher aus der
göttlichen Welt hervorgegangen und in diese Welt des Schicksals, der Geburt und des Todes
gefallen ist und der durch das göttliche Gegenstück seiner selbst wiedererweckt werden muß, um
endgültig wiederhergestellt zu sein. Diese Vorstellung... gründet sich ontologisch auf die
Anschauung von einer Abwärtsentwicklung des Göttlichen, dessen äußerster Rand (oftmals sophia
oder ennoia genannt) schicksalhaft einer Krise anheimfallen und - wenn auch nur indirekt - diese
Welt hervorbringen mußte, an welcher es dann insofern nicht desinteressiert sein kann, als es den
göttlichen Funken (oft als pneuma, 'Geist', bezeichnet) wieder herausholen muß."
Aus dem Zitat geht auch schon hervor, daß der Gnosis ein dualistisches Weltbild zugrunde liegt,
das alle ihre Aussagen auf kosmologischer und anthropologischer Ebene bestimmt und daher zuerst
unsere Aufmerksamkeit beanspruchen wird. Getragen oder, genauer gesagt, durchzogen wird dieser
Korrekturen unbedingt heranzuziehen. Die erste Übersetzung des Textes auf Grund
er Labibschen Reproduktion besorgte H.-M. Schenke (ThLZ 84, 1959, 1-26), von
dessen Textergänzungen viele in die Tillsche Edition eingegangen sind. Schenke
hat das Evangelium der Übersichtlichkeit halber in "Sprüche" eingeteilt, eine
Aufgliederung, die auch Till übernommen hat. Eine Auswahl von Sprüchen, die für
das Sakrament des Brautgemachs bedeutsam sind, bringt Haardt o.c. 203 ff.
43 Ugo Bianchi, Le Origini dello Gnosticismo, S. XX ff. Die deutsche Version
auch bei W. Eltester, Christentum und Gnosis, S. 129 ff.
18
Dualismus von einem monistischen Gedanken, der sich in der beschriebenen Abwärts- und
Aufwärtsentwicklung des göttlichen "Funkens" ausdrückt und der die Grundlage für die
Gleichsetzung von Mensch und Gottheit ist (anschaulich gemacht in der Vorstellung vom Gott
"Mensch"). Eingebettet in diesen "Dualismus auf monistischem Hintergrund" ist die Gotteslehre
der Gnosis, die vor allem durch die Vorstellung vom "unbekannten Gott" jenseits alles Sicht- und
Verfügbaren bestimmt ist und eine "Fülle" (pleroma) von Engeln und anderen himmlischen Wesen,
seien es personifizierte Begriffe (Abstraktionen) oder Hypostasen, einschließt.
Eine vorherrschende Rolle spielt weiterhin die Weltschöpfung (Kosmogonie), die eine Erklärung
bieten will für den gegenwärtigen gottfernen Zustand des Menschen und daher einen großen Raum
in den Texten einnimmt. Die dem göttlichen Pol - oft als "Licht" bezeichnet - entgegengesetzte
Seite des dualistischen Weltbilds ist die "Finsternis", die gleichfalls sehr unterschiedlich dargestellt
wird, in der Hauptsache aber physisch als Materie und Körper (Leib) oder psychologisch als
"Unwissenheit" oder "Vergessenheit" auftritt. Der Bereich dieses antigöttlichen Poles ist allerdings
in der Gnosis sehr weit ausgedehnt: Er reicht bis in den sichtbaren Himmel und schließt diese Welt
und ihre sie knechtenden Herrscher, voran den Weltschöpfer mit seinen Hilfstruppen, den Planeten
und Tierkreiszeichen, mit ein. Das gesamte spätantike Weltbild mit seiner Vorstellung von der
Macht des "Schicksals" (griech. heimarméne), das Götter, Welt und Menschen beherrscht, wird hier
gleichsam eingeklammert und mit einem negativen Vorzeichen versehen. Es wird zu einem
Gefängnis, aus dem es kein Entrinnen gibt, es sei denn, ein befreiender Akt des transzendenten
Gottes und seiner Helfer eröffnet einen "Weg", auf dem der Mensch (streng genommen nur ein
kleiner Teil des Menschen, eben der göttliche "Funke") entfliehen kann. Hier wurzelt die
Erlösungslehre (Soteriologie) der Gnosis, die verständlicherweise den meisten Platz in den
Systemen beansprucht, da sie die Gegenwart des Menschen unmittelbar berührt. Dieser
Erlösungsbereich ist gleichfalls in vielfältiger Form ausgestaltet worden und hat verschiedene
Darstellungen gefunden. Hierher gehört nicht nur die Vorstellung von der "Himmelfahrt" der Seele,
sondern auch die in der Forschung bis heute heftig umstrittene Erlöserlehre der Gnosis. Gerade
dieser Bereich ist eins der kompliziertesten Themen der gnostischen Ausführungen in den Texten.
Schließlich besitzt die Gnosis eine eng mit der gesamten Kosmologie und Soteriologie verbundene
"Lehre von den letzten Dingen", die Eschatologie, die nicht nur in der Rettung der himmlischen
Seele besteht, sondern auch kosmische Bedeutung hat.
Zum Wesen der Gnosis gehören nicht nur solche Grundgedanken bzw. Strukturelemente wie
Dualismus, Kosmologie, Soteriologie, Eschatologie, sondern auch die gnostische
Gemeindestruktur und der Kult verdienen eine nähere Betrachtung, trotz des wenigen, das wir
darüber wissen. Die Gnosis gibt uns ein Beispiel für die enge Verflochtenheit von Gedanken- und
Sozialform, aber gerade dieses Gebiet bedürfte noch sehr der Aufhellung.
2.3 Zum geschichtlichen Umfang des Sachgebiets:
2.3.1 Zeittafel und Entstehungszeitraum
Die Probleme der Entstehung und Geschichte der Gnosis gehören zu den schwierigsten der
spätantiken Religionsgeschichte überhaupt. Das liegt nicht nur an der Quellenlage, sondern auch
daran, daß die Gnostiker selbst an historischen Dingen kein Interesse zeigten. Von ihrer
antiweltlichen Einstellung her ist das auch nicht anders zu erwarten. Es gibt bis heute keinen
irgendwie historischen Traktat aus gnostischen Händen, etwa wie die Apostelgeschichte des Lukas
oder gar die "Kirchengeschichte" des Eusebius von Caesarea, der uns helfen könnte, die Geschichte
der Gnosis zu schreiben. Sicheren Boden haben wir nur dort unter den Füßen, wo bekannte
gnostische Schul- und Sektenstifter lokalisiert und chronologisch fixiert werden können. Die
literarkritische Untersuchung der verhältnismäßig vor kurzer Zeit gefundenen Texte steckt noch in
den Kinderschuhen, so daß auch von dort her noch nicht viel zur historischen Fragestellung
beigetragen wird.
Die Kirchenväter hatten es leicht, sie haben die Entstehung der Gnosis einfach auf den Teufel
zurückgeführt. Der "Vater der Kirchengeschichtsschreibung", Eusebius von Cäsarea (etwa 264-
19
339) hat es klassisch formuliert (und ich meine mit "klassisch" auch die Vorbildwirkung bis
heute...):
"Während so die über den Erdkreis (Ökumene) sich ausbreitenden Kirchen gleich herrlich
glänzenden Gestirnen leuchteten und der Glaube an unseren Erlöser und Herrn Jesus Christus
siegreich zu allen Völkern drang, nahm der dem Guten abholde Teufel als Feind der Wahrheit und
ständiger bitterster Gegner der menschlichen Erlösung, im Kampfe gegen die Kirche alle
möglichen Mittel ausnützend, nachdem er es früher mit äußeren Verfolgungen gegen sie versucht
hatte, jetzt aber dieser Kampfmittel beraubt war, schlimme, trügerische Menschen als
seelenvernichtende Werkzeuge und als Knechte des Verderbens in seine Dienste. Der Teufel ging
neue Wege; nichts ließ er unversucht. Falsche, verführerische Männer sollten sich unseren
christlichen Namen aneignen, um einerseits die von ihnen eingefangenen Gläubigen in den
Abgrund des Verderbens zu stürzen und andererseits solche, die unseren Glauben nicht kannten,
durch ihre Handlungen vom Wege der Heilslehre abzuhalten."44
An der Spitze dieser "Verführer" rangiert der aus der Apostelgeschichte bekannte "Magier" (d.i.
Zauberer) Simon, der aus Samarien stammte und den Aposteln Konkurrenz machte. Er galt schon
für Justin und Irenäus als Ahnherr der Gnosis.
Die neuere Forschung hat sich weniger mit solchen Einzelgestalten befaßt als mit den gnostischen
Schriften, die ja zum Großteil anonym überliefert worden sind, und mit den Beziehungen zu
gnostischen Gemeinden, die aus der neutestamentlichen bzw. frühchristlichen Literatur erhoben
werden können. Bahnbrechend war die sog. religionsgeschichtliche Schule, die nachgewiesen hat,
daß es sich bei der gnostischen Bewegung um eine von Haus aus nichtchristliche Erscheinung
gehandelt hat. Die Verbindung mit christlichen Ideen, die schon früh einsetzte, bedeutete auf der
einen Seite eine fruchtbare Symbiose, auf der anderen den Keim zum Untergang im Wettbewerb
mit der offiziellen Kirche.
Eine Zeittafel der Geschichte der Gnosis (nach K.Rudolph o.c. 406ff.) beginnt mit einem Terminus
post quem:
334 v.Chr. - Beginn der Feldzüge Alexanders d.Gr. in Vorderasien,
und setzt sich mit wichtigen Daten aus der jüdischen, dann auch christlichen Religionsgeschichte
fort:
um 200 v.Chr. Prediger Salomos (Kohelet)
um 130 v.Chr. Beginn der Qumrangemeinde
um 100 v.Chr. Weisheit Salomos
25/26 n.Chr. Auftreten Johannes des Täufers
um 27 Kreuzigung Jesu von Nazaret
30 - 60 Wirksamkeit des Paulus
39/40 Philon von Alexandrien in Rom
41 Paulus erstmalig in Korinth
um 49/50 Korintherbriefe
um 50 Simon Magus in Samarien
um 62 Martyrium des Jakobus, Bruder Jesu und Haupt der christlichen Urgemeinde in Jerusalem
66 - 73 Jüdischer Krieg
70 Zerstörung Jerusalems
um 80 Kolosserbrief
um 95 Johannesapokalypse
um 100 Johannesevangelium; Epheserbrief;
um 110 Pastoralbriefe (gegen gnostische Gemeinden in Kleinasien). Judasbrief (gegen
libertinistische Gnostiker) usw.
Eusebius von Caesarea, Kirchengeschichte. Aus dem Griechischen übers. von Ph.
Haeuser, München 1932 (BdKV II 1); Neuausgabe: Hrsg. u. eingeleitet von H.
Kraft, München 1967. Zitat: S.198.
44
20
Der Entstehungszeitraum: 200 v.Chr. - 100 n.Chr. ist die Zeit jüdischer und christlicher
Apokalyptik. Die Hauptmasse der Apokryphen 45 und Pseudepigraphen fällt in diese Zeit. Zugleich
die jüdische Weisheitsliteratur.
Schon früh kommt es zu Berührungen zwischen Christentum und Gnosis, wie die Bezugnahmen in
der neutestamentlichen Briefliteratur zeigen. Gnosis hat sich christliches Lehrgut in Umdeutung
und Überbietung dienstbar gemacht. Diese Gestalt der Gnosis, neben der eine pagane Gnosis
existierte, wurde als christliche Häresie betrachtet und von der Kirche als gefährliche Rivalin
bekämpft. Der Höhepunkt der Auseinandersetzung mit der Großkirche sind die großen gnostischen
Systembildungen des 2.Jh.
Gleichzeitig erfolgte die Ausbreitung vom palästinensisch-syrischen Raum nach den Küsten
Kleinasiens, Griechenlands, nach Ägypten, zunächst Alexandria, und wenig später auch Rom;
damit sind die beiden führenden Orte der damaligen Zeit auch Mittelpunkte der Gnosis geworden.
Basilides wirkte unter den Kaisern Hadrian und Antoninus Pius (117-161) in Alexandria.
Marcion hat 144 seine eigene Kirche gegründet.
Der ungefähr gleichzeitige Valentinos wurde schon erwähnt.
Im 3.Jh. beginnt von Osten aus (Mesopotamien) eine Hochblüte gnostischer Religion von
weltweitem Ausmaß, die das Werk eines Mannes ist, der als einer der großen Religionsstifter in die
Menschheitsgeschichte eingegangen ist: Mani. Der Manichäismus, von dem hier die Rede ist, kann
als eine der vier Weltreligionen angesehen werden, die die Religionsgeschichte kennt, d.h. er steht
neben Buddhismus, Christentum und Islam, ist allerdings im Unterschied zu diesen schon länger
vergangen. R. Haardt hat ihn treffend "die abschließende und konsequente Systematisierung der
spätantiken Gnosis in der Form einer universalen Offenbarungsreligion mit missionarischem
Charakter" genannt.46 Mani ist 216 in Babylonien geboren und ist 277 in Belapat (Gundeschapur)
gestorben. Am bekanntesten ist wohl, daß der junge Augustinus Manichäer war. Weniger bekannt,
wie weit sich diese Religion ausgebreitet hat. 694 gibt es Manichäer am chinesischen Kaiserhof,
719 wird eine manichäische Kirche in Peking gebaut; 762-840 ist der Manichäismus Staatsreligion
bei den Uiguren (Chotscho). Aus dem 8.-10.Jh. stammen die meisten zentralasiatischen Texte des
Manichäismus (die sog. Turfan-Fragmente). Erst die mongolischen Eroberungen in Zentral- und
Westasien machten den manichäischen Gemeinden ein Ende.
2.3.2 Mittelalterliche Ketzerbewegungen
Entweder als direkte Fortsetzungen der spätantiken Gnosis oder ein neues Zur-Geltung-Bringen
von deren Traditionen und Ideen sind eine Reihe mittelalterlicher Ketzerbewegungen im und aus
dem Raum der Kirche selbst. Die bekanntesten dieser "neognostischen" oder "neomanichäischen"
Gruppierungen bildeten zugleich die bedeutendsten Gegenkirchen aus, die das Mittelalter kennt.
apókryphos = "versteckt, heimlich". Religiöse Literatur, die nicht in den
Kanon der Bibel aufgenommen wurde, sich jedoch gattungsmäßig und thematisch eng
an diese anschließt (Lücken schließt). Es gibt alttestamentliche und
neutestamentliche Apokryphen. Nach kath. Auffassung sind A. des AT solche
Schriften, deren Aufnahme in den Kanon des AT zu keiner Zeit erwogen wurde,
z.B. Jubiläenbuch, Himmelfahrt des Jesaia, Aristeasbrief, Testamente der 12
Patriarchen,
Himmelfahrt
des
Moses,
die
Henochbücher,
einige
der
Baruchschriften.
Diese
Schriften
werden
im
protestantischen
Bereich
"Pseudepigraphen" genannt. A. des AT im prot. Verständnis sind jene Schriften,
die über die Septuaginta zwar in den frühchristlichen Kanon des AT aufgenommen
wurden, jedoch nicht zum Kanon der hebr. Bibel zählen; ihre Kanonizität war
zeitweilig umstritten und wird in den reformator. Kirchen nicht anerkannt:
Tob., Judith, 1. u. 2. Makk., Weisheit, Baruch und einige griechische Zusätze
zu
kanonischen
Büchern.
Diese
Schriften
heißen
im
kath.
Bereich
"deuterokanonische" Schriften. Apokryphen des NT (im einheitl. Sprachgebrauch)
liegen zu allen Gattungen der neutestamentl. Schriften vor.
46
R.Haardt,
Gnosis.
In:
Sacramentum
Mundi.
Theol.Lexikon
für
die
Praxis,Freiburg im Breisgau (Herder), Bd.3, 1969, Sp.328.
45
21
Die eine entstand Mitte des 10.Jh. in Bulgarien und wurde nach ihrem legendären Gründer
Bogomil, einem Priester, benannt ("Bogomilen"). Man hat immer wieder vermutet, daß eine
wichtige Quelle der bogomilischen Lehre die um 872 aus Kleinasien zwangsweise in Makedonien
(Thrazien) angesiedelte kriegerische Sekte der Paulikianer gewesen sei, die (genannt nach ihrer
Vorliebe für Paulus), ursprünglich aus Armenien und Syrien stammend, wo sie schon im 7.Jh.
greifbar ist, gnostisch-manichäische oder
-marcionitische Züge angenommen hatte; doch ist diese Ableitung nicht restlos gesichert. deutlich
ist aber der gnostische Charakter der bogomilischen Lehre.47 Ihre besondere Anziehungskraft
erzielten die Bogomilen durch ihre scharfe Kritik am Reichtum und Luxus der byzantinischen
Kirche sowie an den Kriegen und Unterdrückungen des Staates. Auf diese Weise erwarben sie sich
eine breite Massenbasis und konnten erst nach blutigen Verfolgungen im 12.Jh. besiegt werden.
Vorher aber gelang es ihnen, in Serbien und Bosnien Fuß zu fassen, wo sie noch bis ins 15.Jh.
hinein eine eigene bosnische Kirche bildeten, deren Reste dann zum Islam übergingen.
Ihr Einfluß blieb aber nicht auf den Balkan beschränkt, sondern ist nach Osten und Westen spürbar
geworden. Die bogomilischen Schriften in altkirchenslawischer Sprache erfreuten sich noch das
ganze Mittelalter hindurch großer Beliebtheit und beeinflußten die altslawische Volksliteratur stark.
Noch stärker war die Wirkung nach Italien und Frankreich, wohin offenbar schon Anfang des 11.Jh.
bogomilische Ideen gedrungen waren, die sich mit den dortigen Widerstandsbewegungen gegen die
offizielle Kirche und Gesellschaft verbanden. Auch hier gehören zu den Grundzügen: Der
Dualismus von Seele und Körper, die Verwerfung der Ehe, eine Vergeistigung des Glaubens,
sichtbar in der Ablehnung der Sakramente, und die Hochschätzung des Geistes sowie die
Aufteilung der Gemeinde in die "Vollkommenen" und "Hörer". (Solche Aufteilungen gibt es auch
in anderen Zusammenhängen: im kirchlichen Mönchstum zwischen priesterlichen Patres und
Laien-Fratres; in neueren Gemeinschaften wie Opus Dei haben Sie das Institutum der "Numerarier"
etc.) Diese "gnostisch-spiritualistische Häresie" überzog im 11. Jh. ganz Norditalien und Frankreich
und war Ausdruck eines gewandelten Verständnisses von Christentum und Kirche.48
Seine gewaltigste Ausprägung erlebte sie in Gestalt der Katharer, d.h. der "Reinen", oder
Albigenser (nach der südfranzösischen Stadt Albi), die von etwa 1150-1300 eine eigene Kirche mit
einem Netz von Bistümern in Südfrankreich (Languedoc) bildeten, aber auch Vertreter in
Oberitalien (hier "Patarener" genannt), Deutschland und Nordfrankreich hatten. Erst durch den
harten Einsatz von Inquisition (die in diesem Zusammenhang überhaupt geschaffen wurde) und
regelrechten Kreuzzügen konnte man dieser "neumanichäischen Kirche" Herr werden. Ihre
Nachwirkungen sind noch lange in anderen "Häresien" der darauffolgenden Zeit spürbar, selbst die
katholische Kirche überstand diese Krise innerlich nur durch die Anerkennung der aus der gleichen
Zeitströmung entstandenen "Bettelorden", die einen Teil des Protestes gegen Hierarchie und
Reichtum der Kirche bildeten. (Die Stimmung geistiger Verunsicherung jener Zeit und den Bezug
Die Weltgeschichte wird vom Kampf zwischen dem guten Gott und dem
abgefallenen Satanael, der die materielle Welt und den Menschen schuf,
beherrscht. Die Seele des Menschen stammt vom guten Gott, und zu ihrer Rettung
aus dem schlechten Körper wurde das "Wort Gottes" (logos) im Scheinleib Christi
gesandt. Hierarchie, Sakramente, Heiligenkult, Reliquien und Ikonen der Kirche
wurden als Satansstiftungen abgelehnt. Nur das Vaterunser und die Beichte
behielt man bei. Die Aufnahme in die Gemeinde erfolgte durch eine "Geisttaufe"
in Form einer Handauflegung. Von der Bibel galt das Alte Testament als Werk
Satans, im Neuen Testament war nur das Johannesevangelium authentische Kundgabe
des wahren Gottes. Die bogomilische Gemeinde bestand aus drei Gruppen: den
"Vollkommenen", den "Hörern" und den einfachen Gläubigen. Die ersteren als
eigentliche Träger der Gemeinde lebten ein streng asketisches Leben, vermieden
Wein, Fleisch und jedes Blutvergießen. Die Leitung lag in den Händen von
"Ältesten" und Aposteln oder "Lehrern", die eigene Werke verfaßten.
48 Vgl. M. Erbstößer, Ketzer im Mittelalter, Leipzig 1984. M. Lambert, Ketzerei
im Mittelalter, München 1981. S. Runciman, Häresie und Christentum. Der
mittelalterliche Manichäismus, München 1988 (hier handelt es sich um die dt.
Übersetzung eines bereits 1947 erschienenen Werkes).
47
22
zur Jetztzeit versucht Umberto Ecos Roman "Der Name der Rose" einzufangen.) So ist auch dieses
Neuaufleben gnostischer Religion für das Selbstverständnis der christlichen Kirche von Bedeutung
gewesen. Eine Erinnerung an die Auseinandersetzung mit den Katharern ist bis heute in unserem
Sprachschatz durch das Wort "Ketzer" (über italien. gazzari) bewahrt worden, das Schimpf- und
Ehrenname sein kann: Ausdruck für die unterschiedliche Einstellung zu dem damit bezeichneten
Phänomen.
2.3.3 Wirkung auf den Islam
Zu der europäisch-christlichen Wirkungsgeschichte der Gnosis ist die Nachwirkung im Orient
hinzuzudenken. In der islamischen Ketzergeschichte ist sie verbunden mit dem Kennwort
"Sabäismus" (Sabier); manche gnostischen Ideen begegnen in der islamischen Mystik, vor allem
aber in den extremen Gruppen des schiitischen Islams (den "Übertreibern"), wie den Ismailiten
oder "Siebenern".49
Der Manichäismus hat am wirksamsten im Buch des Propheten Mohammed selbst seinen
Widerschein hinterlassen. Mohammed vertritt nach dem Koran eine gleiche zyklische
Offenbarungstheorie wie der gnostische Prophet Mani aus dem Zweistromland und stellt sich
ebenso wie dieser an das Ende einer Reihe von Vorläufern, die dasselbe verkündeten wie er, nur mit
weniger Erfolg und von ihren Anhängern verfälscht. Mohammed hat dabei die selbe Vorliebe für
die alttestamentlichen Gestalten aus den Mosebüchern wie Mani. Das, was beide voneinander
trennt, ist die Welt- und Erlösungsvorstellung, die nahezu gegensätzlich bei ihnen zutage tritt; was
sie eint, ist der Anspruch, der letzte Prophet einer uralten Heilsgeschichte zu sein. Manis Werk ist
historisch vergangen, Mohammeds Gründung hat sich dank einem anderen, weltzugewandten
Ausgangspunkt zur größten nachchristlichen Weltreligion entwickelt - ein Ruhm, den zeitweise
auch Mani für sich in Anspruch nehmen konnte.
3. „Gnosis“ als Zentralbegriff der spätantiken Gnosis - Fragen zur Typologie
3.1 Erkenntnis des eigenen Geist-Selbst
3.1.1 Gnostischer Kunstmythos und Idealtypus
Wir haben in einer ersten Annäherung bereits Strukturelemente aufgezählt: Dualismus,
Kosmologie, Soteriologie, Eschatologie, Gemeindestruktur und Kult. Das sind noch sehr abstrakte
Kennzeichen und keine Wesensschau. Ganz am Anfang haben wir eine Geschichte gelesen, ein
poetisches Kunstwerk, das "Lied von der Perle", das unmittelbar anspricht und zugleich Rätsel
aufgibt. Um es mit dem Religionswissenschaftler Carsten Colpe zu sagen:
"Der gnostische Kunstmythus ist nicht zu verwechseln mit einem bloßen Symbol für eine den
Menschen bestimmende transzendente Wirklichkeit, die auch als das Walten eines Gottes näher
bestimmt werden kann. Der gnostische Kunstmythus ist auch nicht ausschließlich eine für den
jeweiligen Welt- und Menschheitszustand erdachte Ätiologie, die entweder ihren Wert als solche hat
oder aber vom Menschen um seiner Erlösung willen gekannt werden muß; zwar enthält der Mythus
auch diese rationale Komponente, greift aber mit seiner Anerkennung der Überweltlichkeit Gottes
und seinen phantastischen spekulativen Versuchen, das geahnte Transzendente begrifflich und
begreiflich zu machen, weit darüber hinaus. Und der gnostische Kunstmythus ist erst recht keine
Vgl. dazu bahnbrechend H. Halm, Kosmologie und Heilslehre der frühen
Isma'iliya. Eine Studie zur islamischen Gnosis, Wiesbaden 1978. Eine
Quellenauswahl in dt. Übersetzung bei H.Halm, Die islamische Gnosis, Zürich
1982. Kurze Übersicht vom gleichen Verfasser: Die Schia, Darmstadt 1988, S.
186-242.
49
23
archaische Deutung der Wirklichkeit, die noch unmittelbar naturhaft empfunden würde. Sondern
unter seiner (...) Form verbirgt sich eine religiöse Haltung, welcher Weltdeutung, Kenntnis der
Erlösungsmöglichkeiten, spekulatives Kohärentmachen vorgegebener Überlieferungen und
Bezeugung aller eigenen Anliegen in urzeitlichen Aussagen in gleicher Weise innerlich wichtig
war."50
Colpe sieht in dieser Bedeutung eines Mythos das Indiz dafür, daß er das Produkt einer Spätzeit ist.
Das ist es aber nicht, was ihn interessant macht; vielmehr seine erschreckende Modernität. Noch in
ihrem flüchtigsten Abglanz, wie z.B. in Laurence Durrells Roman "Alexandrinische Trilogie",
fasziniert diese Modernität. Das war schon so am Beginn der Neuzeit, als Marsilio Ficino erstmals
einen gnostischen Text ediert hat; ebenso am Beginn des 20.Jh., als einer der Gründer des
Dadaismus, Hugo Ball51 schrieb:
"Die Gnosis ist ein tausendjähriges Reich. Man nannte sie die erste geistige Großmacht, die die
Bedeutung des Christentums erkannte. Ihr gehören im Altertum alle jene Doktoren der
Himmelfahrt an, deren Amt die transzendente Spekulation ist, alle jene verborgenen und
phantastischen Geister, nach deren Dafürhalten die Dinge dieser unserer sichtbaren Welt abhängen
von den Entscheidungen einer sehr unsichtbaren, sehr übergeordneten zweiten und dritten Welt,
deren Zugang der Allgemeinheit verschlossen bleibt. Ein geistiges Reich von solchem Ausmaß und
solcher Tiefe kann, auch bei heftigster Befehdung, nicht innerhalb weniger Jahrhunderte spurlos
aus der Geschichte verschwinden. Die unterdrückten, nur halb widerlegten Ideen würden wieder
aufleben, wenn auch erst lange Zeit später und in anderer Gestalt."
Im Perlenlied hat es geheißen: "Auf, erhebe dich von deinem Schlaf und höre auf die Worte unseres
Briefes. Erinnere dich, daß du ein Königssohn bist. Siehe die Versklavung, siehe wem du dienst!
Entsinne dich der Perle, derentwegen du nach Ägypten geschickt wurdest! Erinnere dich deines
strahlenden Gewandes und gedenke deiner prächtigen Toga, die du tragen sollst und mit der du
geschmückt sein sollst, daß im 'Buche der Starken' dein Name gelesen werde! Und mit deinem
Bruder, unserem Stellvertreter, zusammen sollst du Erbe in unserem Reiche sein!" (110)
Mit diesem Typus möchte ich die eingehendere philosophische Reflexion beginnen.
R.Haardt hat folgenden Idealtypus entwickelt:
"Gnosis ist die Erkenntnis des eigenen Geist-Selbst des Gnostikers und der mit diesem Geist-Selbst
konsubstanzialen Gottheit. Diese Erkenntnis entfaltet sich als Wissen über den Ursprung des GeistSelbst, über die Ursache seiner Verknechtung in der Welt der Finsternis und über den rettenden
Aufstieg in das heimatliche Lichtreich und damit als Wissen über dieses Lichtreich, über
Entstehung, Wesen und Schicksal von Weltschöpfermächten, Materie und Welt."52
Religionswissenschaftlich betrachtet, hat das Wort Gnosis einen vorrangig soteriologischen
Stellenwert und drückt in sich schon das Erlösungsverständnis deutlich aus. Gnosis ist eine
Erlösungsreligion. Es ist der Akt der Selbsterkenntnis, der die "Befreiung" aus der vorgefundenen
Situation einleitet und dem Menschen das Heil verbürgt. Aus diesem Grunde ist das berühmte
delphische Schlagwort "Erkenne dich selbst" auch in der Gnosis beliebt und hat in vielfältiger
Weise Anwendung erfahren, vor allem in den hermetisch-gnostischen Texten.53 Wie schon die
Carsten Colpe, Die religionsgeschichtliche Schule. Göttingen 1961.
Hugo Ball, Byzantinisches Christentum. Drei Heiligenleben. Frankfurt am Main,
Insel Verlag 1979. S.152.
52 Robert Haardt, Gnosis. Sacramentum Mundi, 476f.
53 Ad "Hermetische Literatur": Das Corpus Hermeticum ist eine Sammlung anonymer
griechischer Prosaschriften aus dem 2. u. 3. Jh. n.Chr.. In ägyptischer
Einkleidung u. in der Form religiöser Offenbarungen des Hermes Trismegistos
(des Dreimalgrößten - griech. Name des ägypt. Gottes Thoth) werden okkulte
50
51
24
platonische Schule diesen Spruch im Sinne der Erkenntnis der göttlichen Seele im Menschen
ausgelegt hat, so wird hier darunter die Erkenntnis des göttlichen Geistes (nus), der das eigentliche
Wesen des Menschen ausmacht, also seine göttliche Natur, verstanden.
"Licht und Leben ist Gott der Vater, woraus der Mensch (anthropos) entstand. Wenn du also lernst,
daß er aus Leben und Licht besteht und daß du aus diesen herkommst, wirst du wieder zum Leben
gelangen", sagte Poimandres (Corp. Herm. I 21). Im "Buch des (Athleten) Thomas" spricht
Christus gleich eingangs seinen "Zwillingsbruder" Judas Thomas an: "Erforsche dich und erkenne,
wer du bist und wie du warst oder wie du werden wirst... Du hast schon erkannt, und man wird dich
den 'Sich-selbst-Erkenner' nennen, denn wer nämlich sich nicht erkannt hat, hat nichts erkannt. Wer
sich aber selbst erkannt hat, hat schon Erkenntnis über die Tiefe des Alls erlangt."54
<Zum Thomasbuch: In Codex II von Nag Hammadi ist auf Seite 138,1 - 145,19 eine Schrift
enthalten, die den nachgestellten Titel "Das Buch des Athleten Thomas, welcher an die
Vollkommenen schreibt" trägt (145,17-19). Sie enthält esoterische Lehren, geheime Worte, die nur
für die Vollkommenen bestimmt sind. Diese Geheimlehren sollen vom Heiland vor seiner
Himmelfahrt dem Judas Thomas mitgeteilt worden sein. Mit Ausnahme ganz weniger aus dem
Neuen Testament bekannter Begriffe (z.B. der Tag des Gerichts 143,7, die erste Liebe 141,13) ist
diese Lehre ohne Parallelen im NT, sondern vielmehr rein gnostisch; etwa die Abwertung des
Körpers (138,9ff. etc.); des Fleisches (141,24 etc.); seine Bezeichnung als Höhle (143,22f.); der
Welt (142,22ff.etc.), die Betonung der Askese (139,8f.); das ersehnte Ziel: Ruhe zu erlangen
(145,10ff.); die Scheidung der Menschen in drei Gruppen, die der Menschen (138,20ff.) oder
blinden Menschen (141,20ff.), der Anfänger (138,35) oder Kleinen (139,11) und der
Vollkommenen (139,12; 140,10f.) oder Auserwählten (139,28) - diese Gruppen entsprechen den
Hylikern, Psychikern und Pneumatikern - die Wichtigkeit der Selbsterkenntnis (138,8ff.) usw. Das
Thomasbuch enthält sogar Aussagen, die denen des Neuen Testaments entgegengesetzt sind:
während in Mathäus 28,19f. Jesus den Jüngern den Auftrag erteilt, allen Menschen das Evangelium
zu verkünden, verbietet Jesus (141,25ff.) dem Thomas, als dieser ihn fragt, welche Lehre er den
blinden Menschen (= den Hylikern) verkünden solle (141,19ff.), sich um diese zu kümmern.>
"Unwissenheit" oder - gleichbedeutend damit - die "Finsternis" hindert die Menschen daran, zur
Selbsterkenntnis zu kommen, wie es der siebente hermetische Traktat drastisch schildert:
"Zuerst aber mußt du das Kleid, das du trägst, zerreißen, das Gewebe der Unwissenheit, den
Grund der Bosheit, die Fessel des Verderbens, die finstere Mauer, den lebendigen Tod, den in dir
befindlichen Räuber, den der durch das, was er liebt, haßt und durch das, was er haßt, neidet.
Solcherart ist der Feind, den du (wie) ein Kleid angezogen hast, der dich nach unten herunterwürgt
zu sich, damit du nicht aufblickst und die Schönheit der Wahrheit schaust und das darin liegende
Gute und (nicht) die Bosheit an ihm hassest und seine Hinterlist erkennst, mit der er dir nachstellt;
er ist es, der die angeblichen (und nicht dafür angesehenen) Sinnesorgane gefühllos macht, indem
er sie mit viel Materie (hyle) verstopft und mit schmutziger Begierde anfüllt, damit du weder hörst,
was du hören sollst, noch siehst, was du sehen sollst." (Corp.Herm. VII 2,3)
Das "Philippusevangelium"55 hat die Beseitigung dieser boshaften Unwissenheit" durch das Wissen
Weisheiten aus religion, Astrologie, Magie, Mystik usw. überliefert; eine
heidnische Parallelerscheinung zur christl. Gnosis. Am Anfang steht die Schrift
Poimandres, d.h. "Menschenhirt".
54 Das Thomasbuch. Aus: Die Gnosis. Zweiter Band. Koptische und mandäische
Quellen. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Martin Krause und Kurt
Rudolph, mit Registern zu Bd. I und II versehen u. hrsg. v. Werner Foerster.
Artemis Verlag Zürich und Stuttgart 1971. S. 139.
55
Im Codex II von Nag Hammadi ist auf Seite 51,29 - 86,19 das
Philippusevangelium enthalten. Der Verfasser steht dem Valentinianismus nahe.
Entstehungszeit wohl 2.Hälfte 2.Jh., Entstehungsgebiet wahrscheinlich um
25
mit der Freilegung der Eingeweide, die zum Tode führen, oder der Aufdeckung der Wurzeln, die
zum Verdorren des Baumes führen, verglichen:
"Denn solange die Wurzel der Bosheit verborgen ist, ist sie stark, wenn sie aber erkannt wird, hat
sie sich aufgelöst, wenn sie sich aber zeigt, ist sie dahingeschwunden... Jesus aber riß die Wurzel
des ganzen Ortes (d.i. die Welt) aus; andere dagegen nur teilweise. Wir aber: Jeder von uns soll
nach der Wurzel der Bosheit graben, die in ihm ist, (und) (sie) mit ihrer Wurzel aus seinem Herzen
ausreißen. Sie wird aber ausgerissen, wenn wir sie erkennen. Wenn wir sie aber nicht erkennen,
faßt sie Wurzel in uns und bringt Früchte in unserem Herzen hervor..." (NHC II 3,83 (131), 1-11).
Die Gnosis hat also eine unmittelbar aufdeckende und soteriologische Funktion; sie ist Erlösung
(wie die Erinnerung in der Psychoanalyse).
Der Streit zwischen "Wissen" und "Unwissenheit" ist ein universaler, vom "Vater" bewußt
eingesetzter, um den Sieg der "Gnosis" offenbar zu machen. So sieht es die Schrift "Die
ursprüngliche Lehre":
"Er nun, der Vater, da er seinen Reichtum und seine Herrlichkeit sichtbar werden lassen wollte,
setzte diesen großen Kampf (agon) in dieser Welt ein, weil er wollte, daß die Kämpfer in
Erscheinung treten sollen (und) alle Kämpfenden durch ein erhabenes, unerreichbares Wissen das,
was entstanden ist, hinter sich lassen und es verachten, sie sollen zu dem, der besteht (= dem
Seienden), hineilen. Und die, die mit uns kämpfen als gegen uns kämpfende Widersacher, wir sollen
ihre Unwissenheit durch unser Wissen besiegen, da wir um den Unerreichbaren, aus dem wir
hervorgegangen sind, schon wissen. Wir besitzen nichts in dieser Welt (Kosmos), damit nicht etwa
die Macht der Welt (Kosmos), die entstanden ist, uns in den himmlischen Welten (Kosmos), in
denen der allgemeine Tod haust, zurückhält..." (NHC VI 3,26,8-32).
Letzteres ist eine Anspielung auf die Gefahren der "Seelenreise" durch die überirdischen Sphären,
auf die wir noch zurückkommen werden.
3.1.2 Wer bin ich?
Wir werden hier auf die griechischen Voraussetzungen der historisch-faktischen Auslegung der
Gnosis gestoßen. Auf den Gedanken der Erkenntnis im Spannungsfeld zwischen Mensch und Gott.
"Wer bin ich?" (In einer Wiedergabe der gnostischen Hauptlehren steht als erstes Stichwort: "Wer
wir sind" - Clemens, Excerpta ex Theodoto). Die Frage ist heute so aktuell wie damals und wird
von Psychologen und Soziologen verfeinert (vgl. die Begriffe der Rolle, der Funktion). Von jedem
Menschen wird flüchtig oder dauernd der Zwiespalt erlebt: zwischen dem, was ich darstelle und
dem, was ich in Wirklichkeit bin, zwischen den mehr oder weniger zufälligen Kleidern, die ich für
das Bestehen des Lebens anziehen mußte oder wollte, und dem dahinter sich bergenden Leib, der
vom Wechsel der Kleider nicht berührt wird. (Vgl. wieder das Perlenlied!) Der Zwiespalt kann sich
auch ins Innere der Person zurückziehen: man hat einen bestimmten, weitgehend durch Vererbung
geprägten Charakter, aber man ist mit ihm nicht identisch; Le Senne hat den Charakter einmal mit
dem Klavier verglichen, auf dem das Ich spielt; und das gespielte Stück wäre dann die Person. Das
heißt, daß das spielende Ich nicht anders es selbst sein oder werden kann als durch ein Instrument
hindurch, das wieder nicht ablösbar ist von der Umwelt, in der es lebt. Das ist das Problem jeder
Philosophie des Subjekts: "Wie kann das Subjekt sich selber angeglichen werden?" fragt Blondel in
L'Action (1893) 338. "Ich muß mich selber wollen; nun aber ist es mir unmöglich, mich
unmittelbar zu erreichen, dazwischen liegt ein Abgrund, der durch nichts ausgefüllt werden kann."
"Immer ist in dem, was getan oder ersehnt wird, weniger als in dem, der tut oder ersehnt." (Ebd.
337). Und doch gibt es keinen anderen Ausgangspunkt als das Konkrete, Einzelne, dieses ist "der
Widerhall der vollständigen Weltordnung in einem einmaligen Wesen", die Handlung aber scheint
die vermittelnde Funktion zu sein, durch die das Einzelne und das Allgemeine in Beziehung treten,
"das wesentliche Band (vinculum substantiale), das die konkrete Einheit jedes Einzelwesens
Antiochia.
26
herstellt, indem sie dessen Kommunion mit allem übrigen sichert."56 Im Dama der "Action" also
fände der einzelne sich selbst, indem er das Ganze findet - wobei die Frage offenbleibt, ob der
Fluchtpunkt der Identität des Ichs mit sich selbst innerhalb oder oberhalb der empirischen Welt
liegt, vom Subjekt durch eigene Kraft erreichbar ist, oder nur - im Streben - als Geschenk
empfangen werden kann. Blondels Fragestellung kann hier für alle sinngerechte Suche nach der
Deckung des Ich mit sich selbst stehen; auch die verschiedenen anthropologischen Wissenschaften
müssen sie, jede auf ihre Weise, übernehmen. Freilich, weiter zurück kann weder die Philosophie
noch die Wissenschaft fragen, sie beginnen dort, wo im "Großen Welttheater" die nackten Seelen anscheinend ihrem Wesen nach identisch - antreten, um ihre Rolle und deren Ausstattung
entgegenzunehmen.
P.Handke, Über die Dörfer: "Und die Stimme der Gottheit geht so: Du kannst Dich liebhaben."
Die Frage, die gestellt werden muß, lautet nicht: Was für ein Wesen ist der Mensch, sondern "Wer
bin ich?" Die erste Frage wird Ödipus von der Sphinx gestellt; ihr Rätsel zu lösen, hat etwas
Spannendes und, wenn die Lösung gefunden ist, Heiteres. Wenn aber Ödipus später nach dem
Schuldigen sucht, der Theben verseucht, und alle Finger immer unerbittlicher auf ihn deuten, bis er
sich die Augen ausreißen muß und in die vollkommene Isolierung verstoßen wird, ist es mit der
Heiterkeit vorbei. Es ist kein "Fall von", jeder Rückgriff auf irgendein Gemeinsames (vielleicht den
"Ödipuskomplex", in dem er mit anderen solidarisch wäre?) ist verwehrt. Er ist mit seinem
Schicksal allein. Und in dieser Einsamkeit muß er, für sich selbst, nicht für alle, die Frage "Wer bin
ich?" stellen. Alle müssen es tun, aber jeder kann es nur in der Vereinzelung, für sich allein tun.
"Wer sich nicht über sich selbst befragt, führt kein menschliches Leben." (Platon, Apol.38a.) Daß
ein anderer sich fragt, wer er sei, nützt mir in keiner Weise zur Lösung meiner eigenen Frage. Gäbe
man mir zur Antwort: Du bist ein Fall von Mensch (und alle Wissenschaft wird mir in dieser Weise
antworten), so wüßte ich, daß meine Frage entweder mißverstanden wurde oder unbeantwortbar
wäre. Die Wissenschaft kehrt mir den Rücken: quia particularium non est scientia nec definitio.57
Der "Einzelne" (wie ihn Kierkegaard meint und anspricht und wie er selbst einer sein will) hat sein
unzugängliches Geheimnis, das er nie preisgibt und mit sich ins Grab nimmt. Ein Beispiel: Jean
Paul hat die Erfahrung des Ichseins bewußt gemacht und festgehalten:
"An einem Vormittag stand ich als ein sehr junges Kind unter der Haustüre und sah links nach dem
Holzstege, als auf einmal das innere Gesicht: ich bin ein Ich! wie ein Blitzstrahl vom Himmel fuhr
und seitdem leuchtend stehen blieb: da hatte mein Ich zum ersten Male sich selber gesehen und auf
ewig."58
Die Frage wird quälend, wenn der Einzelne seine Existenz auf das zufälligste Ereignis der Welt
zurückführen muß: den Geschlechtsakt zweier Individuen, die er seine Eltern zu nennen hat.
Diesem Zufall hat er sich zu "verdanken". Somit scheint in seinem Dasein keine weitere
Notwendigkeit zu liegen als die des biologischen "Grundes", aus dem er, wie alle übrigen
Individuen, aufgestiegen ist, ephemer, mit der Gewißheit, über kurzem darin wieder unterzugehen.
Wie befremdlich aber, daß er die Fähigkeit hat, nach dem "Grund" zu fragen - die ein Tier gewiß
nicht besitzt -, daß er also reflektieren kann, Geist ist, Distanz gewinnen kann von seinem
unmittelbaren Sein, so daß er der Fragwürdigkeit überhaupt ansichtig wird. Der Fragwürdigkeit
nicht nur seines zufälligen individualen Seins, sondern durchaus auch des biologischen "Grundes",
dem er entstiegen ist, so daß er diesen "Grund" nach seinem Grund befragen kann. Dem fragenden
Henri Bouillard, Blondel et le Christianisme. Seuil, Paris 1961, 24.
Thomas, S.Th. I 44, 3 obj.e. Vgl. In I Meteor 1,1 (Marietti 391): "Manifestum
est quod complementum scientiae requirit quod non sistatur in communibus
(z.B.'Mensch', 'Lebewesen'), sed procedatur usque ad species; individua non
cadunt sub consideratione artis (d.h. der Wissenschaft), non enim eorum est
intellectus, sed sensus." - Vgl. auch 1 Anal.42a-e und 44b.
58 Jean Paul, Sämtliche Werke, Hist.-Krit. Ausgabe E.Berend, II.Abt. (1928-1936)
4,92.
56
57
27
Blick des Einzelnen, der nicht weiß, wer er ist, öffnet sich der ganze Bereich des weltlichen Seins,
das mit ihm selber zusammen hinterfragbar ist. Es ist von vielerlei Gesetzlichkeiten wie ein Körper
von Adern durchzogen, aber eine befremdliche Nichtnotwendigkeit bricht aus allen seinen
einzelnen Gliedern und schließlich aus seiner Gesamtheit hervor. Entweder ist es Trägheit oder
Selbstvergewaltigung der Vernunft, dieses in all seinen Teilen Unnotwendige in seiner Gesamtheit
als das Unbedingte, Nichthinterfragbare hinzunehmen.
Damit erhält die Frage "Wer bin ich?" eine Dimension, die vom Innerweltlichen bis zu einem
Mehralsweltlichen, "Göttlichen" reicht. Man kann deshalb, mit Berdjajew, die Frage nach dem
Menschen eine "theandrische" nennen,59 wie es vor ihm schon Solowjew60 und Franz Baader61
getan hatten, die damit nur die Dimension bestätigen, die Platon (und nach ihm die Kirchenväter)
dem fragenden Menschengeist zugestanden hatten: durch die in der Frage mögliche Distanz zum
Weltlichen rührt er an das "theion", er mag im übrigen noch sosehr von weltlichen Prinzipien
mitbedingt sein. Wir erinnern uns an Platons versuchte Lösung, durch eine Verbindung des
Personal-Freien und Schicksalhaften die Frage "Wer bin ich?" für jeden einzelnen zu beantworten.
Aber da die Lösung mit dem Problem der Seelenwanderung verknüpft war, verlor sich die Antwort
schließlich in unzugängliche Ursprünge. Und der dringende Anruf des Sokrates, sich selbst nicht
minder als andere prüfend zu befragen, (Apol. 28e) läuft schließlich auf die Einsicht des eigenen
Nichtwissens hinaus. Gerade um dieses Nichtwissens willen wird Sokrates vom delphischen
Orakel als der weiseste der Menschen erklärt; offenbar in Erfüllung des ursprünglichen Sinnes des
Spruchs an der Vorhalle des Tempels in Delphi: Gnothi sauton: Erkenne dich selbst.
3.1.3 Gnôthi sautón
In der griechischen Welt ist die Inschrift über dem Eingang des Tempels in Delphi die wichtigste
Chiffre für diese ewige Menschheitsfrage "Wer bin ich?" Der delphische Spruch enthält in seinem
Ursinn eine Ermahnung, angesichts des Gottes seiner menschlichen Beschränktheit eingedenk zu
sein.62
So hat die poetische und philosophische Literatur Griechenlands bis in die Stoa hinein die Inschrift
aufgefaßt. Ein paar Beispiele aus der Fülle müssen genügen: in der 2.Pythischen Ode Pindars wird
der Mensch angewiesen, immer sein Maß zu erkennen (Vers 34); im Prometheus des Aischylos
ermahnt Okeanos den Titan: "Erkenne dich selbst, wandle dich, nimm neue Sitten an... Du darfst
nicht den Leib wider den Stachel Bäumen" (309ff.). Xenophon läßt ("Hellenica" II, IV 41)
Thrasybulos die Athener so ansprechen: "Ich rate euch, ihr Männer der Stadt, erkennt euch selbst,
und ihr lerntet euch dann am besten erkennen, wenn ihr erwöget, welchen Grund ihr habt, uns
gegenüber überheblich zu sein." In Platons "Philebos" (48cff.) erklärt Sokrates die dem
delphischen Spruch entgegengesetzten Haltungen der Menschen, das Sich-selber-gar-nicht-Kennen,
indem man sich überschätzt bezüglich äußerer Güter oder leiblicher Vorzüge oder Tugend. (Ferner:
der Tadel des Sokrates Alkibiades gegenüber, der dem delphischen Spruch nicht folgt: Alk I,
124ab.)
Im "Phaidros" (229eff) geht es darum, die Grenzen seiner Weisheit zu erkennen; falsche Einbildung
von Weisheit ist Unwissenheit.
Bei Epiktet und Plutarch soll der Mensch erkennen, was in seinem Vermögen steht und sich nicht
Versuch einer personalistischen Philosophie (Holle-Verlag, Darmstadt-Genf
1954) 57ff.; vgl. Existentielle Dialektik (Beck, München 1951) 107, 122.
60 Vorlesungen über das Gottmenschentum (Stuttgart 1921).
61 WW 12, 542; 11, 78-80.
62
Zum Thema vgl. Eliza Gregory Wilkins, Know Thyself in Greek and Latin
Literature, Diss. Chicago 1917; zur Wirkungsgeschichte vgl. die Aufsätze von
Pierre Courcelle über "Nosce te ipsum", in: Annuaire du Collège de France 61
<1961> 337-340; 62 <1962> 375-379; 63 <1963> 373-376; 64 <1964> 391f; 65 <1965>
429; weitere Literatur bei Alois Haas, Zur Frage der Selbsterkenntnis bei
Meister Eckhart, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 15
<1968> 190-261.
59
28
nach Dingen ausstrecken, für die er von Natur nicht ausgestattet ist. (Plutarch, De tranquill.an. 1213; de EI ap.Delph.21.)
Für Seneca ist der Anfang der Selbsterkenntnis die Einsicht in die eigenen Fehler (Ep.mor.III
7,10.). Die Fabel Äsops, in der uns Zeus zwei Säcke umhängt: einen vorn: die Fehler der anderen,
einen hinten: die eigenen Fehler, wird von den lateinischen Dichtern öfter zitiert. Wichtig zur
Selbsterkenntnis ist das lebendige Andenken an die eigene Sterblichkeit (Pindar, Pyth.III 59f,
Sophokles Fragm.481 Nauck; Euripides, Alkestis 780f.), sehr ausdrücklich identifiziert Seneca das
"Gnothi sauton" damit in der Trostschrift an Marcia beim Tod ihres Sohnes: "Das will das
pythische Orakelwort vorhalten: 'Erkenne dich selbst.' Was ist der Mensch? Was jedes
herumgestoßene und zerbrechliche Gefäß ist...: ein schwächlicher Körper, zerbrechlich, nackt,
seiner Natur nach wehrlos, fremder Hilfe bedürftig, jeder Schmach des Schicksals preisgegeben."
(11). In Lukians "Totengesprächen" empfängt König Philipp seinen Sohn Alexander mit den
Worten: "Diesmal kannst du nicht leugnen, daß du mein Sohn bist; du wärst nicht gestorben, wenn
du Ammons Sohn wärst... Willst du nicht lernen, diesen Bombast zu lassen und dich selbst zu
erkennen und endlich einzusehen, daß du sterblich bist", statt dich mit Herakles und Dionysos zu
vergleichen? Bei Philon hält Gott dem Moses, der ihn zu schauen wünscht, den delphischen
Spruch entgegen (De Spec.Leg. I 44). Der Spruch gilt bei Juvenal (XI 23ff) als vom Himmel
gefallen, um den Menschen die Selbstbescheidung zu lehren. Gerade dies aber, daß der Spruch vom
Himmel, vom Gott, vom Orakel stammt, kennzeichnet alle diese (und noch zahlreiche Parallel)Stellen: Vom Absoluten her wird der Mensch an die ihm gebührende Stelle gewiesen, in seine
Endlichkeit und Sterblichkeit. Indem er in seine eigene Wahrheit kommt, kommt er auch in das
rechte Verhältnis zu Gott. Pompejus, der in Athen den Göttern opfert, liest bei der Gelegenheit
"einige auf ihn gemachte Inschriften. An der inneren Seite des Tores stand nämlich diese: 'Insoweit
du weißt, daß du ein Mensch bist, insoweit bist du ein Gott'" ( Plutarch, Pompejus 27. Die
Aussage Juvenals wird von den christlichen Theologen des 12.Jh. oft angeführt.)
In diesem Spruch klingt nun ein dem bisherigen gegenüber fremder Sinn hinein, der die Richtung
von Gott zum Menschen in ein Gleichgewicht zu bringen scheint mit der Gegenrichtung vom
Menschen zu Gott. In der Tat dringt von Platon her in Stoa und Neuplatonismus hinein die
Mahnung, der Mensch soll aus seiner Vergeßlichkeit und Verschüttung emportauchen und seines
Adels, seiner Verwandtschaft mit den Göttern eingedenk sein. Im "Phaidros" ist Selbsterkenntnis
Erkenntnis des Seelischen; das wird im "Alkibiades" (129a) zu einer Identifizierung des wahren
Menschen mit der Seele radikalisiert; diesem platonischen Dialog wird später von Proklos, der ihn
kommentiert, der erste Platz eingeräumt. In diesem Verständnis wird das "Gnothi sauton", nach
Julians Wort (Sechste Rede, 185D), von den Stoikern zum "ersten Prinzip ihrer Philosophie"
erklärt, für die aber "der Gott-in-uns" die Vernunft (nous) ist. (Ebd. 196D) So nun auch bei Epiktet
und ausführlich bei Cicero. (De legibus I 58-62) Bei Plotin wird Selbsterkenntnis zur Einsicht in
die Struktur der Seele, (Enn. V 3,4; VI 8,41.), der philosophische Grundakt der "Umwendung"
(epistrophe) wird identisch mit dem Gnothi sauton. Sich erkennen heißt für die Neuplatoniker auf
den eigenen Ursprung zurückblicken, von dem her die Seele "abgestiegen" ist. Man weiß, welch
nachhaltige Wirkung diese zweite Seite des Axioms auf die frühe und mittlere christliche
Geistesgeschichte ausgeübt hat; (Reiche Belege bei Courcelle (aaO): von Klemens von
Alexandrien und Origenes zu den Kappadoziern, von Minucius Felix über Arnobius, Ambrosius
zu Augustin, wo das "noverim me, noverim Te" zum Inbegriff des Gebetes wird und die Einkehr in
sich zum Weg zu Gott.63
Es wäre eine Aufgabe für sich, den stoischen und den platonischen Ansatz samt ihren späteren, bis
Dazu F.M.Sladeczek, Die Selbsterkenntnis als Grundlage der Philosophie nach
dem hl.Augustinus, in: Scholastik 5 (1930) 329-356; Gérard Verbeke,
Connaissance de soi et connaissance de Dieu chez S.Augustin, in: Augustiniana
IV (1954) 495-515; Nähe dieses Weges <durch die Erkenntnis der eigenen Seele
zur Gotteserkenntis> zum Weg Plotins, wobei aber die Bedeutung der Entfremdung
von Gott <mecum eras et tecum non eram: Conf.X 27,38> bei beiden wesentlich
verschiedene Bedeutung hat.
63
29
zu den modernen Entsprechungen in ihrer inneren Gegenläufigkeit zu verfolgen.
(1) Den stoischen Ansatz kann man den der Bescheidung nennen.
Die Stoa bot aus drei Gründen eine in der Antike sonst unbekannte Gelegenheit, sich mit der
Einmaligkeit und Unauswechselbarkeit des Ich zu befassen: einmal aufgrund ihrer empiristischen
Erkenntnistheorie, die keine "universalia in rebus" kennt, sondern in der durch die Sinne
erschlossenen Welt nur unverwechselbare Einzeldinge (idíos poiá) kannte (die der Verstand
nachträglich sehr wohl durch Assoziation in gewisse Kategorien ordnen mag). Ferner galten diese
Einzeldinge als Ausgliederungen des göttlichen Weltseins - bei Poseidonios, wo diese Kosmologie
am großartigsten durchgeführt wird, als Glieder des Weltlebens - einer endlichen Substanz, die am
Ende eines Äons im Weltbrand ihre Gestaltungen wieder in sich resorbiert. Endlich ist dem
Menschen ein Anteil an der göttlichen Weltvernunft gegeben, so daß er nicht nur die göttliche
Vorsehung im ganzen betrachten, sondern auch seine eigene besondere Ausgliederung aus der
Gottheit zu erkennen vermag. Natürlich beschäftigt den Stoiker ebenso wie den Platoniker und
Aristoteliker das "Wesen" des Menschen, das allgemein durch diese Teilnahme am Logos und
damit durch seine weltüberlegene Freiheit gekennzeichnet ist; dennoch kommt in der Stoa ein
besonderes Interesse an der Einmaligkeit der Individuen ins Spiel. So ist es kennzeichnend, daß
Epiktet als Schüler des Musonius Rufus sich persönlich angesprochen fühlte: "Er sprach so, daß
jeder von uns, die bei ihm saßen, das Gefühl hatte, man habe ihm seine Fehler enthüllt, sosehr
rührte er an unseren Zustand, sosehr stellte er jedem seine Fehler vor Augen." (III 23, 29) Und:
"Daß ich und du nicht die gleichen sind, das weiß ich mit der höchsten Gewißheit." (I 27, 17.) So
erhält auch das Gnôthi sautón eine besondere Färbung. Es gibt nach Epiktet in jedem individuellen
Menschenleben das von der Vorsehung als Material "Gegebene", womit der Mensch auskommen
muß, und es gibt seine vernünftige Freiheit, durch die er am Göttlichen teilnimmt und das
Vorgegebene in menschenwürdiger Überlegenheit verwerten und gestalten kann. "Prohaíresis" ist
ineins die überlegende und urteilende Vernunft (dynamis logiké), der freie Wille, der Grund der
sittlichen Person wie das Vermögen ihrer Entfaltung. Jeder ist, in bezug auf beide Elemente,
persönlich ausgestattet, damit durch die Besonderheit aller die Harmonie der Welt sich ergebe (I
12,16.) Jeder muß "den Sinn seiner eigenen Persönlichkeit (ídion prósopon)" besitzen, (I 2,14.) und
entsprechend erwägen, zu welchem Preis er sich selber einschätzt, denn "die Leute verkaufen sich
zu verschiedenen Preisen" (I 2,11). Alles liegt daran, daß man seine Persönlichkeit in Freiheit
annimmt, das heißt sich zugleich für seine gotthafte Freiheit und für die beschränkten
Lebensumstände, in die man gesetzt ist, entscheidet.
Es fragt sich, wie sich die dem Menschen geschenkte Freiheit zur göttlichen verhält: ist sein
Wesenskern als solcher personal und je einmalig oder ist es nur die Komposition der göttlichen
Freiheit mit den einschränkenden materiellen Bedingungen? Die Antwort wird davon abhängen,
was und wer der die Rollen und die Freiheiten verteilende Gott ist. Für den Stoiker ist Gott das
Ganze, die Menschen sind Teile (mória), Fragmente (apospásmata), "eng mit Gott verbunden" (I
14,5-6), mit Gott "verwandt" (syngéneia) (I 9,1; "sie nehmen teil an er göttlichen Gemeinschaft": I
9,6), sie sind wie Glieder eines Leibes, falls diese denken könnten; (II 10,4). Die Freiheit, die sie
erhalten, ist eine absolute: "unabhängig" (autexoúsion) und autonom (autónomon). (IV 1,56.) "Was
hat er (Gott) für sich zurückbehalten?" (IV 1,100). Das geht so weit, daß "Zeus selber meine
Freiheit (prohaíresis) nicht besiegen kann". (I 1,23).
Auf nichts besteht Epiktet mehr als darauf, daß ich "als Freier und Freund Gottes ihm aus eigenem
Antrieb gehorche" (IV 3,9). Denn Gott ist mein "Schöpfer" (poietes) und "Vater", (I 9,7), ich bin
"Adoptivsohn" (I 3,2), Gott, der in allen Dingen zugegen ist (I 14,9), ist besonders im Geist des
Meschen gegenwärtig. (II 8,9-12). Ihm Gehorsam zu leisten, seine Befehle auszuführen, ist der
einzig wahre Gebrauch der menschlichen Freiheit.
Diese Religiosität nähert sich bis zum Verwechseln der christlichen an. Sie verharrt aber in dem
kosmologischen Rahmen, den v.a. Poseidonios aufgerichtet hatte: die Welt als riesiger Organismus,
den ein einziger göttlicher Hauch durchweht ("Gott ein vernunfthaftes und feuriges Pneuma,
gestaltlos, das sich in alles verwandelt, was es will und allem gleich wird" Poseidonios nach Aetios,
in: Diels, Doxogr.graeci, 1879, 302.), deren Teile durch "Sympathie" verbunden sind wie die
30
Organe des menschlichen Leibes. Wie im Herbst die Blätter fallen, so vergehen die Individuen
vorweg, um andern, nachrückenden, Platz zu machen - "gib andern deinen Platz" (IV 1,106), "es ist
ein Gutes für die Teile, dem Ganzen zu weichen" (IV 7,7) -, Gott preisend soll ein jeder abtreten
und keinen Anspruch auf Fortdauer nach dem Tod erheben. Die alte Stoa hatte kein Interesse an
Unsterblichkeit (Pohlenz 80). Damit legt sich über diese Religiosität ein Scheier von
Resignation.Der göttliche Funke im Menschen muß sich bescheiden, eine eingeschränkte Rolle im
großen Weltschauspiel zu übernehmen.
Unter ganz anderen Voraussetzungen hat sich in der Neuzeit (natürlich nach vielen
Zwischengliedern) eine Schau der Welt und des Menschen wiederholt, die in erstaunlicher Weise
die der Stoa, zumal des Poseidonios aufgreift: In J.G.Herders "Ideen zur Geschichte der
Menschheit" (1784-1791). "Vergiß dein ich; Dich selbst verliere nie.../Wer sich verlor, was hätt' er
ohne sich?/Was in dem Herzen andrer von uns lebt,/Ist unser wahrestes und tiefstes Selbst.../Was in
mir lebet, mein Lebendigstes,/Mein Ew'ges kennet keinen Untergang." (Das Selbst. Ein Fragment"
Bd.13, 16.65).
Wie dieses Selbst Herders vorausweist auf das Selbst bei C.G.Jung, die dem sich ins All
übersteigenden Ich erreichbare Synthese aller lebendigen Kräfte, wäre eine Frage für sich. (Jung
nennt das Selbst "im strengsten Gegensatz zum Freudschen Über-Ich, individuell" (WO 282).
Die stoische Antwort auf die Frage "Wer bin ich?", wir seien eine Ausgliederung aus dem Ganzen,
kann den Individuen nicht ihre personale Einmaligkeit zusprechen. Bescheidung wird gewiß ein
Element menschlichen Daseins sein müssen, aber Selbstzweck und Schlüssel zum Ganzen kann sie
wohl nicht sein.
Soll der Mensch deshalb seine Einmaligkeit dort festmachen, wohin ihn religiöses Denken schon
gewiesen hat, in Gott? Aber wird, wenn der Mensch seinen Stand im Ewigen bezieht, ihm dann
nicht alles weltliche Sein und Tun, die Rolle, die er auf der Welt zu spielen hat, zu bloßer
Entfremdung?
(2) Das ist der zweite, schon in der Antike gedachte Ansatz - der neuplatonische der Entfremdung.
Der Neuplatoniker hat das Göttliche vor sich und strebt darauf zu. In der Einigung mit dem Einen
hofft er seine Eigentlichkeit zu finden. Der Inbegriff für das Sein außerhalb des Einen ist "regio
dissimilitudinis" (Plato Politikos 273d; der Begriff wandert über Plotin zu Augustinus (Conf. VII c
10, n 16) und zu Bernhard.64
Das Schlußwort der Enneaden Plotins: mónos pròs mónon, "der Einzige hin zum Einzigen, Aug in
Auge mit ihm" meint nicht sosehr ein Ideal der Abgeschiedenheit als zentral die Erwartung, in der
Konfrontation mit dem Einmalig-Einen die eigene Einmaligkeit zu finden. Das Gnothi sauton
fände so für jeden, der seiner Forderung entsprechen will, eine unverhoffte, wenn auch paradoxe
Antwort. Jeder entdeckte im Einmal-Einen seine unverwechselbare Einmaligkeit, ein Fund, der nur
zusammenfallen kann mit dem Verlust des individuellen Selbstseins.
Proklos entwickelt den plotinischen Gedanken, daß das Hervorbringende höher steht und
umfassender ist als das Hervorgebrachte (Institutio Theologica, prop. 7.), das letztere deshalb in
seiner Ursache eine höhere Eigentlichkeit hat als in sich selbst, und die Rückkehr in die Ursache
die Vollendung des Verursachten ist.
Bei Augustin wird der Gedanke oft wiederholt, anknüpfend an die Erklärung der platonischen
Ideen, dabei aber betont, daß das "Leben", das die Kreaturen von jeher in Gott hatten, das Leben
Gottes selbst ist, die "vita creatrix" (De Gen.ad litt. II 6, 12 <PL 34, 268>: Die beiden Seinsweisen
der Kreatur: in sich selbst, aber von Gott enthalten <continet>, und in Gott <in illo sunt ea quae
ipse est>, werden klar unterschieden. Was in sich selbst voneinander verschieden ist, ist in Gott
alles lebendig Eins - omnia vita sunt et omnia unum sunt, et magis unum est et vita est: De Trin.lib
4, c 1, 3.). dabei taucht, wie nebenbei und wie selbstverständlich, der Gedanke auf, daß die Dinge
64
Vgl. E.Gilson, La théologie de S.Bernard, Paris 1947, 57, 63, 223.
31
in Gott "besser und wahrer, weil ewig und unveränderlich" sind ("Priusquam fierent, erant in notitia
facientis. Et utique ibi meliora, ubi veriora, ubi aeterna et incommutabilia": De Gen. ad litt. V 5, 15,
33.)
Ich kann hier nicht die weitere Geschichte dieses Ansatzes verfolgen, der in der Scholastik mit dem
aristotelischen Gedanken des intellectus agens, der "immer im Akt" ist, verbunden wurde. Die
Identifikation dieses intellectus agens (seit Alexander von Aphrodisias) mit dem "von außen"
(thyrathen) in uns eintretenden göttlichen Intellekt beschäftigt die arabische Philosophie und dann
auch die Pariser Averroisten. Es ist bekannt, welche Mühe Thomas von Aquin hatte, den Wert der
einzelnen Person zu verteidigen.
Bei Meister Eckhart scheint die Differenz zwischen dem ("idealen") Sein der Kreatur in Gott und
ihrem ("realen") In-sich-Sein zum Verschwinden gebracht (Pierre Duhem, Le Système du Monde,
T.6 <Paris 1954>, 216-217.)
<Über Cusanus, der Eckharts Schriften gehütet und ausgelegt hat, ließe sich zeigen, daß Eckhart
einer der wichtigsten Vermittler zwischen neuplatonischer Antike und idealistischer Moderne war.65
Bei keinem der Idealisten geht es um eine Flucht aus der Welt, im Gegenteil um ihre
Durchdringung und Bewältigung. Das Ergebnis heißt aber: Verlust des Einzelnen als Person.
Individuelle Unsterblichkeit kann geleugnet werden zugunsten eines "Geisterreichs", der
"Menschheit", des "Volks". Letzteres ist für Hegel das "allgemeine Individuum". In ihm "ist das
niedrigere konkrete Dasein zu einem unscheinbaren Moment herabgesunken..." (Werke 1-18
<1832-40>. 2, 22).
Welche politischen Konsequenzen das hat, möge das folgende Zitat andeuten: "Das erhabene Ideal,
das Christus aufstellte, war wohl fähig, die Bildung einzelner Menschen zu bestimmen, aber zu der
Verwirklichung in einer Gemeinschaft konnte es nicht gelangen", anstelle des "Reiches Gottes" war
ein äußerlicher Kirchenkult getreten; "erst wenn die Privatreligion Christi zu einer Volksreligion
umgeschaffen wird, kann sie der Träger einer gesunden Sittlichkeit werden".66
Es ist immer wieder von der Aufopferung, ja der "Zerschmetterung der Individualität" (2, 275) die
Rede. - Die Machthaber, denen das gelegen kam, haben sich alsbald gefunden. Nicht erst im
Marxismus wurde der Einzelne konsequent praktisch zum Material der gemeinsamen Sache
herabnivelliert.>
Beide antiken Beantwortungsversuche der Frage "Wer bin ich?" verfehlen ihr Ziel, weil beide Male
das personale Ich sich aufgeben muß in ein es umgreifendes Leben oder Wesen hinein, und kein
notwendiges Band zwischen dem Leben-Wesen und diesem bestimmten Ich nachgewiesen werden
kann.
3.1.4 Selbsterfahrung und Gotteserfahrung
Was ist die Rolle des einzelnen Selbst? Wie kann der Einzelne als wesentlich gedacht werden, ohne
im Göttlichen aufzugehen? Kann die Offenbarung von der Göttlichkeit des einzelnen Geist-Selbst
als eine geschichtliche Religion angesehen werden, die mehr enthalten muß, "als was in der
Vernunft ist", so fragt Schelling (Sämtliche Werke, 14 Bde, 1856-1861. 5,298), denn sonst "hätte
sie gar kein Interesse".
Die Formulierung der spanischen Mystikerin Teresa von Avila (8.Gedicht) verweist auf diese
Frage, deutet die Antwort nur an: "Suche dich, Seele, nur in mir; mich aber suche tief in dir".
Ernst von Bracken: Meister Eckhart und Fichte <Würzburg 1943>, gibt S.632 bis
637 einen Überblick über die Literatur. Für Schelling: Walter Heinrich,
Verklärung und Erlösung im Vedanta, bei Meister Eckhart und bei Schelling
<München 1962>.
66 Zusammenfassende Formulierung von W.Dilthey, Die Jugendgeschichte Hegels, in:
Schriften IV <1921> 15f.
65
32
Damit ist angedeutet, daß die Antwort nur in einer geschichtlichen Dialektik gesucht werden kann.
Vgl. Mt 24, 26f.: "Wenn sie also zu euch sagen: Seht, er ist draußen in der Wüste!, so geht nicht
hinaus; und wenn sie sagen: Seht, er ist im Haus!, so glaubt es nicht. Denn wie der Blitz bis zum
Westen hin leuchtet, wenn er im Osten aufflammt, so wird es bei der Ankunft des Menschensohnes
sein."
Es ist eine durchaus zeitgenössische Fragestellung. Karl Rahner hat sie in einem Aufsatz
"Selbsterfahrung und Gotteserfahrung" von 1971 behandelt.67 Er sagt:
"Wenn man von Selbsterfahrung und Gotteserfahrung sprechen soll, dann ist das erste, was
festzustellen ist, ihre Einheit. Mit Einheit ist natürlich nicht einfach eine absolute Selbigkeit
gemeint. Denn auch das 'transzendental' gedachte Subjekt, als welches wir uns erfahren, ist
absolut verschieden von dem, was wir meinen, wenn wir 'Gott' sagen. Auch die radikalste Wahrheit
der Selbsterfahrung läßt dieses Subjekt, das wir sind, endlich sein, auch wenn es gerade als solches
in seiner transzendentalen Reinheit absolut auf das Unendliche und Unumgreifbare verwiesen ist,
durch das es ist, ohne mit ihm identisch zu sein, sein Wesen also gerade durch etwas konstituiert ist
und als konstituiert sich erfährt, was es selber zu sein zwangsläufig ablehnen muß. Sind somit
Gotteserfahrung und Selbsterfahrung nicht einfach identisch, so sind sie beide dennoch in einer
Einheit gegeben, derart, daß sie außerhalb dieser Einheit überhaupt nicht sein könnten, sondern je
ihr eigenes Wesen verlieren würden....Die Einheit von Gotteserfahrung und Selbsterfahrung ist
ursprünglicher und umfassender, als daß sie nur in der simplen Tatsache bestünde, daß auch im
Akt der Erkenntnis Gottes wie in dem jedes anderen 'Gegenstandes' das Subjekt sich selbst
miterfährt. Die Einheit besteht vielmehr darin, daß die ursprüngliche Gotteserfahrung Bedingung
der Möglichkeit und Moment der Selbsterfahrung ist, daß ohne Gotteserfahrung keine
Selbsterfahrung möglich ist, daß also darüber hinaus die Geschichte der Gotteserfahrung die
Geschichte der Selbsterfahrung bedeutet. Man kann natürlich genausogut umgekehrt formulieren:
die Selbsterfahrung ist die Bedingung der Möglichkeit der Gotteserfahrung, weil nur dort eine
Verwiesenheit auf das Sein überhaupt und somit auf Gott gegeben sein kann, wo das Subjekt sich
selbst (eben in dem Vorgriff auf das Sein überhaupt) im Unterschied zu seinem Akt und dessen
Gegenstand gegeben ist. Dementsprechend kann dann ebenso gesagt werden: die Geschichte der
Selbsterfahrung ist die Geschichte der Gotteserfahrung."..."Die Einheit von Gotteserfahrung und
Selbsterfahrung ist die Bedingung der Möglichkeit für jene Einheit, die die theologische Tradition
zwischen Gottesliebe und Nächstenliebe erkennt und die für das richtige Verständnis des
Christentums von fundamentaler Bedeutung ist."68 Und Rahner meint: "Es könnte gezeigt werden,
daß in der Geschichte der Selbsterfahrung die Erfahrung eines Identitätsverlustes (soweit und in
der Weise ein solcher möglich ist, da ja auch das Verlorene immer noch in seiner Weise gegeben
bleibt) auch (im selben Sinn mit dem gleichen Vorbehalt) ein Verlust der Gotteserfahrung, bzw. die
Verweigerung der Annahme der bleibenden Gotteserfahrung ist." (ebd.143f.)
Hans Urs von Balthasar hat schon in seinem Jugendwerk "Apokalypse der deutschen Seele" die
These vertreten:
"daß die Enthüllung der Seele nur in einer vorgängigen, einfassenden, 'inneren' und 'äußeren'
Apokalypse Gottes möglich ist."..."Offenbarung der Seele und Offenbarung Gottes sind in ihrer
strengen Zuordnung nur eine Geschichte, als der Funkensprung von Seinsmitte zu Seinsmitte und
darin Lichtung der Zentren." Balthasar sieht darin das Herzproblem aller wirklichen Eschatologie
(die er als Lehre nicht nur der letzten Dinge, sondern auch und vor allem der letzten Haltungen
versteht: "Eschatologie läßt sich dann als die Lehre vom Verhältnis der Seele zu ihrem ewigen
Schicksal definieren, dessen Erreichung <Erfüllung, Angleichung> ihre Apokalypse ist."). Darum
Karl Rahner, Schriften zur Theologie Bd.X, Benziger Verlag Zürich Einsiedeln
Köln 1972, 133-144. Zitat 135f. Das Wort "Erfahrung" verweist ebenfals auf den
Prozeß. Vgl. Eugen Biser: "Erfahrungsglauben".
68 Vgl.Karl Rahner, Über die Einheit von Nächsten- und Gottesliebe in: Schriften
zu Theologie VI, Einsiedeln 1968 , 277-298.
67
33
ist er auch überzeugt, "daß in der Tat alle 'objektive' Eschatologie nur ein Teilmoment in der
umfassenderen Enthüllung der Seele ist. Alles Apokalyptische in Natur und Weltgeschichte, alles
Posaunenblasen, Zornschalengießen und Abgrundentriegeln, ja alle Weltbrände, alle Untergänge
und neuen Paradiese sind nur die aufgeschlagene Bühne, die Instrumentierung und die Gleichnisse
der wirklichen Apokalypse, der des Menschen. Und insofern ist der Ansatzpunkt im Subjektiven,
sosehr er sich ins Objektive ausweiten muß, doch der entscheidende, ist das Ausgehen einer
Eschatologie von der 'Haltung' der Seele ihrem letzten Schicksal, ihrem möglichen
Ganzseinkönnen richtiger und tiefer als das Ausgehen von 'objektiven' Endmöglichkeiten."69
In diesem Sinn kann man Religionsphilosophie als eine "Ontologie der potentia oboedientialis für
Offenbarung" verstehen.70 "Der Mensch ist die absolute Offenheit für Sein überhaupt, oder, um
dieses in einem Wort zu sagen, der Mensch ist Geist. Die Transzendenz auf Sein überhaupt ist die
Grundverfassung des Menschen." (Rahner o.c. 63) Das ist der erste Satz einer metaphysischen
Anthropologie. Eine Offenbarung Gottes ist nur dann möglich, wenn das Subjekt, an das sie sich
richten soll, von sich aus einer solchen möglichen Offenbarung einen apriorischen Horizont
darbietet, innerhalb dessen sich so etwas wie Offenbarung überhaupt erst begeben kann. Und nur
wenn dieser Horizont von schlechthinniger Unbegrenztheit ist, ist einer möglichen Offenbarung
nicht von vornherein ein Gesetz und eine Schranke auferlegt hinsichtlich dessen, was
möglicherweise geoffenbart werden kann und soll. Eine Offenbarung, die die Tiefen der Gottheit
enthüllen soll und im Grunde die reflexe Objektivation der Berufung des Menschen in die Teilhabe
am Leben des überweltlichen Gottes selber ist, kann nur dann als möglich begriffen werden, wenn
der Mensch als Geist, das heißt als der Ort der Transzendenz auf das Sein schlechthin begriffen ist
und er diese immer schon vollzogene Transzendenz auch notwendig thematisiert.
Daran schließt sich die Frage an, wo denn im Dasein des Menschen der konkrete Ort sei, an dem
der Mensch als der Horcher auf eine mögliche freie Offenbarung Gottes stehen müsse, um sie
wirklich hören zu können, falls sie als positive Selbsterschließung Gottes tatsächlich ergeht oder
ergangen ist. Wohinein lauscht der Mensch, wenn er auf das mögliche Kommen einer solchen
Offenbarung Gottes horcht oder getroffen werden soll vom Schweigen Gottes? Hört er in sein
"Inneres" hinein? Begibt sich eine solche Offenbarung in der reinen Innerlichkeit des Geistes? In
einem Aufschwung und einer Verzückung der Seele, die emporgerissen wird und hinweg aus der
Raumzeitlichkeit ihrer "Weltlichkeit" in die Sphären jenseits aller Erscheinungen und Bilder zu
einem wortlosen Du-zu-Du von Geist zu Geist? Oder ist der Ort der Offenbarung Gottes die dunkle
Innerlichkeit einer Grundstimmung, eines Gefühls, in dessen unendlicher Sehnsucht der
Unendliche spricht? Oder wo ist sonst der Ort einer möglichen Offenbarung Gottes im Menschen?
Alle affirmativen Religionsphilosophien sind im Grunde nichts anderes als Versuche, zu sagen, wo
der Mensch auf die Begegnung mit Gott warten solle, wo er seinen Gott finden könne.
Aber ist es überhaupt möglich, so fragt der skeptische Philosoph, einen solchen Versuch sinnvoll zu
unternehmen? Kann Gott gewissermaßen vorgeschrieben werden, wohin er kommen müsse, wenn
er dem Menschen begegnen wolle? Darf der Mensch von sich aus den Ort solch einer möglichen
Begegnung bestimmen wollen? Ist ein solcher Gedanke nicht schon ein Widerspruch dazu, daß
Gott der Freie, also der vom Menschen her Unberechenbare ist?
Es ist nach Balthasar der Grundirrtum der im kirchlichen Sprachgebrauch so genannten
"modernistischen" Religionsphilosophie, daß sie die Möglichkeiten einer Offenbarung von
vornherin einschränkt. Das kann einmal dadurch geschehen, daß (rationalistisch) die Offenbarung
nur ein anderer Name ist für das, was der ungeschichtliche autonome Geist des Menschen von sich
aus über Gott erkennen kann. Es kann aber auch dadurch geschehen, daß diese Anlage (im Sinne
Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele. Studien zu einer
Lehre von letzten Haltungen. Bd.1 Verlag Anton Pustet Salzburg Leipzig 1937.
S.4f.
70 Karl Rahner, Hörer des Wortes. Zur Grundlegung einer Religionsphilosophie.
Kösel München 1963. Neu bearbeitet von Johannes Baptist Metz, Herder Freiburg
1971. S.15.
69
34
Schleiermachers) als Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit oder (im Sinne Ottos) als Erlebnis
des mysterium tremendum und fascinosum oder wie sonst immer gefaßt wird. Immer und in jedem
dieser Fälle wird von einer bestimmten religiösen Anlage und Erfahrung her, einbahnig "von
unten", vom Menschen her bestimmt, was als Inhalt einer möglichen Offenbarung überhaupt in
Betracht kommen kann, und dann von dieser Position aus der Inhalt einer bestimmten historischen
Offenbarung kritisch geprüft und unter Umständen Inhalte einer solchen Offenbarung als diesem
apriorisch bestimmten möglichen Offenbarungsinhalt nicht entsprechend oder als von ihm
jedenfalls nicht gefordert und so als belanglos ausgeschieden.
Wer wesentlich für Sein offen ist, kann nicht von sich aus eingrenzend bestimmen, was als
möglicher Gegenstand einer Offenbarung in Betracht kommen kann und was nicht. Er muß sich für
Sein überhaupt offenhalten. Da der Mensch nicht schon absolute "Seinshabe" ist, bleibt nur die
zweite Annahme: Der Ort einer möglichen Offenbarung enthält bei einem Geist wegen dessen
ungegrenzter Transzendenz kein apriorisches Gesetz für die Möglichkeiten des zu offenbarenden.
"Der Mensch ist als geschichtliches Wesen Geist." (Rahner o.c.126) Offenbarung ist geschichtlich,
ist Geschichte. (Zum Vergleich Islam/Christentum: Die christliche „Frohe Botschaft“ ist kein
direkt, „in arabischer Sprache“ herabgesandtes e-mail wie der Koran, sondern von vornherein
übersetz- und interpretierbar, in vier unterschiedlichen Versionen geschrieben.
3.2 Offenbarung (Anthropogonie, Theogonie)
Damit möchte ich wieder zur Gnosis zurückkehren. Die Texte der Gnosis enthalten Erzählungen,
die nicht nur illustrativen Charakter haben, sondern vor allem existentiellen Sinn. Sie sind
Ausdruck des Wissens um das Woher und Wohin des Menschen. Die Frage "Wer bin ich?" ist
entfaltet in die Fragen: "Woher komme ich?" und "Wohin gehe ich?" Wir haben gesehen, daß die
Frage "Wer bin ich?" unlösbar mit der Gottesfrage verknüpft ist. Jesus hat die Bibel des Alten
Bundes zitierend gesagt: "Götter seid ihr". Er ist selbst Gegenstand des Glaubens, er sei konkret
Gottes Selbstmitteilung.
Was sagt die Gnosis über das Wie der Offenbarung ?
Auch hier nimmt der Mensch eine zentrale Stellung in der Theologie ein. Es gibt den besonders
wichtigen Vorstellungskomplex vom "Gott 'Mensch'", bekannt auch unter dem Namen "UrmenschMythos" oder (nach dem griechischen Wort für "Mensch") "Anthropos-Mythos".
Ihr Grundgedanke liegt in dem engen Verwandtschafts- oder Wesensverhältnis zwischen dem
höchsten Gott und dem Kern des Menschen. Dieses Verhältnis wird, offenbar in Anknüpfung an die
biblische Aussage (vgl. 1. Mose 1,26) als Abbildverhältnis verstanden, d.h. der (irdische) Mensch
ist ein Abbild des göttlichen Urbildes, das dementsprechend gleichfalls oft den Namen "Mensch"
trägt. Der "Vater der Wahrheit, der Mensch der Größe" heißt es von ihm in einem Text. (NHC VII
2,53,3-5). Die oft sehr kompliziert dargestellte Lehre läßt sich auf zwei Grundtypen reduzieren71:
Einmal ist das höchste Wesen selbst der Urmensch (anthropos), der durch sein Erscheinen den
weltschöpferischen Kräften ein Vorbild oder Modell für die Schaffung des irdischen (also des
zweiten) Menschen abgibt, zum anderen bringt der höchste Gott zunächst einen ihm
wesensgleichen himmlischen Menschen (häufig "Sohn des Menschen" genannt) hervor, der dann
das unmittelbare Urbild des irdischen (also dritten) Menschen ist. Bei der zweiten Version tritt oft
noch der Gedanke hinzu, daß der (zweite) himmlische Urmensch sich verführen läßt, in dem
irdischen (körperlichen) Menschen Wohnung zu nehmen; er gilt dann als "innerer Mensch" und
repräsentiert zugleich die besagte göttliche Kernsubstanz des Menschen überhaupt (das "Pneuma").
Die reiche gnostische Bildersprache unterscheidet dabei nicht immer deutlich, um welchen
"Menschen" es sich handelt; die göttlichen Attribute können sowohl dem himmlischen als auch
dem ihm wesensmäßig verbundenen irdischen Menschen - meist illustriert an Adam - zukommen.
Eine Analyse des ganzen Komplexes findet sich bei H.-M.Schenke, Der Gott
"Mensch" in der Gnosis. Berlin 1962. (Die Quellenbasis läßt sich jetzt noch
erweitern.)
71
35
Die Idee des Falles eines himmlischen Wesens und seiner Zerstreuung in die irdische Welt ist
überhaupt eine der Grundvorstellungen der Gnosis und hat ihre großartigste und klarste
Ausgestaltung im Manichäismus erhalten.
Hinter dieser Vorstellung vom göttlichen "Menschen", der sowohl über als auch in der Welt weilt,
steckt eine ganz neue Konzeption der Anthropologie. Dies wird vor allem in der Höherbewertung
des Menschen gegenüber dem Weltschöpfer sichtbar: Nicht nur, daß vor diesem der (erste) Mensch,
d.h. der unbekannte Gott, existiert - auch der irdische Mensch, der sein Produkt ist, überragt ihn auf
Grund seiner überweltlichen, göttlichen Beziehung und Substanz. "Diese Erhöhung nun des
'Menschen' zu einem überweltlichen Gott", sagt Hans Jonas treffend, "der - wo nicht der erste jedenfalls früher und erhabener ist als der Weltschöpfer, ist einer der bedeutsamsten Aspekte der
gnostischen Mythologie in der allgemeinen Religionsgeschichte. Er verbindet so weit getrennte
Spekulationen wie die des Poimandres und Manis; er zeigt einen neuen metaphysischen Status des
Menschen in der Seinsordnung an, und es ist die Belehrung hierüber, die den Schöpfer und
Herrscher der Natur auf seinen Platz verweist."72 Darin drückt sich der ganze revolutionäre Geist
der Gnosis in seiner Absage an die herkömmlichen Glaubens- und Wertvorstellungen aus.
Die göttliche Stellung des Menschen auf Grund seiner wesensmäßigen Herkunft wird an einigen
Stellen sehr deutlich formuliert: "Gott schuf den Men<schen, und die Men>schen schufen Gott. So
ist es auch in der Welt, da die Menschen Götter schaffen und sie als ihre Schöpfungen verehren. es
würde sich ziemen, daß die Götter die Menschen verehren." NHC II 3,71 (119), 35-72 (120), 4.
Dies haben schon die ersten greifbaren Gnostiker wie Simon Magus, Menander, Epiphanes in die
Tat umgesetzt und sich - so überliefern es wenigstens die Kirchenväter - als Götter verehren lassen.
Die Ansicht der Griechen vom Meer als Werdeort von Göttern und Menschen (Homer, Ilias 14,201)
wird in der Naassenerpredigt in dem Sinne ausgelegt, daß die Strömung vom himmlischen zum
irdischen Ozean ein Werden von Menschen bedeute, der umgekehrte Weg aber ein Werden von
Göttern (Hippolyt, Refutatio V 7,36), d.h., der Mensch nimmt seinen wesensmäßigen Platz ein,
wofür gleich anschließend der Psalmvers (Ps 82,6) "Ihr seid Götter, alle Söhne des Höchsten"
angewendet wird. "Der Anfang der Vollendung ist die Erkennntis des Menschen, die Erkennntis
Gottes aber ist die vollkommene Vollendung." (Hippolyt, Refutatio V 6,6; 8,38.)
Die wahre Gotteserkenntis beginnt mit der Erkenntnis des Menschen als eines gottverwandten
Wesens. Der "Baum der Erkennntis" im Paradies vermittelte nach verschiedenen gnostischen
Texten Adam seine ihm angemessene gottgleiche Stellung gegenüber dem niederen WeltschöpferGott, der nur aus Neid das Verbot des Genusses von diesem Baum erlassen hatte. Ebenso fungiert
in einigen Systemen die Paradiesesschlange im Auftrag des höchsten Gottes zur "Unterweisung"
des ersten Menschen im Paradies, hat also eine durchaus positive Aufgabe. Einige Quellen
sprechen von dem Erschrecken der niederen Mächte, als sie den wahren Charakter des von ihnen
geschaffenen Menschen erkennen. So wird der Akt der Menschenschöpfung für sie zu einem
Bumerang: "Der Ersterzeuger (archigenetor) der Unwissenheit... schuf den Menschen nach meinem
(des Urvaters) Bilde, ohne aber zu wissen, daß jener ihm zu einem vernichtenden Gericht werden
würde, noch die Kraft, die in ihm (dem Menschen) ist, zu erkennen." NHC XIII 1, 40,23-29.
Damit haben wir schon das Thema der eigentlichen Anthropogonie berührt, wozu noch einiges zu
bemerken ist, bevor die Texte selbst sprechen sollen. Sie wird in überwiegendem Maße unter
Verwendung der alttestamentlichen Erzählung von Adam und Eva dargestellt, allerdings in meist
sehr verfremdeter Weise, wie es für die gnostischen Auslegungen biblischer Aussagen typisch ist.
Dabei stehen aber nicht nur die kanonischen Texte Pate, sondern auch nachbiblisch-jüdische
Vorstellungen, vor allem der Mythos von der Belebung des Adamkörpers (Golem) durch den Geist
Gottes. Er gab wohl in erster Linie eine gute Vorlage für die gnostischen Theologen ab, einige ihrer
Ideen über die Entstehung des Menschen und über seine Doppelnatur in ein schriftstellerisches
Gewand zu hüllen. Daraus entstand ein "Grundtyp gnostischer Urmensch-Adam-Spekulation" (so
der Titel einer Pubikation von Kurt Rudolph in ZRGG IX, 1957, 1-20.), der sich in vielen
Schulrichtungen bis zu den Mandäern und Manichäern wiederfindet. Sie steht natürlich in engem
72
Hans Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I, Ergänzungsheft, S.383.
36
Zusammenhang mit dem "Anthropos-Mythos". Beide sind ja auch der gleichen biblischen
Überlieferung (1.Mose 1) verpflichtet oder beziehen sich auf sie. Die wichtigsten Züge dieser
Adamsgeschichte sind folgende. Der Körper Adams wird vom Weltschöpfer und seinen Engeln
(Archonten, Planeten) aus den Elementen geschaffen (unter Anknüpfung an den in der Bibl
gebrauchten Plural - 1.Mose 1,26); da er aber kein richtiges Leben in sich hat, wird er vom
höchsten Wesen auf verborgene oder vermittelte Weise mit dem göttlichen Geist, d.h. der
Pneumasubstanz, ausgestattet, die ihn über den Schöpfergott erhebt und ihm die Fähigkeit zur
Erlösung verleiht. Die Erlösung besteht in der Erweckung Adams zur Erkenntnis seiner wahren
Herkunft und der Niedrigkeit des Weltschöpfers.
Dieses Ergebnis wird eist mit der biblischen Paradiesesgeschichte verbunden, deren Aussage aber
in ihr Gegenteil verkehrt wird, weil sie Ausdruck der Ebene des Weltschöpfers ist, der Adam als
sein Produkt begreift und nicht um seine höhere Bestimmung weiß. An Hand dieser in den
einzelnen Schriften unterschiedlich ausgearbeiteten Mythen wird das Schicksal des Menschen in
seiner zwiespältigen Natur vorbildhaft dargestellt. Adam oder der erste irdische Mensch gilt der
Gnosis als Prototyp des Menschen überhaupt; sein Schicksal nimmt das der nachfolgenden
Menschen vorweg. Aus diesem Grunde haben alle diese Erzählungen nicht nur illustrativen,
sondern vor allem existentiellen Sinn. Sie sind Ausdruck des Wissens um das Woher und Wohin
des Menschen.
Wir haben über den Typus der "Erkenntnis des eigenen Geist-Selbst des Gnostikers und der mit
diesem Geist-Selbst konsubstantialen Gottheit" reflektiert. Wir sagten: "Diese Erkenntnis entfaltet
sich als Wissen über den Ursprung des Geist-Selbst, über die Ursache seiner Verknechtung in der
Welt der Finsternis und über den rettenden Aufstieg in das heimatliche Lichtreich und damit als
Wissen über dieses Lichtreich, über Entstehung, Wesen und Schicksal von Weltschöpfermächten,
Materie und Welt."
Wir haben uns konzentriert auf die existentielle Fragestellung, die in der griechischen Philosophie
neben der Frage der Wesenserkenntnis des Menschen sehr wohl gestellt wurde, die aber im
christlichen Kontext intensiviert wird: „Wie kann der Einzelne als wesentlich gedacht werden,
ohne im Göttlichen aufzugehen?“
<Vgl. Romano Guardini, Stationen und Rückblicke. Berichte über mein Leben. Mainz u.
Paderborn 1995, S. 235: „...die Wahrheit, die mir wie ein Schlüssel zum Gottesbegriff erscheint,
daß Gott allein wesentlich und eigentlich ‚ist’; ‚Sein’ seinen Namen bildet; während wir nur ‚vor’
Ihm sind. Dann aber bewegte der Gedanke sich dahin, wie es wäre, wenn ‚es’ überhaupt nur Gott
‚gäbe’; Er durch sich, in sich, mit sich. Und das wäre hinreichend, ganz, voll, und nichts würde
fehlen. Und dann das Geheimnis, daß Er in Freiheit gewollt hat, daß ich sei; das aber zu verstehen,
wäre Verständnis der Welt in ihrem Grund und Gottes in seiner Gesinnung. Und Er hat bestimmt,
daß in der Tiefe dieses Geheimnisses ich an seinem Leben Anteil haben dürfte, und das ist
Herrlichkeit und Himmel.“>
Wir haben mit Begriffen hantiert, die wir einfach als gegeben hingenommen haben, weil
menschliche Verständigung nicht alle Voraussetzungen auf einmal ausweisen kann, vielmehr ihr
Thema erst allmählich einkreisen muß.... Wir sollten noch von Seele, von Geist, von Materie und
vielem mehr reden. Aber vielleicht hat eine erste Einkreisung schon bewirkt, daß wir die
gnostischen Texte, die vom Gott Mensch oder von der Anthropogonie reden, mit mehr
Aufmerksamkeit und Verständnis ansehen können. Sehen wir uns nun auch Originalquellen an:
In der "Schrift ohne Titel" aus NHC II wird gegen Ende des kosmogonischen Teils vom
Erscheinen des "Licht-Adam" berichtet. Die finsteren Mächte unter Führung des "Ersterzeugers"
(Demiurgen) setzten die Schaffung des Menschen zuerst als ein Gegenmittel gegen das Eingreifen
der Lichtwelt ein:
"Bevor aber der Licht-Adam aus dem Chaos zurückgekehrt war, erblickten ihn die Mächte und
spotteten über den Ersterzeuger (archigenetor), weil er gelogen hatte, als er sagte: 'Ich bin Gott.
Es gibt keinen vor mir.' Als sie zu ihm kamen, sagten sie: 'Ist etwa dieser der Gott, der unser Werk
37
verdorben hat?' Er antwortete und sagte: 'Ja! Wenn ihr wollt, daß er unser Werk nicht (völlig)
verderben kann, kommt, laßt uns einen Menschen aus der Erde bilden nach dem Bild unseres
Körpers und nach dem Aussehen von diesem (d.h. dem Licht-Adam), daß er uns diene, damit
dieser, wenn er sein Ebenbild sieht, es liebe. Er wird nicht mehr unser Werk verderben, sondern wir
werden diejenigen, welche aus dem Licht hervorgebracht werden, uns zu Dienern machen während
der ganzen Zeit dieses Zeitalters.'" NHC II 5,112 (160), 25-113 (161), 5.
Die lichten Mächte aber benutzen diesen Plan für ihre Zwecke, denn sie handeln nach weiser
Voraussicht und schaffen einen geistigen Menschen, den "Unterweiser":
"Dies alles aber ist entsprechend der 'Voraussicht' (pronoia) des 'Glaubens' (pistis) geschehen,
damit der (Licht-) Mensch vor seinem Abbild erscheine und sie (die Mächte) durch ihr (eigenes)
Gebilde verurteile; und ihr Gebilde wurde zu einem Pferch des Lichtes. Als dann die Mächte zur
Erkenntnis kamen, den Menschen zu bilden, kam ihnen die 'Weisheit Leben' (sophia zoe) zuvor...
und sie verlachte ihren Beschluß: 'Blind sind sie in Unwissenheit, sie haben ihn (den Menschen)
gegen sich selbst gebildet und wissen nicht, was sie tun werden.' Deshalb ist sie ihnen
zuvorgekommen und hat zuerst ihren Menschen gebildet, damit er ihr (der Mächte Gebilde)
unterweise. Wie es (das Gebilde) sie verachten wird, so wird es auch vor ihnen gerettet werden."
NHC II 5,113 (161), 5-114 (162), 24.
Die Entstehung des "Unterweisers" geschieht in komplizierter Weise: Ein "Lichttropfen" fließt von
der Sophia auf das Wasser und wird dort zuerst zu einem Mutterleib, "Lebens-Eva" genannt oder
"Unterweiserin des Lebens", aus der dann ein "mann-weiblicher Mensch" geboren wird, den die
Griechen Hermaphrodit nennen, die finsteren Mächte aber "das Tier", das ist die spätere
Paradiesesschlange, die Adam unterweist. NHC II 5, 113 (161), 21-114 (162), 2.
Nach einigen Unterbrechungen des ursprünglichen Zusammenhangs beginnt die Schaffung des
irdischen Adams: Der Archigenetor erläßt eine Entscheidung im Hinblick auf den zu bildenden
Menschen, und jeder von den Mächten "warf seinen Samen auf die Mitte des Nabels der Erde. Von
jenem Tag an bildeten die sieben Befehlshaber (Archonten) den Menschen, wobei sein Leib zwar
ihrem Leibe glich, sein Aussehen aber dem (Licht-) Menschen glich, der sich ihnen gezeigt hatte.
Sein Gebilde entstand ja nach den einzelnen Teilen eines jeden Archonten. Ihr Oberster aber bildete
das Gehirn und das Mark. Dann trat er in Erscheinung, wie (der) vor ihm, (und) wurde zu einem
psychischen Menschen, (vgl. 1.Mose 2,7) und man nannte ihn 'Adam', das ist der Vater nach dem
Namen dessen, der vor ihm (da) war. Als sie aber Adam vollendet hatten, legte er (der Oberarchon)
ihn in ein Gefäß, weil er wie die Fehlgeburten gestaltet war, da sich kein Geist (pneuma) in ihm
befand. Deswegen, als der Oberarchon des Wortes der 'Treue' (pistis) gedachte, befürchtete er, daß
etwa der Wahre (Mensch) in sein Gebilde komme und darüber Herr werde. Deshalb ließ er es 40
Tage ohne Seele (psyche) und zog sich zurück (und) ließ es sein. In diesen 40 Tagen aber sandte die
'Weisheit Leben' (sophia zoe) ihren Hauch in Adam hinein, in dem (noch) keine Seele war. Er fing
an, sich auf der Erde zu bewegen, konnte aber nicht aufstehen. Als die sieben 'Befehlshaber'
(Archonten) aber kamen (und) ihn sahen, wurden sie sehr bestürzt; sie kamen zu ihm, ergriffen ihn
und sprachen zu dem Hauch, der in ihm war: 'Wer bist du? Und woher bist du gekommen zu diesen
Orten?' Er antwortete (und) sprach: 'Ich bin durch die Kraft des (Licht-) Menschen gekommen zum
Verderben eines Werkes'... Als sie (dies) gehört hatten, priesen sie ihn, daß er ihnen Ruhe von der
Furcht und der Sorge, in der sie waren, vermittelt hatte (weil er ja in Adam gefangen ist)... Als sie
aber sahen, daß Adam nicht aufstehen konnte, freuten sie sich, nahmen ihn weg, setzten ihn in das
Paradies und kehrten in ihre Himmel zurück." NHC II 5,114 (162), 24-115 (163), 30.
Der nächste Akt leitet die Erweckung Adams ein, die in zwei Stufen verläuft: Zunächst erfolgt die
Erweckung durch die himmlische Eva, NHC II 5,115 (163), 30-116 (164), 33. Diese himmlische
Eva wird als aus der Sophia entstanden gedacht; ihr Name wird etymologisch als "Unterweiserin
des Lebens" gedeutet. In einer anderen Version wird sie "das geistige Weib" genannt. NHC II 4,89
(137), 11f.
Dahinter steht offenbar die Vorstellung, daß sie als "Mutter des Lebens" auch die Mutter Adams
38
und damit der Menschheit ist. Sie ist, wie es an anderer Stelle (NHC II 5,116 <164>,4-15) heißt,
Jungfrau, Weib und Mutter in einer Person, repräsentiert also den weiblichen Aspekt des
Lichtreiches, der schon in der Sophia (als deren Seinsform sie letztlich erscheint) sichtbar ist. Der
Versuch der Mächte, den Vorgang der ersten Erweckung durch Bindung der Eva an Adam
einzuschränken, mißlingt. NHC II 5,116 (164),2-33.
Nur das Abbild der geistigen Eva, also die irdische Eva, bleibt bei Adam; sie selbst verwandelt sich
in den paradiesischen "Baum der Erkenntnis". Ihre Schändung durch die Archonten trifft nur das
irdische Abbild, das dadurch die Mutter der Adamiten wird, die damit ebenfalls eine Doppelnatur
bekommen.
Der zweite Akt der Erleuchtung Adams erfolgt im Paradiesgarten mit Hilfe der Schlange, die als
Verkörperung des mann-weiblichen "Unterweisers" (der bekanntlich ein Produkt der geistigen Eva
ist) eine durchaus positive Rolle spielt; auch der berühmte "Apfelbaum", der Eva zum Verhängnis
wird, ist für die Gnostiker ein Symbol des guten höchsten Gottes.
Die Paradiesgeschichte endet mit Verfluchung und Vertreibung des ersten Menschenpaares (NHC II
5,120 <168>,3-12), dem sich aber die der Urheber selbst anschließt. Damit hat die Urzeitgeschichte
erst einmal ein dramatisches Ende genommen.
Originalquellen wie diese (z.B. auch die "Geheimschrift des Johannes" im Papyrus Berolinensis)
bestätigen das, was auch die Kirchenväter über die gnostischen Lehren von der Entstehung der Welt
und der Menschen berichteten, auch wenn uns jetzt erst der ganze Reichtum und tiefere Sinngehalt
dieser Literatur bekannt geworden ist. Offensichtlich gehören die Grundgedanken der geschilderten
Anthropogonie zum ältesten Vorstellungsgut der Gnostiker.
Von Menander berichtet z.B. Tertullian (De carne 5), daß er gelehrt habe: "Dieser (unser)
nichtiger und armseliger Körper, den sie sich nicht scheuen als das Böse zu bezeichnen, sei jedoch
eine Schöpfung der Engel gewesen."
Eine ähnliche Vorstellung liegt offensichtlich auch dem "Poimandres" zugrunde, bei dem nach
dem Abschluß der Weltschöpfung ein zweites Drama beginnt, das die Geburt des "Menschen"
betrifft.
(Handout 4: Corp.Herm. I 12-15. Kopie aus Sloterdijk I, S.161f.)
Ich erinnere nun an den Text von Jakob Böhme, "Neue Wiedergeburt", den wir ganz am Anfang
gelesen haben. Eines der kräftigsten Bilder für Erkenntnis/"gnosis" ist das von Zeugung und
Geburt. Im biblischen Hebräisch wird "erkennen" für "zeugen" eingesetzt ("Wie soll das geschehen,
da ich doch keinen Mann erkenne" sagt noch Maria bei der Verkündigung im Evangelium). Das
Erkennenwollen der ersten Dinge des Menschen, seines "Woher", stößt an diese Grenze. Die
Scham, die Adam und Eva befällt, ist etwas anderes als der cultural shock von Wilden, die plötzlich
mit zivilisierten Bekleideten zusammenkommen. Könnte es nicht der metaphysische Schrecken
sein vor der unübersteigbaren Grenze Zeugung und Geburt, der ebenso schauerlich ist wie das
Stehen an einem offenen Grab? So verwundert es vielleicht auch nicht, wenn die letzten Dinge in
Analogie zu den ersten, zu dem ersten Grenzerlebnis, auch als Geburt, Wiedergeburt, Zeugung
eines neuen Menschen imaginiert werden. (Es liegt nahe, daß Scham sehr viel mit dem tremendum
et fascinosum zu tun hat, mit dem der Beginn des Lebens umgeben ist, und dadurch mit dem
Heiligen bzw. dem Religiösen, wie es die Religionswissenschaft beschreibt. Die Erbitterung, mit
der um das Dogma von der Jungfrauengeburt gestritten wird, ist Chiffre für das Ärgernis, daß der
Mensch sich aus dem ganz Anderen herleiten soll.
Im Zusammenhang mit dem Thema der Geburt Adams und des "Gottes Adam" muß ich auf
Späteres verweisen: auf die Gottesgeburt in der Seele des Menschen. Gott wird im Menschen
geboren, das heißt, der Mensch wird Gottes Kind. Sehr schön erläutert das Meister Eckhart in einer
deutschen Predigt.
Meister Eckhart (ca. 1260 - 1328) war dominikanischer Theologe, Prediger und Mystiker;
veröffentlichte u.a.: Opus tripartitum - Das dreiteilige Werk; daz buoch der goetlichen troestunge,
39
1314 oder 1318; deutsche Predigten, zwischen 1323 und 1325.73
Sie haben wahrscheinlich schon den Sinnspruch von Angelus Silesius gehört, der genau diese auf
Augustinus zurückführbare Lehre Meister Eckharts komprimiert enthält: "Und wäre Jesus
tausendmal geboren, und nicht in mir, ich wäre tausendmal verloren."
Beim Aufweis von Filiationen wie dieser über die Gottesgeburt ist die Frage unvermeidlich, ob also
von gnostischem Einfluß auf christliche Theologie zu sprechen sei. Das wäre allerdings etwas
vorschnell. Was aber sicher gesagt werden kann, ist, daß Christen und Gnostiker sich mit den
selben Fragen auseinandergesetzt haben, einerseits, weil sie zumindest z.T. die selbe
Schrifttradition als Grundlage ihrer Theologie hatten, anderseits, weil sie die gleichen
menschlichen Grunderfahrungen und Anschauungsformen hatten; Jungianer werden in diesem
Zusammenhang von Archetypen sprechen. Die Vergleichende Religionswissenschaft kennt so
etwas wie "Spontanparallelen". Und natürlich kann zumindest für die erste Jahrtausendhälfte der
christlichen Ära eine enge Diskussionsgemeinschaft zwischen Christen und Gnostikern festgestellt
werden. Man war ständig genötigt, sich gegenseitig abzugrenzen, schon aus praktischseelsorglichen Gründen.
Man war verbunden im Glauben an eine geschehene Offenbarung. Somit gemeinsam abgegrenzt
gegen reine Philosophie, die Offenbarungen grundsätzlich in Frage stellt. Zugleich aber verbunden
mit Philosophie durch das Verstehenwollen.
Man war auch verbunden im Glauben daran, daß in der Offenbarung Erlösung geschieht. So wie
Erkenntnis in sich Heil bedeutet, bedeutet auch Offenbarung in sich Erlösung und sind die
Offenbarer-Gestalten in sich Erlöser-Gestalten. Das ist noch näher zu erläutern.
3.3 Erlösung
3.3.1 Erlösung im christlichen Verständnis
Das Wort "Erlösung" läßt an das Auflösen von Fesseln oder an das Auslösen, Freikaufen von
Gefangenen denken. Ursprünglich in den germanischen Sprachen für jedes Lösen, Befreien
gebraucht wie das einfache Lösen, ist es zur Wiedergabe verschiedener Wörter der Bibelsprache
benutzt und dadurch ein vorwiegend kirchliches Wort geworden: "Erlöse uns vom Übel" (Math
6,13), got. lausei uns, Vulgata libera nos. Vor allem wurde es verwendet für die Befreiung des
Menschen durch Christus: "Welcher uns vom Tod erlöst hat" (2Kor 1,10) - got. uns galausida,
Vulgata nos eripuit; oder: "Wißt, daß ihr erlöst seid" (1Petr 1,18) - Vulgata redempti estis
"losgekauft seid". Erlöser entspricht lat. redemptor, Loskaufer; Erlösung: redemptio, Loskaufung.
Nicht zu verwechseln mit dem "Erlös" im Sinn von Geld einnehmen.74
Sie können sich denken, daß in der christlichen Theologie dieser Begriff eine zentrale Stellung
einnimmt. In der lateinamerikanischen Befreiungstheologie ist er derzeit mit neuer Akzentuierung
in den Mittelpunkt gerückt.
Objektiv setzt der Begriff die Annahme einer Erlösungsbedürftigkeit und subjektiv als
Zugeständnis die Annahme einer solchen Erlösungsbedürftigkeit voraus.
Erlösungsbedürftigkeit meint zunächst jenen Zustand, in dem der Mensch sich unvermeidlich nach
seiner eigenen Erfahrung vorfindet und den er als unvollendet, vieldeutig und leidvoll erlebt und
zwar in allen Dimensionen seines Daseins, so daß die Erfahrung dieses Zustands als eines
individuellen und kollektiven fast identisch ist mit seinem Dasein selbst.
Für die christliche Daseinsinterpretation aber ist dieser Zustand nicht nur in den unvermeidbaren
"Reibungserscheinungen" einer materiellen, biologischen, gesellschaftlichen und personal-geistigen
Entwicklung, also nicht bloß in sozialen Mißständen oder in der Endlichkeit (biologischer oder
Das Zitat ist aus Meister Eckhart, Deutsche Predigten und Traktate, hrsg. u.
übrs. v. Josef Quint, München Hanser 1985, S.142-144 und 413-415. <Handout 5>
74 Trübners deutsches Wörterbuch 2.Bd. Berlin (W.de Gruyter) 1940, 230f.
73
40
geistiger Art) des menschlichen Daseins gelegen. Dieser Zustand darf aber auch nicht falsch
radikalisiert werden bis zur Leugnung einer Erlösungsfähigkeit durch einen pessimistischen
Existentialismus mit der Theorie, daß das Dasein eine absolut unaufhebbare Sinnleere habe und
darum deren illusionslose Anerkennung die eigentliche Wahrheit des Menschen sei. Diese Haltung
kann aber verstanden werden als die Erkenntnis, daß der Mensch sich nicht selbst erlösen könne
und die gegenteilige (marxistisch-kollektiv gewendete oder individuell verstandene) Meinung die
moderne Form des "Aberglaubens" (Blondel) ist.
Das Christentum erkennt den Menschen als erlösungsfähig an. Aber dieser Mensch ist auch
erlösungsbedürftig, und zwar zuerst und zuletzt von seiner Schuld.
Die Erfahrung der vom Menschen selbst unaufhebbaren Schuld als des Grundes der
Erlösungsbedürftigkeit wird in sehr verschiedenem Grad gemacht. Das ist ebenfalls Gegenstand der
"Soteriologie".
Erlösung im christlichen Verständnis ist als objektive gemeint, d.h. als Ereignis (Erlösungstat) und
dessen Folge (objektive Erlöstheit), die der Rechtfertigung und Heiligung des Menschen
(subjektive Erlösung) sachlich vorausliegen und somit von dieser subjektiven Erlösung zu
unterscheiden sind. Diese Unterscheidung wird in einer modernen, christlich existentialistischen
Anthropologie oft geleugnet, weil in ihr die Erlösung schlechthin im Ereignis des Glaubens allein
geschieht, der sich nicht auf ein ihm vorausliegendes objektives Ereignis der Geschichte bezieht
In der Bibel heißt Erlösung terminologisch negativ apolytrosis = redemptio, Loslösung aus der
Herrschaft der Sünde, der Mächte und Gewalten, des Gesetzes und des Todes, positiv katallagé =
reconciliatio, die Herstellung der Einheit und des Friedens mit Gott und unter den Menschen selbst.
Dieser erlösende Vorgang wird charakterisiert unter kultischen Begriffen als Opfer (prosphorá,
thysía), als Sühnemittel (hilastérion), als Ausgießung des erlösenden Blutes des Bundes für die
Vielen; unter mehr rechtlichen als Loskauf oder unter noch allgemeineren Begriffen wie Rettung.
Diese Erlösung geschieht durch den Tod Christi, insofern er selbst Wirkung der erlösenden Liebe
Gottes ist, freie Tat Christi als Vollzug seines Gehorsams Gott gegenüber, Annnahme der
Niedrigkeit eines Menschentodes, als Dienst und Liebe den Menschen gegenüber.
Diese Tat ist die des Knechtes Jahwes, der als zweiter Adam stellvertretend eintritt für die
Gemeinschaft seiner Brüder, der Schrift gemäß.
Entscheidend wichtig ist, daß der geschichtliche vorösterliche Jesus selbst seinen Tod als diese
Erlösungstat deutet (Mt 26,28 par.), wenn dies seiner Gemeinde auch erst von seiner Auferstehung
her deutlich wird.
Das Grundproblem der christlichen Soteriologie ist wohl darin gelegen, daß das Ereignis des
Kreuzes einerseits nicht (wie manche modernen Theologen unter Berufung auf 2Kor 5,18-21
wollten) aufgefaßt werden kann als eine bloß auf uns selbst zielende Bezeugung der vergebenden
Liebe Gottes, die uns bewegt, an diese Liebe zu glauben, sondern als Ursache unseres Heiles
anzuerkennen ist. Anderseits darf (soll man nicht in einen primitiven Anthropomorphismus
geraten) nicht verdunkelt werden, daß Gott von der Geschichte nicht bewegt oder umgestimmt
wird, daß also das Kreuzesereingis aus dem Vergebungswillen Gottes als dessen Wirkung kommt
und diesen nicht zuerst konstituiert. Warum dann aber dieser ursprüngliche Vergebungswille Gottes
nicht einfach senkrecht von oben die Vergebung in gleicher Weise unmittelbar an allen
Raumzeitpunkten bewirkt, sondern dem Menschen von einem bestimmten geschichtlichen Ereignis
her begegnet und dieses die Ursache der Vergebung ist, das ist das eigentliche Problem, mindestens
für das Verständnis der christlichen Soteriologie in der heutigen Situation.75
3.3.2 Zu Erlösung, Erlöstsein, Erlöser in der Gnosis:
Schon die Kirchenväter haben aus den Zeugnissen den Schluß gezogen, daß die Gnostiker
Karl Rahner in: Herders Theologisches Taschenlexikon
hrsg.v.K.Rahner, Herder Freiburg 1972 Bd.2, 196ff.
75
in
acht
Bänden,
41
strenggenommen schon "von Natur aus Erlöste" sind, da sie ja substanzhaft mit der Lichtwelt
zusammenhängen, d.h. die Garantie der Erlösung sicher in sich tragen. Die Gnosisforschung hat
diese Deutung lange Zeit beibehalten. Erst durch die neuen Texte ist daran gewisser Zweifel laut
geworden. Aus ihnen wird nämlich deutlich, daß die "Pneuma-Natur" des Gnostikers einerseits
durchaus als Gnade Gottes verstanden werden kann, andererseits das Heil nicht automatisch sicher
ist, sondern von einem entsprechenden Lebenswandel begleitet sein muß, der dem erlangten
Zustand eines Erlösten auch entspricht. Die Gnosis ist sich des vorläufigen Standes des Erlösten bis
zur Realisierung der Erlösung nach dem Tod durchaus bewußt. Natürlich bleibt es dabei, daß das
Pneumatische nicht zugrundegehen kann und sein Eingang ins Pleroma vorherbestimmt ist, aber
das Warum und Wie ist vom rechten Verhalten des Trägers nicht unabhängig. Auch der Gnostiker
muß sich bewähren im Kampf mit den Leidenschaften seiner leiblich-psychischen Natur und den
Verführungskünsten (den Netzen und Schlingen) der Archonten. "Denn jeder wird durch seine
Handlung (praxis) und seine Erkenntnis (gnosis) seine Natur (physis) offenbaren", heißt es in der
"Schrift ohne Titel" NHC II 5,127 (175), 16f.
Im Unterschied zu der Knechtschaft, in der sich die Unerlösten (d.h. die "Fleischlichen") befinden,
und zu denen, die mit "Zwang, Gewalt und Drohung" zum Heil gebracht werden (offenbar die bloß
"Seelischen"), "bedarf derjenige, der ganz von der vornehmen Herkunft der Vaterschaft ist (also der
Pneumatiker), keiner Bewahrung, da er selbst das, was bei ihm ist (=das Seinige) bewahrt, ohne ein
Wort und einen Zwang, (und) da er sich (ganz) mit seinem Willen verbindet, der allein der Einsicht
(ennoia) der Vaterschaft zugehört, damit sie (die Vaterschaft) (wieder) vollkommen wird..." - so die
"Zweite Lehre des großen Seth" NHC VII 2, 61,24-36.
Der Gnostiker handelt also in Übereinstimmung mit seiner Natur und Bestimmung; dazu befähigt
ihn die wiedererlangte Freiheit von Zwang und Tyrannei des Kosmos. Es gibt für ihn keine
naturgegebene Erlösung, die er sich nicht selbst miterworben hat.
"Ich flehe dich an", ruft der Offenbarungsempfänger am Ende des "Poimandres" den "Vater des
Alls" an, "laß mich nie von der Erkennntis (gnosis), die unserem Wesen entspricht, abfallen,
gewähre es mir und gib mir Kraft. Ich will mit dieser Gnade diejenigen (meines) Geschlechtes
erleuchten, die in Unkenntnis sind, meine Brüder, deine Söhne. daher glaube und bezeuge ich: Ich
gehe zum Leben und zum Licht. Gepriesen seist du, Vater, dein 'Mensch' (anthropos) will mit dir
zusammen am Werk der Heiligung teilnehmen, so wie du ihm die ganze Macht übergeben hast."
Corp.Herm. I 32.
Es ergibt sich bei der Betrachtung des Erlösungswegs bald die Frage, ob der Mensch tatsächlich in
der Lage ist, diesen Weg von sich aus durch bloße Selbsterkenntnis zu finden. Damit berühren wir
das sehr umstrittene Problem der gnostischen Erlöserlehre. Selbsterlösung oder Fremderlösung?
In der älteren und jüngeren Forschung ist häufig bestritten worden, daß die Gnosis eine eigene
Vorstellung vom "Erlöser" gehabt habe. Als Argument galt dabei einerseits der Hinweis auf den
ausschlaggebenden Akt der "Selbsterkenntnis", zum anderen die These, daß der Erlöser erst durch
das Christentum in die Gnosis eingeführt worden sei: Die Gnosis sei von Haus aus eine Religion
der Selbsterlösung, nicht der "Fremderlösung". (nebenbei: Hier verstehen Sie auch leicht, warum in
der Neuzeit von manchen christlichen Autoren der aufklärerische Appell zum Selberdenken als
"gnostisch" bezeichnet werden konnte.)
Nun ist der Begriff "Erlöser" tatsächlich etwas unklar, da man sehr viel oder sehr wenig darunter
verstehen kann. Für das Christentum ist der "Erlöser" Christus eine unumgängliche Voraussetzung
der Erlösungshoffnung, da sich der Glaube auf seine im Auftrag Gottes vollzogene Heilstat, die mit
seiner Person identisch ist, bezieht. Im Raum der christlichen Gnosis ist diese Vorstellung durchaus
auch anzutreffen, aber sie ist nur eine und nicht die maßgebende Form. Im überwiegenden Maße
finden sich in der Gnosis ganz andere Konzeptionen, die sich deutlich von der christlichen abheben
und daher icht von ihr herstammen können. Ob man sie ebenfalls unter das Wort Erlöser
subsumiert oder nicht, bleibt eine reine Definitionsfrage. Der antiken Vorstellung vom "Erlöser"
entspricht mehr der Begriff "Befreier", "Retter". Und dies trifft nun wirklich auch die gnostischen
Erlösergestalten. Es sind nämlich diejenigen, die dem Menschen überhaupt erst einmal den Weg
42
zur Befreiung aus dem Kosmos weisen. Man kann sie ebensogut "Offenbarer" oder "Gesandte"
bzw. "Boten" nennen, die im Auftrag des höchsten Gottes die Heilsbotschaft von der erlösenden
Erkennntis vermitteln. Da dies jedoch, wie nicht zu bezweifeln ist, eine Erlösungshandlung ist,
kann man sie auch mit gutem Recht als "Erlöser" bezeichnen (einige sind sogar als "Helfer" bei der
Bewältigung des Seelenaufstiegs tätig). In einer mandäischen Hymne aus der Sammlung der
Tagesgebete heißt es über das Werk des Lichtboten:
"Du kamst aus dem Hause des Lebens,
du kamst: was brachtest du uns?
Ich brachte euch, daß ihr nicht sterbt
und eure Seele (beim Aufstieg) nicht zurückgehalten werde.
Ich brachte euch Leben für den Todestag
und für den düsteren Tag Freude.
Ich brachte euch Ruhe,
an der keine Unruhe der Völker ist." (Mand.Liturgien 196f.)
Die gnostische Erlöservorstellung ist nicht nur abhängig vom Christentum, sondern bildet auch ein
konstitutives Strukturelement der gnostischen Weltauffassung. Denn der Mensch kann sich seiner
Unheilssituation nur darum bewußt werden, weil sie ihm mittels "Offenbarung" bekannt gemacht
worden ist. Die gnostische Weltsicht verlangt regelrecht eine "Offenbarung", die von außerhalb des
Kosmos stammt und die Möglichkeit der Rettung aufzeigt; denn von sich aus kann sich der
Mensch aus seinem Gefängnis, in dem er sich nach dieser Religion befindet, nicht befreien. Er ist
nicht nur eingeschlossen, sondern "schläft" oder ist "betrunken". Erst ein "Ruf" von außen kann ihn
"aufwecken" oder "nüchtern machen", d.h. seine Unwissenheit vertreiben. Dieser Ruf ist in der
Gnosis die einfachste Darstellung des Erlösers; sozusagen seine Minimalfassung. (Erinnern Sie
sich bitte des "Briefs" im Perlenlied.) Er kann sich zu einem ganzen System ausweiten, das als
Offenbarungsschrift die Rolle der Gnosisvermittlung übernimmt.
In vielen Fällen ist eine gnostische Lehre nur die Explikation des ursprünglichen Weckrufs an die
schlafende Seele, ein Vorgang, den wir vorbildhaft an Hand des Adamsgeschehens dargestellt
finden. Es geht um die Erweckung des "Lichtsamens" im Denken der Menschen (der uns an die
logoi spermatikoi der Stoa erinnert), und dies kann in vielfältiger Form geschehen und wiederholt
sich immer wieder, wo der Ruf zur Umkehr oder Buße gehört wird:
"Noch immer schlaft ihr, indem ihr träumt. Wacht auf, kehrt um, kostet und eßt die wahre Speise!
Verteilt das 'Wort' (logos) und das 'Wasser des Lebens'! Laßt ab von den schlechten Begierden und
Wünschen und den (euch) unähnlichen (Sachen)..." NHC VI 4, 39,33-40,7.
Im Epheserbrief hat sich ein gnostischer Weckruf im christlichen Gewand erhalten: "Wach auf, du
Schläfer, und steh auf von den Toten, und Christus wird dir aufleuchten." (Eph 5,14)
Über die Bedeutung des Rufes handelt das "Evangelium der Wahrheit" im Zusammenhang mit der
Namensnennung; es versteht sie als eine Art "Berufung": "Daher ist derjenige, der Erkennntis hat,
einer, der von oben stammt. Wenn man ihn ruft, hört er, antwortet er und wendet sich zu dem, der
ihn ruft, steigt zu ihm empor und erkennt, wie man ihn ruft. Da er Erkennntis hat, vollbringt er den
Willen dessen, der ihn gerufen hat... Wer so zur Erkenntnis gelangen wird, erkennt, woher er
gekommen ist und wohin er geht. Er erkennt,wie einer, der trunken war und von seiner Trunkenheit
abließ; er brachte das seine <wieder> in Ordnung, nachdem er zu sich selbst zurückgekehrt war."
NHC I 3,22,2-19.
In den apokryphen Johannesakten findet sich die Feststellung des Erlösers gegenüber seinem
Jünger: "Du könntest nämlich überhaupt nicht einsehen, was du leidest, wenn ich dir nicht als Wort
(logos) vom Vater gesandt wäre." (Johannesakten 96)
Neben dem Logos gibt es weitere Abstrakta, die eine soteriologische Funktion haben: v.a. die
Weisheit (sophia), dann der Geist (der Wahrheit, des Lebens oder der Heiligkeit), der Verstand
43
(nus), die Einsicht (epinoia) oder die Denkkraft (ennoia), beides Ausdruck der erleuchtenden
Erkenntnis; ferner der "Erleuchter" oder "Lichtträger" (phoster), der "Engel der Gnosis" und andere.
Bei den Mandäern ist die erlösende Erkennntis zu einer eigenen Person namens "Gnosis des
Lebens" (manda dehaiji) geworden. In den hermetischen Texten ist der "Dreimalgroße Hermes"
oder "Menschenhirt" (Poimandres) der Erlöser bzw. Offenbarer. Die christliche Gnosis setzt dafür
natürlich Christus ein, was nicht ohne Spannungen mit der kirchlichen Christologie und den
gnostischen Systemen selbst abgeht. Andere "historische" Gestalten dieser Art, die in der Gnosis
eine Erlöserrolle spielen, sind Simon Magus und Zoroaster (Zostrianos). Der gnostische
Religionsstifter Mani nimmt eine große Zahl alttestamentlicher Personen in die Kette der
Offenbarer oder "Lichtapostel" auf, aber auch Zoroaster, Buddha und Jesus. Das Angebot der
Gnosis auf diesem Gebiet ist also sehr reich und zeigt, daß sie ohne Scheu die unterschiedlichsten
Überlieferungen und Ideen für ihre Zwecke auswertet.
Wir sollten aber m.E. hier innehalten und dem nachfragen, was all dem gemeinsam ist: der
sprachlichen Vermittlung der Erlösung (Boten, Brief, Ruf, verkündende Person...), dem
Logoshaften; fragen, was philosophisch mit der Einführung des Begriffs des "logos" gedacht war.
Warum ist in der Gnosis von Logos und nicht von Mythos die Rede? Ein Exkurs über Mythos und
Logos ist fällig.
3.3.3 Mythos
(1) Empfohlene Literatur:
Wege der Forschung Bd. XX: Die Eröffnung des Zugangs zum Mythos. Ein Lesebuch. Hrsg.v.Karl
Kerényi. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1982.
Dieses Lesebuch gibt einen Überblick über die neuzeitliche Befassung mit dem Mythos der Antike
und belegt das fortdauernde hermeneutische Bedürfnis diesem gegenüber. Denn, um Kerényi selbst
zu zitieren:
"Mit 'Eröffnung des Zugangs zum Mythos' sind die Bemühungen um die Hermeneutik des Mythos
gemeint. Hermeneutik bedeutet mehr, als die Interpretation von Einzelheiten, ja mehr, als die
Summe aller Einzelinterpretationen: sie ist vielmehr eine geistige Unternehmung, die sich mit ihrer
Absicht der Interpretation - der Verdolmetschung und Verdeutlichung - nie bloß auf Einzelheiten
richtet. Hermeneutik entstand jeweils, wenn man empfand, daß Inhalte der Tradition, die bis anhin,
in ihrer Ganzheit mit der ganzen Tradition verbunden, ohne besondere Erklärung, wie
selbstverständlich überliefert und hingenommen wurden, einer besonderen Beschäftigung mit
ihrem Sinn bedurften. Hermeneutisches Verhalten geht immer von der Überzeugung aus, daß die
Zurückgewinnung des verlorenen Sinnes der ernstlichen Bemühung wert ist. Solche
Überzeugungen sind bewegende Gründe in der Geistesgeschichte, die neben ihrem ursprünglichschöpferischen auch ihren hermeneutischen Aspekt besitzt." (o.c., Vorwort, IX.)
(2) Allgemeines:
Nach Kerényi ist das Urphänomen Mythos (das vor der Frage: echter oder unechter Mythos?
anzusetzen ist und unabhängig von der Frage, ob es Irrtum enthält oder nicht) "eine Bearbeitung der
Wirklichkeit. Keine abgeschlossene Bearbeitung! Die Bearbeitung geschieht. Auf solche Weise ist
sie das Urphänomen Mythos. Zum Wesen des Mythos gelangen wir, wenn wir wissen, daß der
Mythos eben die ihm eigene, nicht abgeschlossene Bearbeitung der Wirklichkeit ist."76
Die Bedeutung des Wortes Mythos sagt zunächst wenig. Bei Homer steht mythos in Gegensatz zu
ergon: die Geschicklichkeit darin - in der Rede - wird der Geschicklichkeit in Taten (erga)
entgegengestellt. Einer siegt mythoisi, mit beredten Worten, der andere - mit der Lanze. Im Munde
K.Kerényi, Wesen und Gegenwärtigkeit des Mythos, München u.Zürich
(Droemer/Knaur) 1965. S.128-144. Neubearbeitung in: o.c. 234-252. Zitat 240.
76
44
des Sophisten Protagoras, in Platons geichnamigem Dialog, steht mythos gegen logos: eine Art
Belehrung gegen eine andere. Die erste ist bloße Erzählung ohne Beweisführung, mit offenem
Eingeständnis der Unverbindlichkeit. Die andere kann zwar auch Erzählung oder Rede sein, ist
aber ihrem Wesen nach Argumentieren und Begründen. In dieser Gegenüberstellung, die die
philosophische Wertung des logos zur Voraussetzung hat, wird das, was damals wohl schon
allgemein den Namen Mythos trug, notwendigerweise einseitig und zu seinem Nachteil beleuchtet.
Die strenge Scheidung zwischen mytos und logos selbst wurde auf Grund einer rationalistischen
Lehre, wohl der rhetorisch-sophistischen Synonymik vorgenommen. Herodot sagt noch ruhig logos
dort, wo Protagoras und Sokrates, die wirklichen und die platonischen, mythos gesetzt hätten.
Platon selbst bezeichnet beide - logos und mythos - als einen und denselben Teil der musischen
Kunst.
Eine bestimmte Wirklichkeit der griechischen Kultur wird in dem Einzelwort mythos weniger klar
faßbar als etwa in Wendungen wie mythus legein, mythologeîn, mythología, wie sie sich bei Platon
findet. Die Betätigung, die mit diesen Worten bezeichnet wird, ist für Platon eine Art der poíesis,
des Dichtens. Sie scheint sich vom Gesang der Dichter nur durch ihre Prosaform zu unterscheiden.
Platon beurteilt sowohl die Dichtkunst wie die Kunst der Mythologie von seinem philosophischen
Standpunkt aus gleich negativ und macht daher keinen ernstlichen Versuch, sie klar voneinander zu
unterscheiden. Dadurch, daß er die "Mythologie" neben und mit der Dichtkunst trotzdem in
betracht zieht, beweist er unwillkürlich - und eben darum sicher -, daß er einem von jeder
philosophischen Bestimmung und Umgrenzung unabhängig gegebenen Phänomen gegenübersteht.
Poiesis ist in erster Linie "Machen", das erst nachträglich in etwas Gemachtes und demzufolge
Vorhandenes - das Werk - mündet, auf das dann dieselbe Bezeichnung sekundär übertragen wird.
Die andere Betätigung, die mythologia, wird lediglich ad analogiam von etwas schon Vorhandenem
so benannt, sie ist immer als dessen Fortsetzung gedacht, sie setzt eine ältere, irgendwie
feststehende, aber nicht in ihrer Art bereits ausgestorbene, starr daliegende mythologia voraus. Wer
das Wort poiesis ausspricht, blickt nicht auf das Urbild zurück, sondern auf sein eigenes Schaffen,
das das Werk hervorbringt. Wer aber sein Schaffen, wie der alte Platon seine "Stadtgründung" und
"Gesetzgebung", eine mythologia nennt, denkt an eine ganz bestimmte Art von Schöpfungen, eine
Art, die er wieder aufgenommen zu haben glaubt.
So gelangen wir zu einem Begriff der Mythologie, der wenigstens dem griechischen Phänomen
entspricht. Auf die Frage: Was ist Mythologie? - wird man antworten dürfen: Sie ist eine Kunst
neben und innerhalb der Poesie (die Gebiete beider überschneiden sich vielfach), eine Kunst indes
mit einer eigentümlichen Voraussetzung. Diese Voraussetzung ist stofflich. Es gibt eine
eigentümliche Materie, durch die die Kunst der Mythologie bestimmt wird. Es ist eben die, an die
wir denken, wenn wir das Wort Mythologie hören: eine alte, überlieferte Stoffmasse, enthalten in
bekannten und doch nicht jede weitere Gestaltung ausschließenden Erzählungen (mythologíai oder
mythologémata) von Göttern und göttlichen Wesen, Heroenkämpfen und Unterweltsfahrten.
Mythen sind für den alten Griechen ein Identifikationsmittel. Bevor er etwas tut, sucht er in der
Vergangenheit ein Vorbild, in das er gleichsam selbst schlüpft, wie ein spielendes Kind in seine
Spielrolle. Bei einem solchen Verhältnis zwischen Mythologie und Leben ist die Frage müßig, aus
welchem Grunde jene für wahr gehalten wurde. Die Vorliebe, die die Griechen für ihren Mythos
hatten, gründete sich nach K.O.Müller auf eine Erfahrung: darauf, daß man sich in jener
Mythologie vollkommen heimisch fühlte. Der antike Mensch fand in der Welt Grund genug, um
seine Götter als real zu empfinden. "Glaube" gab nicht den Ausschlag. Als die Frage nach "Glauben
oder Nichtglauben" überhaupt aufkam - sie wird vom platonischen Phaidros an Sokrates gerichtet:
"Glaubst du, daß dieses Mythologem (die Boreas- und Oreithyia-Geschichte) wahr ist?" - bedeutete
dies eine neue geistige Lage. Man beginnt sich unter Hippokentauren und Chimaeren, Gorgo und
Pegasos, die Sokrates in seiner Antwort als ihn nicht mehr angehende urweltliche Gestalten und
Ungestalten aufzählt, un-heimlich zu fühlen.
Lebendige Mythologie wird gelebt, sie ist eine Ausdrucks-, Denk- und Lebensform - und dennoch
ist sie stofflich. Sie ist keine bloße Form oder Art des Vorstellens. Mythologie setzt eine besondere
mythologische Denkform oder "Weise des Bildens", oder wie immer sie genannt werden will, wohl
voraus, doch setzt sie sie nicht mehr oder nicht weniger voraus als die Poesie eine poetische, die
45
Musik eine musikalische "Denkform".
Im Mythos ist sozusagen alles göttlich. Götter sind die streitenden Vögel und die listigen
Himmelskörper. Götter sind auch noch die Menschen - die Menschen der Urzeit. Unter allen
Selbstverständlichkeiten der Mythologie ist das Göttliche das Selbstverständlichste: die
Göttlichkeit von allem, was sich durch sie der Menschheit offenbart. Wie die musikalische Welt die
tönende ist - die Welt in einer Tonwelt aufgelöst - so ist die mythologische die in Ausdrucksformen
des Göttlichen aufgegangene Welt.
Das Göttliche ist eine Tatsache der Religionsgeschichte. Die Kulte aller Völker sind nur als
menschliches Reagieren auf das Göttliche zu verstehen. Und Kulthandlungen erscheinen ebensooft
als Darstellungen von Mythologemen, wie Mythologeme sich als "Erklärungen" von
Kulthandlungen darbieten. Kult und Mythologie beruhen auf demselben Weltaspekt. Dem
modernen Menschen liegen beide gleich fern. Der Vergleich mit der Poesie und Musik wird
vielleicht auch in dieser Hinsicht zu einem besseren Verständnis verhelfen.
Kerényi sagt zur Frage: Was ist Mythologie?:
"Die richtige Antwort auf diese Frage kann nur erhalten werden, wenn man sich wirklich mit
echten, großen Mythologemen vertraut macht. Aber wenigstens ein vorbereitender Begriff und eine
Anleitung zum Verständnis kann auch aus dem Gedanken geschöpft werden, daß das Göttliche zu
seiner Ausdrucksform oft die Poesie oder die Musik wählt, doch - wie die ganze
Menschheitsgeschichte bezeugt - am liebsten die Mythologie."77
(3) Im 20. Jahrhundert wurde die Beobachtung, daß die Bibel entmythologisierende Tendenzen
aufweist, und zwar von der Schöpfungsgeschichte im Buch Genesis an, ebenso wie die Tatsache
der religionsinternen Religionskritik (z.B. in den Propheten des Alten Testaments oder in der
Pharisäerkritik Jesu im Neuen Testament) reflektiert und auf die Spitze getrieben. Die Diskussion
um ein "religionsloses Christentum" oder um die "Entmythologisierung" ist derzeit keine offene
Feldschlacht mehr, dafür ein dauernder Grabenkampf, dessen Ende noch nicht abzusehen ist. Auf
diese theologische Problematik gehe ich hier ebenso wenig ein wie auf die philosophische, die
Hans Blumenberg (1920-1996) mit seinem Buch "Arbeit am Mythos" aufgerissen hat (Frankfurt
am Main, Suhrkamp 1979), und die sich an dem Staunen darüber entzündet, daß der antike Mythos
in der gesamten abendländischen Geschichte bis heute eine solche Wirkmächtigkeit hat, auch ohne
daß an seine Wahrheit geglaubt wird. (Wenn Sie durch das Kunsthistorische Museum gehen,
können Sie den Wettkampf der beiden Bilderwelten des Mythos der Griechen und der Bibel
verfolgen.) "Arbeit am Mythos" geht dem z.B. anhand des Prometheus-Mythos nach.78
Karl Kerényi, Was ist Mythologie? In: Europäische Revue 15, Juni 1939, S.318. Abgedruckt in: o.c. 212-233. Zitat 233.
78
Jörg Villwock, Mythos und Rhetorik. Zum inneren Zusammenhang zwischen
Mythologie und Metaphorologie in der Philosophie Hans Blumenbergs. Philos.
Rundschau 1/2, 1985. S.68ff.
Blumenberg ist einer Idee von Aufklärung verpflichtet, deren Grundforderung in
der Formel "Ausgang aus zwanghafter Bindung ans Vergangene" gefaßt werden kann.
Es geht ihr um die Öffnung der Dimension der Zukunft, um das Freiwerden für die
Geschichte durch ein Erinnern, das von den mythischen Determinationen der
Geschichte zu befreien vermag. "Der Sinn für Geschichte ist zwar noch nicht
Entschlossenheit für eine bestimmte Zukunft; aber es gibt überhaupt keine
andere Sensibilisierung für eine Zukunft als die Einsicht in die Einzigkeit und
Unwiederbringlichkeit des Vergangenen. Daß die Zukunft weder aus den
Wachsfiguren der Vergangenheit noch aus den Imagines der utopischen Wünsche
besteht, kann man nur an den Zukünften der Vergangenheiten lernen, die schon
unsere Vergangenheit ausmachen" (AM 113)
Vgl.Blumenberg AM 13f.: Welchen Ausgangspunkt man auch wählen würde, die Arbeit
am Abbau des Absolutismus der Wirklichkeit hätte immer schon begonnen. Unter
den Relikten, die unsere Vorstellung von der Frühzeit des Menschen beherrschen,
sein Bild als das des tool-maker prägen, bleibt all das unauffindbar, was auch
geleistet werden mußte, um eine unbekannte Welt bekannt, ein ungegliedertes
Areal von Gegebenheiten übersichtlich zu machen. Dazu gehört das der Erfahrung
77
46
Was aber hier kurz angesprochen werden muß, ist die Haltung, die die griechischen Philosophen
dem Mythos gegenüber einnahmen.
Da gibt es das Hineinschlüpfen in das mythische Bild durch den Philosophen Parmenides in seinem
Lehrgedicht. Dann das Bedauern eines Heraklit, daß den Menschen durch Nichtglauben(können)
vieles an Wirklichkeit entgeht. Dann das Rationalisieren des Mythos teils durch Allegorese, also die
Annahme mehrerer Sinnebenen, oder die Banalisierung im Sinn des Euhemeros, der den Mythos
als phantastische Ausschmückung historischer Ereignisse auffaßte.
Das Musterbeispiel für ein Philosophieren mittels des Mythos ( ein mytho philosopheîn, wie es
Plut. Quaest Conv 1,1,3 nennt) ist Platon. Während sein Lehrer Sokrates weder ein Mythenbildner
(Plato Phaed 61b: mythologikós) noch ein Mythenzerstörer wie die Sophisten war und dem Mythos
kühl gegenüberstand (vgl. dazu Phaedr 229c-e), spielt er in Platos Dialogen in wachsendem Maß
eine außerordentliche Rolle.
Plato war mit den Mythen Homers aufgewachsen und bewahrte für sie zeitlebens die Gefühle der
Liebe und Scheu. Er wehrte sich gegen die verächtliche Behandlung der Mythen durch die
Gebildeten (Resp I 330 d: ...) Denn ihm sind sie bildhaft geformte Wirklichkeit jener nur im
Glauben zugänglichen Bereiche des epékeina, des Jenseits.
Das bedeutet: an die Mythen, so wie sie dastehen, vor allem an ihre bunte Götterwelt, glaubt Plato
selbst nicht mehr; in seine große neue Lehre passen nur noch einzelne Stücke hinein, besonders
solche, die sich auf das Schicksal der Seele beziehen.
Platons eigene Mythen sind die Frucht einer phantastischen Kraft, die einerseits überlieferte
mythische Elemente in schöpferischer Neubildung zu philosophisch-mythischen Aussagen
umschmelzt, andererseits in eigenster Schöpfung neue mythische Gebilde als einzig adäquaten
Ausdruck der darin enthaltenen Gedankenfülle hervorbringt.
Die für Plato bezeichnende Vereinigung von logos und mythos hängt damit zusammen, daß seine
Weltanschauungs-Philosophie gleichzeitig Heilslehre ist. Für seine Heilslehre, die um das
Schicksal der menschlichen Seele kreist, bilden seine Mythen, in deren Mittelpunkt ebendieses
Schicksal steht, die wertvollsten Quellen. Es sind das v.a. der Eros-Mythos im Symposion, der
Jenseits-Mythos im Gorgias, Meno, Phaedo und Staat, der Welt- und Seelenmythos im Staat und im
Phaedrus, der Schöpfungsmythos im Timaios.
Das ist die Methode Platons, wie sie Origenes (Cels 4,39) ausdrückt: tà megála dógmata krypsai en
tô toû mythou schémati.
Der platonische Mythos ist verhüllend und enthüllend zugleich. Friedländer: "Er hat seinen Platz in
Platons Dialog überall da, wo das Jenseits und die Fülle des Ideenhaften in dieses Leben
hereinragt."
Er ist also nicht nur Protophilosophie, bei Plato steht er vielmehr am Ende des philosophischen
Wegs als letzte Weisheit.
Aus Kritik und Zweifel am Mythos, das ist: an der ganzen überlieferten Religion, entstand
einerseits die Erneuerung des Mythos durch Plato, der zahlreiche alte mythische Stücke
hinüberrettet auf eine höhere Ebene der griechischen Religion, anderseits das allegorische
Verständnis der Mythen, eine der weitestwirkenden Erscheinungen der Geistesgeschichte.
(4) Im Zusammenhang mit dem antiken Mythos möchte ich noch darauf verweisen, daß die sog.
„Dialektik der Aufklärung“, im Sinn des von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno 1947
vorgelegten Werks, den Buchtitel „Vom Mythos zum Logos“ (von Wilhelm Nestle, Stuttgart
Unzugängliche hinter dem Horizont. Den letzten Horizont, als den mythischen
'Rand der Welt', zu besetzen, ist nur der Vorgriff auf die Ursprünge und
Ausartungen des Unvertrauten. Der homo pictor ist nicht nur der Erzeuger von
Höhlenbildern für magische Jagdpraktiken, sondern das mit der Projektion von
Bildern den Verläßlichkeitsmangel seiner Welt überspielende Wesen.
Dem Absolutismus der Wirklichkeit tritt der Absolutismus der Bilder und Wünsche
entgegen. Freud hat in 'Totem und Tabu' von der Allmacht der Gedanken als
Signatur des archaischen Animismus gesprochen...
47
²1942) gleichsam umkehrt, und daß darin eine geschichtsphilosophische Pointe liegt: Der Weg
des Logos führt zu einem neuen Mythos. (Im „Mythos des 20.Jahrhunderts“ sogar bewußt!)
Horkheimer-Adorno wollten den Nachweis erbringen, daß das moderne Leben seit der
Aufklärung unter einem schwarzen Stern stehe: Wissenschaft und Rationalität, Selbstbehauptung
und forschende Neugier schlugen im Verlauf einer groß angelegten Wirklichkeitsbemächtigung
zurück in das Gewaltregime manisch-irrationaler Verfügungen, an deren vorläufigem Endpunkt
die Schreckenstat von Auschwitz aufragte. Mindestens ebenso bittere Worte fanden die beiden
Autoren für den Massenbetrug der westlichen „Kulturindustrie“. Das Buch machte erst in den
späten 60er Jahren Furore und wurde zu einer Bibel marxistisch erregter Studenten, die hier
nicht nur die Kritik am Kapitalismus wiederfanden, sondern auch den absolut gewordenen
Verdacht gegenüber den bürgerlich-demokratischen Institutionen und Erfahrungen von der
Familie bis zum angeblich bloß regressiven Kunst- und Kulturgenuß der herrschenden
Gesellschaft.
(5) Ein treffliches Beispiel für die fortgesetzte „Arbeit am Mythos“ ist Albert Camus’ „Der
Mythos von Sisyphos“ (Le Mythe de Sisyphe, Paris 1942).
„Die Götter hatten Sisyphos dazu verurteilt, unablässig einen Felsblock einen Berg
hinaufzuwälzen, von dessen Gipfel der Stein von selbst wieder hinunterrollte. Sie hatten mit
einiger Berechtigung bedacht, daß es keine fürchterlichere Strafe gibt als eine unnütze und
aussichtslose Arbeit.“ (MS 98) Im Geschick des zu einem sinnlosen, absurden Unternehmen
verurteilten Sisyphos findet sich der im Absurden lebende Mensch wieder, „Sisyphos ist der
Held des Absurden“ (MS 99). Die griechische Mythologie berichtet auch die Gründe, die zur
Verurteilung Sisyphos’ führten: seine Liebe zum Leben, sein Haß gegen den Tod und eine
„gewisse Leichtfertigkeit im Umgang mit den Göttern“ (MS 98) haben Ihm dieses sinnlose
Unterfangen aufgezwungen. Über den seine hoffnungslose Arbeit vollziehenden Sisyphos wird
in der Mythologie nichts weiter berichtet. Wie verhält sich dieser Sisyphos zu seinem Schicksal,
dem er nicht entgehen kann? Wie kann sich der absurde Mensch, dessen Dasein dem des
Sisyphos so sehr gleicht, zu seinem Dasein verhalten?
Der den Stein auf den Gipfel des Berges wälzende Sisyphos ist ganz und gar dieser Arbeit
anheimgegeben, ist ganz und gar der Vollzug dieses Wälzens, ein Vollzug, der unveräußerlich
und schweigend geleistet werden muß. Auf dem Gipfel des Berges angekommen, erfährt
Sisyphos das Scheitern seines Unternehmens. Der Stein rollt wieder in die Tiefe, Sisyphos geht
den Abhang hinunter. „Auf diesem Rückweg, während dieser Pause, interessiert mich Sisyphos
... Ich sehe, wie dieser Mann schwerfällig aber doch gleichmäßigen Schrittes zu der Qual
hinuntergeht, deren Ende er nicht kennt. Diese Stunde, die gleichsam ein Aufatmen ist und
ebenso zuverlässig wiederkehrt wie sein Unheil, diese Stunde ist die Stunde des Bewußtseins. In
diesen Augenblicken, in denen er den Gipfel verläßt ... ist er seinem Schicksal überlegen. Er ist
stärker als sein Fels.“ (MS 99)
Sisyphos, der seinem Geschick, seinem Leben gegenübersteht, erfährt im Augenblick des
„Bewußtseins“, in der Stunde der Theoria, da er innehält und vom Vollzug zurücktritt, seinen
Sieg. In der „clairvoyance“ des Sisyphos seinem Geschick gegenüber kann er dieses Schicksal
mit der Verachtung besiegen. „Sisyphos, der ohnmächtige und revoltierende Proletarier der
Götter, kennt das ganze Ausmaß seiner unseligen Lage: über sie denkt er während des Abstieges
nach. Das Wissen („la clairvoyance“), das seine eigentliche Qual bewirken sollte, vollendet
gleichzeitig seinen Sieg. Es gibt kein Schicksal, das durch Verachtung nicht überwunden werden
könnte.“ (MS 99) Im Augenblick, da er das Sinn- und Hoffnungslose seines Unterfangens nicht
mit Illusionen auf ein Ende seiner Qual verdeckt, stimmt er nicht allein seinem Geschick zu,
sondern macht er auch dieses Geschick zu seiner, ihm allein gehörigen Angelegenheit. „Darin
besteht die ganze verschwiegene Freude des Sisyphos. Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist
seine Sache.“ (MS 100) In dieser Aneignung des Geschickes bricht die Freiheit des zu einem
absurden Dasein verurteilten Sisyphos auf.
Dieser Exkurs über Sisyphos ist dem Buch von Peter Kampits, Der Mythos vom Menschen. Zum
48
Atheismus und Humanismus Albert Camus’ (Otto Müller Verlag Salzburg 1968), S. 71ff.,
entnommen.
Die „clairvoyance“, von der da die Rede ist, hat Sie sicher – und mit Recht - an die Erkenntnis
des Gnostikers erinnert, der durch sie den Weltmächten überlegen ist.
(6) Zur Annahme eines gnostischen „Grundmythos“:
Hans Jonas hat den Begriff des Grundmythos in einer von der religionswissenschaftlichen
Mythologie abweichenden methodischen Absicht auf die Gnosis als spätantike Geistesformation
angewandt. Es kam ihm nicht darauf an, damit die gemeinsamen und irreduziblen Grundzüge einer
Vielfalt gnostischer Mythologeme zu einem Mustermythos herauszupräparieren, und genausowenig
wollte er die ursprüngliche Einheit einer späteren Vielfalt nachweisen. Was er als den "autogenen
einheitlichen Grundmythos" bezeichnet, ist die nicht überschreitbare, nicht nur faktisch so sich
niederschlagende Darstellungsform der Selbstauffassung dieser Epoche, die er gnostisch nennt. Der
Grundmythos ist erschlossener transzendentaler Geschichtsfaktor, "das gesuchte synthetische
Prinzip für die Mannigfaltigkeit mythischer Objektivationen im gnostischen Auslegungsbereich."
(Gnosis und spätantiker Geist, II/1. Von der Mythologie zur mythischen Philosophie. Göttingen
1954, 1.)
Der Grundmythos, wie Jonas ihn nimmt, ist also kein historisch-literarisch vorkommendes Faktum.
Er ist als Strukturschema für solche Fakten und Belege, also für die tatsächlich nachweisbaren
Mythen oder mythenähnlichen Konstrukte, ein dynamisches Prinzip der Sinnstiftung. (Vgl.
Blumenberg, Arbeit am Mythos 198.)
3.4 Dualismus
3.4.1 Aspekte des gnostischen Dualismus
Der "gnostische Mythos" wird thematisch charakterisiert vom Valentinianer Theodotos: Gnosis sei
"die Erkenntnis dessen, wer wir waren, was wir geworden sind, wo wir waren, wohin wir geworfen
wurden, wohin wir eilen, wovon wir erlöst werden, was Geburt und was Wiedergeburt ist"79
Die Grundgestalt, die den äußerst vielfältigen, schwer zu systematisierenden Objektivationen
(Kunstmythen) der Gnosis gemeinsam ist, läßt sich durch ein Modell veranschaulichen, das die
vielen Idealtypen, die sich aus den Schriften der gnostischen Gemeinschaften formen lassen, unter
einem gemeinsamen Nenner vereinigt. Die Grundstruktur des gnostischen Mythos bildet ein
Dualismus, der zwei Aspekte aufweist:
(1) ein Dualismus besteht zwischen der überweltlichen, geistigen, guten Gottheit, ihrer Sphäre
(Pleroma) und ihren Lichtwesen (Aionen) einerseits und dem inferioren, unwissenden Weltschöpfer
(Demiurgen), seinen Archonten (Planetengeistern usw.), der Materie, dem Kosmos und der
Menschenwelt anderseits. Für die Gnosis ist die Unterscheidung zwischen höchster Gottheit und
niederem Demiurgen immer wesentlich, wobei dieser je nach dem System unterschiedlich beurteilt
wird. Entweder gilt er als (mehr oder weniger) böse, unwissend und widergöttlich, oder er wird als
depraviertes Lichtwesen gedacht, das jedoch zuletzt in das Lichtreich zurückkehrt (wie im
Mandäismus). Eine Mittelstellung hat der Demiurg z.B. bei den Valentinianern, bei denen er nach
dem Weltende zu relativem Heil gelangt. Eine günstigere Beurteilung des Weltschöpfers besagt
jedoch nicht, daß die Existenz des Bösen in seinen mannigfaltigen Hypostasierungen entschärft
würde. Die gnostische Charakterisierung des Weltschöpfers, der meist mit dem Schöpfergott des
abgewerteten bzw. verworfenen AT identifiziert wird, und seine radikale Unterscheidung von der
höchsten Gottheit schließen aus, daß die jüdische Esoterik (oft jüdische Gnosis genannt), die ja am
Monotheismus festhält, unter unseren Begriff von Gnosis fällt. Der Manichäismus jedoch ist eine
Exc. ex Theodoto 78,2. Abgedruckt in: Die Gnosis. 1.Bd.
Kirchenväter, ed. Werner Foerster, Artemis, Zürich 1969, S.297.
79
Zeugnisse
der
49
Gnosis, obwohl der Demiurg dort eine Lichtgottheit ist, die auf Befehl des guten Gottes den
Kosmos zur Ausläuterung des von der Finsternis verschlungenen Lichts errichtet.
(2) ein Dualismus, der dem eben beschriebenen notwendig entspricht, besteht zwischen dem
göttlichen Geist-Selbst des Menschen (bzw. des Gnostikers) einerseits und dem Weltschöpfer samt
seinen Mächten und deren Schöpfungen (Kosmos, Materie, Körper, Schicksal, Zeitlichkeit)
anderseits.
o Die demiurgischen Mächte schaffen sowohl den menschlichen Körper, in dem göttliches Licht als
dessen Geist-Selbst gefangengesetzt wird, als auch eine Potenz (oft als psyché, aber auch anders
bezeichnet), die dem Menschen eingepflanzt wird, um sein Geist-Selbst zu betäuben und ihn so in
der Welt der Finsternis zurückzuhalten. Meist wird also in der Gnosis ein trichotomes
anthropologisches Schema angenommen: der Mensch (bzw. der Gnostiker) besteht aus dem
Geistselbst (genannt: spiritus, humectatio luminis, auch anima u.a.; griech und koptisch pneuma,
nous, psyché u.a.) einerseits und aus dem Körper und der oft psyché genannten dämonischen
Potenz anderseits. Hinter dieser Dreiteilung scheint ein zweigliedriges Schema durch, da ja die
dämonisch-planetarische psyché eher zur Finsternis gehört als zum Licht. Da oft das Geist-Selbst in
den Texten psyché heißt, im Gegensatz zu jenen Dokumenten, in denen die verdunkelnde Potenz
im Menschen diesen Namen trägt, ergibt sich die Bedeutung von psyché jeweils aus dem Kontext.
o Die Gefangenschaft des Lichtes in der Materie wird in der Gnosis meist mit folgenden
Vorstellungsreihen begründet, in denen Vorgeschichte und Entstehung von Weltschöpfermächten,
Kosmos und Mensch entworfen sind: In den Systemen des "syrisch-ägyptischen" Typus der Gnosis
stürzt ein göttliches Wesen aus dem Lichtreich ab und verursacht so die Entstehung der
Weltschöpfermächte, der Welt und des Menschen: das Böse entsteht aus dem Lichtreich über den
Umweg eines tragischen Falles durch Emanation. Das Wesen, das abfällt, ist entweder eine
männliche Figur (anthropos = "Mensch" bzw. "Urmensch", z.B. im Poimandres des Corpus
Hermeticum oder bei den Naassenern) oder eine weibliche Hypostase, wie die Sophia der
valentinianischen und verwandter Systeme. Ursache des Sturzes ist ágnoia bzw. páthos; die
sinkende Figur ist ein kosmogonisches Prinzip als Ursache des Weltwerdens und ein
anthropologisches, da sie das Geist-Selbst des Menschen konstituiert, das als Teil bzw.
Hervorbringung der Lichthypostase erscheint.
Im "iranischen" Typus der Gnosis wird die Finsternis, das Böse, nicht aus dem Lichtreich emaniert,
sondern Licht und Finsternis stehen sich als uranfängliche, eigenständige Reiche gegenüber. Ein
Angriff der Finsternis auf das Licht ist die Voraussetzung, daß Licht in die Gefangenschaft der
Finsternis gerät, wie der manichäische Urmensch (bzw. seine Lichtelemente). Die Ursache seines
Abstiegs aber ist der Wunsch des Lichts, die Finsternis durch Kampf oder durch Selbstopfer zu
überwinden. Repräsentativ für diesen Typus, der auch in Überschneidung mit dem "syrischägyptischen" Typus auftritt, ist der Manichäismus.
Die Lichthypostasen, als deren "Teile" die in der Welt gefangenen Lichtfunken oft gedacht werden,
sind in unterschiedlicher Weise am Erlösungswerk beteiligt, was die Forschung vereinfachend mit
den Modellen vom "Erlösermythos", "Urmenscherlösermythos" (bzw. "salvator salvatus", "salvator
salvandus") ausdrücken will. Das zu erlösende, abgesunkene Licht ist oft je nach dem System
verschieden lokalisiert: Es wird vorzugsweise im menschlichen Körper eingeschlossen gedacht,
existiert aber auch bisweilen außerhalb des Menschen in den Archonten und in der Natur
(Manichäismus).
o Die Frage, ob alle Menschen ein Geist-Selbst haben oder ob dieses und damit die Möglichkeit der
Erlösung nur einem Teil der Menschheit zukommt, beantwortet die Gnosis unterschiedlich:
(1) In der einen Systemgruppe haben alle Menschen einen Lichtfunken, wobei je nach dem
System die Frage nach der Rettung der Gesamtheit des gefallenen Lichtes bejaht bzw.
verneint wird.
(2) Die andere Gruppe scheidet die Menschen grundsätzlich in solche, in denen Licht
50
eingekörpert ist und die daher gerettet werden (Pneumatiker), und in solche, die keinen
Lichtfunken besitzen und daher zugrunde gehen (Hyliker). Im Valentinianismus z.B.
wird
noch eine mittlere Kategorie (Psychiker) eingeführt, die eines relativen Heiles fähig ist,
soferne sie nach großkirchlichen Vorschriften lebt.
Die Seelenwanderungslehre findet sich in zahlreichen Zeugnissen beider Systemgruppen, da sie
wichtig für die sukzessive Aussonderung der Lichtfunken ist. Das abgesunkene Licht wird durch
den Ruf gnostischer Offenbarung an den Pneumatiker zur Gnosis erweckt, wodurch die
Aufstiegsphase des "Mythos" in Richtung auf Individual- und Universaleschatologie beginnt.
Die praktische Bewährung des Gnostikers im Sinne ethischen Handelns ist grundsätzlich durch
zwei extreme Positionen markiert: einerseits ein akosmischer, radikaler Asketismus, anderseits ein
akosmischer, antinomistischer Libertinismus (Antinomismus ist aber nicht immer Libertinismus,
vgl. Markion). Die Position indifferenten Handelns bildet eine relativ selten bezeugte Mitte.
Diesen ethischen Haltungen liegt der gnostische anthropologische Geist-Materie-Dualismus mit der
Ablehnung des Weltschöpfers und seiner Werke zugrunde. In dieser Ablehnung bewährt der
Gnostiker seine negativ vermittelte weltüberlegene Freiheit.
In der gnostischen Eschatologie hat die Individualeschatologie den Vorrang, die als endgültige
Erlösung unter dem Mythologumenon des postmortalen Seelenaufstiegs durch die Planetensphären
gedacht und durch rituelle und magische Praktiken vorbereitet werden kann. Die
Individualeschatologie wird aber nicht von der Hoffnung auf die dereinstige Reintegration des
gesamten errettbaren gefallenen Lichts im Pleroma getrennt. Nach der Reintegration tritt das Ende
der Welt als endgültige Scheidung des Göttlichen vom Nichtgöttlichen ein. In der irreversiblen
Bewegung des Gesamtprozesses auf das Eschaton hin liegt die eschatologische Orientierung der
Gnosis.
Der gnostische Geist-Materie-Dualismus läßt die Hoffnung einer eschatologischen Erneuerung der
Schöpfung und leiblicher Auferstehung nicht zu.
3.4.2 Der gnostische Dualismus im religionsgeschichtlichen Vergleich
Die Religionsgeschichte kennt verschiedene Vorstellungen vom Wirken zweier mehr oder weniger
unabhängiger Gottheiten oder Prinzipien, die für die unterschiedlichen Zustände in der Welt
verantwortlich gemacht werden. Eine der bekanntesten ist der iranisch-zoroastrische Dualismus,
der einen guten und einen bösen Gott an den Anfang des Weltgeschehens stellt und dieses von dem
Kampf der beiden beherrscht sein läßt, bis der gute Gott mit Hilfe seiner Anhänger am Ende der
Zeiten den Sieg davonträgt. Dieser Dualismus ist allerdings ein wesentlich ethisch ausgerichteter,
da er auf die religiös-moralische Einstellung und Haltung entscheidenden Wert legt und die
Gegensätze "gut" und "böse" nicht mit denen von "geistig" und "körperlich" bzw. "materiell"
zusammenfallen, sondern auch die letzteren durchziehen. Dieser Dualismus hat einen großen
Einfluß auf die Gnosis gehabt.
Anders steht es mit dem stärker philosophisch orientierten Dualismus Platons, der für das
griechische Denken und dann für die ganze Spätantike von großer Bedeutung geworden ist. Er
kennt die beiden Seinsebenen: die geistigen ewigen Ideen und deren vergängliche materielle
(räumliche) Abbilder, die den Kosmos bilden; letztere bedeuten zwar einen Seinsverlust, gehören
aber trotzdem zum guten Teil der Schöpfung (für den schlechten Teil hat Platon schließlich eine
"schlechte Weltseele" verantwortlich gemacht). Dieser "ontologische" oder "metaphysische"
Dualismus ist gleichfalls eine Voraussetzung des gnostischen.
Schließlich könnte man noch auf den indischen Dualismus zwischen Sein und Schein oder Werden
hinweisen, der verschiedentlich für die Gnosis herangezogen wurde, der aber wegen seiner ganz
51
anderen Orientierung für sie nicht in Frage kommt (er hat eher mit dem platonischen
Gemeinsamkeiten).
Es gibt noch eine Reihe anderer Dualismen, die mehr oder weniger radikal, gemischt oder
dialektisch ausgerichtet sind und deren Typologie zu dem interessanten Arbeitsfeld der
vergleichenden Religionswissenschaft gehört.
Der gnostische Dualismus unterscheidet sich von diesen vor allem in dem einen wesentlichen
Punkt, daß er "antikosmisch" ist, d.h., zu seinem Konzept gehört eine eindeutig negative
Bewertung der sichtbaren Welt einschließlich ihrer Urheber; sie gilt als Reich des Bösen und der
Finsternis. Die Gleichsetzung von "Böse" und "Materie", die im iranisch-zoroastrischen Denken
nicht anzutreffen ist, findet sich in der Gnosis als grundlegende Auffassung. Auch im griechischen
Denken läßt sich - bis auf gewisse, allerdings unsicher datierbare orphische Lehren - keine solche
"gegenweltliche" Ausrichtung des Geist-Körper-Dualismus nachweisen. Die griechische
Konzeption ist eindeutig "prokosmisch", und kein geringerer als der führende Kopf des Spät- oder
Neuplatonismus Plotin (3.Jh.n.Chr.) hat diese Haltung gegenüber der Verteufelung des Kosmos
verteidigt. In seinem ersten Traktat "Über die Vorsehung" heißt es daher mit deutlich
antignostischer Spitze: "Niemand darf deshalb an unserem Weltall mäkeln, es sei nicht schön oder
nicht das vollkommenste der mit dem Leibe behafteten Wesen; noch auch mit dem Urheber seines
Daseins hadern, schon darum nicht, weil es zwangsläufig ins Dasein getreten ist, nicht auf Grund
einer Überlegung, sondern weil die höhere Wesenheit nach dem Gesetz der Natur ihr Ebenbild
hervorbrachte." (Enn. III, 2, 3)
Ist auch die Welt nicht vollkommen, da sie nur Anteil am höchsten Sein hat und von der Materie
getrübt ist, so ist sie doch als Produkt des Weltplans "so schön, daß es keine andere gibt, die
schöner wäre als sie." (a.a.O. III 2, 12)
Das gleiche gilt vom Menschen: Er ist "insofern ein vollendetes Geschöpf, als ihm vollendet zu
sein vergönnt ist." (a.a.O.III 2,9)
Eine eigene Schrift "Gegen die Gnostiker" nimmt sich vor allem deren Ansicht vor, daß der
Kosmos und dessen Schöpfer schlecht seien. (Enn. II 9, 13)
3.5 Der unbekannte Gott
Aus dieser Polemik eines Platonikers werden die Sonderstellung der gnostischen Weltbetrachtung
und ihre Konsequenzen sehr deutlich. Sicherlich gibt es gewisse Gemeinsamkeiten zwischen
gnostischen und platonischen Auffassungen, die sich jetzt in einigen der Nag-Hammadi-Texte
leicht nachweisen lassen, sei es in der Kosmologie oder der Psychologie, aber der trennende
Graben läßt sich nicht übersehen. Der positive Pol des gnostischen Dualismus ist eine "Überwelt",
die, sehr unterschiedlich und differenziert geschildert, in der Annahme eines (bisher) unbekannten,
unweltlichen, neuen Gottes gipfelt, der jenseits aller sichtbaren Schöpfung residiert und der
eigentliche Herr des Alls ist. Die Welt ist nicht sein Werk, sondern das eines untergeordneten
Wesens. Aber er nimmt trotzdem auf verschiedene Weise zum Heil des Menschen Einfluß; es ist
die "Vorsehung" (prónoia), die hier zum Ausdruck kommt. Diese Gottesvorstellung der Gnosis ist
eine Gegenstiftung zu allen bisher "bekannten" Weltgöttern, die in ihrer Beschränktheit - man
spricht sogar von ihrer Dummheit - den wahren Gott nicht kennen und deshalb handeln, als ob es
ihn nicht gäbe. Dieser weltferne Gegengott, der oft das charakteristische Attribut des "Fremden"
trägt, ist eigentlich nur negativ zu umschreiben oder in Bildern, die seine unnachahmliche, von
jeglicher Weltbeziehung freie Stellung ausdrücken wollen.
Einer der geistreichsten Gnostiker, Basilides (2.Jh.), soll nach der Darstellung des Hippolyt vom
uranfänglichen, "nichtseienden Gott" gesprochen haben. Die Schule seines jüngeren Zeitgenossen
Valentinos behauptete, "daß in unsichtbaren und unmenschlichen Höhen ein vorseiender,
vollkommener Äon (d.i. eine überweltliche Wesenheit) sei, den sie 'Voranfang', 'Vorvater' und
'Urgrund' (bythos) nennen, er sei unfaßbar und unsichtbar, ewig und ungeworden (oder: ungezeugt)
und sei in großer Ruhe und Stille in unendlichen Zeiträumen (Äonen) gewesen". (Irenäus, Adv.haer.
52
I 1)
Ähnliche Auffassungen von der Unbekanntheit Gottes trugen schon die ältesten Gnostiker, wie
Simon und Menander, vor. In dieser theologischen Tradition der Gnosis steht auch Marcion
(1.Hälfte des 2.Jh.), der sein "Evangelium vom fremden Gott" (Harnack) durch eine scharfe
Trennung von (bösem) Schöpfer- und (gutem) Erlösergott begründete und der zu den originellsten
frühchristlichen Denkern gehört. Besonders eindrückliche Zeugnisse geben uns die neuen
koptischen Texte der verschiedensten Schattierungen.
Das "Philippusevangelium" entwickelt eine grundsätzliche Umwertung und Relativierung der
"Namen", d.h. der Bezeichnungen, die den irdischen und himmlischen Dingen herkömmlich
gegeben werden, aus der Erkenntnis heraus, daß gegenüber der wahren Überwelt die irdische
Sprache versagt, vor allem wenn sie durch die Tradition festgelegt ist. "Die Namen, die man den
kosmischen (Dingen) gibt, verursachen eine große Irreführung: denn sie wenden ihren (der
Menschen) Sinn von den Feststehenden zu den Nichtfeststehenden (Dingen). Wer 'Gott' hört,
erkennt nicht das Feststehende, sondern das Nichtfeststehende." NHC II 3, 53 (101), 23-29.
So geschieht es auch mit den Namen "Vater", "Sohn", "Heiliger Geist", "Leben", "Licht",
"Auferstehung" und "Kirche", die keine Bedeutung vor der Ewigkeit, dem Äon haben. a.a.O. 53
(101), 29 -54 (102), 2.
Die Namen dieser Welt gehören dem Irrtum an; sie sind von den Archonten (bösen Weltherrschern)
zur Irreleitung der Menschen eingeführt worden. a.a.O. 54 (102), 18-24.
Im Licht dieser Fakten ist auch der spätere abendländische sog. "Nominalismus" zu bedenken.
Auch der böse Dämon, den Descartes einführt, um seinen archimedischen Punkt zu gewinnen, ist
keine so willkürlich eingeführte Denkmöglichkeit, wie es bei seiner Lektüre scheinen könnte,
sondern knüpft an diese alte Tradition der Gnosis an.
Hier ist wieder ein Handout <6,1> fällig, und zwar aus dem sog. "Apokryphon des Johannes". Das
ist eine Schrift, die sich in Kreisen der christlich-häretischen Gnosis großer Beliebtheit erfreute. Sie
liegt nun in vier Versionen vor, alle in koptischer Sprache, von denen uns die ChenoboskionBibliothek drei erhalten hat. Alle diese Texte sind Übersetzungen, die letztlich auf unbekannte
griechische Vorlagen zurückgehen.80 In dieser "Geheimschrift des Johannes" steht einleitend als
Mitteilung des erhöhten Christus:
"Das Pneuma, das eine höchste Herrschaft ist, wird von niemandem beherrscht. Der Gott der
Wahrheit, der Vater des Alls, das Heilige Pneuma, der Unsichtbare, der über dem All ist, der
Bestand hat in seiner Unvergänglichkeit, er ist im reinen Licht, in welches kein Auge zu schauen
vermag.
Er ist das Pneuma, das man nicht als Gott, oder als ein in bestimmter Weise geartetes Wesen
Die erste Version des AJ ist in dem 1896 entdeckten Papyrus Berolinensis 8502
(abgekürzt BG - Berolinensis Gnosticus) auf den Seiten 19,6-77,7 enthalten
u.wurde von W.C.Till ediert (Die gnostischen Schriften des koptischen Papyrus
Berolinensis 8502, Berlin 1955, Seite 78-195). Die anderen Versionen wurden
ediert in: M.Krause und P.Labib. Die drei Versionen des Apokryphon des Johannes
im Koptischen Museum zu Alt-Kairo, Wiesbaden 1962.
Das AJ ist einer der wenigen gnost.Texte, die relativ früh bezeugt sind.
Irenäus benützte um 180 in seinem Bericht über die Barbelognostiker
(adv.haer.I,29) einen griech. Text des AJ, der aber nicht d.unmittelbare
Vorlage einer d.koptischen Versionen ist, wobei der Häresiologe in seinem
Referat allerdings nur den ersten Teil der Schrift berücksichtigt. Das
Verhältnis der vier erhaltenen Versionen untereinander und auch die Relation
der koptischen Texte zu dem Exzerpt des Irenäus bedürfen noch der Klärung. Der
Textausschnitt, den ich hier vorlege, ist öfter übersetzt von W.C.Till,
R.Haardt, M.Krause, K.Rudolph.
80
53
denken soll. Er überragt nämlich die Götter. Er ist eine Herrschaft, über die niemand herrscht,
denn nichts entstand vor ihm, noch bedarf er ihrer (pl.). Des Lebens bedarf er nicht, ist er doch
ewig. Nichts benötigt er, ist er doch unvollendbar, da er nicht der Vollendung bedürftig war,
sondern zu jeder Zeit vollkommene Vollendung ist. Er ist Licht. Er ist unbegrenzbar, weil niemand
vor ihm ist, ihn zu beurteilen, der Unermeßliche, weil kein anderer ihn ermessen hat, der vor ihm
gewesen wäre. Der Unsichtbare, weil niemand ihn sah. Der Ewige, der immer ist. Der
Unbeschreibbare, weil niemand ihn erfaßt hat, um ihn zu beschreiben. Der, dessen Name unsagbar
ist, ist doch niemand vor ihm, um ihm einen Namen zu geben.
Dieser ist das unermeßliche Licht, die heilige, lautere Reinheit, der Unbeschreibliche, der
vollkommen und unvergänglich ist. Er ist weder Vollendung noch Seligkeit noch Göttlichkeit,
sondern er ist etwas, das bei weitem vortrefflicher als diese ist; noch ist er etwas, das vortrefflicher
als dieses ist.
Er ist nicht körperlich noch körperlos.
Er ist nicht groß und nicht klein. Er ist keine Größe und kein Geschöpf und niemand kann ihn
erfassen. Nichts von allem, was existiert, ist er, sondern etwas, das vortrefflicher als dieses ist.
Nicht als ob er vortrefflicher wäre, sondern weil er sein Eigener ist, hat er keinen Anteil an einem
Aion. Zeit kommt ihm nicht zu, denn an dem, der Anteil an einem Aion hat, haben andere geformt.
Und Zeit wurde ihm nicht zugerechnet, da er von keinem anderen, der zurechnet, etwas empfängt.
Und er bedarf keiner Sache. Überhaupt existiert niemand vor ihm.
Er verlangt nur nach sich selbst in der Vollkommenheit des Lichtes, er begreift das lautere Licht.
Die unermeßliche Größe, der Ewige, der Ewigkeit schenkt, das Licht, das Licht schenkt, das Leben,
das Leben schenkt, der Selige, der Seligkeit schenkt, die Gnosis, welche Gnosis schenkt, der allzeit
Gute, der Gutes schenkt, der Gutes tut, nicht weil er es besitzt, sondern weil er Barmherzigkeit und
Erbarmen übt, die Gnade, die Gnade schenkt, das unermeßliche Licht.
Was werde ich dir sagen über ihn, den Unbegreiflichen, der da ist die Gestalt des Lichtes gemäß
dem, was ich werde begreifen können. Wer ist er, der ihn jemals begreifen wird, in der Weise, in der
ich mit dir werde sprechen können?" Pap.Ber. 22,19-26,2.
In ähnlicher Weise spricht der Verfasser des Eugnostosbriefes über den "Gott der Wahrheit", den er
als erlösende Erkenntnis allen anderen philosophischen Lehren gegenüber verkündet:
"Der, welcher existiert, ist unbeschreiblich, keine Urkraft (arché) hat ihn erkannt, keine Macht,
keine Unterordnung, nicht irgendeine Kreatur, seit dem Anfang der Welt, außer er allein." NHC II
3, 71, 13-18.
Er ist allem entgegengesetzt, was Vergänglichkeit und Mangel, Unselbständigkeit oder Begrenzung
an sich hat. Man nennt ihn zwar "Vater des Alls", aber wahrheitsgemäßer ist er nicht "Vater",
sondern "Vorvater". Er ist der Anfang allen Wissens und Ursprung dessen, was offenbar ist.
Es ließen sich noch mehr Beispiele (z.B. aus dem Schrifttum der Mandäer) beibringen, die zeigen,
daß die gnostische Gottesauffassung von einem Gegensatz zu allen bisherigen Konzeptionen
diktiert ist und so geradezu revolutionären Charakter hat. Sicherlich ist die Terminologie der
zeitgenössischen Philosophie verpflichtet; auch gewisse Übereinstimmungen im Weltaufbau lassen
sich nachweisen (Plotin weiß das sehr genau), aber der dahinterstehende weltfeindliche Ton läßt
sich nicht überhören.
Die Entsprechung zu dem nur negativ umschreibbaren "höchsten Wesen", dem unbekannten Gott",
ist die Offenbarung seines Geheimnisses durch Mittlerwesen an die Auserwählten, die dadurch zur
"Erkenntnis" des (bisher) Unbekannten befähigt werden. Kurt Rudolph: "Die gnostische Gottesidee
ist daher nicht nur ein Produkt des weltfeindlichen Dualismus, sondern sie ist zugleich auch eine
Konsequenz des esoterischen Erkenntnisbegriffs: Die "Gnosis" vermittelt das Geheimnis und führt
aus der Unwissenheit über den wahren Gott heraus." (o.c., 74)
Von hier aus kommen wir zu Fragen wie die folgenden:
(1) Ist dieser "unbekannte Gott" der Gnosis der "unbekannte Gott", auf den Paulus anspielt in der
Apostelgeschichte bei seiner Predigt auf dem Areopag?
54
(2) Was unterscheidet Agnostizismus von negativer Theologie?
(3) Ist das Abstrahieren von allem dem Menschen Vertrauten, Erfahrbaren, Definierten,
Bestimmten, wie es eine solche negative Theologie verlangt, Grundlage auch eines abstrahierenden
Kunstwollens?
(4) Unde malum - woher kommt das Böse?
Es ist nicht möglich, alle Fragen, die in diesem Zusammenhang auftauchen, seriös zu verfolgen.
Daher nur ein paar Hinweise.
3.5.1 Ein wichtiges Buch, das schon im Jahr 1912 erschienen ist, stammt von Eduard Norden:
Agnostos Theos. Untersuchungen zur Formengeschichte religiöser Rede. Es ist 1956 in der
Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt fotomechanisch nachgedruckt worden.
In diesem Buch ist zusammengetragen, was Gelehrsamkeit herausfinden konnte bezüglich der
Missionspredigt des Paulus in Athen. Apg.17,16-34: "Athener, nach allem, was ich sehe, seid ihr
besonders fromme Menschen. Denn als ich umherging und mir eure Heiligtümer ansah, fand ich
auch einen Altar mit der Aufschrift "Einem unbekannten Gott". Was ihr verehrt, ohne es zu kennen,
das verkünde ich euch..." - Kurzfassung seiner Theologie: "denn in ihm leben wir, bewegen wir uns
und sind wir...".
Norden führt uns in seinem Buch auf die Spur der Auseinandersetzung der Griechen mit dem
merkwürdigen Gott der Juden.
In einem Scholion zu Lukanus II 531 ff. heißt es:
"Livius de Iudaeis: 'Hierosolymis fanum cuius deorum sit non nominant, neque ullum ibi
simulacrum est, neque enim esse dei figuram putant'."
Bei Gelegenheit seiner Erzählung von der Besetzung Jerusalems und der Eroberung des
Tempelberges durch Pompeius hatte Livius über den Tempel und den in diesem bildlos verehrten
Gott gehandelt, dessen Namen die Gläubigen nicht aussprechen. Lucanus nennt diesen Gott
incertum deum, Laurentios Lydos (perì menôn) übersetzt den incertum deum des Lucanus genau
mit ádelon, während er das von ihm im Lucanusscholion gefundene Liviuszitat in die Worte
zusammendrängt: der dort verehrte Gott sei ein ágnostos theós.
Die Prädikation Gottes als ágnostos ist in rein-griechischen Urkunden nicht nachweisbar. Für
hellenische Spekulation war das auch kaum erträglich: es hätte ja den Verzicht auf Forschung
überhaupt bedeutet.
"Quid Athenis et Hierosolymis? quid academiae et ecclesiae? nobis curiositate opus non est post
Christum Iesum nec inquisitione post evangelium" - das ist das Manifest des Philosophenfeindes
Tertullian de praescr. haer. 7.
Platon dagegen hatte das Wort gesprochen: "Also den Urheber und Vater dieses Weltalls
aufzufinden, ist schwer, nachdem man ihn aber auffand, ihn allen zu verkündigen, unmöglich."
(Tim. 28 c).
Er hatte von diesem Weltvater gesagt, sein Wesen sei noései metà lógou perileptón (28a), und diese
seine Schrift mit den Worten geschlossen, daß diese Welt sei eikòn toû noetoû theòs aisthetós
(Abbild des denkbaren als ein sinnlich wahrnehmbarer Gott).
"Mag nun in späterer Zeit infolge des fortschreitenden Verlustes der Diesseitsbejahung und naiven
Lebensfreude die Distanz zwischen Gott und Mensch auch noch so sehr vergrößert und, parallel
dazu, beim Erlahmen hellenischer Forscherkraft die Hoffnung, das höchste Wesen erkennen zu
können, auch immer weiter hinausgerückt worden sein: die Möglichkeit seiner vernunftmäßigen
Erkennbarkeit überhaupt ist von den Positivisten nie in Frage gestellt worden." (Norden aaO 85).
Das Gemeinsame aller Zeugnisse für den ágnostos theós ist, daß dieser Gott, den die Menschen aus
sich selbst heraus nicht zu erkennen vermögen, sich ihnen durch Offenbarung zu erkennen gab:
diese Offenbarung ist sein Gnadenbeweis für die in agnosía dahinlebende Menschheit. Die gnôsis
theoû kann also gar nicht eine Errungenschaft des Intellekts sein, sondern sie ist das
Gnadengeschenk Gottes für ein seiner Sündhaftigkeit sich bewußtes und daher für diese Gnade
Gottes empfängliches Gemüt. So werden wir von der Betrachtung des negativen Begriffs zu dem
positiven hingeführt: der Begriff ágnostos theós setzt die Möglichkeit der gnôsis voraus. (Vgl.
55
Norden aaO 81).
Die sehr alte (2.Jh.?) Praefation vom Weihnachtsfest faßt es in Gebetform zusammen:
"quia per incarnati verbi mysterium nova mentis nostrae oculis lux tuae claritatis infulsit, ut, dum
visibiliter deum cognoscimus, per hunc in invisibilium amorem rapiamur." ("Durch die
Menschwerdung des Logos erstrahlt den Augen unseres Geistes das neue Licht Deiner
Herrlichkeit, damit wir, indem wir Gott sichtbar erkennen, durch ihn zur Liebe zu den unsichtbaren
Dingen hingerissen werden.")
Soviel zum Stichwort "Der unbekannte Gott".
3.5.2 Auf die Spur der "negativen Theologie" werden wir demnächst im Zusammenhang mit Philon
von Alexandrien kommen.
3.5.3 Ein anderer Hinweis: Wie ist das mit der Abstraktion als wesentliches Element auch unserer
modernen Kultur? Ich meine damit nicht die Tendenz der neuzeitlichen Physik, aus dem Bereich
des Vorstellbaren auszuwandern in völlig unanschauliche Zahlenverhältnisse. Ich will nur auf die
Kunsttheorie verweisen, weil hier die Verklammerung geschehen sollte zwischen dem, was die
Menschen einer Epoche für theoretisch wichtig und wahr halten, und dem, was sie imstande sind,
sinnlich wahrzunehmen, mit ihrer Erfahrungsfähigkeit.
Für das 20. Jahrhundert hat großen Einfluß die Kunsttheorie Wilhelm Worringers 81 gehabt, die
von Th. Lipps' Ästhetik ausgegangen war. Nach Lipps heißt ästhetisches Genießen "mich selbst in
einem von mir verschiedenen sinnlichen Gegenstand genießen, mich in ihn einzufühlen"
(Einfühlung, 1903). Eine solche Ästhetik ist eine subjektive: "Die Form eines Objektes ist immer
das Geformtsein durch mich, durch meine innere Tätigkeit." "Ästhetischer Genuß ist objektivierter
Selbstgenuß", ist Genuß des eigenen Lebens, das im Objekt sich darbietet.
In dieser Ästhetik ist ein Moment bestimmt, mit dem man zu allen Zeiten ästhetisches Erleben
charakterisierte, insoferne es sich um ein Eingehen in Gegebenes mit der ganzen eigenen
Lebensschwingung handelt. Der Fall, wo sich innerhalb des Kunstwerks formale Vorgänge
abspielen, die den natürlichen organischen Tendenzen im Menschen entsprechen, ist aber für
Worringer nur eine grundsätzliche Möglichkeit der Kunst. Er findet, daß diese Einfühlung am
Beispiel der "starren" Pyramiden und byzantinischen Mosaiken versagen muß. So stellt er seine
Gegenthese auf: dieser Prozeß der Einfühlung in ein Naturobjekt war nicht immer Voraussetzung
künstlerischen Schaffens.
Eine zweite Voraussetzung ist für Worringer A. Riegls Begriff Kunstwollen. Form kommt nicht aus
der Natur, sie wird der Natur auferlegt. Sie entsteht aus der Auseinandersetzung. Kunstgeschichte
wird eine Geschichte des Wollens, dem erst sekundär das Können folgt. Von hier aus läßt sich auf
die Frage nach der Eigenart eines Werkes so antworten: nicht weil er nicht besser kann, nicht weil
er die Natur so sieht, sondern weil er es so will, schafft der Künstler so.
Auch Worringer versteht wie Riegl die Kunst vom Wollen her und faßt dieses Wollen - der
einseitigen zeitgenössischen Psychologie folgend - als instinktmäßige Befriedigung einer
psychologischen Spannung gegenüber der Welt auf.
"Jeder Stil stellt für die Menschheit, die ihn aus ihren psychischen Bedürfnissen heraus schuf, die
höchste Beglückung dar." (Abstraktion und Einfühlung 17). Somit ist eine Gestaltung, die wir
heute vielleicht als Verzerrung ansprechen, für den, der sie schuf, höchste Schönheit und die
Erfüllung seines Kunstwollens gewesen. Und diese höchste Schönheit bestand nach Worringer für
den einen im Abstrakten, für den anderen in der Einfühlung in die organische Natur.
Unter Abstraktion versteht Worringer die Tilgung des Lebenszusammenhangs und seiner Willkür
zugunsten von Ordnung und Gesetzlichkeit (26).
Worringer sieht die Abstraktion als den Urkunsttrieb. "Der Abstraktionsdrang steht also am Anfang
jeder Kunst und bleibt bei gewissen, auf hoher Kulturstufe stehenden Völkern der herrschende,
während er zum Beispiel bei den Griechen und anderen Okzidentalen langsam abflaut, um dem
Wilhelm Worringer, Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie. München 1908. 1911 , 1948 Neudruck.
81
56
Einfühlungsdrang Platz zu machen."
Keine Unterscheidung in der Kunsttheorie war so radikal und folgenschwer wie die Worringers. In
ihr treten Empfindung und Wahrnehmung auseinander.
Für die Bilderwelt der religiösen Erfahrung ist entscheidend, daß diese nun nicht mehr bei der
Thematik und Darstellung einer figural-symbolischen Inszenierung ansetzt, sondern in der
Formcharakteristik ... ein offenes Feld zur Projektion religiös gedeuteter Empfindungen und
Erfahrungen findet. Abstrakt ist nun die Sprache für Transzendenz, Weltflucht, Überwindung,
Geist, Imagination, Mystik. Auf dieser Seite stehen nun Stil, Religion, Symbol, innere Schau. Dem
steht das Natürliche als das chaotische Ungeklärte, nur die Sinne reizende "Äußerliche" gegenüber.
Damit ist alles Symbolische auf der Seite des Willens zur Form, zur Energie der Bewältigung. Was
sich hier verändert, wird klar, wenn man sich erinnert: Bei Schiller war das Symbol noch
Vermittlung zwischen Verstand und Gefühl, zwischen dem ideal Geistigen und dem Irdischen.82
3.5.4 Das Böse: Der Dualismus beherrscht die gesamte gnostische Kosmologie, vor allem das
Verhältnis zur Schöpfung und ihren Urhebern. seine Ausgestaltung in den einzelnen Systemen ist
jedoch verschiedenartig, teilweise sogar gegensätzlich. Dies zeigt sich vor allem in der Auffassung
von der Stellung des Bösen und der Materie im Weltaufbau. Während in einem Bereich der Gnosis
- vor allem im Mandäismus und im Manichäismus - zwei vom Uranfang bestehende Grundkräfte,
mythologisch als Reich des Lichts und Reich der Finsternis ausgedrückt, bestehen, die durch einen
mehr zufälligen Akt in Berührung miteinander geraten und so das verhängnisvolle Weltgeschehen
in Bewegung setzen, ist in anderen Systemen ein stufenweiser Abfall von der höchsten Gottheit
(dem "unbekannten Gott") die Ursache für die Entstehung der bösen und finsteren Mächte.
Hans Jonas hat den ersten Typ als den "iranischen" bezeichnet, da er dem iranisch-zoroastrischen
Dualismus formal sehr nahe steht. Er wird auch am besten durch die beiden genannten gnostischen
Religionen repräsentiert (auch das "Perlenlied" und die "Oden Salomos" gehören hierher). Daß er
auch die übrigen Systeme beeinflußt hat oder Ausgangspunkt ihrer Spekulation gewesen ist, bleibt
davon unberührt. Die andere Form hat Jonas wegen ihrer geographischen Verbreitung den "syrischägyptischen Typ" genannt. Die Mehrzahl unserer Texte, auch die aus Nag Hammadi, gehören dazu.
Ihr gemeinsames Kennzeichen ist der Gedanke einer Abwärtsbewegung, deren Beginn
unterschiedlich in der Gottheit selbst als eine innere Selbstvervielfältigung lokalisiert wird.
Karl Kerényi: "In unserer heutigen Welt wird zu viel Böses getan und zu wenig darüber
gesprochen. Selten wird das Wort 'böse' mit der inneren Gewißheit des Sprechenden
ausgesprochen. Es ist zeitcharakteristisch, daß man dessen völlig ungewiß geworden ist: Was ist
doch böse? Was ist das Böse?"
Kerényi verweist auf das Zitat aus Heraklit, Fr.102: "Für (den) Gott ist alles schön, gut und
gerecht; aber die Menschen wähnen, das eine sei unrecht und das andere recht."
Bei Schopenhauer heißt es dagegen: "Die nähere Beschaffenheit des Erstaunens, welches zum
Vgl. Herbert Muck, Gegenwartsbilder. Kunstwerke und religiöse Vorstellungen
des 20.Jahrhunderts. Hrsg.v.Ottokar Uhl. Picus Verlag Wien 1988. S.37 ff. Muck
zeigt in einer Geschichte der Bilder, wie in diesem Jahrhundert nach dem
Auslaufen alter Formeln und Schematisierungen die Vorstellungen des Religiösen
im Flusse sind.
Hugo Ball, Die Flucht aus der Zeit, Luzern 1946, notiert: "Um den Kubismus zu
verstehen, muß man vielleicht die Kirchenväter lesen."
Jacob Taubes, Notizen zum Surrealismus: "Die nihilistische Weltlosigkeit
surrealistischer Erfahrung 'wiederholt' in der Moderne die nihilistische
Weltlosigkeit der spätantiken Gnosis."
(in: Wolfgang Iser, Hrsg., Immanente Ästhetik und ästhetische Reflexion. Lyrik
als Paradigma der Moderne (= Poetik und Hermeneutik II), München, Wilhelm Fink,
1966, S.141.)
82
57
Philosophieren treibt, entspringt offenbar aus dem Anblick des Übels und des Bösen in dem
Weltall... Daher wurde, um zuvörderst das Böse zu beseitigen, die Freiheit des Willens erfunden...
Sodann das Übel suchte man dadurch los zu werden, daß man es der Materie, aber auch einer
unvermeidlichen Naturnotwendigkeit zur Last legte; wobei man ungern den Teufel zur Seite liegen
ließ, der eigentlich das rechte expediens ad hoc (das Hilfsmittel in der gegebenen Situation) ist!
Zum Übel gehört der Tod: das Böse aber ist bloß das Von-sich-auf-einen-Anderen-Schieben des
jedesmaligen Übels. Also... das Böse, das Übel und der Tod sind es, welche das philosophische
Erstaunen qualifizieren und erhöhen: nicht bloß, daß die Welt vorhanden, sondern noch mehr, daß
sie eine so trübselige sei, ist das punctum pruriens (der kitzlige Punkt) der Metaphysik, das
Problem, welches die Menschheit in eine Unruhe versetzt, die sich weder durch Skeptizismus noch
durch Kritizismus beschwichtigen läßt."83
Die Lösung des Problems, die Schopenhauer vorschlägt, ist folgende: "Den Blick des rohen
Individuums trübt... der Schleier der Maja: ihm zeigt sich, statt des Dinges an sich, nur die
Erscheinung, in Zeit und Raum, dem principio individuationis, und in den übrigen Gestaltungen
des Satzes vom Grunde: und in dieser Form seiner beschränkten Erkenntnis sieht er nicht das
Wesen der Dinge, welches Eines ist, sondern dessen Erscheinungen, als gesondert, getrennt,
unzählbar, sehr verschieden, ja entgegengesetzt. Da erscheint ihm die Wollust als Eines, und die
Qual als ein ganz Anderes, dieser Mensch als Peiniger und Mörder, jener als Dulder und Opfer...
Er sieht das Übel, er sieht das Böse in der Welt, aber weit entfernt, zu erkennen, daß beide nur
verschiedene Seiten der Erscheinung des Willens zum Leben sind, hält er sie für sehr verschieden,
ja ganz entgegengesetzt, und sucht oft durch das Böse, das heißt durch Verursachung des fremden
Leidens, dem Übel, dem Leiden des eigenen Individuums, zu entgehen, befangen im principio
individuationis, getäuscht durch den Schleier der Maja." (O.c. 1, S.416.)
Wäre Freud früher dagewesen als Schopenhauer, so hätte der Philosoph die psychoanalytische
Lehre von Trieb und Libido als eine übereinstimmende ärztliche Hypothese neben seinem "Willen
zum Leben" sicher angeführt. Da die Zeitverhältnisse umgekehrt sind, müssen wir diese
Übereinstimmung feststellen, wiewohl sich Freud nicht erinnerte, Schopenhauer gelesen zu haben,
und sich weigerte, durch nachträgliche Lektüre sich beeinflussen zu lassen. Er gehört
geistesgeschichtlich auch ungewollt in die Nachfolge des großen Pessimisten, und er trat
unwillkürlich, als bitter-nüchterner Menschenkenner, in dessen Spuren. Es besteht da, nicht nur bei
Nietzsche, eine Erbfolge, die "jenseits von Gut und Böse" zum Leugnen des Bösen von einem
höheren Gesichtspunkt aus, wenn auch nicht zum Verleugnen des Bösen in unserer Welt, führt. Das
Weitere ist, daß politische Systeme sich das Recht anmaßen, in jeder bestimmten Situation wahrhaft ad hoc - zu bestimmen, was gut und was böse ist.
Es bedeutete ein Heraustreten aus dieser Entwicklung und eine Mahnung zum Nachdenken und
zum Nachforschen, als Jung sich nicht scheute, wiederum vom Bösen zu reden und es in den
Urgründen zu suchen, die den Menschen bewegen. Ein mögliches "Urbild des Bösen" wäre freilich
eine Vermehrung der Prinzipien. Ein empirischer Geist braucht sich dem nicht a priori zu
verschließen. Aber wenn die metaphysische Folge ist, einen bösen Zug sogar im Gottesantlitz zu
unterscheiden, das Böse dorthin zurückzuverfolgen? Martin Buber wurde von solchem kühnen
Vordringen in geziemender Weise erschüttert. Ein Humanist müßte noch mehr erschüttert sein, da
er die Prinzipien im Menschen sucht und dabei doch mit einem Menschen rechnet, der an sich gut
ist!
Mit solchen Gedanken bewegen wir uns im Bereich des Mythos, von dem Blumenberg sagt, daß
er zusammen mit seiner Geschichte gelesen werden muß. Und Blumenberg zeigt sehr schön, wie
Nietzsche mit einer gewagten Variante auf den alten, sanktionierten Mythos vom Ursprung des
Bösen arbeitet.
In der Bibel findet sich das vertraute Bild des Paradieses, wo der Versucher die Gestalt der
83
A.Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 2, S.190.
58
Schlange hatte, das Verbot die Harmlosigkeit der Baumfrucht betraf und Gott die im Garten
wandelnde Freundlichkeit war, die alles erlaubt, nur eines verboten hatte und deren Großzügigkeit
verklärt erschien durch die spätere Umwandlung in den zürnenden Eifer eines Gesetzgebers, der
fast alles verbieten und nur einiges erlaubt lassen sollte.
Nietzsche läßt aus dem späten Rückblick des "Ecce homo" von 1888 auf "Jenseits von Gut und
Böse" den Paradiesgarten zum Skandal werden. Er wendet die Methode der "Umbesetzung" der
vorgegebenen Konfiguration an, qualifiziert sich so selbst als Mythologen.
Es sei Gott selber gewesen, "der sich als Schlange am Ende seines Tagewerks unter den Baum der
Erkenntnis legte: er erholte sich davon, Gott zu sein..." Als Schlange ruht er sich nicht nur von
seinem Schöpfungswerk aus, er macht sich zum Prinzip des Bösen. Man würde keinen Zweifel
haben, daß er nach gnostischem Muster nur sich selbst als den Gott dieser Welt darstellt. Aber
Nietzsche hat eine andere Absicht: Der sich von sich selbst erholende Gott sieht in der
paradiesischen Zuständlichkeit seiner Schöpfung die Versuchung selbst. Es ist die der stationären
Endgültigkeit und Abgeschlossenheit. Der Selbstgenuß des siebenten Tages schlägt um in den
Überdruß am Guten, das er gemacht hatte, weil es keine Zukunft, keine Geschichte haben konnte.
Das Paradies ist die Negation der Geschichte, der Inbegriff der Langeweile eines Gottes. So wird
der Gott zum Teufel, um sein Werk, statt zum lieblichen Ausgang der paradiesischen
Harmlosigkeit, zur dramatischen Katastrophe der Weltgeschichte zu treiben: "Er hatte alles schön
gemacht... Der Teufel ist bloß der Müßiggang Gottes an jedem siebenten Tage..."84
Die Versuchung im Paradies war der Kunstgriff eines Gottes, der seinem Werk Geschichte geben,
die Sache des Menschen nicht sogleich versanden, sondern auf den großen Umweg zum
Übermenschen laufen lassen wollte. Es gereute diesen Gott Nietzsches nicht, geschaffen zu haben;
wohl aber das Maß an Vollkommenheit, die als 'Paradies' schon das Ende, der Inbegriff aller
Zufriedenheit sein mußte. Die Sünde war List, der alte Gegensatz zwischen dem Guten und dem
Bösen schon im Paradies nur vorgespiegelt: die Falle, in die der Mensch gehen sollte, weil er
glaubte, dies sei das ihm vorenthaltene Geheimnis Gottes. Aber dessen wahres Geheimnis ist, daß
ihn das Gute langweilt, sogar das, das er selber ist. Der Tag seiner Muße ist die Vortäuschung seiner
Abwesenheit, da er doch als Schlange unter dem Baum der Erkenntnis liegt, um durch Verbot und
Verheißung - als Mittel aus einer einzigen Quelle - den Menschen in seine Weltgeschichte zu
vertreiben.
Der Kunstmythos (seit Platons Kunstmythen ist Nietzsche hier einzigartig als Erfinder von Mythen,
die er als philosophisches Instrument einsetzt) enthält den ganzen Verdacht Nietzsches, daß der
Genius malignus des Descartes die letzte Instanz sei. Die am Anfang der Neuzeit oberflächlich
geschlichtete Bedrohung des Subjekts wäre durch kein Argument ausschaltbar und nur durch den
endgültigen Bruch mit dem Ideal der Wahrheit zu bewältigen.
Es ist ein Mythos des Zynismus. Er spricht von der metaphysischen Tyrannei, der nur entkäme, wer
sich Gut und Böse, Wahr und Falsch absolut gleichgültig werden ließe. Die den Übermenschen
erzwingt, weil nur der Übermensch ihr entkommt.
Nietzsche steht am Ende einer langen Entwicklung, die biblische Genesis philosophisch
auszulegen, in der immer schon die Frage behandelt wurde, ob Gott auch das Prinzip des Bösen
sein könne, und wenn nicht, woraus sonst es entspringen mag. Die biblische Antwort war: Aus dem
widergöttlichen Willen des Menschen. Das Böse wird dann nicht aus Gott und der Welt erklärt,
sondern ausschließlich aus dem Menschen, jedoch im Verhältnis zu Gott, der den Menschen
geschaffen hat. Das Böse hat dann seinen Ort im Gottesverhältnis des Menschen und wird
anthropo-theologisch begriffen. Gott selber kann als das absolut vollkommene, gute und gütige
Wesen, als das summum bonum, nicht der Ursprung des Bösen sein, und ein vollkommen böses
Wesen ist, streng gedacht, ein Widerspruch in sich selbst, denn man kann sich den Satan nicht wie
einen allmächtigen und allwissenden Gott vorstellen. Der Ursprung des Bösen kann nur im
Menschen liegen, der gegen Gottes Befehl gesündigt hat. Im Übergang von der christlichen
Theologie zur nachchristlichen Philosophie wird dann das Gute und Böse immer mehr nur noch
anthropologisch verstanden, ohne Bezug auf Gott und die Welt. Das Böse gilt dann als ein Vorrecht
84
Nietzsche, Ecce Homo, Musarion-Ausg. XXI 264.
59
des Menschen und seiner zum Guten wie Bösen fähigen Moralität. Das Böse ist dann weder eine
metaphysische Unvollkommenheit noch ein physisches Übel, sondern ausschließlich ein
moralisches Böses.
Mit dem Ende des deutschen Idealismus und seiner philosophischen Theologie haben die Versuche
zu einer vernünftigen Auslegung des biblischen Glaubens an Boden und Interesse verloren. Die
theologischen Begriffe der "Sünde" und eines "Reiches Gottes" werden unbegreiflich, wenn es
keinen Glauben mehr an Gericht und Erlösung gibt. Was davon übrigblieb, ist nur der
Fortschrittsglaube (siehe dazu K.Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, Stuttgart 1953,
S.175ff.) an eine künftige bessere Welt - und die Erfahrung, daß der Mensch, gerade mittels seiner
wissenschaftlichen Fortschritte, das Böse im größten Ausmaß technisch zu organiseren vermag.
Zugleich mit dem Schwund des theologischen Hintergrunds von Sünde, Gericht und Erlösung ist
aber auch die Frage nach dem moralisch Guten und Bösen aus der gegenwärtigen Philosophie
verschwunden. Die Ethik von Sartres Existenzphilosophie reduziert sich auf ein nacktes
"engagement", ganz gleich wofür, und Heideggers existenziale Fundamentalontologie kennt nur
den Unterschied zwischen einer "eigentlichen" und "uneigentlichen" Weise der Existenz, um
schließlich die Geschichte des Seins als "Geschick einer Schickung" zum letzten Prinzip des
"Schicklichen" zu erheben.
"Wir denken heute, ob mit oder ohne Berufung auf Nietzsche, 'jenseits von Gut und Böse', aber
nicht weil wir die Frage nach dem summum bonum auf das Ganze der Welt bezögen, sondern weil
wir moralisch nicht mehr im Umkreis der christlichen Überlieferung leben."85 Löwith meint:
"Sowohl die Frage nach dem Wozu wie die Frage nach dem Warum sind durch die biblische
Schöpfungsgeschichte in die Philosophie eingedrungen und damit zugleich die Frage nach dem
Wozu und Warum des Bösen und der Versuch zu dessen Rechtfertigung." (O.c. 236)
Aber auch "Tertullian hat Recht: auf der Schule der unde-malum-Frage werden die Häretiker
großgezogen. Wer nach dem Ursprung des Bösen fragt, ist, orthodox gesehen, schon auf dem
besten Wege, selber ins Lager der Bosheit überzulaufen; die Majestätsbeleidigung Gottes rückt
drohend nahe in der Frage, woher, oder vielmehr von wem das Böse stamme." (Sloterdijk, o.c.
Bd.1, 35)
"Hier freilich kommt das gnostische Temperament zum Tragen. Zur Gnosis disponiert ist jemand,
dem es in Wahrheitsfragen darauf ankommt, eher klug als fromm zu sein. Zur verdammten Klugheit
der Gnosis gehört es, auf einen bösen Schöpfer böse sein zu können; wer gnostisch aufgelegt ist,
versteht sich darauf, den Werken eines konfusen Demiurgen mit der begnadeten Kaltblütigkeit
dessen zu begegnen, der das kosmische Machwerk nach einer nur vorübergehenden
Eingenommenheit für es durchschaut. Daher die häretische Sympathie für kluge Schlangen,
rebellische Engel und luziferische Paradoxe. Wenn das geschundene Leben im mißratenen Kosmos
nicht auch an der Quelle seines Stolzes - dem Geburtsrecht auf Gelingen - getrübt ist, dann wird es
sich gegen die Erbärmlichkeit seines Angewiesenseins auf Erlösung auflehnen. Die gnostische
Seele mag von der charis nichts wissen, die angeboten wird wie eine kränkende
Verbrecherbegnadigung. Was sie beflügelt, ist die charismatische Erinnerung an ein vorursprüngliches Recht auf Vollkommenheit. 'Alles, was 'Gnade' heißen wird, hat seinen
'zureichenden Grund' im Mißlingen der Welt' (Hans Blumenberg, Matthäuspassion, S.14)." (Ebd.)
4. Quellenkunde
4.1 Vorbemerkung
Karl Löwith, Der philosophische Begriff des Besten und Bösen. In: Das Böse.
Mit Beiträgen von M.-L.von Franz, L.Frey-Rohn, K.Kerényi, K.Löwith, V.Maag,
M.Schlappner, K.Schmid, G.Widengren. Rascher Verlag Zürich u. Stuttgart 1961.
S.211-236. S.234.
85
60
Es ist historisch zufällig, wurde aber als Ereignis mit Zeichencharakter aufgenommen, daß die
Entdeckung der gut erhaltenen gnostischen Bibliothek in der ägyptischen Wüste, ca. 50 km
nördlich von Luxor, in Nag Hammadi, mit dem Ende des 2.Weltkriegs fast genau zusammenfiel.
Es schien vielen Menschen wie eine Botschaft gerade für ihre Zeit: Skandalöse und doch plausible
Gegenwahrheiten zum europäischen Gedächtnis, Anmahnung einer vergessenen Dimension
europäischer Geschichte. Das Auftauchen der 52 koptischen Texte entsprach dem Bedürfnis nach
einer fundamentalen Revision einer Kultur, die sich in ihrem Zwang zum Weltkrieg manifestiert
hatte. (Unsägliche „Sager“ österreichischer Politiker in unseren Tagen, aber auch früher, oder z.B.
der Prozeß gegen den Nationalsozialisten Honsik im Jahr 1992 zeigen, wie schwer es für viele
Menschen ist, ein Geschehen als Realität anzusehen, das in seinen Dimensionen die
Vorstellungskraft übersteigt, ob es nun 42 oder 55 Millionen Menschen waren, denen es das Leben
gekostet hat. Christen und Juden versuchen erst zu begreifen, daß sie nach einem Ereignis leben, in
dessen „Licht“ ihr Glaube eine andere, ihnen noch unverständliche Bedeutung annimmt.
Nochmals Sloterdijk: "Dürfte man denn eine metaphysisch relevante Lektion dieses monströsen
Jahrhunderts formulieren, sie hätte zu lauten, daß das Böse mehr sein muß als die Abwesenheit des
Guten. Wer unsere Epoche in ihren dunkelsten Aspekten erfuhr, kann sich dem Eindruck nicht
entziehen, das Böse sei eine autonome Instanz mit einem langen Atem und unerschöpften Reserven;
im Weltgrund selbst muß, im mythischen Bild gesprochen, ein katastrophaler Riß aufklaffen, aus
dem die Übel mit mutwilliger Gewalt hervorstürzen." (O.c.1, 20)
4.2 Die sekundären Quellen
Sie waren zuerst da. Erkenntnis und Verständnis jeder historischen Erscheinung ist vom Zustand
der Quellen, seien es schriftliche, mündliche oder archäologische oder andere, abhängig. Das gilt
für die Gnosis in besonderem Maß. Sie war bis in die jüngste Zeit fast ausschließlich durch ihre
Bekämpfer greifbar, und ihr Bild ist dadurch nur ein schwaches, verzerrtes Spiegelbild gewesen.
Die Bekämpfer waren in erster Linie christlich-theologische Apologeten und Religionsphilosophen,
teilweise im Bischofsamt und im nachhinein zu "Kirchenvätern" erhoben, die von einer als fest und
sicher betrachteten Lehrüberlieferung christlichen Glaubens und Denkens aus die Abweichungen
und gegnerischen Auffassungen beurteilten und zu widerlegen suchten. Die Mittel, derer sie sich
bedienten, waren zeitbedingt und sind vom Historiker zu analysieren. Dies vorausgesetzt sind sie
wertvolle Quellen für die Rolle der Gnosis im frühen Christentum. Sie enthalten auch eine Reihe
authentischer Zeugnisse.
Wer waren nun die Ketzerbekämpfer (Häresiologen)?
4.2.1 Justin, der um 165 als Märtyrer in Rom umgekommene Apologet. In seiner Apologie an den
römischen Kaiser Antoninus Pius, die er zwischen 150 und 155 verfaßte, schreibt er am Ende des
26.Kapitels, das sich mit den drei Ketzern Simon, Menander und Marcion befaßt: "Es gibt auch
eine Zusammenstellung (Syntagma), die wir wider alle bisherigen Häresien zusammengestellt
haben; wollt ihr sie einsehen, so werden wir sie vorlegen." Die ältere Forschung hat sich
verschiedentlich bemüht, dieses Werk aus anderen Zusammenhängen und Zitaten zu
rekonstruieren, allerdings ohne großen Erfolg.
4.2.2 Irenäus von Lyon aus der 2.Hälfte des 2.Jh. Von ihm stammt eine der umfangreichsten und
maßgebendsten antihäretischen Schriften. Er stammte aus Kleinasien und kam in der Zeit Marc
Aurels ins Land der Kelten, wo er 177/178 Bischof von Lyon wurde.
Sein Hauptwerk ist die aus fünf Büchern bestehende "Entlarvung und Widerlegung der fälschlich
so genannten Gnosis", meist mit dem lateinischen Titel abgekürzt Adversus haereses (Gegen die
Häresien) zitiert. Es ist nur in lateinischer Übersetzung vollständig erhalten. Anlaß dazu gab, wie
Irenäus selbst einleitend schreibt, der Wunsch eines Freundes, die Lehren der Valentinianer
kennenzulernen.
61
4.2.3 Hippolytus von Rom (gest. um 235). Er spielte in der römischen Gemeinde Anfang des 3.Jh.
eine wichtige Rolle und wurde sogar als Gegenbischof einer eigenen Gemeinde aufgestellt. Das
Schisma wurde erst durch den Kaiser Maximinus Thrax beendet, der Hippolyt und seinen
Kontrahenten nach Sardinien verbannte. Seine "Refutatio omnium haeresium", "Widerlegung aller
Häresien" (sie hat nach dem Inhalt des ersten Buchs den Beinamen "Philosophische Lehren"
"Philosophumena" erhalten) ist eine Art Enzyklopädie. Sie besteht aus zwei Teilen: Teil 1 (Buch 14) schildert die vorchristlichen ("heidnischen") "Irrtümer" der Griechen, d.h. die der Philosophen,
Magier, Astrologen und Mysterien. Teil 2 enthält die christlichen Häresien, d.h. eine Beschreibung
von 33 gnostischen Systemen. Hinter dieser Einteilung steckt die von Hippolyt vertretene
Auffassung, daß die Gnostiker ihre Lehren in erster Linie aus der "Weisheit der Heiden", nicht aus
der des Christentums genommen haben. Die von ihm herangezogenen Quellen sind teilweise sehr
wertvoll, da wir sie nur durch ihn besitzen, wie die sog. "Naassenerhomilie" oder die "Große
Offenbarung" des Simon Magus.
4.2.4 Tertullianus, der erste bedeutende lateinische Kirchenvater (um 150 bis 223/225), hat unter
seinen zahlreichen Traktaten, die sich mit einzelnen Lehren von Gnostikern auseinandersetzen,
auch eine grundlegende dogmatische Schrift verfaßt, in der er unter Zuhilfenahme der ihm
geläufigen iuristischen Terminologie die Ansprüche der gnostischen Häretiker grundlegend zu
bestreiten sucht. Es handelt sich um die "Prozeßeinreden gegen die Häretiker" (De praescriptione
haereticorum), die um 200 entstanden. Sie sind weniger für die Kenntnis der gnostischen Lehren
von Interesse als für den Standpunkt der Rechtgläubigkeit, die hier ein für allemal die
maßgebenden Argumente zusammengetragen findet. Tertullian stellt fest, daß die christliche Lehre
allein auf Christus und seinen Aposteln ruht; sie ist älter als alle Häresien und allein
ausschlaggebend für die Kirche und ihre Schriftauslegung. Jede Lehre, die mit ihr in
Übereinstimmung steht, ist als Wahrheit anzusehen; jede, die nicht mit ihr identisch ist, muß als
falsch gelten. Der Nachweis der älteren apostolischen Überlieferung genügt, um jede Häresie als
spätere Fälschung zu widerlegen. Tertullian läßt sich daher gar nicht erst auf Argumente und die
verschiedenen Lehren der Gegner ein. "Die Wißbegierde weiche dem Glauben, die Ruhmsucht
weiche dem Seelenheil... Nichts gegen die Glaubensregel wissen, heißt alles wissen."
(Praescr.haer.Kap.14)
Diese Beschwörung der Einfältigkeit und des problemlosen Denkens hat allerdings nur beschränkte
Nachwirkung gehabt.
Die Maßlosigkeit und Schärfe der Polemik Tertullians ist häufig gerügt worden. Er läßt dem
Gegner keine Gerechtigkeit widerfahren, sondern sucht ihn zu erledigen. Dabei hat er einen großen
Spürsinn für seine Schwächen und erkennt die grundsätzlichen Differenzen sehr deutlich. Er hat
daher, wie Hans von Campenhausen bemerkt, schon längst, bevor die moderne Wissenschaft die
zahllosen Gruppen und Richtungen der damaligen Ketzerei unter der einheitlichen Bezeichnung
"Gnosis" zusammenfaßte, ihre wesentlichen und gemeinsamen Elemente begriffen. Für ihn ist die
Gnosis "der auflösende Synkretismus, wie ihn die natürliche Geistigkeit des Menschen liebt, die
spiritualistisch-idealistische Selbstüberschätzung, die die feste Grenze verwischt, welche die
Kreatur von der Gottheit scheidet; und sie ist darin zugleich die 'nihilistische' Feindschaft gegen
den Gott der Wirklichkeit, der die Welt geschaffen und sich konkret im Fleisch offenbart hat."86
4.2.5 Clemens von Alexandria (140/150 - 211/215). Bei ihm wie bei seinem Schüler Origenes
verläuft die Auseinandersetzung in ganz anderer Weise. Sie spüren in sich selbst den Stachel des
Fragens und versuchen, die berechtigten Anliegen der Gnosis positiv aufzunehmen und mit den
christlichen Grundaussagen in einer originellen Weise zu versöhnen, die sie selbst in die Nähe der
Ketzerei bringt.
Clemens ist einer der gebildetsten Kirchenväter überhaupt und kann als der kirchliche Gnostiker
angesehen werden. In drei Schriften legt er seine christliche Überzeugung in Auseinandersetzung
mit der zeitgenössischen Weltanschauung und Religion dar: in der "Mahnrede an die Heiden", dem
86
Campenhausen, Lateinsche Kirchenväter, Stuttgart 1960, S.24.
62
"Pädagogen" und den "Teppichen" (Stromata). letzteres ist wie der Titel ausdrücken soll, ein
Sammelwerk verschiedener Reflexionen, die dem Verhältnis der christlichen zur "heidnischen"
(griechischen) Weisheit gewidmet ist. In diesem Zusammenhang stellt er der von ihm abgelehnten
"häretischen" oder "falschen" Gnosis die wahre Gnosis des christlichen oder vollkommenen
Gnostikers gegenüber, der als mündiger Christ in der Einheit mit Gott, in sittlicher
Vollkommenheit, den Engeln gleich, das geistige Priestertum repräsentiert, das Clemens selbst mit
seinen Schülern zu verwirklichen trachtete, ohne deshalb mit der institutionellen Kirche zu brechen
oder gar das grundlegende Gebot der Nächstenliebe zu übersehen.
"Das Leben des Gnostikers ist, meine ich, nichts anderes als Werke und Worte, die der
Überlieferung des Herrn entsprechen." (Clemens Alex., Stromata VII, 104,2.)
Mit der bewußten Verwendung des Begriffes Gnosis für die christliche Wahrheitserkenntnis hat
Clemens noch einmal versucht, des Auseinanderbrechens von Glauben und Wissen in der Kirche
Herr zu werden und nicht in der bloßen Verneinung des Anspruchs der "falschen" Gnosis stecken
zu bleiben. Die in seinen unvollendeten "Teppichen" verstreuten Zitate gnostischer Lehrer,
besonders die von Valentinos, und die aus seinem Nachlaß erhaltenen "Exzerpte aus (dem Werk des
valentinianischen Gnostikers) Theodotos" bilden eine wertvolle Bereicherung originaler Zeugnisse
dieser Religion.
Gegen Ende des siebenten Buchs (Kap.17, 108), mit dem das Werk abbricht, gibt Clemens eine
kurze Zusammenfassung dessen, was er offenbar später noch näher über die gnostischen
Richtungen ausführen wollte; es ist zugleich ein Beleg für die Einteilungsprinzipien, die den
meisten häresiologischen Darstellungen zugrunde liegen:
"Was aber die Sekten betrifft, so sind sie teils nach dem Namen ihrer Gründer benannt wie die
Schule des Valentinos und des Marcion und des Basilides, wenn sie sich auch rühmen, die
Anschauung des Matthias vorzutragen. Denn es hat nur eine einzige Lehre aller Apostel gegeben,
ebenso auch nur eine einzige Überlieferung. Andere Sekten sind nach einem Ort benannt wie die
Peratiker, andere nach einem Volk wie die Sekte der Phryger, andere nach einem Verhalten wie die
Enkratiten, andere nach eigenartigen Lehren wie die Doketen und die Haimatiten, andere nach
Grundgedanken und dem, was sie verehrt haben, wie die Kainisten und die sogenannten Ophianer,
andere nach den gesetzwidrigen Handlungen, deren sie sich vermaßen, wie von den Simonianern
die sogenannten Entychiten."87
4.2.6 Origenes (gest.253/254) hat sich in ähnlicher Weise bemüht, der gnostischen Häresie
entgegenzutreten. Auch bei ihm sind leicht Gedanken nachzuweisen, die ihn selbst in die Nähe der
bekämpften Gnosis bringen, wie die Hochschätzung der Erkenntnis gegenüber dem einfachen
Glauben oder die Lehre von der präexistenten Menschenseele, ihrem Fall in die Materie und ihrer
Rückkehr zu Gott. Unter seinen zahlreichen Schriften - er gilt als der fruchtbarste kirchliche
Schriftsteller - nehmen die Kommentare zu biblischen Texten einen großen Raum ein. Erhalten
blieben davon acht Bücher der Auslegung des Johannesevangeliums, die durch ihre
Auseinandersetzung mit der gnostischen Exegese dieses besonders bei den Valentinianern beliebten
Evangeliums für die Gnosisforschung wichtig ist. Die (48) Zitate aus dem Johanneskommentar des
Herakleon, eines angesehenen Schülers des Valentinos, der in die Mitte des 2.Jh. zu datieren ist,
gehören zu den wichtigsten Zeugnissen.
4.2.7 Eusebius von Caesarea (gest. 339): Die von ihm stammende erste christliche
Kirchengeschichte bietet auch für die Gnosisforschung etwas, allerdings nicht so sehr an
Originalzitaten als vielmehr an Zitaten aus der älteren häresiologischen Literatur (z.B. die
"Denkwürdigkeiten" des Hegesippus aus der 2.Hälfte des 2.Jh.)
4.2.8 Epiphanius von Salamis (um 315 in der Nähe von Eleutheropolis in Judäa geboren, fast 30
Zitiert nach O.Stählin, Clemens von Alexandria, Ausgewählte Schriften, Bd.5,
München 1938, S.111 (BdKV).
87
63
Jahre Vorsteher eines Klosters in dieser Stadt, das er schon mit 20 gegründet hatte, nach dem
Vorbild des ägyptischen Mönchstums; 367 zum Metropoliten von Zypern gewählt; 403 auf der
Heimreise nach Salamis verstorben) hinterließ uns ein weiteres umfangreiches Werk zur
Ketzergeschichte. Er gilt als einer der eifrigsten Verfechter der Orthodoxie seiner Zeit und hat in
den theologischen Streitigkeiten wiederholt eine wenig schöne Rolle gespielt. Er ist es gewesen,
der den Kampf gegen den Origenismus erst richtig entfachte. Im weiteren Verlauf der
Auseinandersetzungen hat er eine unglückliche Hand bewiesen, was mit seinem hohen Alter und
einer gewissen Einfältigkeit zu entschuldigen sein mag. Zu seinem Traditionalismus tritt die
Feindschaft gegen die griechische Wissenschaft und gegen philosophisch-theologische
Spekulation, die ihn in die Nähe von Tertullian rückt und grundsätzlich von den alexandrinischen
Theologien unterscheidet. Der Grundgedanke seines Hauptwerks Panarion, "Arzneikasten",
entstanden 374-377, das ihm den Ehrennamen "Patriarch der Orthodoxie" eintrug, ist die
Schilderung aller Häretiker als wilde und giftige Tiere (vor allem als Schlangen), deren Gift die
Reinheit des Glaubens gefährdet; zu seinem Schutz und als Gegenmittel für die schon gebissenen
bietet er seinen Arzneikasten oder Medizinschrank an.
4.2.9 Spätere Ketzergeschichten und sonstige Hinweise finden sich bei Afrem von Edessa (306373, Prosahymnen), Theodoret von Cyrus (395-466), Augustinus (354-430, schrieb außer mehreren
antimanichäischen Schriften 428 auch einen Ketzerkatalog De haeresibus), Johannes von
Damaskus (der letzte Kirchenvater, um 675-749, wirkte schon unter der Herrschaft des Islam),
Theodor bar Konai (sein "Scholienbuch" von 791/92 ist wegen interessanter Nachrichten über die
Mandäer und Manichäer von Wert).
4.3 Primärquellen
4.3.1 Quellenzitate bei den Häresiologen
Die angeführte häresiologische Literatur bildete bis weit in das 19.Jh. hinein die Hauptquelle für
das Studium von Wesen und Geschichte der Gnosis und bestimmte die ältere Forschung, die sich
vor allem der notwendigen Quellenkritik verschrieben hatte. Die Originaldokumente, die man aus
den Zitaten dieser Literatur hatte, machten nicht einmal ganze 50 Seiten aus. das war insofern
bedauerlich, als man erkannte, daß die Gnostiker die erste christlich-theologische Literatur
überhaupt hervorgebracht hatten, deren Umfang im 2.Jh. offenbar viel größer war als bei der
Großkirche. Das betraf nicht nur theologische Werke im engeren Sinn, sondern auch die Poesie und
die einfache Frömmigkeitsliteratur, wie aus Resten von Hymnen und den zahlreichen apokryphen
Jesus- und Apostelgeschichten hervorgeht.
4.3.2 Weitere Originaltexte: Außer diesen wenigen authentischen Stücken, die uns die Kirchenväter
aufbewahrten, sind im Lauf der Zeit noch einige Originaltexte aufgetaucht. Das älteste Werk dieser
Art ist das Corpus Hermeticum, die "Hermetischen Schriften", eine wahrscheinlich in Ägypten
entstandene Sammlung griechischer Texte aus dem 2.u.3.Jh., die sich als Kundgebungen des
Dreimalgrößten Hermes (Hermes Trismegistos, Thot) ausgeben. Sie sind ein typisches Produkt des
griechisch-orientalischen Synkretismus der römischen Kaiserzeit und vertreten eine okkulte
Offenbarungsweisheit, die dem Streben nach Gottesschau, Wiedergeburt und Befreiung bzw.
Erlösung der Seele dienen will, wobei neben Mystik, Ekstase und Meditation auch Magie und
Astrologie eine Rolle spielen. Unter den 18 Traktaten und Traktatstücken dieses Sammelwerks sind
auch einige, die gnostischen Charakter haben, vor allem der erste, der den Namen Poimandres,
Menschenhirt trägt und der zeitweise dem ganzen Werk den Namen gab. Die Erkenntnis, daß wir
hier ein Stück nichtchistlicher Gnosis vor uns haben, setzte sich allerdings erst langsam im 19.Jh.
durch und wurde durch R.Reitzenstein endgültig bewiesen. Vorher galt die Sammlung als ein
Produkt neuplatonischer Mystik. Marsiglio Ficino übersetzte das Werk erstmals ins Lateinische
(1463 im Auftrag des Cosimo Medici).
64
Im 18.Jh. wurden von zwei britischen Sammlern zwei Handschriften des 4. u. 5.Jh. erworben: der
Codex Askewianus (Brit.Mus.) und der Codex Brucianus (Bodleian Library in Oxford. Erstmalig
der Öffentlichkeit bekannt gemacht hat sie der Deutsche C.G.Woide im Jahr 1778; auf ihn geht
auch der Titel "Pistis Sophia" ("Glaube - Weisheit") für die Schrift des Codex Askewianus zurück.
Deutsche Übersetzung von Carl Schmidt im Auftrag der Kirchenväter-Kommission der berliner
Akademie der Wissenschaften, 1905, 3.Aufl.1959.
Das Buch enthält langatmige Unterredungen des auferstandenen Jesus mit seinen Jüngern und
Jüngerinnen über Fall und Erlösung eines himmlischen Wesens, der sog. Pistis Sophia.
Der Inhalt des Brucianus ist unter der Bezeichnung "Die beiden Bücher des Jeu" bekannt, der
eigentliche Titel lautet allerdings "Buch vom großen geheimnisvollen Wort <logos>". darin
offenbart wieder der auferstandene Jesus seinen Aposteln die Geheimnisse der gnostischen
Überwelt. Im Anhang findet sich u.a. ein Text, der von Schmidt als "Unbekanntes gnostisches
Werk" bezeichnet wurde.
Gegen Ende des 19.Jh. trat dazu ein weiterer Fund: 1896 berichtete C.Schmidt in den
Sitzungsberichten der Preußischen Akademie der Wissenschaften von der Erwerbung eines
koptischen Papyrusbands in Kairo für die ägyptische Abteilung des Berliner Museums, der
folgende drei gnostische Texte enthielt:
Das "Evangelium nach Maria",
das "Apokryphon (die Geheimlehre) des Johannes"
und die "Sophia Jesu Christi".
Durch viele Mißgeschicke und kriegsbedingt konnte der Band erst 1955, also 59 Jahre nach der
Entdeckung, unter dem Titel "Die gnostischen Schriften des koptischen Papyrus Berolinensis 8502"
im Akademie-Verlag erscheinen lassen. 2.Aufl. bearbeitet v. H.M.Schenke 1972.
Die Oden Salomos sind eine kleine Hymnensammlung in syrischer Sprache, aus der vorher schon
Zitate bekannt waren, und die 1909 in einer alten Handschrift entdeckt wurde. Sie ist wegen ihrer
bildhaften Sprache bemerkenswert und weil sie die enge Verflechtung von christlicher und
gnostischer Gemeindefrömmigkeit zeigt. Entstanden ist sie vermutlich im 2.Jh. (ob ursprünglich in
griech.od.in aramäischer Sprache, ist umstritten.
Das Perlenlied, das in den apokryphen Thomasakten enthalten ist, stammt etwa aus der gleichen
Zeit und auch aus dem syrischen Raum. Davon haben wir bereits gesprochen.
Eine völlig eigenständige, wenn auch zur orientalisch-semitischen Kultur gehörige gnostische
Überlieferung ist uns von den Gemeinden der Mandäer erhalten. Sie hat einen erheblichen Umfang
- etwa dem des AT entsprechend. Teile davon gelangten schon im 16.Jh. durch die Vermittlung
portugiesischer Mönche nach Europa. Die wissenschaftliche Beschäftigung damit begann erst im
19.Jh. Man erkannte immer mehr die Zugehörigkeit zu einem Zweig der orientalischen Gnosis. Die
Veröffentlichung ist bis heute noch nicht abgeschlossen.
4.3.3 Schließlich der Nag Hammadi-Fund von 1946, dessen Veröffentlichung erst 1977 zunächst
abgeschlossen werden konnte. Es handelt sich um Texte, die aus Quittungen, die zur Verstärkung
der Einbände verwendet worden waren, relativ gut datierbar sind (die Daten 333, 341, 346 u. 348).
Die Entstehung der einzelnen Schriften und ihre Übersetzung ins Koptische liegen natürlich früher,
etwa im 2.u.3.Jh. Da die Briefstücke außerdem einen "Vater Pachom", Presbyter und Mönche
erwähnen, kann man daraus auf eine klösterliche Umgebung schließen. Vielleicht stammen die
Schriften aus einer Klosterbibliothek und wurden bei einer Säuberungsaktion wegen ihres
häretischen Charakters ausgeschieden und vergraben oder, was wahrscheinlicher ist, von
Interessenten und Anhängern in Sicherheit gebracht.
Auffälligerweise besitzen wir gerade aus dieser Zeit den 39. Osterfestbrief des streitbaren
Athanasius von Alexandria, der sich unter anderem gegen häretische Bücher richtet, die fälschlich
65
unter dem Namen der Apostel umlaufen. Dieser Brief wurde von dem Nachfolger des Pachomius
in der Leitung des Kosters Tabennisi, Theodor, ins Koptische übersetzt und 367 den ägyptischen
Klöstern bekannt gegeben.
Es ist hier nicht möglich, alle Schriften aufzuzählen, geschweige denn sie zu beschreiben, nur
einige Beispiele:
Im Kodex I ("Kodex Jung"): das "Evangelium der Wahrheit"
Im Kodex II: Die "Geheimschrift des Johannes", das "Thomasevangelium", das
"Philippusevangelium", die "Exegese über die Seele";
im Kodex II: eine kürzere Version des Apokryphon des Johannes, das "Ägypterevangelium", die
"Weisheit des Jesus Christus" (die uns schon aus dem Berliner Papyrus bekannt ist)
In Kodex V: die "Apokalypse des Paulus", die "Offenbarung des Jakobus", die "Offenbarung des
Adam"
In Kodex VII: "Die Paraphrase (Erläuterung) des Sem"; "Die zweite Lehre (logos) des großen
Seth", "Die Offenbarung des Petrus";
usw.
Die Geschichte der Texteditionen und Übersetzungen ist von Kurt Rudolph nachgezeichnet worden
und kann dort gelesen werden. Ich erwähne nur die Prachtausgabe des "Evangelium der Wahrheit"
1956 (aus dem Codex Jung), die Vorbildcharakter hatte (sie enthält Text, Faksimile, französische,
deutsche und englische Übersetzung). Und natürlich die zwischen 1973 und 1984 in Leiden
erfolgte elfbändige "Faksimile Edition of the Nag Hammadi Codices" unter der Schirmherrschaft
der Altertümerverwaltung der Arabischen Republik Ägypten in Verbindung mit der UNESCO. Sie
ist eine technische Meisterleistung und bildet die Grundlage aller weiteren Beschäftigung mit
diesen neuen gnostischen Texten.
Eine Gesamtübersetzung ins Englische ist unter Leitung von James M.Robinson vorgelegt worden
(The Coptic Gnostic Library). Eine französische Edition (Bibliothèque Copte de Nag Hammadi,
seit 1978) wird von J.E.Ménard geleitet. Der Berliner Arbeitskreis für koptisch-gnostische
Schriften gibt seit 1973 laufend in der Theologischen Literaturzeitung neue Textbearbeitungen
heraus. Seit 1971 besteht auch eine eigene Reihe "Nag Hammadi Studies" in Leiden für die
Veröffentlichung von Spezialforschungen.
Eine Einführung in die Gesamtheit der Schriften von Nag Hammadi gibt J.Doresse, The secret
books of the Egyptian Gnostics. London, N.Y. 1960.
Die Bedeutung des Nag Hammadi Fundes ist von Rudolph folgendermaßen zusammengefaßt
worden (o.c.57f.):
"1. Der Bestand an Originalquellen hat sich ungeheuer erweitert und stellt erstmalig die nunmehr
von den häresiologischen Berichten unabhängige Gnosisforschung auf eine neue Grundlage. Die
neuen Quellen erlauben mehr als bisher eine Kontrolle des bei den Kirchenvätern überlieferten
Bildes und Materials.
2. Da die gefundenen Schriften aus verschiedenen "Schulen" und "Richtungen" der Gnosis
stammen, repräsentieren sie eine solche Vielfalt gnostischer Denk- und Verhaltensweisen, wie wir
sie bisher nur ahnen konnten. Neben neuen Einsichten in die Entwicklung und die Endgestalt
gnostischer "Systeme" erhalten wir auch Einblick in die Frömmigkeitspraxis der Gnostiker.
3. Der Fund enthält sowohl stärker christliche als auch weniger christliche und nichtchristliche
Schriften; er zeigt dadurch einerseits die Verwobenheit von Gnosis und Christentum, andererseits
aber auch ihre Unabhängigkeit voneinander. Da die bisherigen Analysen an einzelnen christlichgnostischen Texten eine sekundäre Verchristlichung nachweisen konnten, erhält die These von der
nichtchristlichen Entstehung der Gnosis, die vor allem die sogenannte "Religionsgeschichtliche
Schule" (Bousset, Reitzenstein) vertrat, eine Bestätigung.
4. Die Gnosis in ihrer christlichen Form hat, wie der Fund lehrt, sich als rechte Auslegung des
Christentums verstanden und die theologische Spekulation erheblich gefördert, sei es in
christologischer, trinitarischer oder kosmologischer Hinsicht. Der Kampf der Kirchenväter wird
66
dadurch besser als bisher verständlich und erhält eine neue Tiefe. Die Herausbildung der
Orthodoxie war ein langwieriger Prozeß, der wohl auf gewissen Grundsätzen aufbaute, aber aus
einer Viefalt frühchristlichen Denkens und Handelns herauswuchs. Diese gleichberechtigte Vielfalt,
zu der auch die christlich-gnostische Richtung gehörte, wurde erst im Laufe der
Auseinandersetzung zur Ketzerei und Häresie erklärt, eine Disqualifizierung, die allein auf
theologischen Urteilen basiert. So haben die neuen Texte auch eine große Bedeutung für die frühe
Kirchengeschichte.
5. Der Anteil jüdischer Traditionen und Vorstellungen an der Ausbildung der Gnosis, den man
schon früher erkannt hatte, läßt sich jetzt noch deutlicher und beweiskräftiger machen.
6. Auch die Frage nach dem Anteil des griechischen Denkens, vor allem in seiner philosophischen
(platonischen) Richtung, ist an Hand einiger der neuen Texte besser und einsichtiger zu
beantworten, wie überhaupt der Anteil der zeitgenössischen Philosophie stärker hervortritt.
7. Schließlich versprechen die neuen Quellen, das umstrittene Problem der gnostischen
Erlösergestalt und ihr Verhältnis zur christlichen einer Lösung näher zu bringen. Die These einer
vorchristlichen oder zumindest nichtchristlichen Erlöservorstellung in der Gnosis erweist sich
damit als richtig.
8. Leider bieten auch diese Quellen kein genügendes Material, um die wichtige soziologische
Fragestellung nach Zusammensetzung und Struktur der gnostischen Gemeinden besser als bisher
studieren zu können. Immerhin lassen sich aber auch dafür... einige neue Gesichtspunkte
gewinnen."
5. Zur Geschichte und Methodologie der Forschung
5.1 Aus der älteren Forschung hebe ich nur einige Namen hervor:
Gottfried Arnold ist 1699 in seiner "unparteiischen Kirchen- und Ketzerhistorie" mit großer
Leidenschaft (wie Friedrich Heer im 20. Jh.) für eine neue Sicht der christlichen Kirchengeschichte
eingetreten, die das wahre Christentum bei den Verfemten und Ketzern suchte. Damit war auch der
Boden bereitet für eine selbständige Beschäftigung mit den Gnostikern, zunächst v.a. mit den
Quellen über sie.
Ferdinand Christian Baur (Tübinger Kirchenhistoriker, 1792-1860) gilt als der eigentliche
Begründer der Gnosisforschung. Seine Darstellung "Die christliche Gnosis oder die christliche
Religions-Philosophie in ihrer geschichtlichen Entwicklung" (1835) bildet einen Markstein der
Forschung auf diesem Gebiet. Freilich ist Baur der Hegelschen Spekulation verhaftet, indem er
versucht, die Gnosis als Ausgangspunkt der christlichen Religionsphilosophie, die in der
Hegelschen gipfelt, zu betrachten.
Adolf von Harnack (1851-1930) hat sich verdient gemacht, indem er Quellenkritik betrieb und
indem er dem Gnostizismus des 2.Jh. einen wichtigen Stellenwert in der Geschichte des
christlichen Dogmas zumaß. Letzteres fand seinen klassischen Ausdruck in seinem "Lehrbuch der
Dogmengeschichte", das erstmalig 1886 erschien und die Behandlung des Gnostizismus unter die
programmatische Überschrift stellte: "Die Versuche der Gnostiker, eine apostolische Glaubenslehre
und eine christliche Theologie zu schaffen, oder: die akute Verweltlichung des Christentums".
Unter Verweltlichung verstand Harnack Hellenisierung. Derselbe Harnack hat sich allerdings später
neueren Erkenntnissen nicht verschlossen und z.B. den jüdischen Anteil an der Entstehung der
Gnosis und auch die Existenz einer außerchristlichen Gnosis anerkannt. Aber die Gnosis hat für ihn
nur im kirchengeschichtlichen Rahmen Interesse gehabt.
Wilhelm Bousset, ein protestantischer Neutestamentler, brachte einen weiteren Einschnitt in die
Geschichte der Forschung durch sein Werk "Hauptprobleme der Gnosis" (1907). er führte die
Gnosisforschung aus der Enge der Kirchengeschichtsschreibung in die freie Luft der
67
Religionsgeschichte, indem er die Entstehung der Gnosis aus einer vorchristlichen babylonischiranischen Mischreligion zu erklären suchte.
Richard Reitzenstein, ein Altphilologe, setzte diese Intention fort und postulierte als Kern der
Gnosis ein um die Identität von Gott und Seele kreisendes "iranisches Erlösungsmysterium", das
bereits in vorchristlicher Zeit in Persien entstanden ist und im Manichäismus und Mandäertum
seine reinste Ausprägung fand, aber auch sonst in den Mysterienreligionen der Spätantike seinen
Einfluß ausübte.
Mit diesen religionsgeschichtlichen Untersuchungen wurde auch das Neue Testament immer
stärker in die Gnosisforschung einbezogen, vor allem durch Arbeiten aus der Schule des bekannten
Neutestamentlers Rudolf Bultmann, der die Anliegen der sog. Religionsgeschichtlichen Schule bis
in die Gegenwart hinein fruchtbar machte. Seitdem muß sich die Neutestamentliche Wissenschaft
dem Problem der Gnosis stellen.
5.2 Das bekannteste und epochemachendste Werk der Gnosisforschung ist wohl das von Hans
Jonas (1903-1992), einem nach Amerika emigrierten, deutsch-jüdischen Philosophen (wir konnten
ihn noch in den 80er Jahren hier an der Universität Wien mit einem Vortrag über das "Prinzip
Verantwortung" erleben. Vgl. das gleichnamige Buch in der Bibliothek Suhrkamp. Berührend sein
Aufsatz: „Der Gottesbegriff nach Auschwitz“, in: H.J., Gedanken über Gott. Bibl. Suhrkamp,
Frankfurt/M. 1994.). Er ist als Schüler von Rudolf Bultmann und Martin Heidegger zu bezeichnen.
1934 erschien in einem ersten Teil seine Arbeit "Gnosis und spätantiker Geist". Da das
nationalsozialistische Regime ihn zwang, Deutschland zu verlassen, mußte die Fortsetzung seiner
Arbeit unterbrochen werden. Erst nach dem 2.Weltkrieg, 1954, konnte der bereits 1934
fertiggestellte erste Halbband des zweiten Teils erscheinen. Das Werk blieb damit unvollendet.
1958 hat Jonas eine neue Zusammenfassung seiner Ansicht in einem englischen Werk vorgelegt.
Das Besondere an dieser neuen Stufe der Gnosisforschung ist, daß das Wesen der Gnosis und ihrer
Aussagen in einer Analyse zu bestimmen versucht wurde, die zwar von Existentialanalytik getragen
war, mit der aber erstmalig eine Zusammenschau des bis dahin Untersuchten geboten wurde; damit
wurde den Interessierten ein Mittel in die Hand gegeben, sich über die Eigenart des Gegenstands
klar zu werden. Die historische Frage nach dem Ursprung der Gnosis wird nur sehr allgemein mit
dem Auftreten eines neuen "Daseinsverständnisses" im Orient vor oder parallel mit der Entstehung
des Christentums beantwortet. Aber das Weltbild, das sich in den zahlreichen Aussagen und
Bildern der gnostischen Systeme Ausdruck verschaffte, ist von einem strengen Dualismus
bestimmt, der alles Weltliche und Sichtbare einer Kritik und Ablehnung unterwirft; allein ein nur
mit Negationen umschreibbares Jenseits, zu dem der Mensch in einem verborgenen Teil seines
Selbst gehört, ist ein sicheres Fundament, und von ihm allein ist Rettung zu erwarten. Jonas, der
dies in einer genialen Analyse der gnostischen Vorstellungen demonstriert, ist nun der Auffassung,
daß weite Bereiche der Spätantike - "der spätantike Geist" - von dem gnostischen Weltbild
beeinflußt sind; er spricht regelrecht von einem "gnostischen Zeitalter". Inwieweit dies zutrifft, etwa bei Philo, Origenes, Plotin - wird heute noch diskutiert. Sicher ist jedenfalls, daß durch Jonas
die Gnosis endgültig aus ihrem wissenschaftsgeschichtlichen Ghettodasein befreit und einer
universalhistorischen Wertschätzung zugeführt wurde. Daran ändert auch nichts seine zeitbedingte,
in späteren Arbeiten von ihm selbst eingeschränkte methodische Bindung an Heidegger und
(teilweise) Spengler. Der Rückschluß von der spekulativen Äußerung auf den Menschen und sein
Selbstverständnis, das sich in solchen Äußerungen ausdrückt, ist auf jeden Fall ein neuer
Ansatzpunkt. Diesen Ansatzpunkt hätte soziologische Forschung vertiefen können, was aber
meines Wissens bisher kaum geschehen ist. Eher scheint eine psychologische Vertiefung da und
dort ansatzweise gelungen.
Die Arbeit von Jonas war die letzte große Zusammenfassung auf der Grundlage des "klassischen"
Quellenbestands und krönender Abschluß einer Epoche. Sie wurde durch die neue Epoche, die mit
dem Nag Hammadi-Fund begann, nicht desavouiert sondern bestätigt.
68
5.3 Aspekte der gegenwärtigen Forschungssituation
5.3.1 Einsicht in die Zirkelstruktur der typologischen und historischen Abgrenzungsversuche.
Mit großer Klarheit hat diese Einsicht Hans Jonas zum Ausdruck gebracht in einem Vortrag:
"Delimitation of the gnostic phenomenon - typological and historical"88
Mit dieser Einstellung zu Gnosis als einer "Stimmung" und mit der daraus folgenden
"Delimitation" des gnostischen Phänomens hat Jonas die theoretische Grundlage für das
zweibändige Werk von Sloterdijk und Macho gelegt, bei dessen Lektüre einem zunächst
schwindlig werden kann, wenn man überlegt, was nun alles in den Bannkreis gnostischer
Stimmung gerückt ist. Natürlich ist es eine willkürliche terminologische Festlegung, der man eine
(bewußt oder nicht) ideenpolitische Nebenabsicht anmerkt: nämlich zum Christentum, das
zumindest bis zur Aufklärung eine allesbeherrschende Stellung in der abendländischen
Geistesgeschichte innegehabt hat, eine möglichst mächtige, beinahe ebenbürtige Gegengroßmacht
zu stellen. Wenn es diese Absicht geben sollte (aber auch, wenn mein Verdacht grundlos sein
sollte), so würde ich einen weiteren Reflexionsschritt vorschlagen: Haben wir es nicht mit einer
geistigen Großmacht zu tun, die in der jahrtausendelangen Geschichte des Christentums weithin
eben nicht als Gegenmacht, sondern als ein Machtfaktor innerhalb des Christentums virulent war?
Die Lektüre eines Klemens Alexandrinus sollte hierin zu mehr Klarheit fürhren.
5.3.2 Einsicht in die "Arbeit des Mythos" in der Philosophie
Der "Inhalt des gnostischen Erlösungswissens" ist letztlich "nichts anderes als die transzendente
Geschichte selbst, weil diese entweder ausdrücklich oder implizit all die erleuchtende Wahrheit
enthält, die die Welt dem Menschen vorenthält und die für die Erlösung erforderlich ist: "das
Wissen, wer wir waren, was wir wurden; wo wir waren, wohinein wir geworfen wurden; wohin wir
eilen, wovon wir erlöst werden, was Geburt ist, was Wiedergeburt" (Exc.Theod.78,2). Der
gnostische Mythos ist stets und im Kern Begründung für die Wichtigkeit seiner eigenen Mitteilung
und dazu Rechenschaft über seine übernatürliche Herkunft. Kraft beider, des offenbarten Inhalts
und der offenbarenden Quelle, beansprucht er für sich selbst qua gekannt erlösende Kraft; kurz, er
ist die Gnosis.
Obwohl jedoch diesem Wissen um die Wahrheit an sich befreiende Wirkung zugeschrieben wird,
weil es den erweckten Geist wieder in seine ursprüngliche Macht einsetzt, enthält es doch
gewöhnlich auch ein Korpus praktischer, man möchte sagen, 'technischer' Information, eine
Unterrichtung darüber, was man tun soll: die 'Kenntnis des Weges', d.h. der Sakramente, die jetzt
zu verrichten, der 'Namen', die später zu benutzen sind, wenn der aufsteigende Geist, nachdem er
den Körper mit dem Tode verlassen hat, den Mächten begegnet, und aller rituellen und ethischen
Vorbereitungen, die die einstige Auffahrt sichern können. Der Naassener-Psalm definiert sogar die
gnosis schlicht und einfach in diesem instrumentalen Sinne als "die Geheimnisse des Weges". Das
ist nur dann eine adäquate Definition, wenn mitgedacht ist, daß die 'Geheimnisse' gleichzeitig die
Summe des theoretischen Systems in sich enthalten, was in der Tat der Fall ist. Denn die Lehre von
der Himmelfahrt der Seele wiederholt in ihren Details, wo solche gegeben werden, die Topographie
und theologische Bedeutung des gnostischen Universums, da die Reiseroute der Seele und ihre
Abenteuer bei dieser Gelegenheit in Umkehrung des uranfänglichen Sündenfalls durch die gesamte
Ordnung der Dinge hindurchführen." 89
"Die Stimmung der Gnosis hat, abgesehen von dem tödlichen Ernst, der zu einer Erlösungslehre
gehört, etwas Rebellisches und Protestierendes an sich. Ihre Verwerfung dieser Welt ist, weit
in: Le Origini dello Gnosticismo. Colloquio di Messina. 13-18 Aprile 1966 (=
Studies in the History of Religions. Supplements to Numen. XII). Leiden:
E.J.Brill 1967, pp.90-104. Aus dem Englischen übersetzt von Detlev Fehling, in:
Gnosis und Gnostizismus. Hrsg.v.Kurt Rudolph. (=Wege der Forschung Bd.262).
Wissenschaftl.Buchgesellschaft Darmstadt 1975. S.626-645.<Handout 6,2>
89 H.Jonas, Typologische und historische Abgrenzung der Gnosis, o.c. 637f.
88
69
entfernt von der Gelassenheit oder Resignation anderer weltflüchtiger Glaubenslehren, von einer
eigenartigen, oft in Schmähung ausartenden Heftigkeit, und wir beobachten allgemein eine
Tendenz zum Extremismus, einen Exzeß von Phantasie und Gefühl. Uns kommt der Verdacht, daß
die gestörte metaphysische Situation, von der der gnostische Mythos erzählt, ihr Gegenstück in
einer gestörten realen Situation hat, daß die Gestalt der Krise, in die seine Symbolik gekleidet ist,
eine historische Krise des Menschen widerspiegelt. Gewiß, eine solche Krise zeigt sich ebenso in
anderen Erscheinungen der Zeit, seien sie jüdisch, christlich oder heidnisch, die häufig einen tief
beunruhigten Gemütszustand, große seelische Spannungen, eine Neigung zum Radikalismus, zu
übersteigerten Erwartungen und totalen Lösungen zeigt. Aber das gnostische Temperament wird
von allen am wenigsten durch die Macht von Traditionen gezügelt, behandelt sie im Gegenteil
durch den willkürlichen Gebrauch, den es von ihnen macht, mit eigentümlicher impietas. Dieser
Mangel an Pietät, so sonderbar gemischt mit begierigem Interesse an altertümlicher Weisheit, muß
zu den physiognomischen Zügen der Gnosis gerechnet werden..." Ein Absehen vom revolutionären
und zornigen Element der Gnosis würde das Wesen der Gnosis verfehlen.
"Auf der anderen Seite müssen wir, im Gegensatz zu dieser Maßlosigkeit im Emotionalen, sehen,
daß der gnostische Mythus nicht naiv ist. Mit all seinen Roheiten ist er ein raffiniertes Erzeugnis,
bewußt konstruiert, um eine Botschaft mitzuteilen, ja, sogar ein Argument vorzutragen, und
überlegt aus den zusammengeraubten Elementen älterer Mythen zusammengesetzt. Kurz, es ist
sekundäre, abgeleitete Mythologie, deren Künstlichkeit irgendwie zu ihrem Wesen gehört. Zwar
enthält auch primäre Mythologie, bei der die mythische Sprache das natürliche und einzige
Medium sowohl des Denkens als des Ausdrucks ist, gewisse spekulative Absichten; hat doch schon
Aristoteles bemerkt, daß Mythologie die erste Form der Theorie und ein Vorläufer der Philosophie
ist. Aber der ursprüngliche Mythos hatte hierin keine Wahl, da das Denken und die Art, es
auszudrücken, eine unteilbare Einheit waren und die Alternative unabhängiger Abstraktion nicht
verfügbar war. Auch bestimmte eher die Einbildungskraft den Zusammenhang der Gedanken (die
'Argumentation'),als daß der vorher vorhandene Gedanke die Phantasie in seinen Dienst nahm. Im
Falle der Gnosis dagegen hat man das Gefühl, daß der Mythus eine frei gewählte Ausdrucksform
der Spekulation ist, die in Konkurrenz, vielleicht sogar in Reaktion zu der der Philosophie steht, die
als andere mögliche Wahl ebenfalls vorhanden war. Beides, Philosophie und der frühere, naive
Mythos, werden als vorgefertigtes Material vorausgesetzt. Die Folge davon ist, daß der gnostische
Mythus, indem er den letzteren benutzt, um seinen eigenen, vorher gedachten Ideen Ausdruck zu
verleihen, oft eher ausgeklügelt allegorisch als authentisch 'symbolisch' (im ursprünglichen Sinne
des nicht bewußt gewählten Symbols) ist. Daher die leichter Hand ausgewechselten Bilder für
dasselbe Motiv und die vielen Variationen über ein gemeinsames Thema. So wahrhaft original der
Grundgedanke der Gnosis mit seiner beunruhigenden Deutung einer beunruhigten Wirklichkeit ist,
so unverkennbar haben die Mittel seiner Darstellung etwas "aus zweiter Hand" an sich. Dennoch
zeigt sich andererseits auch eine entschiedene Erfindungsgabe in der Art, wie das entlehnte Detail
dem großen gnostischen Denkentwurf, der bei aller verschwenderischen Ausschmückung nie aus
den Augen verloren wird, angepaßt wird. Alles das ist nur in einer historisch 'späten', ausgeprägt
literarischen und gründlich synkretistischen Situation denkbar. Diese gehört also, über die
Doxographie hinaus, in die Phänomenologie der Gnosis hinein. Sie schließt die freie Verfügbarkeit
von Traditionen ein, die nicht mehr bindend, aber geladen mit neu festlegbarer Bedeutung sind,
und diejenigen, die sich ihrer in gnostischer Art bedienten, waren 'Intellektuelle' (vielleicht
halbgebildet), die wußten, was sie taten." (l.c.639ff.)
5.3.3 Faszination der Ansätze einer theologischen Ästhetik
"Unvermeidlich sind wir auf unserer Suche nach einer Typologie der Gnosis von definierbarer
Lehre zu weniger definierbaren, aber nichtsdestoweniger sich aufdrängenden Elementen der
Stimmung, des Stils und der Haltung zu anderen Denkweisen gelangt." (H.Jonas l.c.642)
Die säuberliche Scheidung von theoretischer Philosophie und Ästhetik gelingt hier nicht. Ist Gnosis
die theoretische Entspechung des Manierismus in der Kunst?
Gustav René Hocke hat in seinem rde-Bändchen "Manierismus in der Literatur. Sprach-Alchemie
70
und esoterische Kombinationskunst" (Reinbek bei Hamburg 1959) auch ein Kapitel über das
Corpus Hermeticum und seine Wirkung in der Renaissance. "Im Anfang des neuen europäischen
Manierismus als Denkform steht Marsilio Ficino (1433-1499) mit seiner 'Idea'-Lehre." (Hocke,
o.c.124)
Jener Ficino, der auch den Poimandres ins Lateinische übersetzt hat. Phänomene wie das
Groteske90, der Surrealismus fallen uns ein, Phänomene, die auf nicht leicht zu beschreibende
Weise mit den uranfänglichen europäischen Spannungsfeldern zusammenhängen.
5.3.4 Die Berührungspunkte der Gnosis mit dem Existentialismus
Hans Jonas hat sich gefragt, was in der Gnosis eigentlich passiert ist mit der alten Idee des Kosmos
als eines göttlich geordneten Ganzen. Nichts der moderen Wissenschaft ähnliches war beteiligt an
dieser katastrophalen Entwertung und geistigen Entleerung des Universums. Wir brauchen nur zu
beobachten, daß in der gnostischen Epoche dies Universum gründlich dämonisiert wurde. Dennoch
führt eben dies, zusammen mit der Idee vom transzendenten, akosmischen Selbst, zu
eigentümlichen Analogien mit Phänomenen des Existentialismus in unserer Zeit. Was, wenn es
nicht Wissenschaft und Technologie waren, veranlaßte für die fraglichen Gruppen damals den
Zusammenbruch der klassischen Kosmosfrömmigkeit, auf der so viel von der antiken Ethik
beruhte?
Hans Jonas versuchte, wenigstens einen relevanten Aspekt darzulegen:
"Was wir vor uns haben, ist der Bankrott der antiken Lehre vom Teil und Ganzen, und man muß
wohl nach sozialen und politischen Ursachen dafür suchen. Die Lehre der klassischen Ontologie,
wonach das Ganze früher und besser ist als seine Teile, dasjenige, um dessentwillen sie sind und
worin sie daher nicht nur den Grund, sondern auch den Sinn ihrer Existenz haben - diese
axiomatische Lehre hatte in der späteren Antike die soziale Basis ihrer Gültigkeit eingebüßt. Das
lebende Beispiel eines solchen Ganzen war die Polis gewesen, in deren übergreifendem Leben das
kurzlebige Tun der Einzelnen seine Möglichkeit, sein Maß und seine höhere Dauer hatte. Im
tugendgemäßen Handeln, das vom Ganzen seine Norm empfing, verwirklichte der Bürger sich
selbst, indem er durch es gleichzeitig das Ganze am Leben und vortrefflich erhielt. Mit der
politischen Abdankung der Stadtrepubliken in den Diadochenmonarchien und schließlich im
römischen Weltreich verlor das Polis-Bürgertum seine konstruktuive Funktion und seinen geistigen
Ort. Die neuen Großstaaten versagten sich einem vergleichbaren Verhältnis. Aber das
axiomatische Prinzip überlebte die Bedingung seiner konkreten Geltung. Stoischer Pantheismus,
überhaupt die nacharistotelische Physiko-Theologie, substituierte für die Beziehung zwischen
Bürger und Polis die zwischen Individuum und Kosmos als dem größeren lebenden Ganzen. Durch
diese Substitution wurde das klassische Prinzip von Teil und Ganzen theoretisch in Kraft gehalten,
obwohl es nicht mehr die praktische Situation des Menschen widerspiegelte. Jetzt heißt der
Kosmos "die große Polis der Götter und Menschen", und ein Bürger des Universums, ein
cosmopolites zu sein, ist das Ziel, auf das sich das isolierte Individuum ausrichten soll. Die Sache
des Weltalls soll es als seine eigene ansehen (da es eine andere nicht mehr sein eigen nennen kann),
sich mit ihm direkt, über alle Zwischenglieder hinweg, identifizieren und sein inneres Selbst, seinen
Logos, zum Logos des Ganzen in Einklang bringen.
Ein praktischer Aspekt dieser Identifizierung bestand in der Bejahung und loyalen Ausführung der
Rolle, die Jedem vom Ganzen zugeteilt war, an eben dem Platze und in der Eigenschaft, die
kosmisches Schicksal bestimmt hatte. "Seine Rolle spielen" - dies Wortbild, wie der ganze
Theatervergleich, mit dem die stoische Ethik so gerne arbeitet, verrät das Fiktive der Position. Die
zu agierende Rolle ersetzt die zu vollbringende wirkliche Aufgabe. Die Spieler auf der Bühne
handeln, als ob die Handlung ihre Entscheidung wäre und als ob es auf den Erfolg ihres Tuns
ankäme. Worauf es wirklich ankommt, ist nur, gut zu spielen und nicht schlecht, ohne wirkliche
Relevanz des Ergebnisses. Die Akteure, tapfer spielend, sind ihre eigenen Zuschauer.
90
Wolfgang Kayser, Das Groteske in Malerei und Dichtung, rde 1960
71
Die Rede von der zu spielenden Rolle verbirgt eine tiefe Resignation, (wir kennen diese auch aus
Hofmannsthals "Jedermann" samt seinen geistigen Vorfahren) und es bedarf nur eines Wechsels
der Haltung, um das große Schauspiel ganz anders anzusehen. Kümmert sich das Ganze wirklich
um den Teil, der ich bin? Die Stoiker behaupteten es, indem sie kosmisches Schicksal mit
Vorsehung gleichsetzten. Und bedeutet mein Teil, wie immer ich ihn spiele, wirklich etwas für das
Ganze? Die Stoiker behaupteten es, indem sie den Kosmos mit der Polis verglichen. Aber eben
dieser Vergleich zeigt die Künstlichkeit der Konstruktion; denn im Gegensatz zu dem, was für die
Polis gilt, läßt sich meine Wichtigkeit für den meinem Einfluß entzogenen Kosmos nicht glaubhaft
machen, und mein Teil in ihm ist von einseitiger Passivität.
Nun war das angestrengte Pathos, mit dem die Integration des Menschen im Seinsganzen mittels
der angeblichen Wesensverwandtschaft weiterbehauptet wurde, ein heroischer und durch
Jahrhunderte erfolgreicher Versuch der Intelligenz, mit der Würde des Menschen auch nach dem
Verlust der Polis eine positive Moral zu bewahren und die lebensspendende Kraft des ursprünglich
politischen arete-Ideals in die veränderten Verhältnisse hinüberzuretten. Aber die neuen und
atomisierten Massen des Weltreichs, die nie an jener noblen Tradition teilgehabt hatten, konnten
auch anders auf eine Situation reagieren, der sie sich passiv ausgesetzt fanden: eine Situation, wo
der Teil bedeutungslos für das Ganze ist, und das Ganze seinen Teilen fremd. Die Aspiration des
gnostischen Einzelnen war nicht, den ihm vom Ganzen zugemessenen Teil darzustellen, sondern
selbst und eigentlich zu sein, "authentisch" zu existieren. Das Gesetz des Imperiums, unter dem er
sich fand, war die Verfügung einer äußeren Gewalt, und denselben Charakter hatte für ihn das
Gesetz des Alls, das kosmische Schicksal, dessen irdischer Vollstrecker der Weltstaat war. Der
Begriff des Ganzen als solchen wurde in all seinen Aspekten hiervon betroffen - als Naturgesetz,
politisches Gesetz und Moralgesetz. Damit kommen wir zu unserem Vergleichsthema zurück.
Die Untergrabung der Idee des Gesetzes, des Nomos, führt zu ethischen Folgerungen, in denen die
nihilistische Komponente des gnostischen Akosmismus, und zugleich die Analogie zu gewissen
modernen Gedankengängen, noch offenkundiger wird als im kosmologischen Aspekt. Ich meine den
gnostischen Antinomismus, die Verneinung jeder Gesetzesverbindlichkeit. Es ist sogleich
zuzugeben, daß die Leugnung objektiver Norm in Gnosis und Existentialismus auf sehr
verschiedenem theoretischem Niveau entwickelt wird und daß der gnostische Antinomismus
primitiv erscheint im Vergleich zu der begrifflichen Subtilität und historischen Selbsterhellung des
modernen Gegenstückes. Was im einen Fall liquidiert wurde, war die sittliche Erbschaft von
tausend Jahren antiker Zivilisation; im anderen Fall kommen hierzu zweitausend Jahre christlicher
Metaphysik als Hintegrund der Idee eines Sittengesetzes.
Nietzsche bezeichnete die Wurzel der nihilistischen Situation mit den Worten "Gott ist tot", und
meinte primär den christlichen Gott. Die Gnostiker, hätten sie die metaphysische Basis ihres
Nihilismus ähnlich formulieren wollen, hätten nur sagen können, "der Gott des Kosmos ist tot",
d.h. als Gott - er hat für uns aufgehört, göttlich zu sein und unserem Leben Richtung zu geben.
Offenbar ist in diesem Fall die Katastrophe weniger total, aber das Vakuum, das sie ließ, wenn
auch nicht so bodenlos, war verstörend genug. - Für Nietzsche ist der Sinn des Nihilismus, "daß
die obersten Werte sich entwerten", und der Grund dieser Entwertung ist "die Einsicht, daß wir
nicht das geringste Recht haben, ein Jenseits oder ein An-Sich der Dinge anzusetzen, das 'göttlich'
das leibhafte Moral sei". Im Verein mit der Rede vom Tode Gottes bestätigt dieser Satz die
Feststellung Heideggers, "daß die Namen Gott und christlicher Gott im Denken Nietzsches zur
Bezeichnung der übersinnlichen Welt überhaupt gebraucht werden. Gott ist der Name für den
Bereich der Ideen und der Ideale." Da von diesem Bereich alle "Werte" ihre Sanktion ableiten
können, so bedeutet sein Schwinden, d.h. der "Tod Gottes", nicht nur die tatsächliche Entwertung
der obersten Werte, sondern den Verlust der Möglichkeit verpflichtender Werte überhaupt. Um
nochmals Heideggers Nietzsche-Interpretation zu zitieren: "Das Wort 'Gott ist tot' bedeutet: die
übersinnliche Welt ist ohne wirkende Kraft."
In einem paradoxen Sinn paßt dies auch für die gnostische Position. An sich ist natürlich ihr
extremer Dualismus das gerade Gegenteil einer Aufgabe der Transzendenz. Der außerweltliche
Gott stellt sie ja in der radikalsten Form dar. In ihm ruft das absolute Jenseits durch die
kosmischen Sphärenhüllen hindurch. Aber diese Transzendenz, anders als die Ideenwelt Platos
72
oder der Weltherr des Judentums, steht in keiner positiven Beziehung zur sinnlichen Welt. Sie ist
nicht deren Essenz oder Ursache, sondern ihre Verneinung und Aufhebung. Der vom Demiurgen
verschiedene gnostische Gott ist der total andere, fremde, unbekannte. Wie sein innermenschliches
Gegenstück, das Pneuma, dessen verborgene Natur sich nur in der negativen Erfahrung der
Andersheit und der undefinierbaren Freiheit offenbart, hat dieser Gott mehr vom nihil als vom ens
an sich. Eine Transzendenz ohne normative Beziehung zur Welt gleicht einer Transzendenz, die ihre
wirkende Kraft verloren hat. Mit anderen Worten, hinsichtlich des Verhältnisses des Menschen zu
der ihn umgebenden Wirklichkeit ist dieser verborgene Gott eine nihilistische Konzeption: kein
Gesetz geht von ihm aus - keins für die Natur und somit auch keins für menschliches Handeln als
Teil der Naturordnung.
Auf dieser Grundlage ist das antinomistische Argument der Gnostiker so einfach wie z.B. das von
Sartre. Da das Transzendente schweigt, so sagt Sartre, da "es kein Zeichen in der Welt gibt", so
reklamiert der verlassene und sich selbst überlassene Mensch seine Freiheit, oder vielmehr, es
bleibt ihm nichts übrig, als sie auf sich zu nehmen: er "ist" diese Freiheit, da der Mensch "nichts
als sein eigenes Projekt ist", und "alles ist ihm erlaubt". Daß diese Freiheit verzweifelter Art ist
und, als kompaßlose Aufgabe, mehr Angst als Jubel einflößt, ist eine Sache für sich."91
5.3.5 Glanz und Elend der Phänomenologie
Ich habe schon auf die Zirkelstruktur der typologischen und historischen Abgrenzungsversuche
hingewiesen und einen darauf bezogenen Text von Hans Jonas vorgelegt. Um es kurz mit anderen
Worten zu wiederholen: Die Begriffsbestimmung von Gnosis und die Bestimmung ihres Ursprungs
setzen einander wechselseitig voraus: Der Begriff der Gnosis wird nach vollzogener
Ursprungsbestimmung von dieser her illuminiert, und andererseits wird die Begriffsbestimmung
der Gnosis wegweisend für die Konstruktion des jeweiligen Ursprungsmodells.
Weiters haben wir bereits festgestellt, daß die Forschungsgeschichte zunächst motivgeschichtlich
argumentierende Ableitungsversuche gemacht hat; sie tendieren zu einem regressus in infinitum, ob
man nun für hellenistische,92 orientalische, jüdische bzw. heterodox-jüdische oder christliche
Herleitung plädiert. Auch wenn man mit dem Ausdruck der Prä-Gnosis arbeitet, entkommt man
dem nicht. <Prägnosis oder auch frühe Gnosis bestimmt sich komplementär zu einem 'eigentlichen'
Gnosisbegriff. Dieser Sachverhalt fordert aber ein höheres Allgemeines, unter das die 'eigentliche'
Gnosis (Gnosis im engeren Sinn) und die Prägnosis subsumiert werden können. Durch
Manipulation der aufgezeigten Typen wird durch eine Typenstaffelung die Gnosis zu einer prätypischen Gnosis.>
Natürlich gehört auch die Vorstellung hierher, Gnosis sei eine Degenerationserscheinung, wie das
z.B. bei Hans Leisegang zu finden ist.93 Ebenso der Standpunkt, das gnostische Denken sei aus
Hans Jonas, Gnosis, Existentialismus und Nihilismus. Aus: Gnosis und
spätantiker Geist. Band I: Die mythologische Gnosis. Göttingen, Vandenhoek &
Ruprecht 1964 . S. 262.
92 C.Schneider, Geistesgeschichte des antiken Christentums, Bd.1, München 1954,
268 bezeichnet den 'Geist' der Gnosis als 'nur griechisch, und zwar vorwiegend
platonisch.' Nach ihm gehört die Gnosis 'in die Geschichte des Spätplatonismus
als eine seiner Abzweigungen, allerdings eine sehr merkwürdige'.
93 H.Leisegang, Die Gnosis, Stuttgart, 4.Aufl., 1955, 51: "Der tiefere Grund für
die unerquicklichen Auswüchse gnostischer Spekulation liegt jedoch in dem
Umstand, daß hier zwei Gedankenwelten und zwei Denkarten miteinander verbunden
werden, die sich ihrem innersten Wesen nach gegenseitig fremd sind, und von
denen jede ein klares Verstehen ihrer Eigenart und der aus ihr folgenden
Unverträglichkeit mit der anderen verlangt. Das mythisch-mystische Denken wird
hier gewaltsam rationalisiert und auf eine Ebene des Bewußtseins gezerrt, auf
der es nicht gedeihen, sondern nur entstellt und mißverstanden werden kann."
Und ferner: "Die ganze Art des Denkens und Schauens, des Kombinierens und
Spekulierens, die innere Form und die geistige Struktur der Systeme werden sich
hierbei als griechisch, das verarbeitete Material zum Teil als orientalisch
91
73
dem Zusammenwirken zweier Traditionen verschiedenen Ursprungs zu begreifen, "einer
wesentlich stoffgebenden und einer formenden: der der altorientalischen Religionen und der des
griechischen begrifflichen Denkens".94
Gegenüber dieser motivgeschichtlichen Arbeitsweise waren reduktiv argumentierende Ableitungen
ein neuer Anlauf: Man suchte Gnosis durch ein Phänomen zu erklären, welches selbst keiner
Genese mehr bedürftig sein soll oder dessen Genese nicht ableitbar sein soll. Der
Konstitutionsprozeß, der die Gnosis gebracht hat, wird hier psychologisch oder soziologisch oder
aber existential-ontologisch erklärt.
Während die Religionsgeschichte das Verstehen eines religiösen Phänomens durch den Aufweis
historischer Affiliationen zu fundieren bemüht ist, will die phänomenologische Methode nicht beim
bloßen Nachweis der Ähnlichkeit oder Gleichheit religiöser Vorstellungen stehenbleiben, sondern
das Verständnis dieser Ähnlichkeit oder Gleichheit durch den Rekurs auf eine im Menschen
angelegte Struktur begründen.
G.Quispel, der "die Forschung von den falschen Prinzipien der religionsgeschichtlichen Schule zu
reinigen" wünscht, und sich dafür ausspricht "anzuerkennen, daß Ähnlichkeit, Verwandtschaft,
Gleichheit religiöser Phänomene auch vorliegen kann, wenn keine historische Abhänigkeit
besteht", sieht eine solche Struktur in der Projektion der Selbsterfahrung, so daß er definieren kann:
"Gnosis ist mythische Projektion der Selbsterfahrung."95 Dafür kann er sogar einen Kirchenvater
als Zeugen heranziehen: Origenes (De princip., IV,2,8) charakterisierte die Gnostiker so: "Sie haben
sich den Imaginationen ergeben und sich mythische Hypothesen erfunden, aus denen sie die
sichtbare Welt herleiten, und auch einige unsichtbare Dinge, welche ihre Seele bildhaft geschaffen
hat." Das betrifft die Projektion; die Selbsterfahrung wird darin gesehen, daß gnostische Texte
hervorheben, "daß die Erlösung darin besteht, daß der Mensch sich seines Ursprungs erinnert und
sich der Göttlichkeit seines in Dunkel gehüllten Selbst bewußt wird".96
Solche psychologische Analyse kann durch soziologische Analysen gestützt und ergänzt werden,
wie es schon letztes Mal angeklungen ist bei Hans Jonas' Sicht vom "Bankrott der antiken Lehre
vom Teil und Ganzen". Anschaulich sagt es wieder G.Quispel: "Staunend und gebannt stand der
Mensch vor der Tiefe in sich. Seine Einordnung in das Universum ging ihm abhanden: der Kosmos
wurde mehr und mehr entgöttlicht und dämonisiert. Die Polis, das Imperium waren keine
organischen Verbände mehr: der Staat war eine dirigierte Bürokratie, die den einzelnen nicht
beanspruchte, die Großstädte machten den Menschen unsagbar einsam. Da blieb nur die Flucht in
die Erotik und die Flucht in sich selbst; das heißt, diese Kultur war sterbend und dem Untergang
gewidmet, weil sie nicht mehr exzentrisch war."97
Kurt Rudolph hat sich um soziologische Analyse bemüht. Er spricht programmatisch (und im
kommunistisch regierten ehemaligen DDR-Staat pflichtschuldig) von den zu erforschenden "sozioökonomischen Ursachen" des Gnostizismus.98
Ein kombiniertes psychologisch-soziologisches Modell legt R.M.Grant in seinem Buch
"Gnosticism and early Christianity", New York, 1959, vor, und zwar sieht er in einem mit dem Fall
von Jerusalem im Jahre 70 verbundenen Zusammenbruch apokalyptischer Hoffnungen im
herausstellen." (Leisegang, o.c. 5).
94 H.H.Schaeder, Urform und Fortbildungen des manichäischen Systems, Vorträge
der Bibliothek Warburg, Vorträge 1924-1925, Leipzig / Berlin 1927, 121.
95 G.Quispel, Gnosis als Weltreligion, Zürich 1951, 17.
96 G.Quispel, ib.
97 G.Quispel, o.c.20.
98 K.Rudolph, Stand und Aufgaben in der Erforschung des Gnostizismus, in Tagung
für allgemeine Religionsgeschichte 1963, Sonderheft der wissenschaftlichen
Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena, 98. (Im Wege der
Forschung-Band "Gnosis und Gnostizismus" S.552)
74
Judentum "the impetus toward Gnostic ways of thinking..."99
In der Nachfolge von Hans Jonas und seiner existential-ontologischen Analyse der Gnosis, die ihm
ja nicht zur Kausalanalyse des Ursprungs von Gnosis diente, sondern zu deren besserem
Verständnis, (in der Ursprungsfrage entschied sich Jonas für das 'orientalisierende' Lager, da er die
orientalische Form der Gnosis als "ursprünglichsten Ausdruck der in Frage stehenden
Daseinsverfassung" ansieht100) befinden sich eine Reihe namhafter Forscher wie Rudolf Bultmann,
der z.B. sagt: "Sie (seine Darstellung in: das Urchristentum, Zürich 1963) will also nicht historische
Forschung in dem Sinne sein, daß sie neues religionsgeschichtliches Material bringt oder neue
Kombinationen religionsgeschichtlicher Zusammenhänge vorträgt. Solche Forschung ist in ihr
vorausgesetzt. Die Aufgabe ist vielmehr die der Interpretation. Gefragt wird nach dem
Existenzverständnis, das im Urchristentum als neue Möglichkeit menschlichen
Existenzverständnisses zutage getreten ist, - oder vorsichtiger, ob oder inwiefern das der Fall
ist."101
Der existential-ontologische Gesichtspunkt ist, so kann man zu Bultmann wie zu Jonas feststellen,
als ein heuristischer verwendet, d.h. er soll helfen, das, was sich in den Texten objektiviert, zu
verstehen. Andere Forscher haben im Anschluß an Jonas gemeint, einfach von der NichtAbleitbarkeit ausgehen zu müssen. So sagt H.-M.Schenke: "Der Ursprung der Gnosis ist demnach
zu bestimmen als der Ursprung der der Gnosis eigentümlichen nicht ableitbaren
Daseinshaltung."102
Auch für W.Schmithals ist Gnosis nicht ableitbar. Auch er läßt Gnosis konstituiert sein durch das
existential-ontologische Modell, d.h., die aufbrechende gnostische Grundhaltung expliziert sich in
einer Objektivationsschicht, wobei sie sich der zuhandenen nichtgnostischen Motive bedient, die
natürlich ihre eigene Geschichte haben.
C.Colpe erörtert die Ursprungsproblematik von Gnosis nicht explizit. Er charakterisiert Gnosis als
"eine religiöse Bewegung der Spätantike, die nicht mehr als die jeweils kontinuierliche Fortsetzung
der in den Mittelmeerländern, in Mesopotamien und Iran originären Religionen verstanden werden
kann, sondern ihnen allen gegenüber etwas im zentralen religiösen Impuls Neues darstellt."103
Ferner stellt er fest: "Lassen sich Geschichte und Verknüpfung von Einzelmotiven oft philologisch
ermitteln, so ist die Entstehung der eigentlichen Gnosis nicht erklärbar."104
Aus dieser negativen Ansetzung des Wesens von Gnosis geht auch hervor, daß motivgeschichtlich
der Ursprung nicht in den Griff zu bekommen sei.
Es zeigt sich also, daß die Überzeugung der frühen Phänomenologen, man könne mittels der
phänomenologischen Methode das Reich der reinen, idealen, überzeitlichen und ungeschichtlichen
Wesenheiten freilegen und erforschen, an einem Gegenstand wie der Gnosis an ihre Grenzen
gestoßen ist.105
Bei den einzelnen Forschern scheint meist auch keine Klarheit darüber zu bestehen, wie der
Wesensbegriff zu handhaben ist.
Hans Jonas hat den existential-ontologischen Gesichtspunkt "mit Überzeugung und Ironie
R.M.Grant, Gnosticism and Early Christianity, N.Y. 1959, 34.
H.Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, Teil 1, Die mythologische Gnosis,
Göttingen 3.Aufl., 1964, 8.
101 R.Bultmann, Das Urchistentum, Zürich 1963, 8.
102
H.-M.Schenke, Hauptprobleme der Gnosis. Gesichtspunkte zu einer neuen
Darstellung des Gesamtphänomens. In Kairos, 1965, Heft 2, 118. Vgl. 125: "Die
Gnosis ist übehaupt nicht ableitbar."
103 C.Colpe, RGG, 3.Aufl., Bd.2, 1958, 1649.
104 C.Colpe, ib.
105 Ich empfehle die Lektüre des §7 in Martin Heideggers Sein und Zeit, Max
Niemeyer Verlag Tübingen, 11.Aufl.1967, 27-39: Die phänomenologische Methode
der Untersuchung.
99
100
75
zugleich" (o.c.90) gebraucht. Sein Begriff der "Daseinshaltung" ist ein Begriff, der zur Erkennntis
von Gnosis nicht im Sinn einer Substanzerkenntnis führen kann. Gnostische Daseinshaltung darf
auch nicht mit Gnosis verwechselt werden.
Nichtsdestoweniger ist die Einsicht in den hermeneutischen Zirkel ein großer Fortschritt. Von
gewissen Wesensbestimmungen her sind gewisse Ursprungsbestimmungen sinnvoll. "Die
Ursprungsbestimmung von Gnosis hat das Moment ihrer Wahrheit darin, daß sie treu bleibt dem
ihr komplementären Wesensbegriff."106
6. Gnosis und Neues Testament
6.1 Lektüre des Textes: 1 Kor 13 - "Wie in einem Spiegel"
6.2 Literatur:
F.C.Burkitt, Church and Gnosis, 1932
E.Haenchen, Gab es eine vorchristliche Gnosis? ZThK 49 (1952), 316-349.
H.-J.Schoeps, Urgemeinde, Judenchristentum, Gnosis, 1956.
R.P.Casey, Gnosis, Gnosticism and NT, in: The Background of the NT and its Eschatology
(Festschr.f.C.H.Dodd), 1956, 52-80.
R.Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen: J.C.B.Mohr ³1958
Hendrik J.W.Drijvers, The Origins of Gnosticism as a Religious and Historical Problem, NedThT
22 (1967/8) 321-351 = Kurt Rudolph (Hg.), Gnosis und Gnsostizismus, WdF 262, Darmstadt:
Wissenschaftl. Buchgesellschaft 1975, 798-841.
Walter Schmithals, Neues Testament und Gnosis, 1984 (Erträge der Forschung Bd 208, Darmstadt)
Robert McLachlan Wilson, Art. Gnosis/Gnostizismus II, TRE 13, 1984, 535-550
Hans-Josef Klauck, Die religiöse Umwelt des Urchristentums II. Herrscher- und Kaiserkult,
Philosophie, Gnosis, Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer 1996, 145-198.
Martin Hengel, Die Ursprünge der Gnosis und das Urchristentum, in: J.Adna, Evangelium –
Schriftauslegung – Kirche, FS Peter Stuhlmacher, Göttingen: Vandenhoeck 1997, 190-223.
6.3 Das hermeneutische Problem
Neben der Frage nach gnostischen Irrlehren, die im NT bekämpft werden, steht das Problem, ob
bzw wieweit die ntl. Autoren selbst gnostische Vorstellungen, Begriffe und Gedanken
aufgenommen und sich zu eigen gemacht haben.
Die Möglichkeit, hier von Prä-Gnosis, Proto-Gnosis, Gnosis in statu nascendi u.dgl. zu sprechen,
ist nicht mehr gegeben, seit Texte jüdischer Gnosis in Nag Hammadi gefunden wurden.
Die Tübinger Schule hatte das Johannesevangelium spät im 2.Jh. datiert und in große Nähe zur
Gnosis gerückt. Manche Vertreter der Religionsgeschichtlichen Schule unterstellen sodann dem
Apostel Paulus, ein Gnostiker zu sein. Später haben Ernst Käsemann und andere wiederum dem
JohEv eine starke gnostisierende Tendenz zugeschrieben. Derartige Deutungen beruhen auf einer
bestimmten Interpretation der entsprechenden Schriften, und sie werden nicht durch die
Schwierigkeit ermöglicht, das Gnostische als solches präzis zu bestimmen.
Scheidet die Erklärung aus, daß wir innerhalb der ntl. Theologie selbst einer 'Gnosis in statu
nascendi' begegnen, so bietet sich der Versuch an, die 'Gnosis im NT' als unmittelbare Anknüpfung
an die Sprache der jeweiligen Kontrahenten verständlich zu machen. Vor allem bestimmte
Abschnitte der paulinischen Briefe sind unter der Voraussetzung erklärt worden, daß Paulus
Robert Haardt, Bemerkungen zu den Methoden der Ursprungsbestimmung von
Gnosis. <Le Origini dello
Gnosticismo. Colloquio di Messina. 13-18 Aprile
1966 (=Studies in the History of Religions. Supplements to Numen. XII). Leiden:
E.J.Brill
1967,
pp.161-173.
Abgedruckt
in
Gnosis
und
Gnostizismus,
Hrsg.v.K.Rudolph, Wege der Forschung CCLXII, Darmstadt 1975. 654-667.> 667.
106
76
Begriffe bzw. ganze 'Sprachspiele' seiner Gegner aufnimmt, sie 'umfunktioniert' und gegen ihre
Urheber verwendet. Dies gilt z.B. für 1Kor 2,6ff.107 sowie für Johannes, sofern dieser, vielleicht
selbst ein ehemaliger Gnostiker, in der Auseinandersetzung mit Gnostikern den Gnostikern ein
Gnostiker wird, um die Gnostiker zu gewinnen, indem er durch die Verwendung gnostischer
Kategorien zum Ausdruck bringt, daß die christliche Verkündigung die in der gnostischen
Theologie und Sprache intendierte, den Gnostikern selbst aber verborgene Wahrheit ausspricht.
6.4 Die Fakten (Resumee der Arbeit von Schmithals):
Ein Durchgang durch die ntl. Schriften, die von der alten Kirche zu einem antignostischen Kanon
zusammengestellt wurden, ergibt, daß sich unter ihnen in der Tat keine gnostische Schrift befindet.
Die ntl. Theologien benutzen gnostische Sprache, um das christliche Daseinsverständnis zum
Ausdruck zu bringen.
Nur hinsichtlich des vorredaktionellen JohEv stellt sich weiterhin die schwierige exegetische Frage,
wieweit die Theologie, in der es wurzelt und aus der es erwächst, und ggf. in welchem Sinne sie als
'gnostisierend' bezeichnet werden kann.
Gnostische Irrlehrer, welche die christlichen Gemeinden beunruhigen, sind seit der dritten
Missionsreise des Apostels Paulus kontinuierlich im Bereich der Ägäis festzustellen und bilden
bald eine Erscheinung innerhalb oder am Rand dieser Gemeinden selbst. Wir haben also von einer
gnostischen Konkurrenz- bzw. Parallelmission schon im apostolischen Zeitalter auszugehen.
Falls 1/2/3 Joh Irrlehrer im syrisch-palästinensischen Raum bekämpfen, spricht dieser Sachverhalt
ebenso wie die Beobachtungen zur Gestalt des Simon Magus dafür, daß der Ursprung jener
gnostischen Mission nicht im ägäischen Raum selbst, sondern in weiter östlich gelegenen Gebieten
zu suchen ist. Diese Vermutung bestätigt sich, wenn man nach der Herkunft der gnostischen
Begrifflichkeit innerhalb der einschlägigen theologischen Entwürfe im NT fragt.
Es fällt auf, daß ein bestimmtes Schrifttum des NT gar keine nennenswerten Einflüsse einer
gnostischen Begriffs- und Vorstellungswelt zeigt. Dabei handelt es sich vor allem um die
synoptische Tradition. Dazu treten 1Petr, Offb und mit unterschiedlichem Abstand Past, Hebr, Jak.
Der Ort dieses Schrifttums ist größtenteils in dem der hellenistischen Synagoge verbundenen
Christentum zu suchen. Da sich dieses hellenistisch-synagogale Christentum relativ kontinuierlich
aus dem palästinensischen Urchristentum entwickelt zu haben scheint, dürfte auch das
palästinensische Urchristentum keine gnostischen Einflüsse gekannt haben.
Stark von gnostischer Begriffs- und Vorstellungswelt beeinflußt zeigen sich demgegenüber die
Grundschicht der paulinischen Theologie und die joh. Gemeindetheologie mitsamt der an sie
anschließenden Überlieferungen. Gemeinsam ist der pln. und der joh. Tradition dabei der
Erlösermythos (Präexistenzchristologie;
Sendungsformeln) und die Begrifflichkeit des
anthropologischen Dualismus. Darüber hinaus ist für Paulus die 'Christusmystik' charakteristisch,
für Johannes die Sprache des kosmischen Dualismus. Eine gegenseitige Abhängigkeit von Paulus
und Johannes wird ausgeschlossen.
6.5 Erläuterung
Gerd Theißen, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums. Gütersloh 2000
(³2003), S. 314:
„Durch die judaistische Krise im 1. Jh. war entschieden, daß das Christentum kein Teil des
"Und doch verkünden wir Weisheit unter den Vollkommenen, aber nicht Weisheit
dieser Welt oder der machthaber dieser Welt, die einst entmachtet werden.
Vielmehr verkünden wir das Geheimnis der verborgenen weisheit Gottes, die Gott
vor allen Zeiten vorausbestimmt hat zu unserer Verherrlichung. Keiner der
Machthaber dieser Welt hat sie erkannt; denn hätten sie die Weisheit Gottes
erkannt, so hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt."
107
77
Judentums ist. Um so mehr stellte sich dann die Frage, ob es nicht Teil der allgemeinen
hellenistischen Religion werden könnte – Teil einer verschiedene Religionen und Kulte
durchdringenden neuen Bewegung. Man kann die Gnosis als solch eine interreligiöse Bewegung
interpretieren, die u.a. das Christentum erfaßte.“
Rudolf Bultmann (o.c. 167):
"Es war ein geschichtlich notwendiger Vorgang, daß das Evangelium von dem einen und wahren
Gott und von Jesus, dem Messias-Menschensohn - daß die eschatologische Botschaft von dem
bevorstehenden Gericht und Heil, die zunächst von der Begriffssprache der alttestamentlichjüdischen Tradition getragen waren, in der hellenistischen Welt in eine ihr vertraute Begrifflichkeit
übersetzt wurden. Der Messias-Menschensohn, dessen Parusie man erwartete, wurde zum kultisch
verehrten kyrios. Um seine eschatologische Bedeutung und damit überhaupt die eschatologische
Botschaft und den mit ihr gegebenen eschatologischen Dualismus für hellenistische Hörer
überzeugend zum Ausdruck zu bringen, dazu boten die Gnosis und ihr Mythos eine weiten Kreisen
verständliche Begrifflichkeit dar."
Wie weit wurde nun das Verständnis der christlichen Botschaft im hellenistischen Christentum
mittels der gnostischen Begrifflichkeit entfaltet?
Ein solcher Vorgang vollzieht sich naturgemäß nicht ohne inhaltliche Beeinflussung. Und wie das
hellenistische Christentum durch die Ausbildung des Kyrios-Kultes in den synkretistischen Prozeß
hineingezogen wurde, so erst recht durch die Ausbildung der Erlösungslehre unter gnostischem
Einfluß. (Das war an verschiedenen Orten in sehr verschiedenem Maß der Fall; und neben dem
Einfluß der Gnosis steht auch ihre Abweisung.) Die Situation ist komplex; einige Aspekte daraus:
6.5.1 Die gnostische Bewegung bedeutete die ernsthafteste und gefährlichste Konkurrenz für die
christliche Mission, und zwar infolge einer tiefgehenden Verwandtschaft. Das Wesen der Gnosis
besteht ja nicht in ihrer synkretistischen Mythologie, sondern in einem, der antiken Welt gegenüber,
neuen Selbst- und Weltverständnis, dessen Ausdruck nur die Mythologie ist. War für den antiken
Menschen die Welt die Heimat gewesen - für das AT die Welt als Schöpfung Gottes, für die
griechische Antike der von der Gottheit durchwaltete Kosmos -, so ist in der Gnosis wie im
Christentum zum erstenmal die grundsätzliche Verschiedenheit des menschlichen Seins von allem
welthaften Sein zum Bewußtsein gekommen und deshalb die Welt dem menschlichen Ich zur
Fremde geworden, ja, in der Gnosis zum Gefängnis.
Das Wissen um die himmlische Herkunft des Selbst, das Wissen um die Weltfremdheit und
himmlische Herkunft des Selbst und um den Weg zur Erlösung aus dieser Welt - das ist die
entscheidende Erkenntnis, die Gnosis, von der die gnostische Bewegung ihren Namen trägt.
Die Geschichte des einzelnen Selbst ist eingegliedert in die Geschichte des ganzen Kosmos. Der
gnostische Mythos schildert das kosmische Drama, in dem es zur Fesselung der Lichtfunken kam
etc. Die Erlösung wird aus der himmlischen Welt gebracht. Vom höchsten Gott gesandt steigt
wiederum eine Lichtgestalt, der Sohn des Höchsten, sein Abbild (eikón), aus der Lichtwelt herab
und bringt die Gnosis.
Es springt wohl unmittelbar ins Auge, welche Affinitäten sich da ergeben.
6.5.2 Soweit die christliche Verkündigung der alttestamentlich-jüdischen und urgemeindlichen
Tradition treu blieb, sind entscheidende Gegensätze zur Gnosis sofort deutlich. Jener Tradition
entsprechend hielt die Verkündigung in der Tat durchweg daran fest, daß die Welt die Schöpfung
des einen wahren Gottes ist, daß also der Gott der Schöpfung und der Erlösung einer sind. Damit
ist zugleich ein Gegensatz in der Anthropologie gegeben. Denn für die genuin christliche
Anschauung ist der Mensch mit Leib und Seele Geschöpf Gottes, und von seinem leib-seelischen
Sein ist nicht noch als sein eigentliches Wesen ein präexistenter himmlischer Lichtfunke zu
unterscheiden. Es geht daher auch nicht durch die Menschheit von vornherein jene Scheidung
zwischen denen, die den Lichtfunken im Inneren tragen, den Pneumatikern, die - gnostisch
gesprochen - physei sozómenoi sind, und den psychikoí oder sarkikoí, denen das himmlische Selbst
fehlt, wenngleich diese gnostische Unterscheidung in anderer Weise akzeptiert wurde (s.u.).
78
Entsprechend besteht fast durchweg ein Gegensatz in der Eschatologie, insofern das christliche
Kerygma den Gedanken der Himmelsreise des Selbst vermöge der gnosis und der sakramentalen
Weihen nicht kennt, sondern die Auferstehung der Toten und das Gericht lehrt. Immerhin nimmt
hier Joh eine Sonderstellung ein, und überhaupt ist die christliche Vorstellung von der Aufnahme
der Gerechten in den Himmel und von der himmlischen Seligkeit stark beeinflußt worden. Die
Differenzen ziehen einen Gegensatz in der Christologie nach sich, da die Gnosis die reale
Menschheit Jesu nicht anerkennen kann. Diese ist für das präexistente Himmelswesen nur
Verkleidung; und wo sich die Gnosis die christliche Tradition aneignet, muß sie, wenn sie nicht
dabei bleibt, Jesu Fleisch und Blut für einen Scheinleib zu erklären, den Erlöser vom
geschichtlichen Menschen Jesus unterscheiden und etwa behaupten, daß jener sich (in der Taufe)
vorübergehend mit diesem verbunden habe, um ihn vor der Passion wieder zu verlassen.
Der Kampf gegen die Gnosis besteht teilweise in der bloßen Warnung vor den moraì zetéseis, den
logomachíai, den mythoi und genealogíai, den antithéseis tês pseudonymou gnóseos 1.Tim 1,4: "Bei meiner Abreise habe ich dich gebeten, in Ephesus zu bleiben, damit du bestimmten
Leuten verbietest, falsche Lehren zu verbreiten und sich mit Fabeleien und endlosen
Geschlechterreihen abzugeben, die nur Streitfragen mit sich bringen, statt dem Heilsplan Gottes zu
dienen, der sich im Glauben verwirklicht."
4,7: "Gottlose Altweiberfabeln weise zurück! Übe dich in der Frömmigkeit!"
6,3-5: "Wer aber etwas anderes lehrt und sich nicht an die gesunden Worte Jesu Christi unseres
Herrn, und an die Lehre unseres Glaubens hält, der ist verblendet; er versteht nichts, sondern ist
krank vor lauter Auseinandersetzungen und Wortgefechten. Diese führen zu Neid, Streit,
Verleumdungen, üblen Verdächtigungen und Gezänk unter den Menschen, deren Denken verdorben
ist; dese Leute sind von der Wahrheit abgekommen und meinen, die Frömmigkeit sei ein Mittel, um
irdischen Gewinn zu erzielen."
6,20: "Timotheus, bewahre, was dir anvertraut ist. Halte dich fern von dem gottlosen Geschwätz
und den falschen Lehren der sogenannten 'Erkenntnis'!"
2.Tim 2,23: "Laß dich nicht auf törichte und unsinnige Auseinandersetzungen ein; du weißt, daß
sie nur zu Streit führen."
4,3-5: „Denn es wird eine Zeit kommen, in der man die gesunde Lehre nicht erträgt, sondern sich
nach eigenen Wünschen immer neue Lehrer sucht, die den Ohren schmeicheln; und man wird der
Wahrheit nicht mehr Gehör schenken,sondern sich Fabeleien zuwenden."
Tit 1,14: "Darum weise sie streng zurecht, damit ihr Glaube wieder gesund wird und sie sich nicht
mehr an jüdische Fabeleien halten ..."
3,9: "Laß dich nicht ein auf törichte Auseinandersetzungen und Erörterungen über
Geschlechterreihen, auf Streit und Gezänk über das Gesetz; sie sind nutzlos und vergeblich."
Zuerst ist in den christlichen Gemeinden offenbar der Gegensatz in der Eschatologie und
Christologie empfunden worden. Schon 1.Kr 15 ist eine große Polemik gegen die gnostisierende
Richtung in Korinth, die behauptet: anástasis ek nekrôn ouk éstin. - "Eine Auferstehung von den
Toten gibt es nicht" (15,12). Paulus mißversteht die Gegner freilich darin, daß er bei ihnen die
Anschauung voraussetzt, mit dem Tode sei alles aus (15,19.32). Das war, wie schon der Brauch der
Vikariatstaufe (15,29) zeigt, nicht der Fall; sie haben nur die realistische Auferstehungslehre der
jüdisch-urchristlichen Tradition bestritten. Diese Anschauung konnte sich auch in den Satz kleiden:
anástasin éde gegonénai, -"die Auferstehung sei schon geschehen"; d.h. die Auferstehungslehre
konnte spiritualisiert werden (2.Tim 2,18; vgl. aber auch Joh 5,24f. und Eph 5,14).
Für die echte Menschheit Christi kämpfen gegen die Gnostiker 1.Joh 2,22;108 4,2.15; 5,1.5-8; 2.Joh
7. Dabei scheint sich 1.Joh 5,6 109 speziell gegen den gnostischen Satz zu wenden, daß sich der in
"Wer ist der Lügner, wenn nicht der, der leugnet, daß Jesus der Christus
ist? Das ist der Antichrist: wer den Vater und den Sohn leugnet."
109 "Dieser ist es, der durch Wasser und Blut gekommen ist: Jesus Christus. Er
ist nicht nur im Wasser gekommen, sondern im Wasser und im Blut. Und der Geist
108
79
der Taufe mit Jesus vereinigte Erlöser vor der Passion von ihm getrennt habe. Ähnlich führt
Ignatius den Kampf gegen die gnostische Christologie, die ihm in der Form begegnet, daß Christus
nur einen Scheinleib gehabt habe (Eph 7,2; 18-20; Mg 11; Tr 9f; Sm 1-3.7); ebenso Polykarp (Pol
Phl 7,1).
Weniger scheint zunächst der Gegensatz in der Gottes- und Schöpfungslehre zur Geltung
gekommen zu sein, der für die späteren Ketzerbestreiter einen Hauptpunkt bildet.
6.5.3 Es ist nun wohl zu beachten, daß die Gnosis hier überall nicht etwa als eine fremde,
heidnische Religion bekämpft wird, zu der abzufallen Christen in Gefahr sind. Vielmehr wird sie
nur soweit in den Blick gefaßt, als sie eine innerchristliche Erscheinung ist. Und ebenso ist
deutlich, daß die bekämpften Gnostiker keineswegs die christlichen Gemeinden als ein
Missionsgebiet auffassen, das sie vom Christentum zur Gnosis bekehren wollen. Sie sind vielmehr
der Meinung, Christen zu sein und eine christliche Weisheit zu lehren - und so erscheinen sie auch
den Gemeinden. Von den Vertretern der alten Tradition werden die gnostischen Apostel freilich als
Eindringlinge empfunden, und der Verfasser der Act läßt 20,29 Paulus weissagen: "Ich weiß: Nach
meinem Weggang werden reißende Wölfe bei euch eindringen und die Herde nicht schonen."
Aber V.30 läßt er ihn fortfahren: "Und selbst aus eurer Mitte werden Männer auftreten, die mit
ihren falschen Reden die Jünger auf ihre Seite ziehen."
Für Paulus sind die Apostel, die in Korinth eine pneumatisch-gnostische Bewegung entfacht haben,
wohl Eindringlinge - aber nicht in die christlichen Gemeinden überhaupt, sondern in seine
Gemeinde, über die als seine Gründung nur ihm die Kompetenz zusteht. Daß sie der Gemeinde als
christliche Apostel gelten, ist völlig deutlich, wenngleich sie für Paulus Satansdiener sind (2.Kr
11,13: "Denn diese Leute sind Lügenapostel, unehrliche Arbeiter; sie tarnen sich freilich als
Apostel Christi."). Sie verkünden Christus, freilich nach Paulus einen állos Iesoûs, hòn ouk
ekeryxamen (11,4). In den Gemeinden von Ephesus, Pergamon und Thyatira sitzen bzw. saßen die
Apk 2 bekämpften Irrlehrer offenbar als - wenigstens von einem Teil der Gemeinden - anerkannte
Lehrer, als Apostel und Propheten.
Natürlich wird die Gnosis auch durch wandernde Lehrer verbreitet - ebenso wie das Christentum -,
und vor solchen von auswärts kommenden Irrlehrern warnen 2.Joh 10 und Did 11,2.
Man sieht: das hellenistische Christentum steht im Strudel des synkretistischen Prozesses; das
genuin christliche Motiv steht im Ringen mit anderen Motiven; die "Rechtgläubigkeit" steht nicht
am Anfang, sondern wird sich erst herausbilden.
Wahrscheinlich ist die Gnosis zuerst meistens durch das Medium eines selbst vom Synkretismus
erfaßten hellenistischen Judentums in die christlichen Gemeinden eingedrungen. Die von Paulus in
Korinth bekämpften gnostischen Pneumatiker sind jüdischer Herkunft (2.Kr 11,22 110 ). Das macht
es nocheinmal begreiflich, daß die Gnosis nicht als ein heidnischer Glaube, sondern als eine Form
des Christentums erscheinen konnte.
6.5.4 In welcher Weise aber hat nun das gnostische Denken, sein Mythos und seine Begrifflichkeit,
Einfluß auf das christliche Denken gewonnen und zur Entfaltung der christlich theologischen
Sprache beigetragen? (Hypothetischer Charakter dieser Überlegung)
a) Zunächst in der begrifflichen Entwicklung des eschatologischen Dualismus, indem dieser über
die Dimensionen eines heilsgeschichtlichen in diejenigen eines kosmologischen Denkens
ist es, der Zeugnis ablegt; denn der Geist ist die Wahrheit."
110 "Sie sind Hebräer - ich auch. Sie sind Israeliten - ich auch. Sie sind
Nachkommen Abrahams - ich auch. Sie sind Diener Christi - jetzt rede ich ganz
unvernünftig - ich noch mehr: Ich ertrug mehr Mühsal, war häufiger im
Gefängnis, wurde mehr geschlagen, war oft in Todesgefahr..."
80
hinübergeführt wurde - besser: indem das kosmologische Denken konsequenter weitergetrieben
wurde. Denn schon in der jüdischen Eschatologie hatte die Zukunftshoffnung kosmisches Ausmaß
gewonnen, unter dem Einfluß iranischer und babylonischer Mythologie, die ja auch für die Gnosis
die Quellen des mythologischen Denkens waren. Aus diesen Einflüssen stammt die dem AT noch
fremde Unterscheidung des gegenwärtigen und künftigen Zeitalters (aiòn hoûtos und méllon).
Gnostische Sprache ist es, wenn der Satan der theòs toû aiônos toútou (2.Kr 4,4 111 ) oder der
árchon toû kósmou toútou (Joh 12,31 112 ; 14,30; 16,11) heißt, wenn er ho árchon tês exousías tou
aéros (Eph 2,2) oder ho árchon toû aiônos toútou (Ign Eph 19,1) genannt wird.
Dem Namen wie der Bedeutung nach sind die árchontes toû aiônos toútou, die den kyrios tês dóxes
ans Kreuz gebracht haben (1.Kr 2,6.8), Gestalten der gnostischen Mythologie, eben jene
dämonischen Wetherrscher, die auch mit den Ausdrücken ángeloi, archaí, exousíai, dynámeis
gemeint sind (Rm 8,38f.; 1.Kr 15,24.26; Kol 1,16; 2,10.15; Eph 1,21; 3,10; 6,12; 1.Pt 3,22). Sie
sind wie in der Gnosis wesentlich als Gestirngeister gedacht und heißen als solche die stoicheia tou
kósmou (Gl 4,3.9 113 ; vgl. Kol 2,8.20), die den Lauf und die Einteilung der Zeiten regieren (Gl
4,10).
Von den mythologischen Gestalten abgesehen zeigt die Terminologie, in der der Dualismus zum
Ausdruck kommt, weithin gnostischen Einfluß, am stärksten bei Joh, dessen Sprache durch die
Antithese phôs - skotía beherrscht ist. Aber auch das übrige NT kennt den Gegensatz phos - skótos
(Rm 13,12 114 ; 1.Th 5,4f.; 2.Kr <6,14>; Kol 1,12f.; Eph 5,8ff....)
b) Gnostische Mythologie steckt hinter dem in Andeutungen verlaufenden und daher im einzelnen
schwer zu erklärenden Satz vom Fall der Schöpfung Rm 8,20ff., die der douleía tes phthorâs
verfallen ist und unter Seufzen der Befreiung harrt. Ganz im gnostischen Sinne ist Adams Fall, der
(Sünde und) Tod über die Menschheit gebracht hat, Rm 5,12ff. interpretiert;115 ja, 1.Kr 15,21.44-49
ist die Bestimmtheit der adamitischen Menschheit von der anerschaffenen Qualität des Adam als
eines psychikós und choikós ganz ohne Rücksicht auf seinen Fall abgeleitet. Der Gegensatz
psychikós - pneumatikós zur Bezeichnung zweier grundsätzlich verschiedener Klassen von
Menschen, ein Gegensatz, der weder aus dem griechischen Sprachgebrauch noch vom AT her,
sondern nur aus der gnostischen Anthropologie verständlich ist, ist ein besonders deutliches
Merkmal dafür, daß schon die anthropologischen Begriffe des Paulus unter dem Einfluß der Gnosis
geprägt sind. Ebenfalls gnostisch gedacht ist es, wenn Joh 8,44 die Feindschaft gegen Jesus aus der
Abstammung der Ungläubigen vom Teufel als dem Urlügner hergeleitet wird.
Gnostische Mythologie dient also dazu, die Situation des Menschen in der Welt zu charakterisieren
als ein Leben, das durch seine Herkunft zum Verderben bestimmt, das der Herrschaft dämonischer
Mächte preisgegeben ist. Ja, Paulus wagt sogar im Widerspruch zu seiner sonstigen Anschauung,
daß das Gesetz von Gott stammt (Rm 7,12.14), in der Polemik gegen die judaistische
Gesetzlichkeit sich den gnostischen Satz zu eigen zu machen, daß es vielmehr von untergeordneten
Engelmächten gegeben ist (Gl 3,19).
"denn der Gott dieser Weltzeit hat das Denken der Ungläubigen verblendet."
"Jetzt wird Gericht gehalten über diese Welt; jetzt wird der Herrscher
dieser Welt hinausgeworfen werden."
113 "So waren auch wir, solange wir unmündig waren, Sklaven der Elementarmächte
dieser Welt"
114 "Die Nacht ist vorgerückt, der Tag ist nahe, darum laßt uns ablegen die
Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts."
115 "Durch einen einzigen Menschen kam die Sünde in die Welt und durch die Sünde
der Tod und auf diese Weise gelangte der Tod zu allen Menschen, weil alle
sündigten." 14: "Adam aber ist die gestalt, die auf den Kommenden hinweist."
19: "Wie durch den Ungehorsam des einen Menschen die vielen zu Sündern wurden,
so werden auch durch den Gehorsam des einen die vielen zu Gerechten gemacht
werden."
111
112
81
Gnostisch ist dementsprechend weithin die Terminologie der Paränese, wenn sie davon redet - in
Verbindung mit den Begriffen Licht und Finsternis - daß die Menschen in Schlummer oder
Trunkenheit verfallen sind, daß sie geweckt werden und nüchtern sein müssen (Rm 13,11-13; 1.Th
5,4-6; 1.Kr 15,34; 16,13; Kol 4,2; Eph 5,14; 2.Tim 2,26; 4,5; 1.Pt 1,13; 5,8; ...)
Ganz in gnostischer Sprache ist das Lied(fragment) Eph 5,14 geformt: "Wach auf du Schläfer / und
steh auf von den Toten, / und Christus wird dein Licht sein".
c) Vor allem aber diente nach Bultmann die gnostische Begrifflichkeit dazu, das Heilsgeschehen
deutlich zu machen. Der Erlöser erscheint demzufolge als eine kosmische Gestalt, als das
präeexistente Gottwesen, der Sohn des Vaters, der vom Himmel herabkam und Menschengestalt
annahm, der nach seinem irdischen Wirken zur himmlischen Herrlichkeit erhöht wurde und die
Herrschaft über die Geistermächte errang. So preist ihn das vorpaulinische, Phl 2,6-11 zitierte
Christuslied. ("Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er
entäußerte sich...")
Vom Abstieg und Wiederaufstieg des Erlösers redet Eph 4,8-10.
Daß der erhöhte die Herrschaft über das Reich der kosmischen Mächte gewonnen hat, sagt auch
Kol 2,15: "Er (Gott) entwaffnete die Mächte und Gewalten und machte sie öffentlich zum Spott,
indem er über sie durch ihn (Christus) triumphierte."
Ganz kurz ist das kosmische Geschehen Joh 12,31 angedeutet: "Jetzt wird Gericht gehalten über
diese Welt; jetzt wird der Herrscher dieser Welt hinausgeworfen werden."
Den Mythos enthalten auch die Sätze des Liedes 1.Tim 3,16: "Er wurde offenbart im Fleisch,
gerechtfertigt durch den Geist, geschaut von den Engeln, verkündet unter den Heiden, geglaubt in
der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit."
d) Für die Gläubigen bedeutet der kosmische Sieg Christi die Befreiung von den dämonischen
Weltherrschern, von der Sünde und vor allem vom Tode, so daß jener Satz anástasin ede gegonénai
begreiflich ist.
Paulus bringt die Erlöserbedeutung Christi vor allem dadurch zum Ausdruck, daß er ihn mit dem
(gefallenen) Urmenschen Adam als den éschatos Adám parallelisiert.
e) Hbr verbindet den gnostischen Gedanken von der Einheit, zu der alle Pneumatiker, die aus der
Welt ausgegrenzt sind, unter sich verbunden sind, mit dem Motiv der alttestamentlich-jüdischen
Tradition vom Gottesvolk. Paulus dagegen verdeutlicht die innere Einheit der Glaubenden
untereinander und mit dem Erlöser durch den gnostischen Begriff des sôma Christoû (Rm 12,4;
1.Kr 12,12-27; auch 1,Kr 6,15-17) und bestimmt damit sehr wesentlich die Ausbildung des
Kirchenbegriffs.
f) Vom Polytheismus zum Glauben an den einen wahren Gott gelangen, hieß: eis epígnosin
aletheías elthein - befreiende Erkenntnis war dem Christen mit dem Gnostiker gemeinsam, und der
christliche Prediger konnte in gnostischer Terminologie sprechen: "Ihr werdet die Wahrheit
erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen." (Joh 8,32).
Statt von der pístis konnte Paulus auch von der Erkenntnis reden, die alles einst als Gewinn
Geachtete überragt (Phl. 3,8), und als Ziel aufstellen: Christus zu gewinnen und in ihm zu sein
(Phl 3,9f.). Kein Wunder, wenn sich christliches und gnostisches Erkenntnisstreben verbanden und
in Korinth ein Eifer um "Weisheit" entfesselt wurde (1.Kr 1,18); kein Wunder, wenn der Stolz
darauf, hóti (pántes) gnosin échomen seine Blüten trieb (1.Kr 8,1ff.).
Solches Bewußtsein machte sich nicht nur in der Gemeindeversammlung breit in den Phänomenen
des Enthusiasmus und der Ekstase, sondern vor allem in der echt gnostischen Behauptung der
eleuthería und exousía, kraft deren der Pneumatiker die Bindung an die konkrete kirchliche
Gemeinschaft mißachtet (1.Kr 8,1ff. - Die Erkenntnis macht aufgeblasen) und sich - pánta moi
éxestin - auch über moralische Bindungen hinwegsetzt (1.Kr 6,12ff.; 10,23).
82
Aber auch Paulus selbst sieht offenbar in der gnostischen Begrifflichkeit die gemäße
Ausdrucksform für das christliche Seinsverständnis, nicht nur, indem er von der ihn tragenden
gnôsis redet. Vielmehr meint er auch als pneumatikós über eine "Weisheit" zu verfügen, die in die
Mysterien der göttlichen Weisheit, in die páthe toû theoû, eindringt (1.Kr 2,6ff.). Er weiß sich dem
Urteil anderer entzogen, während ihm selbst, der den noûs (=pneûma) Christou hat, das Urteil über
alle anderen zusteht (1.Kr 2,15f.). Er akzeptiert nicht nur den Satz hóti (pántes) gnôsin échomen
(1.Kr 8,1), sondern auch das pánta moi éxestin (1.Kr 6,12; 10,23), - freilich mit spezifisch
christlicher Korrektur. Auf seine eleuthería und exousía ist er ebenso stolz wie die Gnostiker freilich indem er den paradoxen Charakter dieser Freiheit erkennt (1.Kr 9, 1-23: "Da ich also von
niemand abhängig war, habe ich mich für alle zum Sklaven gemacht, um möglichst viele zu
gewinnen").
g) Zweifellos war im gnostischen Mythos und seiner Begrifflichkeit die Möglichkeit gegeben, das
eschatologische Geschehen als ein durch die Geschichte Jesu Christi eingeleitetes und im Vollzuge
befindliches, in der Gegenwart wirksames verständlich zu machen; die Möglichkeit, die ekklesía
und den Einzelnen zu begreifen als in den großen Zusammenhang eines Unheils- und
Heilsgeschehens gestellt. Aber es ist nun die Frage, ob dieses kosmische Geschehen nur als ein
großartiger Naturprozeß verstanden wird, der sich gleichsam an meinem Tun, meiner
Verantwortung, meinen Entscheidungen vorbei vollzieht, dem ich im Guten wie im Bösen
ausgeliefert bin. Wird die menschliche Geschichte als Naturgeschehen oder als echtes
geschichtliches Geschehen verstanden werden? Ist die gnosis nur das spekulative Wissen, das
neben allem anderen Wissen und Verhalten steht, ein Wissen, dessen Besitz mich über meine
Zukunft nach dem Tode beruhigt? Oder ist es ein echtes Selbstverständnis, das das Leben
durchherrscht und in allen seinen Äußerungen, vor allem im Tun, bestimmt? Zweifellos intendiert
die Gnosis ein solches Selbstverständnis, und es äußert sich im Bewußtsein der eleuthería und
exousía. Aber es ist die Frage, ob diese Freiheit als die Freiheit des in echter Geschichtlichkeit
verantwortlich existierenden Menschen verstanden wird oder als Heraustreten des Menschen aus
seiner wirklichen Existenz, also - da das im Grunde unmöglich ist - als pure Behauptung bzw. als
sinnlose Demonstration. Ob der paradoxe Charakter der Freiheit erkannt ist, ist also die Frage.
h) Politischer Aspekt: Am Anfang des 2.Jh. klärte sich die Rechtslage des Christentums durch den
Pliniusbrief und das Reskript des Trajan. Plinius d.J. hatte als Statthalter von Bithynien mit
Anzeigen gegen Christen zu tun. Er hatte sie hinrichten lassen – nicht wegen der Vorwürfe gegen
sie, sondern weil sie sich im Gerichtsverfahren weigerten, den Göttern und einem Bild des Kaisers
zu opfern. Aber er ist sich nicht ganz sicher, wie er in Zukunft verfahren soll, zumal er wohl
anonyme Listen von Christen vorliegen hat. Wahrscheinlich schreckte er vor Massenhinrichtungen
zurück. Daher seine Rückfrage an den Kaiser – mit der Information über die Christen, daß sie in
moralischer Hinsicht unbedenklich seien. Sie verpflichteten sich selbst auf allgemeine ethische
Gebote. Was sie auszeichne, sei ein maßloser Aberglaube – die Verehrung eines hingerichteten
Christus, als sei er ein Gott (Plin ep X, 96).
Aus der Antwort des Kaisers (ep X, 97) geht hervor: (1.) Der Staat geht nicht von sich aus gegen
Christen vor. (2.) Christen dürfen nicht aufgrund anonymer Anzeigen angeklagt werden. (3.) Wenn
sie vor Gericht ihr Christentum bestreiten und die Götter anrufen, werden sie freigelassen.
Die Tendenz ist eindeutig: Einerseits ist das Christsein als solches strafbar – unabhängig davon, ob
konkrete Vergehen vorliegen. Es wird offiziell festgehalten: Das einzige Verbrechen der Christen
besteht darin, anders zu sein als die anderen. Andererseits sollen Verfahren gegen Christen
möglichst vermieden werden. Christen konnten bei sozialer Unauffälligkeit unbehelligt leben. Erst
wenn sie in der Öffentlichkeit unangenehm auffielen oder ihre Nachbarn sich über sie ärgerten,
konnte es zu Strafanzeigen kommen. Von der objektiven Lage her mußten in dieser Situation die
Formen des Christentums Auftrieb erhalten, die soziale Unauffälligkeit ermöglichten, garantierten
und legitimierten. Anders ausgedrückt: Formen, die das Christentum privatisierten, waren jetzt
gefragt. Sie ermöglichten eine konfliktfreie Existenz der Christen in ihrer Umwelt. Sie reduzierten
das Risiko des Martyriums. Die Gnosis war eine solche Privatisierung der Religion.
[Zum Folgenden vgl.: Hans G.Kippenberg, Die vorderasiatischen Erlösungsreligionen in ihrem
Zusammenhang mit der antiken Stadtherrschaft, stw 917, Frankfurt: Suhrkamp 1991, 369ff.]
83
* Zur Notwendigkeit des öffentlichen Bekenntnisses: Einige Gnostiker lehrten, man brauche nicht
vor den staatlichen Archonten (den irdischen Herrschern und Behörden) ein Bekenntnis ablegen,
sondern nur vor den himmlischen Archonten. Mit anderen Worten: Man durfte seine christliche
Identität in der entscheidenden Situation verleugnen. So lehrten die Valentinianer nach Tertullian
(Scorpiace X, 1).
* Zum Martyrium: Viele Gnostiker leugneten die Kreuzigung Jesu mit Hilfe einer
Vertauschungstheorie. Die Römer hätten nicht Jesus, sondern irrtümlicherweise Simon von Kyrene
an seiner Statt hingerichtet. Jesus selbst aber sei neben dem Kreuz gestanden und habe sich erhaben
gefühlt über die törichten Menschen, die ihm nichts anhaben konnten. Hier finden wir zweifellos
ein Abbild des Gnostikers: Unbehelligt und unerkannt steht er neben den Märtyrern.
* Zu den Speisegeboten: Viele Gnostiker lehrten, daß man unbedenklich Götzenopferfleisch essen
könne. Deswegen konnten sie an allen heidnischen Gastmählern teilnehmen. Sie fielen also nicht
durch abweichendes Verhalten – wenigstens nicht in diesem Punkte – auf.
Die so skizzierte politisch-rechtliche Situation führte im damaligen Christentum aber auch zu einer
anderen Anstrengung, den christlichen Glauben als unbedenklich zu verteidigen. Die Apologetik
blühte im 2.Jh. fast gleichzeitig mit der Gnosis auf. Sie ist ein Versuch, das Christentum mit dem
allgemeinen Bewußtsein zu vermitteln. Die Wahrheit, die überall samenhaft in den besten
Menschen vorhanden ist, trete erst im Christentum voll in Erscheinung. Die Gnosis ist eine
Alternative zur Apologetik. Auch sie beansprucht, im Christentum eine allgemeine Wahrheit zu
finden. Auch sie versteht diese allgemeine Wahrheit als eine schon vorhandene Wahrheit. Sie werde
durch eine intuitive Offenbarungseinsicht vermittelt, die man in allen religiösen Systemen
verschlüsselt wiederfinden kann. Das Grundproblem ist hier wie dort dasselbe: Christentum und
allgemeine Wahrheit sollen zusammenkommen. Und das war in einer Zeit nicht nur ein
theoretisches Problem, als es darum ging, für das Christentum Tolerierung durch die Gesellschaft
zu erreichen.
(i) In der Auseinandersetzung mit der Gnosis ging es also wieder um die innere Autonomie des
Christentums als eines neuen religiösen Zeichensystems. In der judaistischen Krise des 1.Jh. war
die Frage gewesen, ob es nicht innerhalb des großen jüdischen Zeichensystems eine kleine
Substruktur bilden könne, ohne aus dem Judentum auszuscheiden. Es hätte dessen rituelle,
mythische und ethische Zeichenwelt geteilt – aber zusätzlich noch einige Besonderheiten
eingebracht: den Glauben an den schon gekommenen Messias (in seinem Mythos), zwei
Sakramente (als zusätzliche Riten), eine Konzentration auf das Liebesgebot (als Ethos). Damals
war entschieden worden: Diese neuen Zeichenelemente sollten der Kern einer eigenständigen
Zeichenwelt sein – unabhängig vom Judentum, und doch in Bezug auf das Judentum. In der
gnostischen Krise ging es darum, ob diese inzwischen ausgebaute neue Zeichenwelt nicht ihrerseits
nur ein kleines Subsystem einer universaleren Zeichensprache sein sollte – einer Zeichensprache,
die in allen traditionellen Religionen als Bilder und Symbole eines Selbstfindungsprozesses
vorhanden war und die eine radikale Aufwertung des Selbst mit einer ebenso radikalen Abwertung
der Welt verband. Warum setzte sich dieser faszinierende Versuch nicht durch?
[Man muß sich sogar fragen: Warum konnte es überhaupt zu einer „gnostischen Krise“ kommen?
Eine Strömung, die im Verhältnis zur nichtchristlichen Umwelt nicht konfliktfreudig war, dürfte
auch im Verhältnis zu ihrer christlichen Umgebung konfliktvermeidend gewesen sein. In der Tat:
Die Gnostiker vestanden sich meist als gute Gemeindeglieder, keineswegs als Häretiker. Sie lebten
unauffällig als ein „innerer Kreis“ in der Gemeinde und betrachteten die einfachen
Gemeindechristen als potentielle Gnostiker, die noch nicht zur vollen Erkenntnis voredrungen
waren. Vgl. Klaus Koschorke, Die Polemik der Gnostiker gegen das kirchliche Christentum, NHS
12, Leiden: Brill 1978, 220ff.
Bedeutende gnostische Lehrer lebten unangefochten als christliche Lehrer: Valentinus in Rom (vgl.
Christoph Markschies, Valentinus Gnosticus? Untersuchungen zur valentinianischen Gnosis mit
einem neuen Kommentar zu den Fragmenten Valentins, WUNT 65, Tübingen: Mohr 1992.),
Basilides in Alexandrien (vgl. Winrich A.Löhr, Basilides und seine Schule, WUNT 83, Tübingen:
84
Mohr 1996.). Wie kam es dennoch zum Konflikt – faßbar in einem antihäretischen Schrifttum bei
Justin, Irenäus, Tertullian und Hippolyt?]
Die Auseinandersetzung brachte Unvereinbarkeiten zwischen einem allgemeinen christlichen
Konsens und gnostischen Systemen zu Tage.
(1) Die Gnosis widersprach der Einheit von Mythos und Geschichte. Diese Einheit
entspricht dem ersten Grundaxiom des Christentums (und Judentums), dem Monotheismus.
Monotheistischer Glaube sagt: Gott hat keinen Sozialpartner im Himmel, sondern einzig Menschen
als seine Partner. Eben das wurde in Frage gestellt, wenn man neben dem höchsten Gott noch einen
untergeordneten Demiurgen annahm und darüber hinaus Ketten von Emanationen und Äonen.
Wenigstens war der gnostische Monotheistismus nicht mehr der Glaube an den Schöpfer des
Himmels und der Erde – sondern allenfalls an den Schöpfer des Himmels.
(2) das zweite Grundaxiom, der Erlöserglaube, wurde ebenso in Frage gestellt. Denn alle
gnostischen Systeme stellen das reale Eingehen des Erlösers in diese Welt in Frage. Diese Welt ist
in sich ein Unglück und Versehen. Deshalb kann sich der Erlöser nicht wirklich mit ihr verbinden.
Er hat nur einen Scheinleib oder verbindet sich nur vorübergehend mit einem irdischen Leib. Mann
kann daher sagen: Sowohl die Einheit des Schöpfergottes wie die Einheit des Erlösers waren in der
Gnosis bedroht – aufgrund einer Abwertung der Welt und des Leibes, die dem biblischen
Zeichensystem des Urchristentums widersprach.
Beide Probleme lassen sich so zusammenfassen: In der Gnosis entwickelt sich das Urchristentum
zu einer radikalen Erlösungsreligion, die den alttestamentlichen Schöpfungsglauben und den
neutestamentlichen Inkarnationsglauben – das vorbehaltlose Eingehen des Erlösers in Schöpfung
und Leiblichkeit – leugnete. Die Lösung der gnostischen Krise wurde durch eine Theologie
erreicht, die beides, Schöpfungs- und Erlösungsglaube, in ein Gleichgewicht brachte und am Alten
und Neuen Testament festhielt. Diese Theologie begegnet zum ersten Mal als Reaktion auf die
gnostische Krise bei Irenäus. Er begründet als erster den zweigeteilten Kanon aus Altem und
Neuem Testament und entwickelt eine heilsgeschichtliche Theologie, nach der die Erlösung die
Wiederherstellung der Schöpfung ist: Christus stellt die Ebenbildlichkeit des Menschen wieder her,
die als similitudo verloren gegangen, als imago aber erhalten geblieben war.
6.5.5 Methodologische Reflexion zum Thema "Gnosis und NT"
Die Methodenproblematik des Themas weist zwei Schwerpunkte auf:
a) Dokumente der voll ausgeprägten Gnosis sind bekanntlich erst ab dem 2.Jh. n.Chr. greifbar. Aus
solchen zeitlich und strukturell oft weit auseinanderliegenden Dokumenten sind
Extrapolationsmodelle von Gnosis (bes. von einem gnostischen "Erlöser-Mythos" und "UrmenschErlöser-Mythos", z.B. von H.Schlier, E.Käsemann, R.Bultmann) gebildet worden.
Dagegen wird von manchen eingewendet, daß diese Modelle wichtige Differenzierungen in den
Quellen durch Reduktion einebnen und möglicherweise Scheinrealitäten erzeugen, die als
Anhaltspunkte nachfolgenden Forschungsschritten vorausgesetzt werden. Es werden in
verschiedenem Grad rückdatierte Modelle an bestimmte Schriften des NT herangetragen, sowohl
um durch Aufweis terminologischer Ähnlichkeit eine je nach Forschungsrichtung verschieden
aufgefaßte Einwirkung (früh-)gnostischer Tendenzen auf neutestamentliche Autoren zu beweisen
als auch um im NT allenthalben bekämpfte, in der Forschung oft recht unterschiedlich typisierte
Irrlehren als (früh-) gnostisch zu klassifizieren.
b) Als historisches Phänomen hat Gnosis eine "Vorgeschichte", für die in der patristischen Tradition
Anhaltspunkte vorliegen und die sich als "Früh-" oder "Prägnosis" bezeichnen läßt, wenn auch die
Anwendung dieser Kategorie unter der Schwierigkeit leidet, daß das Vorhandensein von Gnosis ja
nur durch den Sinnzusammenhang aller für sie wesentlichen Begriffe eindeutig konstatierbar ist.
Daher ist es bei vereinzelt auftretenden Motiven oft eine petitio principii, wenn man sie als Reflexe
eines schon existenten "gnostischen Mythos" oder als Vor-(Früh-)Formen der späteren eigentlichen
Gnosis ansehen will, während es sich bisweilen nur um Teile eines nichtgnostischen
Sinnzusammenhangs handelt.
85
Unter solchen Vorbehalten steht also der Aufweis von Anhaltspunkten für eine (Prä-)Gnosis in den
fragmentarischen Angaben des NT.
Die Apg gibt einen Anhaltspunkt für frühe Gnosis in der Perikope von Simon Magus (8,4-25)
R.Haardt scheint die Annahme einer (Prä-)Gnosis bei den Gegnern Pauli in Korinth zu gewagt,
weil der Gesamtzusammenhang der Motive unklar bleibt und die Irrlehrer nicht sicher
identifizierbar sind. Vielleicht muß man sich damit begnügen, sie in den Rahmen eines
pneumatischen Schwärmertums einzuordnen.
Die in Kol und Eph dominierende sôma-Christoû-Vorstellung wird zwar oft mit einem gnostischen
Anthroposmythos erklärt und die diesbezüglichen Aussagen (Kol 1,17f.; Eph 4,13; 5,23) gelten
daher als kritische Verchristlichung gnostischer Gedanken. Aber auch dazu ist Haardt der
Auffassung, daß Versuche, den religionsgeschichtlichen Hintergrund im Umkreis philonischer,
pseudophilonischer oder anderer hellenistisch-frühjüdischer Spekulationstypen zu suchen, größeren
heuristischen Wert hätten.116 Für uns ist ein Fazit aus diesem Kapitel: Das hellenistische Judentum
ist nicht nur im Hinblick auf das junge Christentum, sondern auch im Hinblick auf die Gnosis
unbedingt näher zu untersuchen. Daher:
7. Gotteserkenntis, Schau und Vollendung bei Philo von Alexandrien.117
7.1 Zur Person Philons
Philon wirkte in den ersten Jahrzehnten der christlichen Zeitrechnung in Alexandreia. Nach
Josephos (Ant. 18,8,1) entstammte er einer vornehmen Familie des Landes; nach Hieronymus (de
vir.ill. 11) sogar aus dem Priesteradel. Sein Bruder war Alabarch (Vorsteher der alexandrinischen
Juden). In der ersten Hälfte des Jahres 40 n.Chr. war Philon in Rom als Gesandter der
alexandrinischen Juden an den Kaiser Gaius, damals dürfte er schon in höherem Alter gewesen
sein, denn als er bald darauf seine Schrift über diese Gesandtschaft verfaßte, bezeichnete er sich
schon als géron (de leg. ad G. 1,1); demnach könnte er etwa im 3.Jahrzehnt v.Chr. geboren sein.
Philo ist also historisch einzuordnen in das Frühjudentum, das mit dem babylonischen Exil 587
v.Chr. beginnt und mit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels 70 n.Chr. endet. Nach anderem
Sprachgebrauch handelt es sich um die Zeit der Mischna und des Talmud, was sich zeitlich nicht
deckt.
Jedenfalls kann man zur Charakteristik sagen: Aus dem früheren judäischen Staatsvolk war eine
ethnische Kultgemeinschaft geworden. Besonders drei Formen kommen in ihr zum Tragen:
Hierokratische Restaurationstendenzen, eschatologische Bewegungen und Schriftgelehrsamkeit.
Die Schriftgelehrsamkeit erwies sich von diesen dreien als die solideste Basis für die Gestaltung
des sozialen und privaten jüdischen Lebens. Diese, die Partei der Pharisäer, darf nicht nur von der
polemischen Sicht des NT her beurteilt werden.Es gab eine Fülle von Bemühungen um
Aktualisierung des alttestamentlichen Gesetzes, um Friedensstiftung und um die Schul- und
Gebetsbildung der Juden. Das heutige Judentum beruht wesentlich auf den pharisäischen geistigreligiösen Grundlagen.
Die politisch für die Juden Alexandrias günstige Konstellation unter den Ptolemäern hatte sich zu
Philons Zeit gewandelt: es war die Seleukidenzeit mit Ansätzen zu gewaltsamer Hellenisierung und
zu kriegerischer Gegenwehr unter den Makkabäern gekommen. Es gab wechselnde Koalitionen der
verschiedenen jüdischen Religionsparteien. Die radikalen Frommen unterstützten z.B. eine Zeit
Haardt, Gnosis, Sacramentum Mundi, 483.
In diesem Kapitel folge ich weitgehend Hans Jonas, Gnosis und spätantiker
Geist, 2.Teil, 1.Hälfte, Göttingen 1966 , 70ff.
116
117
86
lang den Unabhängigkeitskampf der Makkabäer, bis sie erkannten, daß diesen an politischer Macht
mehr gelegen war als am Kommen des Messias (in diesem Zusammenhang wird der Ausdruck
"Heuchler" als religiös-politischer Terminus verwendet, den wir dann auch bei Jesus finden, der es
von den Pharisäern sagt).
Die Verschiebung des Machtzentrums nach Syrien, Antiochia, wurde relativiert und bald
aufgehoben durch den Ausbau der römischen Vormachtstellung. Als Philon geboren wurde,
herrschte in Palaestina bereits ein rex socius et amicus populi Romani, Herodes, dessen Vater
Antipatros rechtzeitig erkannt hatte, daß Caesar der kommende Mann sei und daß überhaupt nur
eine starke freiwillige Bindung an Rom eine gewisse innere Autonomie gewährleisten könne.
Was die jüdische Gemeinde in Alexandrien betrifft, so nahmen gerade in der Lebenszeit Philons die
Spannungen zwischen der jüdischen und der griechischen Bevölkerung stark zu. Es ging um das
von den Juden verlangte Bürgerrecht, sicher auch um wirtschaftliche Probleme. Augustus hat kurz
nach der Eroberung der Stadt einen Erlaß auf einer Stele eingravieren lassen, nach dem die Juden
zu alexandrinischen Bürgern erklärt wurden. Vielleicht war damit aber doch nicht eine völlige
Gleichstellung gemeint. Unter Gaius Caligula (37-41) nahm der Konflikt blutige Formen an. Es
kam zu einem Pogrom, in dessen Verlauf Synagogen und Häuser zerstört und geplündert wurden.
Der römische Statthalter Flaccus sah dem Treiben untätig zu. Die Juden sanken vom Rechtsstatus
von kátoikoi (Mitbewohner) wieder zu xénoi (Fremde) ab. Sie waren aber auch stark genug, sich zu
wehren und Gegenangriffe auf die anderen Volksgruppen zu starten. Auch andernorts dürfte das
Zusammenleben von Juden und Heiden nicht ohne Spannung verlaufen sein, aber nirgendwo waren
die Auseinandersetzungen so heftig wie in Alexandria. Durch sein Ja zum Bundesgott Israels hat,
wie Nahum Glatzer es treffend formuliert hat, "der Jude selbst dem großartigen geistigen und
politischen Verschmelzungsprozeß der ausgehenden Antike gegenüber das Schicksal der
Einsamkeit gewählt - aus einem Bewußtsein der religiösen Sendung, die auf die Heiden als
nationale Überheblichkeit wirkte."
7.2 Philons Werke
Es ist eine große Zahl von Schriften erhalten, die in drei Hauptgruppen eingeteilt werden können:
(1) Schriften rein philosophischen Inhalts (Exzerpte, Lesefrüchte): De aeternitate mundi, Quod
omnis
probus liber sit, De providentia, Alexander sive de eo quod rationem habeant bruta
animalia
(2) a) Erläuterungsschriften zum Pentateuch, mit dem exegetischen Hauptwerk, dem großen
Genesiskommentar; Legum allegoriarum libri 1-3, sowie eine Menge Sondertitel (De
Cherubim,
De sacrificiis Abelis et Caini, De agricultura, De confusione linguarum, De migratione
Abrahami)
b) Quaestiones et Solutiones in Genesim et Exodum
c) Historisch-exegetische Darstellung des Inhalts des Pentateuch u. insbes. der mosaischen
Gesetze
(hierher gehören: De opificio mundi, De Abrahamo, De Josepho, De decalogo, De
specialibus
legibus)
(3) Historisch-apologetische Schriften, z.B. De vita Mosis, De vita contemplativa, Contra Flaccum,
legatio ad Gaium.
Es scheint zweierlei Sitz im Leben für diese Schriften gegeben zu haben: Die wörtlichen
Auslegungen für das Lehrhaus, für Außenstehende und Anfänger bestimmt; die allegorische mehr
87
für die Fortgeschrittenen und Weisen im Synagogengottesdienst.
Die wörtliche Auslegung hält Philon für dumm. Für den Weisen ist der Literalsinn nur Vorstufe. Er
läßt ihn aber nicht ganz hinter sich. Der Wortsinn gehört dazu wie der Leib zur Seele. (migr 89-93)
7.3 Unterschiede in der Handhabung der allegorischen Methode
Die Theorie, die hinter der allegorischen Methode steht, ist die, daß der auszulegende Text implizit
die Wahrheit enthält, die durch die allegorische Methode ans Licht gebracht wird. Es besteht aber
ein Unterschied zwischen der Art, wie die Griechen an einen Text des Homer oder Hesiods
herangingen um ihn zu interpretieren, und der Art Philons, an die Schrift heranzugehen. Die
Griechen glaubten nicht, daß ihre Dichter göttliche Offenbarung boten, so wie das Philo von der
Bibel annimmt. Griechische Philosophen hielten das, was die Dichter boten, für eine eher niedere
und primitivere Form der Erkenntnis, weit unter dem Niveau dessen, was die Philosophen zu sagen
hatten. Auch wenn sie sich zum offiziellen Kult bekannten, taten sie es eher aus praktischen
Erwägungen, etwa um der Stabilität der gesellschaftlichen Verhältnisse willen. Für Philo dagegen
war der Pentateuch ein göttlich geoffenbartes Dokument. Die Erkenntnis, die er bietet, ist klarer
und genauer als philosophische Erkenntnis. Dort, wo er problematisch ist, liegt der Grund nur
darin, daß Gott für alle Menschen verständlich sein wollte.
Aber wenn die Wahrheit, die Gott in der Schrift offenbart, mit der Wahrheit der Philosophen
übereinstimmt, erhebt sich die Frage, wie die Philosophen zu dieser Wahrheit gekommen sind ohne
Hilfe durch Offenbarung. Philo stellt diese Frage nicht direkt, aber er beantwortet sie implizit; er
sagt, "Es ist der Himmel, der die Philosophie auf uns herabregnen ließ; es ist der menschliche
Geist, der sie aufgenommen hat, aber es ist die Schau, die seherische Gabe, die die beiden
zusammengebracht hat" (Spec III 34, 185).
Die Hauptstelle, auf der er dabei fußt, ist Plato, Tim 47a - Philosophie als Gabe der Götter. Aber
das "Es ist der Himmel, der die Philosophie auf uns herabregnete" ist von Philo selbst. Philosophie
ist ihm eine Gabe Gottes, gewissermaßen den Griechen geoffenbart von Gott, wie die Torah den
Juden geoffenbart worden ist. Alle Erkenntnis kommt von Gott.
7.4 Gotteserkenntnis bei Philo
Philo bietet einen vielfältigen, auf den ersten Blick sogar widersprüchlichen Befund. Stellen wir
vorläufig einmal Ausagen einander gegenüber:
Gott ist unerfaßbar, akatáleptos, (s.Index von H.Leisegang), selbst dem höchsten
Erkenntnisvermögen, dem Nus: oudè
Gegenteil findet sich: "einzig durch Vernunft erfaßbar" (Móne dianoía kataleptós spec leg I 20; vgl.
Plato Phaidr 247c: móno theatè nô - scil. he ousía). Dem entspricht das häufige Gottesprädikat
'intelligibel' (ho noetòs theós). Beide kontradiktorischen Gegensätze finden sich dann zusammen in
paradoxen Aussagen wie: "das unfaßbare Wesen Gottes erfassen", freilich mit dem Zusatz "soweit
Schauen Gottes, eine hórasis theoû
gibt, scheint zunächst unbedingt zu bejahen. Es gibt ja einen eigenen Typus des gottschauenden
Menschen: 'Israel', was dem Wortsinn nach 'der Gott Schauende' bedeuten soll, und nicht nur
Ehrenname der geschichtlichen Person Jakob oder der Gemeinschaft des jüdischen Volkes, sondern
nach der allegorischen Manier Philos die Charakteristik des zur Gnosis Vollendeten überhaupt ist.
Dieser schaut wirklich Gott, im Gegensatz zu den anderen, die nur mittelbar von ihm wissen, und
für dieses Schauen gibt es ein eigenes Organ: das 'Auge der Seele', "das klarste und lauterste und
von allen scharfsichtigste, dem allein es verstattet ist Gott zu schauen" (Confus ling 92); der Name
'Israel' wird auch speziell auf diesen bevorzugten Seelenteil bezogen. Solche Schau bildet den
Ehrenpreis des 'Asketen', seine Vollendung. (Praem et poen 27. 36.) Ein bestimmter, asketischer
Weg führt also zu ihr, "der vollkommene Weg, der zu Gott führt", "der Königsweg des schauenden
Menschentypus (horatikòn génos), genannt Israel", und sein Ziel ist ausgesprochenermaßen Gnosis.
(Deus immut 142f. he teleía hodós, he pròs theòn ágousa...)
88
Für den Begriff des 'Weges' in der Gnosis erinnere ich an die hagía hodós des Naassenerpsalms.
Der zu solcher Gnosis Gelangte gewinnt durch sie Anteil an Seinsbestimmungen der göttlichen
Natur, besonders an der göttlichen Wandellosigkeit, der stásis (De post Cai. 28 "Gott gibt dem
Weisen Anteil an seiner Natur, der Ruhe"), er wird (annäherungsweise) selber ein hestós, ein
'Stillstehender', wie Gott ein solcher im absoluten Sinne ist. In Verbindung mit dieser quietiven
Kennzeichnung begegnet auch die berühmte Reziprozitätsformel der Gnosis "Sehen und gesehen
werden" als Bestimmung der absoluten Situation (De somn II 226 - zu Gen 18,22 hestòs enópion
kyríou: "Wann anders vermöchte natürlicherweise die Vernunft stillzustehen und nicht mehr wie
auf einer Waage hin und her zu schwanken, als wenn sie unmittelbar Gott gegenüber ist, sehend
und gesehen?").
Auch die Vorstellung von einem Genusse (apólausis) dieser 'Ruhe in Gott', wohlbekannt aus der
späteren neuplatonischen und mönchischen Mystik, findet sich hier bereits (Fug et invent. 174
"nährend und genußreich ist allein die Ruhe in Gott - he en theô anápausis -, die das höchste Gut
erwirkt, den kampflosen Frieden"; migr. Abr 7 -photòs apólausis).
Und nun die Gegenliste: Der hórasis theou steht der strenge Begriff aóratos gegenüber. "Unmöglich
ist es Menschennatur, des Seienden Antlitz zu schauen" (Quaest. in Exod. p.72 Harris). Zwar, so
fährt Philo fort, ist Gott nicht etwa seiner Natur nach unsichtbar, "denn wer wäre sichtbarer als der,
der alles andere sichtbar schuf?" - ja, seine Natur ist eigentlich zum Geschautwerden bestimmt(!)
(pephykòs eis tò horâsthai - wozu man aber die entgegengesetzte Aussage de mut nom 9
vergleichen muß: mónou d' ekeínou mè pephykótos horasthai); nur wird er von keinem Menschen
erschaut: "Grund hierfür ist die Ohnmacht des Geschaffenen" (ibid.). "Auch das scharfäugigste
Sehen ist unvermögend, den Ungeschaffenen zu erblicken, so daß es eher erblinden würde als
schauen" - wegen des Übermaßes des göttlichen Lichtes. Haben wir doch, so heißt es mut nom 7 in
striktem Gegensatz zu der Lehre vom 'Auge der Seele', keinerlei Organ in uns, womit wir jenes
vorstellen (phantasiothênai) könnten, weder Sinneswahrnehmung noch Vernunft (noûs!).
Nur dazu gelangt der Mensch, "zu begreifen, daß Gott in seinem An-sich-sein (ho katà tò eînai
theós) allen unbegreiflich ist, und eben dies zu sehen, daß er unsichtbar ist", und diese (negative)
Erkenntnis ist "das höchste Gut", das ihm aus dem Streben nach der Erkenntnis Gottes erwächst (de
wird als "vermessene Torheit" verworfen (post Cai.168); es wird vor dem Unterfangen gewarnt:
"auf daß dich nicht das große Verlangen nach Unmöglichem verzehre" (Quaest in Exod. II 28, p.58
Harris). Selbst dem Moses verweigert Gott das Begehren als der Menschennatur nicht zustehend:
"Was du verlangst, ist keinem geschaffenen Wesen gemäß... Daher erkenne dich selbst, laß dich
nicht von einem Streben und Begehren fortreißen, das deine Kräfte übersteigt, und nicht durch eine
Sehnsucht nach Unerreichbarem in schwindelnde Höhen entrücken, denn von dem, was du
erreichen kannst, soll dir nichts versagt bleiben." (spec leg I 43f.)
Diese Zurückweisung in die Schranken des Menschlichen besagt nicht nur, daß der Mensch nicht
aus eigener Kraft Gott erkennen kann - das versteht sich bei Philo ohnehin und ist in die Bitte des
Moses bereits eingeschlossen, der Gott anfleht, sich ihm zu offenbaren -, sondern, daß der Mensch
auch einer Selbstoffenbarung Gottes nicht gewachsen wäre. Die Einschränkung auf die
Möglichkeiten des Menschen aber verweist auf einen Weg, der an vielen Stellen näher ausgeführt
wird: die mittelbare Erkenntnis Gottes aus seinen Werken, aus seinen wirkenden, nach zahlreichen
Funktionen gegliederten 'Kräften' (dynámeis), aus seinem weltdurchwaltenden 'Logos'; aber nicht
die seiner selbst aus ihm selbst.
Es ist dies eine Anschauung Gottes hos dià katóptrou (de decal 105 "Gleichsam wie durch einen
Spiegel sieht der Geist Gott in seinem Wirken, in seiner welterschaffenden und welterhaltenden
Tätigkeit".). So heißt es in Übereinstimmung mit einem verbreiteten Sprachgebrauch der
hellenistischen Mystik. Bezüglich der Gottheit an sich zeigt diese Art der Erkenntnis aber nur das
bloße "Daß" ihres Seins, nicht ihr Wesen, das unerkannt bleibt.
So scheint der zuerst gezeichneten Gedankenreihe, die sich zur absoluten Schau bekennt, eine
ebenso geschlossene einfach gegenüberzustehen, die sie verwirft. Beide durchdringen sich in einer
89
dritten Kategorie von Aussagen in eigentümlich schillernder Weise: Jene "andere Sehnsucht" und
jenes "bessere Verlangen" (Opif mundi 71), Gott unmittelbar selber zu schauen, an den genannten
Stellen als dem Menschen unangemessen, ja als vermessen, verworfen, - wird an ebenso
eindringlichen anderen trotz seiner Aussichtslosigkeit überaus gerühmt, von Gott selber als edelste
Sehnsucht des Menschen gnädig aufgenommen; und immer wieder fordert Philo, im Widerspruch
mit sich selbst, gerade zu dieser unmöglichen Bemühung auf - mit wechselnder Begründung: sei es
um des Selbstwertes des Strebens willen, sei es um der immer noch wertvollen positiven
Erkenntnisse willen, die dem Strebenden auf dem Weg zum Unerreichbaren als Annäherungserfolg
erwachsen, sei es schließlich gerade um der negativen End-Einsicht willen, die ja indirekt sowohl
über das überschwengliche Wesen Gottes, wie über das eingeschränkte des Menschen eine
Erkenntnis aus der Negativität her vermittelt. Alle drei Begründungen für solchen Versuch der
Gotteserkenntnis finden sich nebeneinander; die für Philo charakteristischste ist die paradoxe aus
der Vergeblichkeit. - Ein Schritt weiter und dem besseren Verlangen entspricht doch die
tatsächliche Möglichkeit einer - zwar nur dem Erwählten zugestandenen - unmittelbaren
Gotteserkenntnis.
Ich habe nur einige Beispiele offenkundiger Widersprüche aufgezählt, um auf die innere Antinomik
eingehen zu können, die Philos Zwischenstellung zwischen Judentum, Griechentum und Gnosis
bezeichnet.
7.5 Transzendenz und Immanenz Gottes
Das Sinnkomplement aller Aussagen über die Gotteserkenntnis ist der Gottesbegriff.
Einerseits ist Gott völlig eigenschaftslos (ápoios), jede Beilegung bestimmter Eigenschaften (auch
z.B. der Güte) ist als Begrenzung unstatthaft, nur absolutes Sein jenseits aller Differenzen ist ihm
zuzusprechen (und sonst nur negative Bestimmungen), - und zugleich tritt unaufhörlich eine Fülle
positiver Prädikate auf, die einen differenzierten Reichtum von Eigenschaften Gottes in seinem
Walten bezeichnen (Herr, Vater, Lehrer, Lenker, Richter, Wohltäter usw). Inbegriff all dieser
Funktionen oder ihr zusammenfassendes Prinzip ist der Logos. der aus sich herausgetretene, in
Schaffung und Erhaltung des Alls sich manifestierende und als seine "Vernunft" erkennbare Gott, das, was an Gott überhaupt erkennbar ist; man könnte sagen: die hypostasierte Erkennbarkeit
Gottes; mit Philos eigenen Worten: "der zweite Gott", Einheitspol all jener Prädikate, - nicht aber
Gott selbst, der vielmehr prò tou lógou ist (de somn I 65). Diesem selbst verbleibt nur das Prädikat
des völlig bestimmungslosen Seins (ho theòs mónos en tô eînai hyphésteken).
'der Seiende' oder noch allgemeiner 'das Seiende', tó ón, bei Philo geradezu nomen proprium für
Gott. Philo konnte sich für diese ganze Konstruktion auf die biblische Dornbuschszene berufen, in
der Gott selbst jeden differenzierenden Namen von sich abweist und dem Tetragramma „JHWH“
die allgemeinste Deutung gibt, die überhaupt Sprache werden kann: Seiend. - Das gilt allerdings
erst für die griechische Bibel! Auch die jüdische Gepflogenheit, den Gottesnamen nicht
auszusprechen und ihn im Gebrauch der Texte zu ersetzen, konnte die Idee einer Trennung des
verborgenen, unnennbaren Gottes von dem in Prädikationen faßbaren begünstigen oder mindestens
exegetisch erleichtern. Schwerlich aber kann dort der Ursprung zu suchen sein; dieser ist vielmehr
im letzten Grund die Gnosis als ein neues religiöses Prinzip eigenen Ursprungs.
Gott verbleibt neben dem Prädikat des bestimmungslosen Seins eine Schar negativer Prädikate:
unnennbar, unsagbar, unbegrenzbar, unsichtbar, unbegreifbar; auch letztlich negativer Art sind die
Einheit, die Ewigkeit und das Verharren Gottes.
Dem stehen auf der Seite der dynámeis die zahlreichen, nach allen denkbaren Funktionen
differenzierten, positiven Prädikate gegenüber, auf die wir hier nicht weiter einzugehen brauchen.
Mit dem Problem der Gottesprädikate hängt also das Problem der Gotteserkenntnis engstens
zusammen; genauer die Frage: natürliche Erkenntnis der Gottheit oder mystische, "gnostische"
90
gnôsis theoû. Diese Frage nehmen wir uns jetzt vor.
7.6 Die Wurzeln des Philonischen Agnostizismus
Über alle aufgezählten Widersprüche hinweg können wir zunächst eindeutig feststellen:
Unmittelbare Schau des göttlichen Wesens ist der Idee nach immer bei Philo die höchste Spitze
geistiger Existenz und so das letzte Ziel religiösen Strebens. das trifft grundsätzlich auch da zu, wo
er andere, bescheidenere Begriffe von Gotteserkenntnis verwendet - d.h. sich mit ihnen begnügt.
Nicht eindeutig dagegen ist seine Stellung zu der Möglichkeit einer derartigen Erfüllung.
Als Jude ist Philo beherrscht von dem Grundgefühl radikalen Abstands zwischen Gott und Kreatur.
demgemäß muß er die Möglichkeit einer uneingeschränkten Erkenntnis des göttlichen Wesens, die
eine Angemessenheit des menschlichen voraussetzen würde, entschieden verneinen. <Das ist schon
der Standpunkt der Bibel, ohne daß dort die Frage in ihrer Allgemeinheit gestellt worden wäre.
Auch der biblische Gott entzieht sich jeder unmittelbaren Anschauung seines eigentlichen Seins,
und in dem einzigen Fall, wo eine derartige Aspiration überhaupt erhoben worden ist, weist er sie
zurück: Exod. 33,18ff.>
Mit Vorliebe greift Philo auf diese Bitte des Mose "Offenbare dich mir, daß ich dich sehe und
erkenne" (emphánisón moi sautón, gnostôs ído se - so Philo nach LXX; "Laß mich deine
Herrlichkeit schauen", Masoret.Text.) und auf Gottes abschlägige Antwort zurück.
Im Judentum ist es kein erkenntnistheoretischer Grund, der solche Unmöglichkeit bedingt, sodern
die ungeheure Machtüberlegenheit des göttlichen Seins über das menschliche, die jede Näherung in
einem Anschauen im Interesse des Menschen selbst, nicht nur in dem der Majestät Gottes,
verbietet: "Von Angesicht kannst du mich nicht schauen, denn kein Mensch schaut mich und bleibt
am Leben" (v.20).
Die tiefe Scheu vor einer letzten, abstandstilgenden Schau der Gottheit, der Glaube, daß dem
Menschen solches nicht ziemt und Gott selbst sich dem versagt, ist die eine Wurzel des typisch
philonischen Agnostizismus in der Frage der gnôsis theoû und trennt ihn von der Schauzuversicht
aller sonstigen spätantiken Frömmigkeit, die in ihrer Identitätsmystik ja das gerade Gegenteil von
jüdisch-kreatürlichem Abstandsgefühl vertritt. Im Gegensatz zur Bibel aber, der schon die Tendenz
als solche fremd ist, bedeutet dies für Philo, dessen wesentliche Sehnsucht sie darstellt, einen
schmerzlichen Verzicht.
Zu demselben Ergebnis wie sein Judentum mußte von ganz anderen, gewissermaßen
erkenntnistheoretischen Voraussetzungen her auch sein Platonismus kommen, wenn er den
Grundsatz der Ideenerkenntnis auf das völlig entgrenzte, formfremde Wesen der gnostischen
Gottheit bezieht: die gnostische Transzendenz bedeutet ja nicht einfach lokale Abgesondertheit
Gottes vom Kosmos, sondern eine Weltlosigkeit des Wesens, die auch jeder weltgegenständlichen
Anschaubarkeit und Bestimmbarkeit entzogen ist. Nach den Gesichtspunkten eines sich selbst
treuen Platonismus kann das nur einen strengen Agnostizismus übrig lassen, und insofern ist der
gnostische Gott in jedem Fall ein ágnostos theós, unbeschadet der ganz anders gearteten
mystischen Gnosis. Ist jenes Wesen "besser als das Gute, ursprünglicher als die Einheit und reiner
besser als das Gute an sich - autò tò agathón - und das Schöne an sich"), so ist das gleichsam der
phänomenologische Grund, warum Gott für jedes menschliche theoreîn unerreichbar, streng
genommen überhaupt gegenstandsunfähig ist. es ist die Transzendierung Gottes über alle die
Seinsbestimmungen hinaus, die dem Gegenstand eines menschlichen Erkennens als solchem
zukommen müssen und auf die es (nach griechischer Anschauung) auch letztlich bezogen ist. Gott
ist "jenseits" dieser ontologischen Bestimmungen, d.h. er ist über sie erhaben; an Stelle dieser
überbietenden Ausdrucksweise kann man aber auch negativ sagen: er besitzt nicht die durch sie
bezeichneten Eigenschaften des Seins überhaupt; er ist ihrer gänzlich entblößt. Natürlich wird
zunächst die via eminentiae der direkten via negationis vorgezogen; der innerste Sinn ist aber schon
91
derselbe. Wenn Philo Gott trotzdem tò ón nennt, so ist das, wenn man griechisches
Seinsverständnis zugrundelegt, nur noch eine Metapher, kein strenger Begriff der Ontologie mehr.
Die spätere Mystik scheute dann auch nicht davor zurück, Gott als anoúsios oder geradezu als den
Nichtseienden (Basilides) zu bezeichnen. Die Frage ist aber, ob diese Transzendenz des
Gottesbegriffs "nichts anderes ist, als die Form, die der gnostische akosmische Dualismus auf dem
Boden hellenistischer Philosophie annehmen mußte." (H.Jonas)
7.7 Mittelbare Gotteserkenntnis
Wir haben gesehen, daß Judentum und Platonismus gleicherweise dazu führen, die Erkennbarkeit
Gottes zu verneinen. Derselbe Platonismus gibt auch die Möglichkeit einer eingeschränkten
Gotteserkenntnis her: durch die Sonderung von Dasein und Wesen. Ist auch das tí estin, die ousía
Gottes dem Menschen nicht erkennbar, so doch das hóti, die hyparxis; also zwar nicht was er ist,
aber daß er ist -und dies letztere kann wirklich Gegenstand einer Erkenntnis, nicht nur eines
Glaubens, werden. Diese Scheidung von Essenz und Existenz beherrscht Philos Begriff einer
menschenmöglichen Gotteserkenntnis - mit dem Vorbehalt: die Scheidung entstammt dem
ontologischen Bereich der Anschauungserkenntnis (Objekterkenntnis), und reicht nur so weit wie
dieser. Sie verliert sich, wo er einmal verlassen werden sollte, d.h. auf jener mystischen Stufe, wo
überhaupt das Bild des Sehgegenstandes und eines gegenständlichen Anschauungsbezugs
preisgegeben wird und die substantielle Unio an die Stelle der intentionalen Subjekt-ObjektBeziehung tritt. Das würde aber in der Sprache des griechischen Erkenntnisbegriffs nicht mehr
"Erkenntnis" zu nennen sein, nicht mehr "Schau", welcher immer das gegenständliche eidos als die
abgelöste Essenz (eidos choristón) entspricht, sondern unmittelbares Angefülltwerden von der
Wirklichkeit Gottes selber, in der Essenz und Existenz nicht mehr oder noch nicht geschieden
sind.118
es im Anschluß an Deut. 32,39 "Sehet, sehet, daß ich bin" heißt:
"Er sagt nicht 'Sehet mich' - denn unmöglich ist es, daß Gott, wie er an sich ist (tòn katà tò einai
theón) überhaupt vom Geschaffenen erkannt werde (katanoethênai), sondern 'Sehet, daß ich bin',
d.h. schaut mein Dasein (hyparxis). Denn es ist genug, mit menschlichem Vernunftschluß (logismô)
In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß die Begriffe Glauben und
Wissen nur einer bestimmten Gruppe religiöser Traditionen eigen sind und daß es
keinesfalls gewiß ist, daß diese Begriffe dem Selbstverstehen anderer
Religionen angemessen sind. In den indischen Traditionen des Advaita Vedanta
und der buddhistischen Philosophie ist das Wissen im höchsten Sinn direkt und
unvermittelt, eine erfahrene Wirklichkeit, in der der Dualismus zwischen dem
erkennenden Subjekt und dem erkannten Objekt verschwindet. Religion ist "ein
Pfeil der Sehnsucht nach dem anderen Ufer", der auf seinem Weg zur Wahrheit
ist, und alle seine Methoden, die Wahrheit zu symbolisieren, und all sein
Glauben,
alle
Begriffe,
durch
die
er
sich
Rechenschaft
über
seine
Wirklichkeitsbezogenheit abzulegen versucht, die heilige Schrift oder die
Offenbarung, die ihm Botschaft jener Wirklichkeit bringt, sogar das ihn auf
dieser Reise begleitende Gefühl des Heiligen, seine Verehrung und sein Gebet:
all das muß wegfallen, muß weggelassen werden wie ein zerbrochenes Spielzeug"
(Rilke, Duineser Elegien. Die erste Elegie). Der amerikanische religiöse Denker
Robert Bellah behauptet, daß "the confusion between belief and religion, which
is found only in the religious traditions deeply influenced by Greek thought Christianity and Islam - and is almost completely missing in China and India,
involves a fundamental missapprehension of the nature of religion." (Beyond
Belief, N.Y. Harper & Row, 1970, S.220.) Vgl. Jarava L. Mehta, Jenseits von
Glauben und Wissen,in: Transzendenz und Immanenz. Philosophie und Theologie in
der veränderten Welt. Tagungsbeiträge eines Symposiums, Hrsg.v.Dietrich
Papenfuss u. Jürgen Söring, Stuttgart etc. Kohlhammer 1977. S.119
118
92
bis zu der Erkenntnis vorzuschreiten, daß ist und besteht die Ursache des Alls; darüber hinaus aber
zu gelangen trachten und über Wesen und Beschaffenheit nachforschen, wäre vermessene Torheit.
Denn nicht einmal dem allweisen Moses gewährte Gott dies, obwohl er unzählige Bitten an ihn
richtete, sondern der Bescheid ward ihm: 'Meinen Rücken wirst du sehen, mein Antlitz aber nicht'
(Exod. 33,23); das bedeutet aber: alles was nach Gott kommt, ist dem Trefflichen erfaßbar, er allein
aber unerfaßbar, nämlich unerfaßbar dem direkten, unmittelbaren Zugang (ek tês antkrys kai kath'
euthuorían prosbolês - der direkten Objektintention) - denn durch einen solchen würde kundgetan,
wie beschaffen er ist -, erfaßbar aber aus den nachfolgenden und begleitenden Kräften; denn diese
stellen nicht sein Wesen, wohl aber sein Bestehen aus dem Gewirkten vor ihn (den Forschenden)
hin."
Hier handelt es sich also um kosmologische Gotteserkenntnis, und insbesondere die Argumente des
physiko-theologischen Gottesbeweises der Stoa werden von Philo bei zahlreichen Gelegenheiten
ausführlich herangezogen: die Wohlgeordnetheit und Vollkommenheit des Kosmos, die einen
Baumeister voraussetzt, der Vergleich des Kosmos mit einem großen Hauswesen oder einer pólis,
die kosmische prónoia usw.
An dieser Stelle ist an die Aktualität des Gedankens der mittelbaren Gotteserkenntnis zu erinnern.
Es gibt sogar in der von Karl Rahner und Heinrich Schlier begründeten und von Heinrich Fries und
Rudolf Schnackenburg herausgegebenen Reihe der Quaestiones disputatae den Band 125 mit dem
Titel: "Kann man Gott aus der Natur erkennen?" (Herder Freiburg etc. 1990) mit dem Untertitel:
"Evolution als Offenbarung". Sigurd Martin Daecke schrebt in der Einführung (S.9):
"Kann man Gott aus der Natur erkennen? Diese Frage scheint auf den ersten Blick nicht aktuell,
nicht mehr unsere heutige Frage zu sein. Ein großer Teil der philosophischen und theologischen
Tradition hat sie (...) in mehr oder weniger differenzierter Weise mit "ja" beantwortet. Und die
Diskussion über diese Frage schien bereits 1870 definitiv abgeschlossen worden zu sein, als
einerseits das I. Vatikanische Konzil - diese Überlieferung verbindlich machend - konstatierte:
"Gott, aller Dinge Grund und Ziel, kann mit dem natürlichen Licht der menschlichen Vernunft aus
den geschaffenen Dingen mit Gewißheit erkannt werden" - und als andererseits etwa zur gleichen
Zeit der methodische und weithin auch materiale Atheismus der beginnenden modernen
Naturwissenschaft allein schon die Frage für illegitim erklärte, sofern nicht der weltanschauliche
Atheismus vieler Naturwissenschaftler aus der Naturerkenntnis sogar die Nichtexistenz Gottes
postulierte. Die Frage "Kann man Gott aus der Natur erkennen?" schien für beide Seiten also ein
für allemal beantwortet zu sein, mit "Ja" oder aber mit "Nein"."
Die evangelische Theologie hielt sich aus diesem Streit weitgehend heraus und stellte sich die
Frage erst gar nicht. Die Frage nach der Erkenntnis Gottes konzentrierte sich im Protestantismus
sowieso auf die Wortoffenbarung Gottes in der Heiligen Schrift, in Jesus Christus. Und auch im
Gespräch mit der Philosophie stellte sich die Frage einer "natürlichen Gotteserkenntnis" nicht.
Denn diejenige, auf die die liberale Theologie sich stützte, war ebenso spiritualistisch,
personalistisch und subjektivistisch orientiert.
Im 20.Jh. wurde die natürliche Theologie dann einerseits durch Karl Barth tabuisiert, andererseits
durch Rudolf Bultmann und Friedrich Gogarten eliminiert, indem Gott "unwelthaft" und der
Glaube "entweltlicht" wurde und "der Mensch zwischen Gott und Welt" (F.Gogarten) existierte: im
Glauben diente er Gott, mit der Vernunft beherrschte er die Welt. Der Weg zu Gott und der Weg zur
Natur führten gleichsam in entgegengesetzte Richtungen, und jede Synthese von Glauben und
Wissen, von Gott und Natur, galt als illegitime "Weltanschauung" und - im negativen Sinne "religiöse" Ideologie. Für Gogartens "Säkularisierungsthese" bedeutete jede Verquickung von Gott
und Natur eine Vergöttlichung der Natur und damit "Säkularismus", während - so hieß es - der
christliche Schöpfungsglaube die "Säkularität", die bloße, pure Weltlichkeit der Natur entdeckt
habe, einer Schöpfung, über der der Schöpfer thront und über die der Mensch herrscht.
93
Evangelische Naturwissenschaftler bis hin zu Carl Friedrich von Weizsäcker machten sich damals
diese "Säkularisierungsthese" gerne zu eigen und empfanden sie als befreiend - ließen sich doch der
methodische Atheismus der neuzeitlichen Naturwissenschaft und ihr Selbstverständnis als
wertneutral mit dem christlichen Gottes- und Schöpfungsglauben bequem harmonisieren, wenn auf
beiden Seiten die Natur als rein weltlich verstanden und in ihr nichts Göttliches gefunden und
erkannt wird. Kann man Gott aus der Natur erkennen? Naturwissenschaftler und evangelische
Theologen, für die übereinstimmend die weltliche Natur Objekt kritischen Forschens und nicht
ehrfürchtig staunenden Glaubens war, antworteten einmütig: nein!
Doch in dieser Trennung und Entgegensetzung von Gott und Natur sah Pierre Teilhard de Chardin
nicht nur einen die Wirklichkeit spaltenden Dualismus, sondern auch eine das Bewußtsein des
christlichen Naturwissenschaftlers und des die Natur bejahenden Christen spaltende
"Schizophrenie". Für ihn führen die Wege zu Gott und zur Natur nicht in entgegengesetzte
Richtungen, sondern der Weg zu Gott führt eben durch die Erkenntnis und Gestaltung der Natur
hindurch; Gott ist nur aus der Natur und durch sie hindurch zu erkennen: Durch "Erziehung der
Augen" möchte Teilhard "lehren, Gott überall zu sehen: ihn im Geheimsten, im Konsistentesten, im
Endgültigsten der Welt zu sehen". Gott erwartet uns in den Dingen und kommt uns in ihnen
entgegen. "Kraft der Schöpfung und mehr noch der Inkarnation ist hier unten nichts profan für den,
der zu sehen versteht... Alles ist im Gegenteil geheiligt." Und genau im Gegensatz zum profanen
Verständnis der Natur, nach dem sie undurchsichtig für Gott ist, betont Teilhard "nicht das
Erscheinen, sondern das Durchscheinen Gottes im Universum... Nicht Deine Epiphanie, Jesus,
sondern Deine Diaphanie"119 Kann man Gott aus der Natur erkennen? Teilhard antwortet also
eindeutig: ja! Und da er in seinem späteren Werk die Natur als in Evolution begriffene Wirklichkeit
versteht, sieht er, mit der Formulierung Carsten Breschs, die "Evolution als Offenbarung" Gottes den er allerdings sehr persönlich mit "Jesus" anredet, weil er ihn aus der Wortoffenbarung und
durch die Inkarnation kennt.
Doch zurück zu Philo Alexandrinus.
7.8 Unmittelbare Gotteserkenntnis
Es gibt bemerkenswerte Stellen, an denen Philo selber den kosmologischen Zugang zum Dasein
Gottes als minderen und überbietbaren kennzeichnet und vom Glanz anderer Möglichkeiten
verdunkelt sein läßt, daß es fast einer Verwerfung dieses vulgären Weges "von unten nach oben"
gleichkommt. Fast gnostische Töne erklingen, wenn Philo im Hinblick auf den besseren Weg die
grundsätzliche Untauglichkeit der Welt überhaupt feststellt, den eigentlichen Zugang zu Gott zu
gewähren. Der vermittelten Erkenntnis stellt er eine unmittelbare gegenüber, manchmal mit
deutlich polemischer Wendung gegen die stoische Methode der Gotteserkenntnis, welche es ja
eigentlich ist, die hier überboten werden soll. Daß aber schließlich doch beide, die eine unter der
anderen, bestehen gelassen werden, beweist wieder die Kompromißstellung Philons.
Z.B. in Leg.Alleg. III 97ff. <Handout 7> beginnt Philo mit der Schilderung der kosmologischen
Gotteserkenntnis und führt sie als die Lehre von Philosophen ein, die als dokoûntes árista
philosopheîn (ironisch?) bezeichnet werden; zweifellos sind die Stoiker gemeint. Nach der
"Die derart schlußfolgern, erfassen Gott nur durch seinen Schatten, indem sie aus den Werken den
Meister erkennen. Es gibt aber eine vollkommenere und reinere Vernunft, die in die großen
Mysterien eingeweiht ist: diese erkennt nicht aus den gewordenen Dingen die Ursache, wie aus
einem Schatten das Bleibende, sondern sie empfängt, über alles Gewordene hinwegblickend
(hyperkypsas), einen deutlichen Eindruck (unmittelbar) vom Ungewordenen selbst, sodaß sie ihn
von ihm her erfaßt... Von solcher Art ist Moses, der spricht: 'Offenbare dich mir, daß ich dich
P.Teilhard de Chardin, das göttliche Milieu, Olten, Freiburg 1969 (7.Aufl.),
21 f., 51 f., 156.
119
94
deutlich sehe'. Denn nicht durch Himmel oder Erde oder Wasser oder Luft oder überhaupt
irgendetwas aus der Schöpfung mögest du mir offenbart werden und in keinem anderen Spiegel
will ich dein Bild betrachten (katoptrisaímen tèn sèn idéan) als in dir, der Gottheit selbst..."
Vgl. De Abr. 119ff. (zu Gen 18 - Besuch der drei Männer bei Abraham). Vgl. auch de praem et
kontrastiert werden.
Das ist eine der schönsten Umschreibungen für eine Gotteserfassung, die gegenüber aller
dinglichen eine Erkenntnis völlig eigener Art darstellt und in einer erst seit dem Einbruch der
orientalischen Religionen möglich gewordenen Weise von aller Anknüpfung an die Gegebenheiten
der Welt absehen will. Das ist zwar noch nicht streng dualistischer Akosmismus, aber schon hat die
Transzendenz Gottes, die Gott und Natur einander fremd werden ließ, für den Frommen eigene
Weisen des Übersprungs über alle Erscheinungen auszubilden begonnen und eine eigene Erfüllung
zum Ziel gesetzt, die zur Weltgegebenheit grundsätzlich unbezüglich ist. Der höhere Weg, der hier
angezeigt und für Auserwählte auch zugestanden ist, Gott in ihm allein zu erkennen, schließt
zugleich ein, daß Gott dieses Erkennen ermöglichen muß, dieses also eigentlich ein Handeln Gottes
und nicht des Menschen darstellt: wiederholt wird die Moses-Bitte "Offenbare dich mir" dahin
interpretiert, daß Gott selbst sich von sich her, kraft eigener Zuwendung, dem Menschen zeigen
muß, so daß des letzteren Selbsttätigkeit, die sonst seinem Erkennen eignet, hier ausscheidet. (z.B.
de post Cai. 16. In gleichem Sinn wird Gen.12,7 "Gott erschien dem Abraham" gedeutet, de Abr
79f.: "...Gott wandte sich nicht ab, sondern ging der Seele entgegen und zeigte sein Wesen, soviel
davon dem Schauenden zu sehen möglich war. Darum heißt es nicht, daß der Weise Gott sah <eîde
tòn theón>, sondern, daß Gott dem Weisen 'erschien' <óphthe tô sophô>. Denn niemandem wäre es
möglich, von sich aus den wahrhaft Seienden zu erfassen, wenn jener sich nicht selbst zeigte und
offenbarte.")
Dann handelt es sich aber um einen grundsätzlich anderen Typus des Erkennens als den
theoretischen und gegenständlichen überhaupt; und allem menschlich-tätigen Erschließen, das an
den Vermittlungen des Gegebenen fortscheitet, stellt sich ein unmittelbarer, genuin religiöser
Zugang aus göttlichem Tun selber gegenüber, der in seinem ganzen Umfang mit jenem nichts
gemein hat.
7.9 Die zwei Grundmöglichkeiten an sich: Pistis (Glaube) und Gnosis
Ungeachtet der Einschränkungen, die Philo selbst anzubringen für nötig hält, ist in der Idee einer
Erkenntnis Gottes durch sein eigenes Licht, unter Ausschluß aller Weltvermittlungen, ein
wesenhafter Zugang zu Gott bezeichnet, der nur durch die Auslegung im Sinne der
Gegenstandserkenntnis und des Sehvorrangs nicht zu seiner eigentlichen Geltung kommt. Welchen
Bezug stiftet ein solcher unmittelbarer Zugang, wenn die bloße Daß-Erkenntnis den wirklichen
Raum des Verhältnisses bei weitem nicht ausfüllt, und andererseits die ekstatische Einigung (die
absolute gnôsis theoû), die den Abstand des Menschen zu Gott tilgt, eben um der geschöpflichen
Grenzen willen nicht zugelassen wird?
Eine zweitausendjährige abendländische Tradition legt uns die Antwort sehr nahe: es ist der
Glaube, der so wenig wie die mystische Schau durch Vernunftschluß vermittelt ist, wie diese
unmittelbar zu Gott ist, ihn nur durch ihn und dank ihm hat - aber seinem Sinne nach gar nicht auf
ein Sehen entworfen ist und Gott nicht in der Gegenstandsrichtung intendiert, vielmehr ihn hörend
vernimmt und ihm im Sein gehörig ist. Der sehenden steht gleichursprünglich eine hörende
Ausrichtung gegenüber: der Glaube setzt Gott nicht vor sich als Ziel seines Strebens, sondern weiß
ihn hinter sich und hat "vor" ihm zu sein - inmitten der Welt der Dinge; und ist doch ein
vollgültiges Sein zu Gott, das Gott nur durch Gott, kraft seiner Selbstbekundung hat. Wir stehen
hier an dem Punkt, wo sich die Möglichkeiten des neuen jenseitigen, entweltlichten
Gottesverständnisses in die zwei Hauptäste gabeln: dem en eídei steht das peripateîn en pístei
gegenüber. Jenes ist die direkte mystische, dieses die indirekte existentielle Form der Realisierung
95
der Entweltlichung, die aber ebenfalls um Gott aus seinem eigenen Licht weiß und nicht erst aus
den Anzeigen der Welt. Verglichen mit jener, die auf Gott unmittelbar als Inhalt gerichtet ist,
scheint sie (die gar nicht auf Gott gerichtet, sondern von ihm her gerichtet ist) freilich vermittelt:
vermittelt aber ist sie durch das Faktum der menschlichen Geschöpflichkeit als solcher, die sie
nicht überspringen, sondern durchvollziehen will.
Im christlichen Glaubensbegriff zeigt sich diese "Vermittlung" darin, daß Inhalt des Glaubens nicht
das Sein Gottes als ein Wesen an sich ist (dann wäre der Glaube nur eine ungenügende Erkennntis),
sondern Wille und Heilshandeln Gottes für den Menschen. Woran geglaubt wird, ist nicht
eigentlich Gott, sondern Gottes Sohn und seine Mittlertat mit der in ihr beschlossenen Forderung
an menschliches Sein-Sollen. D.h. aber: Inhalt des Glaubens ist überhaupt kein Sein, sondern ein
Geschehen und dessen Anspruch, dem mit einem Selbstgeschehen geantwortet wird, und er selbst
ist nicht Erkennen, sondern eben dies Antwortgeschehen: Gerufensein, Hören, Gehorchen,
Nachfolge - zur Jenseitigkeit in der Welt. Die dogmatischen Bemühungen der alten Kirche um die
"Substanz" Gottes, seiner Prsonen usw., haben diesen ursprünglichen Ansatz aus dem Auge
verloren.
Hans Jonas: "Gnosis und Pistis stellen sich uns als die beiden großen Daseinsbildungen dar, die
sich auf dem gemeinsamen Boden des akosmischen Grunderlebnisses als dessen praktische
Entsprechungen und Vollziehungsmöglichkeiten entwickeln konnten: Die Gnosis, auf "Sehen" hin
entworfen, als die zu Ende geführte Objektivation, für welche dem Mythos entsprechend auch das
Unweltliche objektiv ist, Gott mit all seiner Negativität in der Gegenstandsrichtung für die
ekstatische Schau bereit liegt; die Pistis, auf "Hören" entworfen, als Existentialisierung des
gleichen Akosmismus in einer vorläufigen Innerweltlichkeit."
<Vielleicht liegt hier aber ein grundsätzliches Mißverständnis vor: das Mißverständnis der
hellenischen Welt gegenüber der biblischen Religiosität: die lebendige, personale Gottesbeziehung
des jüdischen Menschen, wird, weil sie eine Beziehung über den unendlichen Abstand zwischen
Gott und Geschöpf hinweg ist, als akosmisch als Entweltlichung mißverstanden, kann vielleicht gar
nicht anders als so mißverstanden werden. Vielleicht findet eine latent schon vorhanden gewesene
Weltfeindlichkeit hier nur ihre Bestätigung?>
Philon hat - und darin scheint das originalste Element seiner Frömmigkeit zu liegen - die
Überzeugung von dem radikalen, fast feindlichen Gegensatz zwischen menschlich-irdischkosmischem ('psychischem') und göttlich-transzendentem ('pneumatischem') Sein, und davon, daß
jenes sich preisgeben muß, damit dieses anwesend sein kann. Das ist ein auf die Gnosis
vorausweisendes Motiv. Lassen wir diese philonische Gestalt des Gottsuchens gerade in ihrer
Ungeschiedenheit von mystisch-realer und ethisch-ideeller Verwirklichung noch einmal zu Wort
kommen:
"Wenn du Gott suchst, o Vernunft, so suche ihn, indem du zuvor aus dir selbst heraustrittst.
Verbleibst du aber in körperlicher Schwere oder im Dünkel der Vernunft, so verhältst du dich nicht
gottsuchend, auch wenn du dir den Anschein gibst zu suchen. Ob du aber bei deiner Suche Gott
finden wirst, ist ungewiß, denn vielen hat er sich nicht offenbart und ihr Streben gelangte nie ans
Ziel. Es genügt aber zu einer Teilhabe am Guten schon das bloße Suchen allein, denn immer
erfreut der Drang zum Schönen, auch wenn er das Ziel nicht erreicht, im voraus die, die ihn
betätigen. - So flüchtet also der Schlechte, der die Tugend flieht und sich vor Gott versteckt, zum
kraftlosen Beistand seines eigenen Nus; der Gute dagegen entrinnt sich selbst, wendet sich zu der
Erkenntnis des Einen und siegt in diesem schönsten aller Wettkämpfe" (Leg all III 47f. <Handout
8>).
Wir sehen an dieser Stelle, wie Denkmotive der Skepsis in religiöses Schrifttum integriert werden
können, ja für dieses sogar eine wesentliche Bereicherung darstellen können.
96
Wir sehen auch das Motiv der theoretischen Neugierde ohne Erfüllung, als Keim des
wissenschaftlichen Fortschrittsglaubens.
8. Plotins Schrift "Gegen die Gnostiker" II 9 (33)
8.1 Zur Person und zur Stellung in der Geistesgeschichte
Nach Philon von Alexandrien, der uns als Beispiel dafür dienen kann, wie weitgehend Hans Jonas
recht gesehen hat, wenn er von einem gnostischen Zeitalter sprach, nach der frappierenden
Konvergenz der hellenistischen Vorstellungswelt, soll an einem anderen Beispiel gezeigt werden,
daß man die Unterschiede bei aller Ähnlichkeit nicht außerachtlassen darf. Wir sehen uns einen
Text von Plotin, einem anderen Großen der Spätantike, an. Mit ihm befinden wir uns wieder im
Bereich der hellenisch-griechischen Kultur.120
Erst im 20. Jahrhundert hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß Plotin (unter den erhaltenen
griechischen Philosophen) nach den Klassikern Plato und Aristoteles der bedeutendste Denker und
der folgenreichste Anreger gewesen ist. Für frühere Generationen waren unter den Philosophen der
römischen Kaiserzeit die bekanntesten Epiktet aus dem 1. und Marc Aurel aus dem 2.Jh., beide
Anhänger der stoischen Lehre. Plotin, der Platoniker aus dem 3.Jh. galt als dunkel oder
phantastisch und wurde wenig beachtet.
Plotin lebte von etwa 204 bis 270 n.Chr. Heimat und Herkunft sind unbekannt, da er sie
geheimhielt. Erst mit 28 Jahren wendet er sich der Philosophie zu und findet nach vorangehenden
Enttäuschungen in Alexandreia einen Lehrer in Ammonios Sakkas, von dem er sagt: toûton
ezétoun. Mit ihm lebt er in intensivem Austausch und in angestrengter geistiger Arbeit, im Sinn des
platonischen "gemeinsamen Philosophierens", 11 Jahre lang. Daran schließt sich eine
Bildungsreise, die fast letal ausgeht: Er schließt sich nämlich dem Feldzug des Kaisers Gordian III
gegen den Perserkönig an, der durch den Tod des Kaisers scheitert.
Plotin hat offenbar Gönner in römischen Senatskreisen, die ihm die Möglichkeit einer
philosophischen Lehrtätigkeit in Rom eröffnen.
Ab 244, als Plotin in Rom zu lehren anfängt, erfahren wir mehr Details. Er gewinnt nicht nur
Anhänger seiner Philosophie, sondern auch die Sympathie durch Vertrauensaufgaben wie
Vormundschaften und Streitschlichtungen.
Kaiser Gallienus, der ab 253 regiert, und seine Gattin Salonina hatten Sympathie für Plotin.
Er rief durch seine integre und schlichte Art Verehrung hervor; man hielt ihn okkulter Erfahrungen
für fähig.
Er verkündet die Grundlehren des Platonismus, den Vorrang des Seelischen vor dem Stofflichen,
die Kraft der Schönheit der geistigen Welt, die unasusprechliche Erhabenheit des obersten,
göttlichen Einen.
Er ruft auf zur Selbstreinigung, zum Aufstieg in die höhere Welt, zur Schau.
Plotin ist dabei kein schöngeistiger Salonphilosoph, er vermeidet Effekte. Überwiegend zeigen
seine Schriften uns den "harten, ehrlichen Denker" (Armstrong), der präzise Probleme scharfsinnig
und konsequent bis in alle Schlupfwinkel verfolgt. das meiste der Schriften sind Kolleghefte,
diktiert, nicht redigiert.
Plotini opera ed. Paul Henry et Hans-Rudolf Schwyzer, Tom.I, Oxonii
1964,p.203: Enn. II 9 (33) Pròs toùs gnostikoús. Deutsch: Plotins Schriften
übers.v.Richard Harder, Bd.III, Leipzig (F.Meiner) 1936, S.55: Gegen die
Gnostiker. <Handout 9>
120
97
Unter den Schülern und Mitphilosophen ist als der bedeutendste Porphyrios zu nennen, ein Syrer.
Von ihm ist die Lebensbeschreibung Plotins, und ihm verdanken wir auch die Herausgabe der
Schriften.
Porphyrios ist selbst ein außerordentlich gelehrter Philosoph und Autor.
Über das Nachwirken Plotins in der europäischen Geistesgeschichte sagt sein Übersetzer Richard
Harder sehr schön:
"Nicht wie eine Ursache wirkt ein Denker weiter, sondern durch sein helfendes, entbindendes
"Dabeisein", - so wie auf den griechischen Bildwerken die Gottheit "dabeisteht", wenn die Helden
ihre Taten vollbringen."
Plotin hat einer der Grundkräfte des europäischen Denkens, dem Platonismus, mehrmals
entscheidende Impulse gegeben. Ein paar Beispiele:
Plotin war dabei, als Augustinus sich zum Christentum bekehrte.
Plotin war dabei, als Boethius, der Kanzler Theoderichs, im Jahr 525 n.Chr. im Kerker die
Hinrichtung erwartend, Trost in der Philosophie fand. Das Buch "Trost der Philosophie" ist im
Mittelalter unendlich viel gelesen und kommentiert worden, auch übersetzt in die
Nationalsprachen: eines der Beispiele für die verzweigten Kanäle, durch die der Platonismus das
Abendland durchsetzt hat.
Plotin war dabei, als ein paar Jahre später einer einer jener platonischen Philosophen, die nach
Schließung der athenischen Akademie durch Kaiser Justinian nach Persien emigrieren durften, es
war Priscian, seine Schriften verfaßte: "Lösungen der Fragen, über die der Perserkönig Chosroes
Zweifel hatte".
Es gibt philosophische Werke in arabischer Sprache, die nichts anderes sind als Paraphrasen
ausgewählter Schriften Plotins. Auch die islamische Mystik soll von Plotin beeinflußt sein. (Die
islamischen Denker wurden dann ab dem 13.Jh. ins Lateinische übersetzt und haben so auf das
Abendland zurückgewirkt.)
Plotin ist natürlich auch dabei gewesen, als im 5.Jh. Proklos, der "Hegel des Altertums" einen
systematischen Neubau des Platonismus unternahm. Dieses sein System hat wieder die Philosophie
des christlichen Mittelalters entscheidend angeregt.
(Der Parmenides-Kommentar des Proklos war z.B. in lateinischer Übersetzung in der Bibliothek
des Nikolaus von Cues (1401-1461), der sich auch intensiv damit befaßte, wie die
Randbemerkungen zeigen.)
Man müßte auch den Bezug zu Dantes Göttlicher Komödie, zur Mystik, zu Meister Eckhart zeigen.
Marsilio Ficino (1433-1499) hat unter dem Patronat des Mediceers Cosimo den ganzen Plotin ins
Lateinische übersetzt. Ficino war das geistige Zentrum der platonischen Akademie, die Lorenzo di
Medici gegründet hatte. Von ihm gehen Beziehungen zum Cusaner, zu Paracelsus, Kopernikus.
Besonders Plotins Schrift über das Schöne wirkte in die Breite und wurde so etwas wie ein
Grundbuch der aristokratischen Erziehung in Italien. - Der im Schönen sich offenbarende Geist, die
höhere Liebe zum geistigen Schönen, das sind Gedanken, die bei den Dichtern zünden, und wir
hören ihren Widerhall aus den Sonetten Michelangelos, Spencers, Shakespeares.
Später gibt es die Cambridge Platonists, deren Bedeutung von Ernst Cassirer gewürdigt worden ist.
Auch für sie steht Plotin als Klassiker der religiösen Erfahrung neben den Zeugnissen der Bibel.
Während die einen - Bacon, Descartes - die Natur erforschen, um sie in ihre Verfügung zu
bekommen, wollen diese englischen Platoniker schauen, um die Natur zu verstehen. (Diesen
Antagonismus finden Sie wiederum heute, wenn Sie Fritjof Capra's "Wendezeit" lesen.)
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Eine Schlüsselfigur für die Weiterentwicklung des englischen Plotinismus auf den Kontinent ist der
Graf Shaftesbury (1671-1713), dessen schöngeistige Schriftstellerei die in Deutschland sich
entfaltende Bewegung anregt; Winckelmann, Herder, Schiller empfangen von ihm Motive, so den
Gedanken von der reinen Anschauung des Schönen, die frei von Zwecken und Interessen ist (wie
sie etwa Schiller in den Briefen über die ästhetische Erziehung darlegt); so den fruchtbaren
Gedanken von der "inneren Form".
Auch Goethe ist an Plotin nicht vorbeigekommen, wie die Wiedergabe eines plotinischen Satzes in
den zahmen Xenien zeigt:
"Wär nicht das Auge sonnenhaft,
Die Sonne könnt es nie erblicken;
Läg nicht in uns des Gottes Kraft,
Wie könnt uns Göttliches entzücken?"
Hegel ist das geschichtliche Schwergewicht Plotins durchaus bewußt gewesen; in seinen
Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III 95 spricht er von einem "Ruck des
Weltgeistes".
So viel über das Nachwirken Plotins.
8.2 Und nun zur Frage, wie Plotin unter religionsphilsophischem Blickwinkel kurz charakterisiert
werden soll.
8.2.1 Religion und Philosophie scheinen ihm völlig zusammenzufließen. Alles bei ihm hat eine
religiöse Färbung. Es ist eine Geistesreligion, wie sie schon von Platon begründet worden ist, die er
in schöpferischer Interpretation fortsetzt. Dabei arbeitet er energischer die Hierarchie der
Wirklichkeitsstufen heraus und läßt er die Einheit der Welt enger, organischer zusammenwachsen.
8.2.2 Das "Ich" (dieser Begriff taucht bei Plotin zuerst auf) wird zum Hauptträger der Wirklichkeit.
Dodds hat gemeint: "Die Erforschung des Selbst ist der Kern der Philosophie Plotins. Gerade in der
Analyse des Ego machte Plotin Entdeckungen, die sich am meisten durch Selbständigkeit
auszeichnen. Plotin war offensichtlich der erste, der die entscheidende Differenzierung zwischen
Gesamtpersönlichkeit (psyché) und Ich-Bewußtsein (hemeîs) unternahm.121 Die Persönlichkeit des
Menschen ist ein Kontinuum; in ihr gibt es nicht einerseits einen natürlichen, anderseits einen
göttlichen, von außen stammenden Teil wie den nous thyrathen des Aristoteles; es gibt keine exakte
Trennungslinie zwischen Psyche und Noûs. Doch das Ichbewußtsein umfaßt nie die Gesamtheit
dieses Kontinuums: es wandert wie ein Scheinwerfer und erfaßt bald einen höheren, bald einen
tieferen Sektor.
Plotin erkennt, (wie später Leibniz), daß es Sinnesempfindungen gibt, die unser Bewußtsein erst
erreichen, wenn wir gezielt unsere Aufmerksamkeit auf sie richten (IV, 4<28>8; V, 1<10>12);
er erkennt auch (wie später Freud), daß es Wünsche gibt, die "im triebhaften Teil bleiben und von
denen wir keine Kenntnis haben" (IV 8<6>8,9).
Die Erkenntnis, daß Bewußtsein und geistiges Leben nicht nebeneinander verlaufen, ist ohne
Zweifel eine der bedeutendsten psychologischen Einsichten.
Plotin ist daher, neben Alexander von Aphrodisias, der erste, der den allgemeinen Gedanken des
Ich-Bewußtseins (synaísthesis oder parakoloúthesis heautô), des Bewußtseins des Ego über die
eigene Aktivität, klar formulierte.122
8.2.3 Die konkrete Religion seiner Zeit - wie sie etwa seinen Schüler Porphyrios bewegt, der auch
121
122
Vgl. J.Stenzel, Metaphysik des Altertums, München 1931, S.191.
Vgl. Schwyzer, "Bewußt" und "Unbewußt" bei Plotin.
99
gegen die Christen publiziert hat - interessiert ihn kaum, seine Antriebe sind durchaus denkerische.
8.2.4 Ich versuche die Grundmotive dieses plotinischen Platonismus in Thesenform nebeneinander
zu stellen.
(1) Der Mensch besteht nicht aus Leib und Seele, sondern aus Leib, Seele und Geist.
(2) Seele und Geist werden in dem Menschen angetroffen, aber ihr Sein erstreckt sich weit über ihr
Erscheinen im Menschen hinaus, sie sind außermenschliche und übermenschliche Wirklichkeit,
sind Stufen der Wirklichkeit überhaupt.
(3) Diese Stufen haben ein verschiedenes Maß von Seinsgehalt. Unter ihnen (im metaphysischen
Sinn von "unter" befindet sich die Materie, sie ist (in einer näher zu erörternden Weise) nichtseiend.
Die Elemente und die Körper, die die Seele aus der Materie schafft, haben eine erste Spur von
Seinsgehalt; die Seele selbst hat Teil am Seienden. Der Geist ist das Seiende selber. Da aus ihm
alles Lebendige stammt, ist er höchstes Leben. Er ist reines Denken, ist das Denken selber.
(4) Gleichlaufend mit dieser Abstufung des Seinsgehalts verteilt sich das Maß von Einheit und
Vielheit.
So weit ein Ding ein Eines ist, wird es von der nächst höheren Stufe, der Seele, dazu gemacht. Aber
auch sie und selbst der Geist sind noch Vielheit; der Geist als Sitz des Urlebens, als Inbegriff der
Fülle des Seins, in der auch die Urformen des Seins, die Ideen, gegenwärtig sind, muß Vielheit
sein, und ist zugleich als einheitliche Denkkraft Eines.
(5) Diese und andere Erwägungen führen uns dazu, daß über dem Geist noch eine andere Stufe zu
postulieren ist, die keine Vielheit mehr kennt, die reine Einheit ist und daher "das Eine" genannt
wird. Doch ist diese Bezeichnung mißverständlich, sie ist nicht im Sinne der Zahl zu verstehen,
überhaupt nicht im Sinn einer bestimmten Aussage. Das Eine ist das Übereine, das Überseiende,
das Übergute. Es ist zugleich die höchste Gottheit. Es ist nur negativ bestimmbar: man kann nur
von ihm sagen, was es nicht ist, nicht, was es ist.
Das Verständnis dieses Stufenbaus stößt beim neuzeitlichen Menschen auf grundsätzliche
Schwierigkeiten. Wenn er von der gegebenen Welt in Gedanken sich auf das Nichtwahrnehmbare
richtet, so vermeint er, zu einem immer Dünneren, Wesenloseren zu gelangen. Mag er auch eine
seelische und geistige Welt anerkennen, so denkt er sie sich doch als unwirklicher, seinsärmer und
kraftloser verglichen mit der konkreten Wirklichkeit, als ein Schattenreich - wobei er denn die
größte Not hat, in dieser höheren Welt irgendeine Idee der Gottheit als der allermächtigsten und
seinserfülltesten anzusiedeln.
Die intelligible Welt ist für Plotin nicht die sinnlich wahrnehmbare nach Abzug der Stofflichkeit,
die höhere Welt ist keine Abstraktion der tieferen. - áphele pánta ist der Appell an die Seele, auf
dem Weg zur mystischen Einung. Allerdings: irgendetwas hat das áphele zu tun mit den
Ikonoklasmen, der Ikonenkunst und dem russischen Abstrakten Kandinsky.
Für das antike Denken, und besonders für den Platonismus, sind die seelischen und geistigen
Wirklichkeiten nicht schwächer als die "sinnlichen", sondern stärker, seinshafter; der Aufstieg in
die höhere Welt ist ein schrittweises Emporsteigen zu immer Wirklicherem und Wirksamerem, und
die oberste Stufe ist der Inbegriff aller Kraft und Seinsfülle. Denn es ist ja dieser Weg ein
Hinaufsteigen zu einer immer reineren Göttlichkeit.
Das Verhältnis der je höheren Stufe zur niederen ist nicht nur das eines Überwiegens, es ist ein
überwältigendes Höhersein, so überwältigend, daß die niedere von der höheren "abhängt", in ihrem
ganzen Sein bedingt ist. In mythischer Sprache lautet das so, daß die niederen Stufen von der
höheren "erzeugt" worden sind, daß die ganze Wirklichkeit zuletzt aus dem Einen hervorgegangen
ist, daß das Eine überquellend aus sich erflossen ist; man nennt das "Emanation". Für Meister
Eckhart hieß es "usflus". Bei Plotin begegnet gelegentlich dieses Bild, neben dem von der
Ausstrahlung, die von dem Einen herkommt.
100
Aber immer ist festzuhalten, daß der Quell dieses Fließens oder Strahlens nichts von sich aussendet
oder hergibt; auch dieses Bild bezeichnet, wie Plotin oft betont, die Sache nur ungenügend.
Alle zeitlichen Aussagen sind hier nur mythische Metaphern, Schöpfungsgeschichte ist dem
griechischen Denken fremd. Über einen Richtungssinn der menschlichen Geschichte, der ja erst mit
der christlichen Heilsgeschichte interessant geworden ist, sagt Plotins Stufenbau gar nichts aus. Das
zeitliche Hervorgehen ist nur ein Symbol für die sachliche Rangordnung; "früher" und "später" sind
metaphysische Wertbegriffe wie besser und schlechter. Einen göttlichen Entschluß zur Schöpfung
kann es nicht geben. Die Stufen sind alle gleich ewig.
So ist diese unsere Welt, der Kosmos, keine Stätte des Bösen, kein Ort der Strafe und der Buße. Der
Kosmos ist, wie Plato gesagt hatte, ein "seliger Gott". Aus Gegensätzen und sich ergänzenden
Mängeln aufgebaut, ist er ein wohlgefügtes Ganzes, ein Organismus unter einem einheitlichen
Gesetz. Es herrscht zwischen seinen Gliedern "Sympathie", eine Gemeinschaft des Wirkens und
Erleidens.
Wegen dieser sympathetischen Einheit des Kosmos interessiert sich Plotin so positiv für die
Phänomene der Astrologie, Mantik und Magie.
Die menschliche Seele hat sich aus der höheren Welt herabgeneigt in die Verstrickung des
Irdischen. Ein Hauptthema Plotins. Aber gegenüber den Thesen von ihrem Fürwitz, vom
Sündenfall, wie sie bei den Gnostikern laut wurden, gibt Plotin immer wieder zu bedenken, daß
dieser Seelenabstieg eine Notwendigkeit war und im Weltplan lag, eine unvermeidliche
Fortsetzung des Prozesses, der aus dem Einen den Geist und aus diesem die Seele hatte
"hervorgehen" lassen.
Ungeachtet aller Schwierigkeiten, die hier beim Schicksal des einzelnen Menschen die
Zeitkategorie macht, erkennt er der Menschenseele zu, daß sie auch im Erdendasein in Verbindung
mit den oberen Seinsstufen, ja mit dem "Einen" bleibt.
Es wird hier nichts weggeleugnet, nicht die Verstrickung der Seele in Irrtum und Schuld, nicht die
Anwesenheit des Bösen in der Welt, nicht die Unvollkommenheit der irdischen Weltordnung.
Trotzdem legt Plotin immer wieder den Ton auf die Rechtfertigung des Seelenabstiegs, auf die
Harmonie auch des sichtbaren Kosmos. So hoch auch das letzte Überwirklich-Wirkliche
hinausgerückt ist über alles Seiende, so hoch auch das Sein über dem Dasein steht, nirgends darf es
hier einen Graben geben, eine Mauer zwischen Welt und Überwelt, zwischen Göttlichem und
Menschlichem; zuletzt ist alles miteinander verwandt, oder - genauer - alles ist ein Ganzes.
Man hat Plotin den eigentlichen Denker der Ganzheit bezeichnet, weil er dieses Motiv, das es seit
den Eleaten, seit Plato und Aristoteles gibt, erneut in den Mittelpunkt stellt. Der Leitbegriff der
Ganzheit ermöglicht uns den Zugang zu dem, was man Plotins Mystik nennen muß.
Es gibt für das mystische Erlebnis eine methodische Vorbereitung. Vorausgesetzt ist dabei
"Askese", das ist eine schlichte, geregelte, vernunftgemäße Lebensweise. Vorausgesetzt ist
Reinheit, d.h. tugendgemäßes Verhalten. Wichtigste Vorübung ist die Pflege des "inneren Gesichts",
der Fähigkeit, unsinnliche Wirklichkeiten zu Gesicht zu bekommen; sie wird geweckt durch die
Anschauung des reinen "Schönen", durch Vertiefung in die Wissenschaften, durch das Trachten
hinauf und hin zur ursprünglichen Ganzheit des Menschen.
Dieser Weg hinauf ist zugleich der Weg ins eigene Innere, zum eigentlichen Selbst.
So gelangt man zur Schau der geistigen Welt. Theoría.
Es wird von dieser Schau in erotischer Sprache gesprochen, sie ist etwas Lustvolles. Aber immer
wieder wird gemahnt, daß es vor allem des Stillwerdens und Stillseins bedarf, um zu dieser Schau
zu gelangen. Es gibt kein Erzwingen, nur geduldige Bereitschaft.
101
Es gibt auch nicht die Methodik eines "autogenen Trainings" oder einer Yoga-Schulung. Der
Meister kann nur Hinweise geben, der Schüler muß im Grund seinen Weg allein finden. (Ein
Unterschied zu Plato: Bei Plotin findet die Einübung nicht im Zusammenleben statt, sondern der
Weg ist allein zurückzulegen.)
Der Zustand der Schau tritt "plötzlich" ein - es ist das der Ausdruck dafür, daß sein Eintreten nicht
in die Macht des Menschen gegeben ist, daß er sich zuletzt ohne aktives Zutun "ereignet".
Plotin geht einen Schritt über alle anderen hinaus, und das ist so neu, daß man ihn (wohl zu
Unrecht) mit der indischen Philosophie in Verbindung bringen wollte: Die Schau, das unmittelbare
Anschauen des gesuchten Gegenstandes, steht grundsätzlich auf einer höheren Stufe als das immer
nur mittelbare logische Erkennen. Aber eines hat sie mit ihm doch gemeinsam: Wie Erkennender
und Erkanntes, so ist auch Schauender und Geschautes eine Zweiheit; diese Zweiheit gilt es für
Plotin zu überwinden.
Der bisherige Weg ging von der Reinigung zur Wendung nach innen, über die Konzentration zur
Kontemplation; er bedeutet zugleich höchste Steigerung des menschlichen Selbst.
Nun heißt es umgekehrt, dieses Selbst auszulöschen, alle Eigenbewegung, auch die schauende,
stillegen, sich gänzlich darangeben und mit dem Geschauten vereinigen, selber das geschaute nicht
mehr schauen, sondern es werden.
Die höchste geistige Aktivität schlägt nun in reine Passivität um, bzw. in einen Zustand, in dem
beides nicht mehr unterscheidbar ist; das ist die unio mystica.
So gelangt der Schauende über das Schauen hinaus zur Vereinigung mit dem, was mangels aller
geistigen Bestimmtheit nicht mehr geistig erschaut werden kann, zum höchsten Einen selber,
dessen man nur innewerden kann, indem man es selber wird.
Mit dieser letzten Paradoxie rührt Plotin an die Grenzen der menschlichen Möglichkeiten.
Der mystische Zustand der Ekstase hat einen festen Platz im System. Persönlich hat Plotin nach
dem Zeugnis des Porphyrios diesen Zustand nur sehr selten erlebt. Er war auch nicht einer, der sich
nur der einsamen Meditation hingegeben hätte, sondern er war vor allem ein Lernender und
Lehrender. Als Lehrender preist er jenen Zustand des Glücks und der Ruhe, in dem die Seele alles
von sich abtut, auch das sonst von ihr so geliebte Denken, denn es ist Bewegung, sie will aber
unbewegt sein, wie das Erste. (Es ist eine Nektar-Trunkenheit, vgl. sobria ebrietas)
9. Die christlichen Alexandriner
Aus Zeitgründen kann der große christliche Gegenpart zu Plotin, Origenes, nicht ebenso vorgestellt
werden. Ihm ist eine eigene Vorlesung gewidmet. Einige Gesichtspunkte sind aber kurz
anzusprechen.
9.1 Gleichzeitigkeit der großen Systeme (Origenes, Plotin, Mani)
Hans Jonas hat es (o.c. II 171) festgestellt: "Drei große Systeme brachte im Zeitraum einer
Generation (Origenes 185-254, Plotin ca.204/5-270, Mani 216-ca.275) die erste Hälfte des dritten
Jahrhunderts hervor". (Die Zusammengehörigkeit von Plotin und Origenes hatte schon J.Geffken,
Der Ausgang des griechisch-römischen Heidentums <1920>, S.55f. betont).
Jeder dieser drei hat, ohne viel vom anderen zu wissen, die Summe ihrer Weltauslegung in einer
das Ganze umspannenden und seine Erzeugungsordnung nachbildenden Deduktion gezogen. Wenn
sie sonst nichts gemeinsam hätten, hätten sie allein dadurch bewiesen, daß das Zeitalter selber auf
die Ziehung einer solchen Summe, auf Totalbildungen also, und zwar eben in der Form des
Systems, aus war; aber auch, daß aus der vergangenen Denkbewegung etwas da sein mußte, dessen
102
Summe nunmehr und derart zu ziehen war. Man kann also bei der bloß formalen Feststellung gar
nicht stehen bleiben. Jonas ist aufgefallen, daß einerseits die Philosophie des vorangegangenen
2.Jh. eklektizistisch, theoretisch kraftlos und allgemein schwach war, anderseits, wenn man den
Blick über die Grenzen der Schulphilosophie hinaus hebt, das 2.Jh. ein wahres Treibhaus der
Systeme war, "wenn man nur von der "Philosophiegeschichte" in die "Religionsgeschichte"
hinüberblickt. Und wenn man sich gar aus der Gefangenschaft dieser künstlichen Einteilungen
mindestens für unsere Epoche überhaupt befreit und ihre wesenhafte Einheit sieht, erkennt man,
daß "das" 2.Jh. eben nicht bei den hellenischen Philosophenschulen war, sondern weit
entscheidender bei den wilden Schößlingen gnostischer Spekulation. Ganz formal zeigt sich dort
ein Wuchern von Sytemen, und nichts drängt sich einer quasi ästhetischen, vom Inhalt noch
absehenden Betrachtung an diesem Zeitraum mehr auf, als jener allgemeine Wille zum
Universalsystem "um jeden Preis", der mit der Anmaßung, aber auch Unerschöpflichkeit der
Unreife sich auslebt. Allenthalben zeigten sich uns ja jene Kunstmythen <denn sie sind als
theoretische, absichtliche Erzeugnisse wohl zu unterscheiden von den "echten Mythen" der
Frühantike>, und selbst noch die gedanklich kümmerlichsten oder ausschweifendsten unter ihnen,
beherrscht von dem einen Bestreben: das Sein in seiner unbedingten Gänze zu ergreifen und als
durchgehenden Zusammenhang darzustellen, in lauter umfassenden - notwendig sehr willkürlichen
und meist überaus summarischen - Totalentwürfen, worin die letzten Ausläufer der
Mannigfaltigkeit durch eine lineare (und zwar vertikale) Ordnung der Zwischenglieder hindurch,
und nach einer Spirituallogik, die jeder Induktion spottet, mit dem Urgrund verknüpft sind (dessen
sie alle a priori versichert sind, Anfang sowohl der Welt wie der Spekulation). Diese
Entschlossenheit, die Wirklichkeit insgesamt - Weltexistenz und Seelenschicksal - auf einen
Nenner zu bringen und aus dem einen Prinzip den transzendenten Erzeugungsvorgang jeweils von
neuem als Deduktion zu entwickeln, führt mit Notwendigkeit immer wieder eben zu "Systemen".
9.2 Vorarbeit für Origenes: Clemens Alexandrinus.
Titus Flavius Clemens, um 150 geboren, zwischen 211 und 216 gestorben. 202 oder 203 hat er
Alexandrien wegen einer Christenverfolgung verlassen.
In den Stromateis in sieben Büchern, entwickelt Clemens den Inhalt des christlichen Glaubens, also
das Wesen des Christentums, in seinem Verhältnis zum Judentum, zur griechischen Philosophie
und zu den christlichen Häretikern. Hier versucht er, vom bloßen Glauben zur Erkennntis, zu der
wahrhaften Gnosis, fortzugehen.
Wie er selbst zugesteht und durch den Titel andeutet, (ein buntdurchwirkter Teppich) geschieht die
Darstellung nicht in systematischem Zusammenhang, sondern aphoristisch. Mit ein Zweck der
Stromateis scheint die Rechtfertigung der griechischen Philosophie gewesen zu sein.
Der göttliche Logos, der überall hin ausgegossen ist, wie das Licht der Sonne, (Str. VII, 3, ed.
Stählin 3,15f.), hat von Anfang an die Seelen erleuchtet. Durch Moses und die Propheten belehrte
er die Juden (Päd. I, 7 ed. Stählin 1, 121ff.). Unter den Griechen aber erweckte er weise Männer,
und gab ihnen die Philosophie als Anleitung zur Gerechtigkeit (Str. I, 5, ed.Stählin 2,18).
Sie haben zwar vieles heimlich von den Orientalen und insbesondere aus den jüdischen
Religionsbüchern geschöpft, aber manches haben sie doch wirklich sebst gefunden, vermöge des
ihnen eingesenkten Samens des göttlichen Logos (Protr. VI, 6, ed. Stählin 1, 51f.). Die positive
Beurteilung der griechischen Philosophie überwiegt bei Clemens. Er findet die wahre Philosophie
aber nicht bei einer einzelnen Schule, sondern in einer Auslese aus allen.
Wir bedürfen der Philosophie, um von der pístis zur gnosis fortzuschreiten. Die pístis verhält sich
zur gnosis so, wie die prólepsis zur epistéme. Das eine ist die notwendige Voraussetzung für das
andere.
Der Gnostiker steht zu dem, der ohne die Erkennntis bloß glaubt, in dem gleichen Verhältnis wie
der Erwachsene zum Kind.
Aber die Übereinstimmung mit dem Glauben ist das Entscheidungsmerkmal der Echtheit der
103
Wissenschaft (Str. II, 4, ed. Stählin 2, 120: Kyrióteron oun tes epistémes he pístis, kaí estin autes
kritérion.
Die gnosis ist apódeixis tôn dià písteos pareilemménon tê pístei epoikodouméne,
sie ist teleíosis anthrópou - Strom. VII, 10, ed.Stählin 3,40.
Auf weite Strecken ist Clemens philonisch. (Direkte Lektüre kann vorausgesetzt werden. Im
Westen dürfte der Einfluß Philos auf Augustinus über Ambrosius gehen.) Eine positive
Gotteserkennntnis hält er so wie dieser für unmöglich. Wir wissen nur, was Gott nicht ist. Er ist
gestalt- und namenlos, obwohl wir mit Recht uns der schönsten Namen zu seiner Bezeichnung
bedienen. Er ist unendlich; er ist weder Gattung noch Differenz, weder Art noch Individuum, weder
Zahl noch Akzidens, noch etwas, dem etwas zukommt. (Str. V, 11 u. 12, ed. Stählin 2, 370-381). Er
ist über die Einheit und über das Wesen von allem erhaben. (epékeina tou henòs kaì hypèr autèn
monáda - Päd. I, 8, ed. Stählin 1, 131, vgl. Plato Rep VI 509b: ouk ousías óntos tou agathou, all' éti
epékeina tes ousías presbeía kaì dynámei hyperéchontos).
Daß sich Clemens aber doch nicht bei dieser bloßen Negation voll zufrieden gibt, sondern daß er
Gott nach der Schrift und auch nach dem Vorgang Philos vielfach analog dem menschlichen Geist
sich vorstellt, ist nicht verwunderlich. Besonders wird aber hervorgehoben: anendeès tò theion kaì
apathés.
Nur der Sohn, der des Vaters Macht und Weisheit ist, ist positiv erkennbar (Str. V, 1ff., ed. Stählin
2, 326ff.)
Er ist vor aller Welt erzeugt, aber nicht geworden wie die Geschöpfe. Er ist dem ewigen Gott
wesensgleich, steht in Wesenseinheit mit dem Vater und ist selbst Gott. Er ist ánarchos - archè ton
ónton (Str. VII, 1f., ed. Stählin 3,3f.). Doch meist neigt sich Clemens auch dem Subordinatianismus
zu, wenn er den Sohn als eine Natur bezeichnet, welche dem Allherrscher am nächsten stehe, und
anderseits ihn wieder gleichsam als eine Tätigkeit des Vaters erklärt (éstin hos eipein patriké tis
enérgeia - Strom. VII, 2, ed. Stählin 3,7). So daß ein gewisses Schwanken bezüglich des
Verhältnisses zwischen dem logos und dem Vater, wie bei Philo, so auch bei Clemens nicht zu
verkennen ist.
Weiters ist der Logos das Urbild der Welt, und durch ihn hat Gott die Welt geschaffen. Er ist der
Mittler zwischen Gott und Welt und erhält die Welt. Er ist die Vernunft und das Gesetz des
Weltganzen. Hiernach ist auch die Weltordnung eine vernünftige. Durch den Logos erkennen wir
auch den Vater, soweit wir ihn erkennen. Wie bei Philo ist der Logos die Zusammenfassung der
Ideen und der schöpferischen Kräfte.
Vielleicht war die wichtigste Leistung des Clemens, mit dem Ausspruch des Johannesprologs Ernst
gemacht zu haben, daß der Logos einen jeden erleuchtet, der in diese Welt kommt, und damit den
Nachweis der Berechtigung für die Benützung der griechischen Philosophie erbracht zu haben.
(Ohne diesen Nachweis hatten ja schon vorher ein Hippolyt oder Tertullian die Philosophie
benützt).
Mit Clemens ist das Christentum als Mitbewerber im Kampf um das Bildungsideal aufgetreten.
Nicht Rhetorik, nicht Philosophie, das Evangelium erzieht zum vollendeten Menschen. Christus,
der Logos, ist der Pädagog des Menschengeschlechts und jedes einzelnen. Das im vollkommenen
Christen verkörperte Ideal der allseitig entwickelten Persönlichkeit schildert der Alexandriner mit
rhetorischem Pathos und in schönen Gleichnissen. Daß Clemens hier etwas Wesentliches gesehen
hat, dafür kann an die Parabeln und ihre Bilderwelt im Evangelium erinnert werden, die ja auch
nichts anderes sind als ein mit den Mitteln einer freundlichen und starkten Phantasie immer wieder
erneuerter Versuch, den Menschen klar zu machen, daß die Seele ein Zentrum ist, von dem Leben
und Güte, Kraft ausströmen sollen. Die Erziehung zum gütigen, starken, harmonischen und von
Klarheit durchleuchteten Menschen ist der Gegenstand der Schriftstellerei des Clemens.
Etwas vom Stärksten und Persönlichsten ist seine Hochschätzung des Wissens, die Auflösung der
religiösen Überlieferung in Begriffe, also die Vereinigung von Wissen und Glauben im Sinne
104
umfassender Systembildung, aber mit Überordnung des Wissens.
9.3 Platonismus und Gnosis bei Origenes
Origenes hat mit Anhängern gnostischer Richtungen viel zu tun. Er sah den Kampf gegen diese als
eine Hauptaufgabe an, und manche Schriften stehen im Dienst dieser Aufgabe. So ist z.B. sein
Johanneskommentar eine Gegenschrift zum Johannes-Kommentar des Gnostikers Herakleon.
Nun hat man aber mit Überraschung festgestellt, daß in der Weltanschauung des Origenes selbst
manche Züge mit den Gnostikern übereinstimmen. Es ist etwas eingetreten, was in der
Geistesgeschichte nicht selten ist. der Streiter gegen eine Lehre nimmt, ohne es zu wollen und zu
wissen, gewisse Züge seines Gegners an. So kommt es, daß die Theologie des Origenes zwar
einseitig, aber nicht ganz falsch als ein gnostisches System beschrieben werden konnte. Hier
kommt es darauf an, zu differenzieren.
Origenes bekämpfte die gnostische Vorstellung, die Welt, die Schöpfung sei in sich schlecht. Auf
gnostischer Seite wurde behauptet, der Schöpfer, der Demiurg, sei gar nicht mit Gott identisch,
sondern ein anderes, ein ignorantes oder gar boshaftes Wesen. Marcion hatte erklärt, der Gott des
AT sei von dem des NT verschieden: jener sei gerecht, dieser gut.
Ein anderes kontroverses Thema war der freie Wille. Die Gnostiker neigten dazu, ihn zu leugnen;
Valentinus sprach von drei Arten der Menschen, den Hylikern, Psychikern und Pneumatikern, den
stoff-, seele- oder geistorientierten; sie seien von Geburt, ihrer Natur nach verschieden, und nur die
letzteren einer vollen Erlösung fähig. Origenes verfocht dagegen leidenschaftlich die Gleichheit
aller Menschen im Wesen (physis), und er dehnte diese Gleichheit bis zu Engeln und Teufeln aus:
Alle Unterschiede seien eine Folge freier Willensentscheidungen für oder gegen Gott. Das ist für
ihn ein Axiom, das bis in die letzten Konsequenzen durchgeführt wird. Der Sinn dieser
antignostischen Positionen läßt sich leicht begreifen, wenn man an die These von Hans Jonas
denkt, daß ein wesentliches Element der gnostischen Religiosität die Angst ist; Angst vor der Welt,
ihren undurchschaubaren Mächten (den Archonten) und ihrem unentrinnbaren Zwang (der
astrologischen Schicksalsnotwendigkeit, der Heimarmene). Immer wieder findet man bei
Gnostikern das Gefühl einer hilflosen Verlassenheit; sie können ihr In-der-Welt-Sein wie einen
Alptraum empfinden, in dem man beklemmend-unheimlichen Bedrohungen ausgesetzt ist und nur
die eine Hoffnung haben kann, endlich aufzuwachen. Das ist der Hintergrund gnostischer
Erlösungshoffnung. Origenes dagegen verkündet das Vertrauen auf eine Welt, die von einem
fürsorglichen Gott weise organsiert ist, um zu unserer Läuterung zu dienen, eine Welt, die uns zwar
Not und Gefahr bereitet, aber letztlich zu unserem Wohl, und immer so, daß unsere Kräfte der
Herausforderung gewachsen sind (De principiis III 2,3) und daß sittliche Bewährung und Leistung
den Aufstieg zu Gottesnähe und Gotteserkenntnis bringt.
Worin besteht nun aber anderseits die Verwandtschaft mit den Gnostikern? Vor allem in der
Konzeption des kosmischen, Äonen umspannenden Dramas, in dem unser Leben nur eine Episode
bildet. Solche Kosmos-Dramen hatten die Gnostiker in verschiedenen Varianten entworfen und
mythologisch ausgemalt. Immer spielt Fall und Errettung der Seelen darin eine Rolle. Sicher liegt
hier ein altes Mythologem zugrunde, das zuerst bei Empedokles im 5.Jh.v.Chr. auftritt und bei
Platon im Seelenmythos des Phaidros verwendet wurde.
Diese kosmisch-dramatische Schau hat Origenes vor allem in ihrem gedanklichen Status verändert:
aus mythologisch-bildhaften Schilderungen machte er eine rationale, vernünftig nachvollziehbare
Verlaufskurve; das Phantastische bekommt einen wissenschaftlichen Anspruch und wird nicht
prophetisch verkündet, sondern mit Argumenten lückenlos bewiesen.
Man mag sich wundern, wie ein solches Gedankengebäude in eine Religionsgemeinschaft paßt, die
von Anfang an sich den niederen Volksschichten, den Bedrückten, Hilflosen und Ungebildeten
105
zuwandte. In Alexandrien gab es einerseits eine religiös lebhaft interessierte intellektuelle Schicht,
anderseits aber auch ein großes Proletariat, das im Religiösen seelischen Halt suchte. Origenes war
überzeugt, daß die christliche Kirche beiden Gruppen gerecht werden müsse und drückte das aus,
indem er haploústeroi und téleioi unterschied: die "Einfacheren", simpliciores, und die
"Vollendeten". Seine spekulative Theologie war für die letzteren bestimmt, während für die ersteren
das gläubige Hinnehmen einfacher kirchlicher Lehrsätze genügte (De principiis I, Praefatio 3).
Besonders kommt er im Zusammenhang seiner Bibelauslegung auf das Problem zu sprechen. Der
höhere Sinn ist nur für die "Vollendeten" zugänglich; die "Einfacheren" erbauen sich am
wörtlichen Sinn und lassen sich allenfalls vom psychischen Sinn sittlich belehren.123
10. Augustinus
10.1 Allgemeines
Aurelius Augustinus wurde 354 als Sohn eines römischen Provinzialen in Thagaste in Numidien,
Nordafrika, geboren. Er brachte es zum Lehrer der Grammatik und Rhetorik in seiner afrikanischen
Heimat, von wo er über Rom nach Mailand ging, um als kaiserlicher Redenschreiber zu arbeiten.
Sein geistiger Werdegang wurde bestimmt durch seine christliche Mutter, die sich letztlich
durchgesetzt hat, durch die griechische und römische Bildungswelt, durch die Philosophie,
vermittelt besonders durch Plato, Akademiker und Neuplatoniker sowie durch Cicero, durch die
gnostische Richtung des Manichäismus, schließlich durch den Mailänder Bischof Ambrosius.
Zurückgekehrt nach Afrika, wirkte Augustinus als Bischof von Hippo Regius und überaus
fruchtbarer Schriftsteller bis zu seinem Tod 430, während der Belagerung Hippos durch die
Vandalen.
Die große theologische Leistung Augustins besteht nicht allein darin, daß er in der Kirchen- und
Sakramentenlehre die Grundzüge vorgegeben hat, die in der Ekklesiologie der katholischen Kirche
bis heute bestimmend geblieben sind. Nicht allein darin, daß seine Trinitätslehre und Christologie
das Abendland weitgehend geleitet haben. Seine große Leistung – wie alle wirkliche Größe auch
immer ambivalent zu bewerten – besteht in der Herausarbeitung einer christlichen Anthropologie
und in ihrer Applizierung auf die soziale Wirklichkeit in der Konzeption der beiden Staaten.
Auswahlbibliographie:
* Werke: Migne, J.-P.: Patrologia Latina, Bde. 32-47, Paris 1841/42
* Übersicht über die Werke: Geerlings, W.: Augustinus, in: Lexikon der antiken christlichen
Literatur, Freiburg/Basel/Wien ²1999, 65-85
* Lexika: Mayer, C. (Hrsg.): Augustinus-Lexikon, Basel 1 1986ff.
* Einführung: Flasch, K.: Augustin. Einführung in sein denken, Stuttgart ²1994.
* Biographie: Brown, P.: Augustinus von Hippo. Eine Biographie, Frankfurt ²1982.
* Theologie: Brachtendorf, J. (Hrsg.): Gott und sein Bild. Augustinus De trinitate im Spiegel
gegenwärtiger Forschung, Paderborn 2000.
10.2 Dualismus124
Peter Brown berichtet in seiner Augustinus-Biographie:
Etwa neun Jahre lang war Augustinus ein „Hörer“ unter den Manichäern. Er hätte seine Weisheit
in keiner extremeren Gruppe von Menschen finden können. Die Manichäer waren eine kleine Sekte
von schlechtem Ruf. Sie waren illegal und wurden später grausam verfolgt. Ihnen haftete etwas
vom Hauch eines Geheimbundes an. In fremden Städten pflegten Manichäer nur bei Mitgliedern
Vgl. Herwig Görgemanns, Origenes, in: Gnosis und Mystik in der Geschichte
der Philosophie. Hrsg.v.Peter Koslowski, Zürich u.München (Artemis) 1988. S.71
124 Vgl. H.C.Puech, Der Begriff der Erlösung im Manichäismus, in: Eranos
Jahrbuch, 1936, 183-286.
123
106
ihrer eigenen Sekte zu wohnen. (Vgl. Conf V, 10, 145) Ihre Führer bereisten ein Netzwerk von
„Zellen“, das die ganze römische Welt überzog. Heiden blickten nur mit Schrecken auf sie (De
utilitate credendi 1, 2) und rechtgläubige Christen mit Furcht und Haß. Sie waren die
„Anarchisten“ des vierten Jahrhunderts: eine „fünfte Kolonne“ fremden Ursprungs, entschlossen,
die christliche Kirche zu unterwandern, die Träger einer einzigartig radikalen Lösung der
religiösen Probleme ihrer Zeit.
Nur diese Gruppe, so dachte Augustinus, konnte die Frage beantworten, die ihn „quälte“, seit
seine „Konversion“ zur Philosophie ihn zu ernstem Denken veranlaßte: Was ist „die Natur des
Bösen“? (De libero arbitrio I, 2, 4.) Die manichäische Antwort auf das Problem des Bösen ist der
Kern des Manichäismus des jungen Augustinus. Die Antwort war einfach und drastisch und ist uns
aus den Schriften des Augustinus völlig bekannt. Seit dem 20.Jh. sind wir wiederum in der Lage, in
das innerste religiöse Fühlen der Manichäer einzudringen, und zwar durch die Entdeckung
bewegender Liturgien manichäischer Gemeinschaften von Ägypten bis Sinkiang. [Die
eindrucksvollste ist die Psalmensammlung in Koptisch, fast zeitgleich mit Augustinus und ebenso
aus einer Provinz des christlich römischen Imperiums, hrsg. u. übers. von C.R.C.Alberry, A
manichaean Psalmbook, Part II, in: Manichaean Manuscripts in the Chester Beatty Collection,
vol. II, 1938; vgl. P.-J. de Menasce, Augustin manichéen, in : Freundesgabe für Ernst Robert
Curtius, 1956, 79-93.]
Augustinus besuchte die Zusammenkünfte der Manichäer, um den großen „Brief der Gründung“
des Mani zu hören. In diesem feierlichen Augenblick wurden die „Hörer“ mit „Licht erfüllt“
(Contra epistulam quam vocant fundamenti, 5). Diese „Erleuchtung“ war die erste, die
grundlegende religiöse Erfahrung eines Manichäers: Nun war ein Mensch, der sich seines eigenen
Zustandes ganz klar bewußt geworden war. Es war, als wäre er durch einen fernen Ruf aus tiefem
Schlaf erweckt worden: „...
So erweckt, vergegenwärtigte sich der Manichäer lebhaft, daß er nicht frei war. Er konnte sich nur
mit einem Teil seiner selbst identifizieren, mit seiner „guten Seele“ (De duabus animabus 1.). So
viel von ihm gehörte einfach nicht zu dieser Oase der reinheit: Die Spannungen seiner eigenen
Leidenschaften, seine Wut, seine sexualität, sein verdorbener Körper, die unermeßlich wuchernde
Außenwelt jener „Natur, so rot in zahn und Klaue“ (Disp. c. Fort.21.). All das lastete auf ihm. Es
war offenkundig, daß das Gute in ihm wünschte, „freigesetzt zu werden“, „zurückzukehren“ und
wieder in einen ungetrübten, ursprünglichen Stand der Vollkommenheit einzutauchen, in ein
„Reich des Lichtes“, von dem er sich getrennt fühlte. Doch war es ebenso klar, daß die Menschen
daran scheiterten, dies zu vollbringen, diesen einzig möglichen Wunsch ihrer besseren Natur.
Darum handelte die „gute Seele“ einfach unter Zwang. Aus irgendeinem geheimnisvollen Grunde
fand sie sich „gefangen“, „zurückgehalten“, gehemmt, „verletzt“ und zurückgestoßen von einer
Kraft, die zeitweilig stärker als sie selbst war. (Conf. IV, 15 121.) „Weil es eine Tatsache ist, daß
wir gegen unseren Willen sündigen, ... suchen wir aus diesem Grunde nach einem Wissen um den
Grund der Dinge.“ (Disp. c. Fort. 20)
Dieses „Wissen um den Grund der Dinge“ machten die Manichäer Augustinus klar. Kurz gesagt,
während sich jedermann der innigen Mischung von Gut und Böse in ihm und in der Welt um ihn
bewußt wird, ist es doch gleichzeitig für den religiösen Menschen höchst abstoßend und für den
vernünftig denkenden Menschen absurd, daß solch ein Übel von Gott kommen könnte. Gott ist gut
und völlig unschuldig. Er muß vom leisesten Verdacht direkter oder indirekter Verantwortlichkeit
für das Böse bewahrt bleiben. Diese verzweifelte „Frömmigkeit dem göttlichen Wesen gegenüber“
(Simplicius, Kommentar zum Enchiridion des Epictetus, 27; in: Adam, Texte, 74, Nr. 51.) ist der
Grund für die drastische Art und Weise des religiösen Systems der Manichäer. Sie waren Dualisten
und so überzeugt, daß das Böse nicht von einem guten Gott kommen könne, daß sie glaubten, es
käme von einer Invasion in das Gute – das „Reich des Lichtes“ – durch eine feindliche Macht des
Bösen – des „Reiches der Finsternis“ -, gleich an Macht, ewig und völlig getrennt. Der chinesische
manichäische Katechismus sagt: „Das erste, was der Mensch zu tun hat, ist die Unterscheidung
der Zwei Prinzipien (das Gute und das Böse). Wer unserer Religion beitreten will, muß wissen, daß
die Zwei Prinzipien von absolut verschiedener Natur sind. Wie kann jemand, der diese
Unterscheidung nicht lebhaft empfindet, die Lehre in die Praxis umsetzen?“ (Chavannes-Pelliot,
107
Un traité manichéen retrouvé en Chine: JA, sér. XI, 1, 1913, 114.)
Hinsichtlich dieses Streitpunktes waren die Manichäer kompromißlose Rationalisten. Als
Manichäer war Augustinus überzeugt, er könne die fundamentale Lehre seiner Religion durch die
Vernunft allein aufrechterhalten. (Disp. c. Fort. 19) „Woher kommen diese Sünden ?“ fragt er sich.
„Woher kommt das Böse überhaupt? ... Wenn von einem Menschen, woher kommt dann der
Mensch? Wenn von einem Engel, woher dann der Engel? Und wenn man sagt, daß beide aus Gott
seien, ... scheint es, als ob Übel und Sünden wie mit einer Kette an Gott gebunden seien. In dieser
Frage allein sehen die Manichäer bereits ihren Triumph: als ob Fragen schon Wissen wäre. Wenn
das in der Tat so wäre: es gäbe niemand, der wissender ist als ich!“ (De dua. anim. 10)
Als Manichäer konnte der junge, ernste und empfindsame Mann Augustinus die
schreckenerregende vaterfigur des Alten testaments aufgeben. Das manichäische System vermied
sorgfältig die scharfe Ambivalenz, die später im Gottesbild des alten Augustinus so wichtig werden
sollte: ein Vater, der zu gleicher Zeit Quelle zarter Großherzigkeit sein konnte wie auch Quelle der
Strafe, der Vergeltung und des Leidens. (C. Faustum XXI, 1, 3)
Man könnte den Verdacht hegen, Augustinus habe es nötig gehabt, so „erhaben“ zu denken. Denn
es gab vieles in seinem Leben, das ihm akute Schuldgefühle bereitete, so daß er rückblickend
zugibt: „Ich aber, so arm und schwach in meiner Jugend, hatte Keuschheit von dir erfleht und dir
gesagt: Gib mir Keuschheit und Enthaltsamkeit, doch gib sie mir nicht gleich.“ (Conf. VIII, 7, 237)
Vielleicht war die Notwendigkeit, sich in seinem Inneren eine makellose Oase der Vollkommenheit
zu bewahren, der tiefste Grund seiner Anhänglichkeit an die Manichäer. Noch lange nachdem er die
Denkschwierigkeiten im manichäischen System erkannt hatte, zog ihn dessen moralische Haltung
an.
Rückblickend sieht er: „Und damals war ich noch des Glaubens, nicht wir seien es, die da
sündigten, sondern es sei ich weiß nicht welche andere Natur in uns, die sündige ... Lieber war es
mir, mich freizusprechen und ein irgend anderes anzuklagen, das in mir sei und das ich selbst nicht
sei. In Wahrheit aber“, so fügt der katholische Bischof hinzu, „war ich es, ganz ich, und mir zum
Bösen hatte nur meine Gottlosigkeit mich geteilt in mich und jenen.“ (Conf. V, 10, 145)
Der Preis, den die Manichäer offenbar für dieses völlige „Nicht-als-eigen-Anerkennen“ des Bösen
zahlen mußten, war, daß sie das Gute einzigartig passiv und wirkungslos darstellten. Diesen Aspekt
des manichäismus wird Augustinus als Bischof besonders betonen, dnn es ist dasjenige Element
des manichäischen Systems, das er später am stärksten zurückwies. (Vgl. Contra secundam Juliani
responsionem, opus imperfectum. I, 97)
Jede Schrift Manis zeigt diese Einstellung, nach der das Gute wesentlich passiv ist und von der
heftigen Aktivität des Bösen getroffen wird. Für den Manichäer war das bestehende Universum, in
dem Gut und Böse so unheilvoll vermischt sind, durch ein plötzliches Eindringen des Bösen, des
„Reiches der Finsternis“, in das Gute, das „Reich des Lichtes“ entstanden. Dieses „Reich des
Lichtes“ war in völliger Ruhe gewesen und kannte keinerlei Spannung zwischen Gut und Böse.
Der „Herrscher“ des „Reiches“, der „Vater des Lichtes“, war derart vom Bösen geschieden, daß er
dagegen machtlos war. Er konnte nicht einmal in die Auseinandersetzung mit den Eindringlingen
eingreifen, ohne einer drastischen und späten Umwandlung seines Wesens zu erliegen.
Im Manichäismus ist es also durchweg das Gute, das zur Passivität verurteilt ist. Der Christus der
Manichäer war vor allem der „leidende Jesus“ (C. Faust. XX, 2), „der im ganzen sichtbaren
Universum gekreuzigt ist“ (Enarr. In Ps. 140, 12).
Der Manichäer befand sich in einem schweren Dilemma. Seine Religion versprach dem Gläubigen,
daß er, einmal „erweckt“, seine wesenhafte Identität völlig bewahren und seine Befreiung
sicherstellen könne. Sie sagte ihm, daß ein Teil seines Selbst immer unbefleckt bleiben würde, und
bot ihm ein strenges Ritual, das überdies den unzurückführbar guten Stoff seiner Seele zutage
bringen sollte. Doch dieses Vertrauen wurde fortgesetzt durch die machtvollen Mythen der Sekte
selbst untergraben, durch Mythen, die das Gute gänzlich verlassen und hilflos vor dem Angriff des
Bösen erscheinen ließen.
Gerade dieser Manichäismus war die Religion des heranwachsenden Mannes Augustinus gewesen.
Sie hatte ihn in die Lage versetzt, für eine gewisse Zeit und um einen hohen Preis beunruhigende
108
Eigenschaften zu verleugnen, die er erst später sowohl in Gott wie auch in sich selbst bereit war
anzunehmen. (Das waren harte Eigenschaften, verknüpft mit dem allmächtigen Vater des
katholischen Glaubens: ein Vater, der eines gerechten Zornes fähig ist, fähig, Strafe zu verhängen,
und dessen einzigartige Güte durch einen unüberbrückbaren Abgrund von der innersten Schuld
seiner Kinder getrennt ist.)
Die initme Kenntnis des Manichäismus (siehe Augustins Reflexionen in Conf VII, 1-8 u.a.)
befähigte und motivierte Augustinus in seiner Haupt-Schaffensphase als katholischer Bischof (zw.
388 u. 399) zu einer Reihe von apologetischen Schriften, z.B.: De moribus ecclesiae catholicae et
de moribus Manichaeorum; De Genesi contra manichaeos, Acta contra Fortunatum Manichaeum,
Contra Faustum manichaeum, Contra Felicem manichaeum, De natura boni contra manichaeos,
Contra Secundinum Manichaeum.125
10.3 Freiheit und Gnade
Das Lebensthema des Augustinus war die „causa gratiae“, die Sache der Gnade.
Ein Thema, das die Bibel angeschlagen hatte, und das Philosophie, Manichäismus und
Lebenserfahrung in Augustinus mit immer wieder neuen Facetten reifen ließen.
Die Bibel kennt schon das Grübeln über unauflösbare Denkschwierigkeiten. Eine klassische
Stelle ist die vom Segen = von der wirksamen Glücksverheißung Isaaks für seinen Sohn Jakob,
den er eigentlich dem anderen Sohn, Esau zugedacht hatte. Eine altorientalische Erzählung. Die
Geschichte ist allgemein bekannt:
Eine Mutter hat recht ungleiche Zwillinge. Der eine ist ungebärdig und rauh; der Vater mag ihn
aber, nicht zuletzt weil er ihm das Wildbret heimbringt, das ihm so schmeckt. Der andere gefällt
der Mutter besser; er bleibt brav bei den Zelten und ist von zarterer Art. Nach der Väter Sitte hat
der Erstgeborene, der rauhe Esau, das Sagen. Der aber verkauft sein Erstgeburtsrecht gegen ein
Linsengericht an Jakob, und der bringt dem Vater den so geschätzten Braten. Die Mutter, die den
Zarten bevorzugt, hat ihn angeleitet, seine Haut an Händen und im Nacken mit Ziegenfell zu
umwickeln. Der erblindete Vater glaubt den rauhen Esau zu tasten. Der Sterbende segnet ihn,
und der erschlichene Segen verbleibt bei Jakob und seinen Nachkommen.
Die krummen Wege, von denen die Geschichte erzählt, brachte manchen Leser zum Grübeln:
Warum endeten die Zwillinge so verschieden? Warum blieb es bei dem erschlichenen Segen?
Was war das für ein Gott, der sich auf solche Schliche einließ?126
Als im ersten christlichen Jahrhundert das Problem akut wurde, wie sich die Christen zum alten
Israel verhalten sollten, glaubte der Apostel Paulus dadurch Klarheit zu schaffen, daß er in
seinem Brief an die Römer (IX 10-29) das Verhältnis der Christen zu Israel mit dem Verhältnis
Jakobs zu Esau verglich: Gott hatte Jakob erwählt, auf welchen Wegen auch immer. Das Recht
der Ersterwählung war erloschen. Aber wie war das möglich? War Gott dann nicht ungerecht?
Machte er mit den Menschen, was er gerade wollte? Philosophisch gebildeten Christen bereitete
diese Geschichte Schwierigkeiten: Galten menschliche Maßstäbe nichts vor Gott? Machte dieser
Gott nicht die menschliche Moral zuschanden? Widersprach er nicht dem rationalen Denken, das
die Antike entwickelt hatte und das viele antike Christen als Annäherung des Menschen an das
göttliche Wissen anerkannten? Zerstörte Gottes wild-kriterienloses Eingreifen nicht die
spätantike, ja jede Kultur?
Ein philosophierender Christ aus Mailand namens Simplicianus, Nachfolger des Ambrosius als
Edition: Jolivet, R., et M.Jourjon, Six traités antimanichéens. Œuvres de
St.Augustin 17. Bruxelles 1961.
126 Zum Folgenden vgl.: Kurt Flasch (Hrsg.), Logik des Schreckens. Augustinus
von Hippo, De diversis quaestionibus ad Simplicianum I 2; (latein. u.
deutsch). Dt. Erstübers.v. Walter Schäfer. - Mainz : Dieterich 1990.
125
109
Bischof von Mailand, wandte sich ungefähr im Jahr 397 an seinen alten Bekannten Augustinus,
der inzwischen Bischof von Hippo in Nordafrika geworden war, an den größten Kirchendenker
der lateinischen Christenheit, und bat ihn, ihm die schwierige Paulusstelle zu erklären. Augustin
konnte sich der Frage nicht entziehen, denn er verstand, daß Simplician die Stelle ausgewählt
hatte, weil sie das Selbstverständnis einer intellektuellen Führungsschicht bedrohte, die zwischen
dem Neuen Testament und der spätantiken Kultur einen Ausgleich gefunden zu haben glaubte
(und in die Augustin zehn Jahre zuvor in Mailand Eintritt gefunden hatte). Das Verhältnis von
Religion und Kultur, von Glauben und Wissen, von Autorität und Freiheit stand auf dem Spiel.
Das Antwortschreiben Augustins ist der Text De diversis quaestionibus ad Simplicianum I 2
(Verschiedene Probleme, an Simplician). Augustin hat diesen Text als einen entscheidenden
Einschnitt in seiner Denkentwicklung angesehen; man könnte ihn das Dokument einer letzten
Bekehrung nennen.
Die Vorstellung eines unvordenklich erwählenden Willkürgottes konfrontiert Augustin mit den
Denkmaßstäben der antiken Bildung. Daraus entstand das Dokument eines welthistorischen
Zusammenbruchs, die „Todesurkunde des Gottes der Philosophen“ (Kurt Flasch, Logik des
Schreckens. ). Niemand hatte je zuvor die Ohnmacht des Menschen und die unvorgreifliche
Souveränität der Beschlüsse Gottes bei einem so hohen Grad an theoretischem Vermögen so
radikal formuliert.
Die Spezialisten nennen die Theorie, die Augustin hier entwickelt, seine Gnadenlehre. Dieses
Wort verdeckt die kulturelle Fremdheit (um nicht zu sagen: die Grausamkeit) dieser Konzeption.
Offenbar verstand Augustinus unter Gnade etwas anderes, als heute den meisten Menschen dabei
einfällt. Der Text lehrt, daß Gnade eine Geschichte hat und daß Gnade und Schrecken
zusammengehören. Denn, worum geht es in dieser Gnadenlehre? Alle Kinder Adams sind beladen mit Schuld, nicht also nur mit den Folgen einer Schuld. Alle
Menschen haben die ewige Hinrichtung verdient. Die überwiegende Mehrheit der Menschen
endet tatsächlich in ewigem Unglück. Und in dem Blut das dabei fließt, mögen die wenigen
Erwählten ihre frommen Hände waschen, bevor sie Jubellieder singen. „Der Gerechte wasche
seine Hände im Blut des Sünders.“ So lautet tatsächlich ein Psalmvers (57,11), den Augustin
dazu heranzieht.
(Das Blut bezieht sich zunächst nicht auf diesseitige Gewalt, sondern auf den ewigen Tod der
Sünder, auf ihren jenseitigen Untergang. Aber Augustin nahm diese Katastrophe realistisch. Er
spricht noch nicht von Ketzerverfolgung, aber er schafft hier die Grundlage für seine
Rechtfertigung der Gewalt und macht sich zum Klassiker der religiösen Intoleranz, auf den sich
Katholiken wie Protestanten, und noch die Verfolger der Hugenotten im späten 17.Jh. berufen
konnten. Die politische Brisanz dieser Gnadenlehre über so viele Jahrhunderte ist also evident.)
Die Gnadenlehre von 397 zerschlägt menschliche Wertmaßstäbe. Nichts von dem, was wir
wertschätzen und was wir fertigbringen, würdigt uns der göttlichen Zuwendung, nichts davon
rettet uns aus dem universalen Verderben. Hier setzt ein philosophischer Kopf die Philosophie
an der für ihn entscheidenden Stelle außer Kraft. Er argumentiert noch in ihren Figuren, er gibt
sie nicht gänzlich auf. Aber er entwertet sie, und nicht nur sie, sondern jedes menschliche
Denken und Wollen.
In dem göttlichen Willkürregime ist auch die mögliche Rechtfertigung der Inquisition und
anderer Formen der methodischen Gewaltanwendung zum Besten des Delinquenten grundgelegt.
Dieser Text illustriert die Geschichte des Terrors in Europa; er wirft Licht auf die Geschichte des
westlichen Christentums, bis hin zum Tugendfanatismus Robespierres und zu Säuberungen des
20. Jh.
Augustinus plagt sich offenkundig sehr mit dem Problem, findet aber keinen Ausweg als den, zu
sagen: Glauben wir einfach!
[Riskiert man von diesem Text aus einen Blick auf das Christentum der Gegenwart, so bestätigt
sich Nietzsches Urteil: Das Christentum hat seine Schauder verloren. Anders gesagt: Das
Problem der Theodizee scheint heute weithin merkwürdig verdrängt, (bei einer Katastrophe wie
der Springflut in Südostasien taucht es wohl kurz auf), zu Augustins Zeit hat man sie ernst
110
genommen: Wie konnte Gott nur sagen, er habe Jakob geliebt, Esau aber gehaßt, und das bereits
vor beider Geburt, und keineswegs im Vorblick auf ihr künftiges Verhalten? (Vgl. auch die
Hiob-Geschichte, in der Gott dem Teufel freie Hand läßt, Hiob zu versuchen, d.h. ihn die volle
Wucht der unlösbaren Theodizee-Problematik spüren zu lassen. Der vorher im Glück
schwimmende Hiob wird zu einem Häuflein Unglück. - Unverfügbarkeit des Glücks.]
Wir werden gut daran tun, neben dem Befremdlichen, das uns hier entgegentritt, auch den
gedanklichen „Mehrwert“ zu beachten.
Die Gebildeten der spätantiken Welt gingen, wenn sie nicht Skeptiker waren, davon aus, der
Mensch sei Herr seiner Handlungen. Auch wenn sie die Natur als eine allumfassende Gottheit
verehrten und ihrem Gang eiserne Notwendigkeit zuschrieben, priesen sie die menschliche
Selbstgestaltung. Cicero und Seneca waren von der Schwäche des Menschen überzeugt; sie
sahen ihn umgeben von einem Meer der Bosheit. Aber sie hielten ihn für fähig, das Ziel aller
Dinge zu erfassen, sie dachten, er sei mächtig, sich dem Andrang all des Überflüssigen zu
entziehen, das ihm die Gesellschaft zuträgt. Er sollte sich selbst ein Maß setzen: genug, nicht
viel zu haben. Er sollte seine eigenen Angelegenheiten ordnen, vor allem seine Affekte. Durch
vernünftige Lebensführung und freie Entscheidung sollte er sich ein seliges Leben (vita beata)
sichern. Daß der Mensch dies könne, daß er dazu seine Vernunft bekommen habe und daß alle
Philosophie diesem Ziel diene – dies war allgemeine Überzeugung der spätantiken Welt. In ihr
wuchs auch Augustin auf. Er berichtet in den Bekenntnissen, welch einen Durchbruch zu sich
selbst anno 373 die Lektüre Ciceros für ihn gebracht hatte. Weisheit und damit Herrschaft über
die bloße Natur in uns war erreichbar; beim Lesen Ciceros erfaßte er diese Weisheit als den Sinn
seines Lebens. Die Seele galt Cicero wie vielen in der Antike als göttlich. Lassen wir sie ihre
natürliche Tätigkeit entfalten, dann sind wir frei. Wir überwinden so die Irrungen der Menschen
und kehren zurück zur Sternenheimat der Seelen.
Dieses Lebenskonzept muß Augustin bald brüchig erschienen sein, denn er schloß sich einer
Gruppe radikaler Christen an, den Manichäern. Sie nannten ihre Grunderfahrung den Zwang,
der auf ihnen lastete – auf ihnen, sofern sie der sichtbaren Welt zugehörten. Daß wir nicht tun
können, was wir als vernünftig ansehen und wollen, dies hatte nach ihrer Philosophie seinen
Grund in der Herrschaft des bösen Prinzips über die sichtbare Welt. Freiheit gab es für sie nur
durch die Befreiung aus dem Gefängnis der Körperwelt, nicht durch Selbstgestaltung des
vernünftigen Willens. Etwa neun Jahre lang gehörte Augustin den Manichäern an. Dann, 386,
entdeckte er mit Hilfe der platonischen Bücher die Einheit des göttlichen Prinzips. Dies
bedeutete zugleich die Wiederentdeckung der freien Entscheidungskraft des Menschen. Die
selbsttätige Beziehung der menschlichen Vernunft auf ein glückseliges Leben trat wieder in
Kraft. Als Augustin sich Ostern 387 taufen ließ, bejahte er das christliche Credo, weil es der
Aufstiegsbewegung des menschlichen Geistes Durchsetzungskraft gebe in der sichtbaren Welt:
Die Menschwerdung des weltbegründenden Logos, die sichtbaren Glaubensmysterien und die
kirchliche Predigt deuteten ihm darauf hin, daß wir nicht die Gefangenen dieser Weltmaschine
sind.
Augustin schrieb sofort ein Buch „Über das glückliche Leben“. Noch im Jahr der Taufe schrieb
er „über die Unsterblichkeit der Seele“. Im Jahr darauf, 388, begann er sein Buch „über den
freien Willen“. Danach hat die Sünde Adams die Menschheit geschwächt, aber ihr nicht den
freien Willen genommen. Der Mensch, der sich dem Guten zuwendete, durfte mit der Hilfe
Gottes rechnen. 10 Jahre später, für den frisch geweihten Bischof, schaut die Sache wieder
anders aus. Nun hat all das, was man in der spätantiken Welt als richtiges Handeln oder als gutes
Leben ansah, für das endgültige, das jenseitige Schicksal des Menschen keine Bedeutung mehr.
>
Wenn es einen einzelnen Text gibt, der dabei auslösend wichtig war, dann war es der Satz aus
dem 1. Korintherbrief 4,7: „Was hast du, das du nicht empfangen hättest?“
Gegen die Entscheidung Gottes gibt es keine Appellation, ja schon die Absicht dazu wird als
Unverschämtheit abgetan. Der Anfang des Glaubens liegt nicht mehr in unserer Hand.
111
Ausdrücklich lehnt Augustin jetzt ab, eine Initiative auch nur teilweise auf den Menschen
zurückzuführen. Er verwirft die Vorstellung von einem gemeinsamen Wirken von Mensch und
Gott. Eine große Anzahl von Menschen hat nach dieser neuen Lehre keine Lebenschance. Es
kommt gar nicht auf ihr Wollen und Laufen an; Gott haßt sie. Die Erwählten werden erschrocken
gewahr, aus welchem Abgrund sie grundlos erwählt worden sind.
Der Gott Platons und Plotins, der Augustin 386 die Überwindung des Manichäismus ermöglicht
hatte, verhielt sich vorbehaltlos als reine Güte. Er teilte sich neidlos mit. Der Gott der antiken
Philosophen zürnte nicht und forderte keine Menschenopfer.
Der Bischof Augustin setzt nun offenbar voraus, daß die Selbstbestimmung des menschlichen
Willens nicht zugleich das Wirken Gottes sein könne, daß also Gott sein Wirken nicht
modifizieren lasse durch das Wollen des Menschen, daß es also nicht zu einem gemeinsamen
Wirken kommen könne. Wenn Jakob den Glauben aufgrund seines eigenen Willensentscheides
hat, dann hat er ihn nicht von Gott. Er hat ihn aber von Gott, also nicht aufgrund seines freien
Willensentscheides. Augustin setzt ein Konkurrenzmodell voraus.
Aus seiner Sicht sei es darum gegangen, daß in dem Konflikt von freiem Willen und Gnade die
Gnade gesiegt habe. Das schreibt er in den Retractationes II 1, etwa 427.
„Danach gibt es keine natürliche Moralität, keine heidnische Sittlichkeit mehr.“ (K.Flasch)
Natürlich kann Augustin diesen Weg nicht konsequent bis zu Ende gehen. Er muß sich doch an
den umgangssprachlichen Gebrauch des Wortes Gerechtigkeit halten, sonst kann er letztlich Gott
nicht mehr gerecht nennen. Er merkt, daß er die Gemeinsamkeit von irdischen und himmlischen
Maßstäben nicht ganz zerstören darf. Er besinnt sich auf sie und stellt fest: Wir haben ein Abbild
und eine Spur von Gerechtigkeit, von der Gerechtigkeit Gottes, auch im irdischen Leben; und
dieser Abbild- und Spurcharakter des Alltagslebens erlaubt uns, den Blick ins göttliche Innere zu
richten. Dieses ist uns also nicht ganz verborgen. Es ist zumindest so präsent, daß wir Durst nach
der Gerechtigkeit entwickeln. Es ist uns ein Bild (imago) oder eine Spur (vestigium) der
höchsten Richtigkeit und Gerechtigkeit eingeprägt (impressum); wir finden es wieder, nicht nur
in einem verborgenen Seelengrund, sondern im alltäglichen Treiben.
Augustinus war die Unabgeschlossenheit seiner Gedankengänge nur zu bewußt. Im Jahr 412
schrieb er an Marcellinus: „Cicero, der bedeutendste der römischen Redner, sagte von
jemandem, daß ‚er niemals ein Wort äußerte, das er zu widerrufen wünschte’. Welch ein Lob!
Doch eher auf einen vollkommenen Narren anzuwenden als auf einen vollständigen Weisen ...
Wenn Gott es mir gewährt, so will ich in einem Werk, das besonders diesem Zwecke dient, alles,
was mir mit Recht in all meinen Büchern mißfällt, sammeln und aufzeigen. Dann werden die
Menschen sehen, daß ich kein befangener Richter in eigener Sache bin ... Denn ich gehöre zu
denen, die vorankommend schreiben und schreibend vorankommen.“ (Ep. 143, 2-3)
10.4 Wirkung auf die weitere Geistesgeschichte
Neben der Prädestinationslehre (Gnade und Erwählung) wird das gnostische Erbe am
sichtbarsten in die großartige Geschichtsschau von den beiden „Bürgerschaften“ (civitates), der
des Teufels bzw. der Bösen (civitas diaboli bzw. impiorum) und der Gottes (civitas Dei)
aufgenommen und damit die christliche Geschichtsmetaphysik des Mittelalters geprägt. Auch
andere Lehrpunkte sind ohne dieses Erbe nicht zu verstehen, wie die Rolle der Seele als
gottebenbildliches und daher unsterbliches Element und die Konzeption der Erbsünde, die aus
dem selbstverschuldeten Fall des Menschen aus dem göttlichen Urstand resultiert und deren
großer Stellenwert bei Augustin ein Nachhall der manichäischen Idee der verhängnisvollen
„Mischung“ von Licht und Finsternis, Geist und Materie ist, die das Dasein notwendig
bestimmt.127
127
Siehe dazu A.Adam, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd.1, S.255-302. Noch
Luther ist entscheidend von Augustins Sündenverständnis bestimmt und hat sich
112
Man hat Augustin wegen seiner Abkehr von der manichäischen Gnosis und der Bewältigung der
von daher rührenden Probleme eine entscheidende Bedeutung bei der endgültigen Rezeption des
antiken Kosmosverständnisses als einer guten Schöpfung Gottes gegenüber der gnostischen
Weltfeindschaft zugeschrieben.128 „Die Welt als Schöpfung aus der Negativierung ihres
demiurgischen Ursprungs zurückzuholen und ihre antike Kosmos-Dignität in das christliche
System hinüberzuretten war die zentrale Anstrengung, die von Augustin bis in die
Hochscholastik reicht.“ Die christliche Theologie des Mittelalters mit ihrer schließlichen
Aufnahme des Aristoteles als Kronzeugen kann daher „als Versuch der endgültigen Absicherung
gegen das gnostische Syndrom verstanden werden.“ (ebd.)
Da sich die alte Frage nach der Herkunft des Bösen, die ja die Gnosis so dringend gestellt hatte,
damit nicht erledigte, versuchte sie Augustinus mit der Verantwortung bzw. Freiheit des
Menschen, der durch den Sündenfall die göttliche Urordnung zerstörte, zu beantworten. Dies war
aber nur eine Verschiebung des Problems, keine Lösung, denn die Verfehlung des Menschen rief
seine Bestrafung nach sich; war so nicht die Freiheit der Willensentscheidung ein Übel, wenn sie
zum Bösen führte? Damit war die Selbständigkeit und Selbstbehauptung des Menschen erneut
in Mißkredit gekommen, und die Prädestinationslehre, die zur Aufteilung der Menschheit in
Erlöste und Verdammte führte, war nur ein Ausweg aus diesem Dilemma.
„Der gnostische Dualismus war für das metaphysische Weltprinzip beseitigt, aber er lebte im
Schoße der Menschheit und ihrer Geschichte als absolute Sonderung von Berufenen und
Verworfenen fort. Diese zur Rechtfertigung Gottes ersonnene Krudität hat ihre verschwiegene
Ironie darin, daß auf dem Umweg über die Vorstellung der Prädestination eben doch die
Urheberschaft des absoluten Prinzips für die kosmische Verderbnis wieder hereingeholt wird,
deren Elimination der ganze Aufwand gegolten hatte.“ (Blumenberg, a.a.O. 155f.)
Dahinter stand letztlich der eben von der Gnosis (vor allem von Marcion) beschworene Glaube
an den verborgenen und unbegreiflichen Gott, der für das Christentum die absolute Souveränität
Gottes bedeutete. Die gegenüber diesem „verborgenen Gott“ (Deus absconditus) zur
Sinnlosigkeit und Resignation verurteilte Selbstbehauptung des Menschen war ein Erbe der
letztlich nicht überwundenen, sondern nur „übersetzten Gnosis“ (Blumenberg, a.a.O. 157.)
So ist die von der Gnosis eingeleitete Verteufelung des Kosmos zwar vom Christentum
aufgefangen und rückgängig gemacht worden, aber es blieb doch der Rest einer Distanz zur
Welt, der sich immer wieder stärker artikulieren konnte und mit der vom Christentum gleichfalls
rezipierten Vorstellung vom Teufel und Widersacher Gottes eine enge Verbindung einging.
Die christliche Theologie hat gegenüber der gnostischen Herausforderung an der Einheit von
Schöpfer- und Erlösergott festgehalten und dadurch ein entscheidendes Band der jüdischchristlichen Heilsgeschichte bewahrt. Aber die Probleme waren dadurch nicht aus der Welt
geschafft. Dies zeigt sich nicht nur in der Erörterung von Schöpfung und Kosmos, sondern auch
auf dem Gebiet der Christologie. Bekanntlich hatte die gnostische Soteriologie durch Aufnahme
der historischen Erlösergestalt Jesu ihren Dualismus auch auf diese übertragen und war zum
sogenannten Doketismus gelangt. Die altchristlichen Väter haben sich redlich Mühe gegeben,
hier Formen zu finden, die die eingerissene Aufspaltung des einen Jesus Christus – hier der
himmlische Christus (lógos), dort der Dulder und Erlöser – im nichtgnostischen Sinn verstehbar
zu machen. Gelungen ist es ihnen strenggenommen nicht. Schon Harnack mußte feststellen:
„Wer kann behaupten, daß die Kirche die gnostische Zwei-Naturen-Lehre, ja auch den
valentinianischen Doketismus je überwunden habe?“ 129
Auch die späteren Konzilien, die die christologischen Probleme in komplizierten, heute kaum
den Vorwurf des Manichäismus eingehandelt. Vgl. Th.Beer, Der fröhliche
Wechsel und Streit, Leipzig 1975, Teil 1, S.126ff., 148ff.
Hans Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung. Frankfurt/M. 1974,
S.150ff.
129 [Lehrbuch der Dogmengeschichte I, S.287, Anm.]
128
113
noch verständlichen Festlegungen zur Sprache brachten, haben dies nicht vermocht.
11. Gnosis als ideenpolitischer Begriff im 20.Jh.
Philon, Plotin und (andeutungsweise) Origenes, also ein Jude, ein paganer Grieche und ein Christ
haben uns dazu gedient, zu überprüfen, wieweit es sinnvoll scheint, die Kennzeichnung einer
religiösen Bewegung der Spätantike durch einen ihrer Leitbegriffe -"gnosis" / "Erkenntnis" - zum
Anlaß zu nehmen, Gemeinsamkeiten dieser religiösen Bewegung mit anderen Bewegungen bzw.
Religionsgemeinschaften oder religiösen Denkern so sehr zu betonen, daß von einer gemeinsamen
"gnostischen" Weltsicht oder von einem "gnostischen Zeitalter" geredet werden kann. Wie schon
im Zusammenhang der Ursprungsfrage der Gnosis kommt es auch hier darauf an, daß man dem
Wesensbegriff, der immer etwas Willkürliches an sich haben wird, wenn er aus der Fülle einen
Aspekt heraushebt, treu bleibt und nicht nachträglich verschiedene Wesensbegriffe
durcheinanderwirft.
Wir machen jetzt einen großen Sprung über die lange Geschichte hinweg, in der die christliche
Großkirche zunächst die gnostische Bewegung äußerlich überwand und sich innerlich von ihr
abgrenzte, wobei durch das Abgrenzen selbst die überwundene Gegnerin ihre unverwischbaren
Spuren hinterließ. Der gnostische Systemwille zwang ja die junge Kirche, (was wir aus
Zeitgründen nicht näher ausführen können) ihre eigene Theologie zu systematisieren. Die
Konzilsgeschichte ist eine Geschichte notwendig gewordener Maßnahmen der Systematisierung:
hinsichtlich des Problems von Schöpfer und Erlöser, von Kosmologie und Soteriologie; von pistis
und gnosis; der Trinitätslehre (gegen die gnostische Äonen-Spekulation und gegen die
Verschiedenheit von höchstem Gott und Demiurgen); der Inkarnation (gegen den Doketismus); des
Kirchenbegriffs (gegen den Spiritualismus), der Gnadenlehre (gegen die ethischen Positionen der
Gnosis). Hierzu kann auf A.Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Tübingen 1931 verwiesen
werden.
Durch eben diese Abgrenzung wurden automatisch alle die Denkmotive der Gnosis säuberlich
konserviert und standen jederzeit zur Reaktivierung bereit. Sie wurden auch zu verschiedenen
Zeiten reaktiviert. Dabei sollte man sich aber bewußt bleiben, daß die europäische Überlieferung
insgesamt etwas viel Komplexeres ist und innerhalb dieser Überlieferung unendlich viele
Querverbindungen, Kombinationen und Mutationen sich ergeben haben.
Daß wir hier "Gnosis und 2o.Jh." eigens thematisieren, hat einen handfesten Grund, nämlich den,
daß Gnosis als ideenpolitischer Begriff in Dienst genommen worden ist und daß sich daraus ein
"Handlungsbedarf" ergeben hat, nämlich der Bedarf der Unterscheidung.
11.1 Denuntiation des neuzeitlichen Denkens als "gnostisch"
Der Begriff Gnosis ist mehrfach benutzt worden, um bestimmte Phänomene der Moderne130 zu
charakterisieren, sei es, daß die Neuzeit selbst das "gnostische Zeitalter" genannt wurde, sei es, daß
in Umkehrung dieser These die Neuzeit als die zweite Überwindung der Gnosis interpretiert wurde,
nachdem die erste Überwindung am Anfang des Mittelalters nicht gelungen sei. Für ersteres steht
Eric Voegelin, der nach dem 2.Weltkrieg, also in der Zeit der großen Abrechnung mit den als
verderblich erfahrenen Ideologien, im Frontalangriff auf das neuzeitliche Denken dieses als
gnostisch denunziert hat. Zuerst in The New Science of Politics, 1952, dann in seiner Münchener
Antrittsvorlesung Wissenschaft, Politik und Gnosis, München (Kösel) 1959. Auch in einem
zum Begriff "Moderne" s. Hans Ulrich Gumbrecht, "Modern, Modernität,
Moderne", in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. v. Otto Brunner. Bd.4. Stuttgart, Klett,
1978, S.93-131.
130
114
Aufsatz in der österreichischen Zeitschrift "Wort und Wahrheit" 1/1960 führt er den Ausdruck
"gnostische Massenbewegungen" ein. Er versteht darunter "Bewegungen von der Art des
Progressivismus, des Positivismus, des Marxismus, der Psychoanalyse, des Kommunismus, des
Faschismus und des Nationalsozialismus". Er denkt also dabei nicht nur an politische
Massenbewegungen, sondern auch an Intellektuellenbewegungen wie den Positivismus. Lassen wir
Voegelin kurz selbst zu Wort kommen :
"In den modernen Massenbewegungen hat sich die gnostische Haltung, zu ihrem angemessenen
Ausdruck, eine reiche, vielgestaltige Symbolik geschaffen. Sie ist so reich, daß sie in diesem
Zusammenhang nicht vollständig dargestellt werden kann: nur einige der wichtigsten
Symbolkomplexe können herausgehoben werden. Als ersten wollen wir den Komplex von Symbolen
behandeln, die sich als Abwandlungen der christlichen Vollendungsidee erkennen lassen. Unter der
christlichen Vollendungsidee soll die Einsicht verstanden werden, daß die menschliche Natur ihre
Vollendung nicht in dieser Welt findet, sondern nur in der visio beatifica, in der übernatürlichen
Vollendung durch Gnade im Tod. Wenn es also keine diesseitige Vollendung gibt, so empfängt das
christliche Leben doch seine besondere Form durch das Hinleben auf die jenseitige ; es wird
gestaltet durch die sanctificatio, durch die Heiligung des Lebens. In der christlichen
Vollendungsidee lassen sich daher zwei Komponenten unterscheiden. Die erste Komponente ist die
der Bewegung auf das Vollendungsziel hin, die durch den Ausdruck "Heiligung des Lebens", im
englischen Puritanismus durch die Formel pilgrim's progress, beschrieben wird. Sie wird als die
der Bewegung auf ein Ziel hin die teleologische Komponente genannt. Das Ziel ferner, das telos,
auf das sich die Bewegung richtet, wird als das der letzten Vollendung verstanden; und da das Ziel
ein Zustand höchsten Wertranges ist, wird diese zweite Komponente, die axiologische genannt. Die
beiden Komponenten, die teleologische und die axiologische, wurden von Ernst Troeltsch
unterschieden.
Die Vollendungsideen der gnostischen Massenbewegungen leiten sich von der christlichen her.
Gemäß den eben unterschiedenen Komponenten gibt es prinzipiell drei Möglichkeiten der
Derivation. In der gnostischen Vollendung, die sich innerhalb der geschichtlichen Welt ereignen
soll, können entweder die teleologischen und axiologischen Komponenten jede für sich
immanentisiert werden oder beide zugleich." (S. 5)
Voegelins Urteil über alle diese Bewegungen lautet (ebd. S.16):
"...große Massen von christianisierten Menschen, die nicht stark genug waren für das heroische
Abenteuer des Glaubens, wurden anfällig für Ideen, die ihnen einen höheren Grad von Gewißheit
über den Sinn ihrer Existenz geben konnten als der Glaube."
In "Wissenschaft, Politik und Gnosis" (S.54) führt Voegelin aus:
"Philosophie entspringt der Liebe zum Sein; sie ist das liebende Bemühen des Menschen, die
Ordnung des Seins zu erkennen und sich auf sie einzustimmen. Gnosis will Herrschaft über das
Sein; um sich des Seins zu bemächtigen, konstruiert der Gnostiker sein System. Das System ist eine
gnostische Denkform, nicht eine philosophische.
Der Denker kann sich des Seins jedoch nur dann durch das System bemächtigen, wenn das Sein
wirklich in seinem Griff liegt. Solange der Ursprung des Seins jenseits des Welt-Seins liegt; solange
ewiges Sein mit dem Werkzeug innerweltlicher, finiter Erkenntnis nicht vollständig durchdrungen
werden kann; solange über göttliches Sein nur in der Denkform der analogia entis131 gedacht
werden kann, ist die Konstruktion eines Systems unmöglich. Um das Unternehmen überhaupt
sinnvoll in Gang zu bringen, muß der Denker vor allem diese Störungen ausschalten - er muß das
Sein so auslegen, daß es grundsätzlich im Griff der Konstruktion liegt. Lassen wir wieder Hegel zu
analogia entis: lateinisch "Entsprechung des Seienden", jene Beziehung
zwischen dem ewigen Sein Gottes und dem vergänglichen Sein der Schöpfung, die
durch Ähnlichkeit und Unähnlichkeit bestimmt ist. Vgl. Erich Przywara, Analogia
entis. Metaphysik. München, J.Kösel & F.Pustet, 1932. Rückführung auf Platons
Liniengleichnis.
131
115
der Frage sprechen: 'Es kommt nach meiner Einsicht, welche sich nur durch die Darstellung des
Systems selbst rechtfertigen muß, alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern
ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken.' Wie bei einem mathematischen Problem
werden die Bedingungen der Lösung formuliert. Wenn das Sein die Substanz und in einem das
Subjekt ist, dann liegt die Wahrheit allerdings im Griff des zugreifenden Subjekts. Aber, so müssen
wir fragen, sind das Subjekt und die Substanz denn wirklich identisch? Hegel wird mit dieser
Frage fertig, indem er die Wahrheit seiner Einsicht für erwiesen erklärt, wenn er sie 'durch die
Darstellung des Systems rechtfertigen' kann. Wenn ich also ein System konstruieren kann, dann ist
damit die Wahrheit seiner Prämisse erwiesen; daß ich ein System auch auf Grund einer falschen
Prämisse konstruieren kann, kommt nicht in Frage. Das System rechtfertigt sich durch die Tatsache
seiner Konstruktion; eine Instanz, die das Konstruieren des Systems als solches in Frage stellen
könnte, wird nicht anerkannt. Daß die Wissenschaft Systemform habe, muß als fraglos
vorausgesetzt werden. Wir stehen wieder vor dem Phänomen des Frageverbotes, wie bei Marx.
Aber wir sehen jetzt klarer, daß zwischen dem Frageverbot und der Konstruktion des Systems ein
Wesenszusammenhang besteht. Wer das Sein ins System bringt, kann nicht Fragen zulassen, die das
System als Denkform aufheben."
Der zentrale Gedanke Voegelins in diesem Zusammenhang scheint mir zu sein, daß Gnosis
"Herrschaft über das Sein" will. Damit verbunden sind die Gedanken über das Hegelsche oder
Marxsche System als Versuche, diesen Herrschaftsanspruch umzusetzen, und über das christliche
Vollendungsziel, das vom Systemgedanken her bestenfalls als heroisches Abenteuer wegen seines
Unsicherheitsfaktors verstanden werden kann.
Die Fragen, die an Voegelin zu richten sind, lauten wohl: 1. Wird er Hegel und Marx mit seinem
Vorwurf gerecht? Wie aussagekräftig ist der Vergleich? 2. Hat er die Gnosis richtig verstanden,
wenn er sie als Herrschaftswunsch über das Sein sieht?
Zur ersten Frage: Hegel und Marx stehen ja nur als Exponenten für das neuzeitliche Denken. Was
er Frageverbot nennt, ist ja in Wirklichkeit die neuzeitliche Überzeugung von einer erreichten
höheren Gewißheit. Von einer "gnosis", wenn man so will.
Es ist bekannt, daß gegen Ende des Mittelalters der Glaube in wachsendem Maße der Vernunft
mächtig geworden ist, daß deren Zuständigkeit im Bereich der göttlichen Dinge immer mehr
zusammenschrumpft, daß das Vertrauen auf die natürliche Vernunft zusammenbricht und am Ende
der Glaube fast ausschließlich das Feld beherrscht. Das ist dann auch die geschichtliche
Voraussetzung, unter der Luthers schroffe Verwerfung einer Philosophischen Theologie zugunsten
des Glaubens möglich wurde.
Das ist auch Voraussetzung dafür, daß das Thema "Gott", das die mittelalterliche Philosophie
beherrscht, durch das Thema "der Mensch" abgelöst wurde. Der Mensch, das Subjekt, wird sich in
der Neuzeit in wachsendem Maße fragwürdig und wird damit in besonderem Grade zum
Gegenstand der philosophischen Frage.
Wir wissen auch, daß Renée Descartes es war, der unbeschadet seiner grundsätzlichen
Unterwerfung unter den Glauben ein eigenes Feld philosophischer Nachforschung nach Gott und
den göttlichen Dingen in Anspruch genommen hat: den Bereich der voll und ganz natürlichen
Vernunft. Daß er behaupten kann, "daß all das, was von Gott gewußt werden kann, durch Gründe
aufgezeigt werden kann, die nicht von anderswoher genommen werden als aus unserem eigenen
Geist"132
Die äußerste Ungewißheit schlägt um in Gewißheit. Eine mystische Gewißheit.
Oeuvres de Descartes, hrsg.v. Ch.Adam und P.Tannéry, 12 Bde, Paris 18971910. Bd. 7, S.15. Übersetzung nach Wilhelm Weischedel, Der Gott der
Philosophen, Darmstadt 1979, Bd 1, S.167.
132
116
Wie dieses Ereignis aber zu beurteilen ist, ist eine große Frage und kann hier nicht zureichend
verhandelt werden. Nur eine Hypothese sei angemerkt: Triebfeder der Entwicklung könnte das
Paradigma der Gottebenbildlichkeit des Menschen sein. Wenn, wie im Mittelalter geschehen, das
Gottesbild an Größe und Macht gewinnt, dann ist es innerhalb dieses Paradigmas der
Gottebenbildlichkeit des Menschen notwendige Folge, daß auch das Menschenbild an Größe und
Macht wächst. Gott ganz der menschlichen Glaubenskraft anheimzustellen, heißt, ihn ganz dem
Menschen anheimzustellen. Elend des Menschen und Größe des Menschen sind eins. Ob man das
ernst nimmt und an das Wort denkt: Im Kreuz ist Heil, oder witzig, und an den braven Christen
denkt, der von sich sagt: Meine Demut ist mein ganzer Stolz.
Abgesehen von dieser Hypothese von der Gottebenbildlichkeit als Triebkraft der europäischen
Geistesgeschichte läßt sich nachweisen, daß eine Kontinuität von gnostischer Spekulationslust zum
neuzeitlichen wissenschaftlichen Forschereros besteht.
Mit der Tatsache, daß in der Gnosis Erkenntnis und Erlösung identisch waren, hing zusammen, daß
die gnosistischen Systeme oft in einer bisher kaum gekannten Weise den Urgrund der Welt und des
Seins in "Tiefen" und "Höhen" suchten, die der menschlichen "Wißbegierde" (curiositas) alle Ehre
machte, auch wenn sie dabei in Phantasie und Absurdität abglitt. Die antignostischen Polemiker
haben daher gern diesen Zug verhöhnt und als menschliche Hybris hingestellt. Selbstbescheidung
und Anerkennung der göttlichen Geheimnisse gebührt dem Menschen; Glaube, nicht ungezügelte
Erkenntnissuche. "Besser ist es", sagt Irenäus, "wenn einer gar nichts weiß und nicht eine einzige
Ursache der erschaffenen Dinge kennt, aber im Glauben an Gott und in der Liebe verharrt, als daß
er durch eine derartige Wissenschaft (scientia) aufgeschwollen von der Liebe abfällt, die den
Menschen lebendig macht... und als daß er durch Spitzfindigkeiten seines Forschens und durch
Haarspalterei (per quaestionum subtilitates) der Gottlosigkeit verfällt." Hier wird sehr deutlich die
gnostische Erkenntnissuche zur Vorläuferin der wissenschaftlichen Neugierde erklärt, der
gegenüber die "gesunde, ungefährdete, vorsichtige und der Wahrheit zugewandte Vernunft sich mit
Eifer nur um das sorgt, was Gott in die Zuständigkeit der Menschen gegeben und unserer
Erkennntis (scientia) unterworfen hat. ... Dazu gehört, was uns sinnfällig und deutlich vor Augen
liegt und was unzweideutig und ausdrücklich in der göttlichen Schrift niedergelegt ist.
Diese heraufbrechende Konkurrenz von "Wissensanspruch und Glaubensanerkenntnis"
(H.Blumenberg) führt schließlich zu einer folgenreichen Entscheidung, die vor allem Tertullian
fällt, indem er die "Wißbegierde" in den Lasterkatalog aufnimmt (diese Abwertung der curiositas ist
allerdings schon in der spätantiken Philosophie angebahnt – Gegenbegriff: eulabeia / Vorsicht,
Svheu) und damit aus den positiven Tugenden verbannt. "Die frei gewählte ignorantia kann so zum
Akt der Anerkennung des ausschließlich göttlichen Besitzrechtes an der Wahrheit und der
Verfügung über sie werden". (Blumenberg).133 Die endmittelalterliche Krise des Christentums ist
Voraussetzung für die Formierung der neuzeitlichen Rationalität.
Von Voegelin und anderen Autoren wird die ständige Selbstbestätigung ihrer Autonomie und
Authentizität durch Wissenschaft und Technik in Frage gestellt durch die These, "daß die moderne
Blumenberg beschreibt die endmittelalterliche Krise des Christentums so:
"Eine Religion, die über Heilserwartung und Rechtfertigungsvertrauen hinaus
geschichtlich ihrem Anspruch nach zum ausschließlichen System der Welterklärung
geworden ist, die aus der Grundidee der Schöpfung und aus dem Gedanken der
Gottebenbildlichkeit des Menschen die Angemessenheit seines Erkennntisvermögens
an die Natur folgern konnte, aber schließlich in der mittelalterlichen
Konsequenz ihrer Sorge um die unendliche Macht und absolute Freiheit ihres
Gottes die Bedingungen selbst zerstörte, die sie für das Weltverhältnis des
Menschen vorgegeben hatte, eine solche Religion bleibt unausweichlich mit
dieser widerspruchsvollen Abwendung von ihren Voraussetzungen dem Menschen das
Seinige schuldig."
133
117
Welt ihren unheimlichen Erfolg zum großen Teil ihrem christlichen Hintergrund verdankt".134 Das
Maß des Erfolgs bedingt den Unrechtsgehalt, der darin liegt, seine wahren Voraussetzungen
vergessen zu haben, zu verleugnen, nicht wahrhaben zu wollen.135
Dagegen wendet sich Hans Blumenberg mit seinem Buch "Die Legitimität der Neuzeit".
Blumenberg säkularisiert seinerseits den Säkularisierungsgedanken: es handelt sich zuallererst
nicht um einen Abfall oder eine widerrechtliche Wegnahme, sondern um eine Bestreitung der
Legitimität. Die Beweislast liegt daher beim Kläger, bei der Bestreitung der Legitimität, nicht beim
Angeklagten. Aber gerade dieser Beweislast wird ausgewichen, indem die Säkularisierung als
unhinterfragbares Faktum dargestellt wird. Blumenberg fordert demgegenüber die "Bereitschaft,
eine Hypothek der vorgegebenen Fragen anzunehmen und als eigene Verbindlichkeit abzutragen".
Erst das "läßt uns weithin die geistige Geschichte der Neuzeit verständlich werden.""Was in dem
als Säkularisierung gedeuteten Vorgang überwiegend... geschehen ist, läßt sich nicht als Umsetzung
authentisch theologischer Gehalte in ihre säkulare Selbstentfremdung, sondern als Umbesetzung
vakant gewordener Positionen von Antworten beschreiben, deren zugehörige Fragen nicht
eliminiert werden konnten."136 Die Problematik des Fragenüberhangs ist vor allem eine solche der
Epochenschwellen, der Phasen sich mehr oder weniger schnell wandelnder Grundsätze für die
Beschaffung sehr allgemeiner Erklärungen. Eine solche Epochenschwelle hatte das Christentum
schon in der Antike zu überwinden, und vielleicht ist die zweite große Epochenschwelle, zwischen
Mittelalter und Neuzeit, an der wir immer noch laborieren, darin schon angelegt, daß die erste
Überwindung nicht wirklich gelungen ist. So Blumenberg. Zu seiner Sicht der Gnosis etwas später.
Die andere Frage an Voegelin, ob er die Gnosis richtig verstanden hat, wird u.a. von Barbara Aland
negativ beantwortet. Nach ihrer Meinung ist eine Übertragung des Begriffes Gnosis auf die Neuzeit
nicht möglich, weil das Wesen und der Ausgangspunkt der Gnosis nicht in einer Negativierung der
Welt bestehen, (wie alle Benützer des Terminus in der Moderne voraussetzen), sondern, wie auch
die Polemik der Väter zeige, in einer einseitig eschatologisch überspitzten Offenbarungstheologie,
aus der sich die Negativierung der Welt erst sekundär ergab.
Alands Charakterisierung der Gnosis: "Der erste Beweggrund für diese Texte und damit das
Auslösungsmoment für das Phänomen der historischen Gnosis ist m.E. Freude und grenzenloser
Jubel. Beides rührt daher, daß die Autoren die "Gnosis" eines transzendenten Gottes empfangen
haben und sich ihm als zutiefst zugehörig erfahren, mehr noch: sich in ihrem eigentlichen Selbst als
mit diesem Gott identisch erkennen. Das bedeutet Erlösung von dieser Welt und ihren Zwängen.
Davon reden die gnostischen Texte, daher der Jubel. Charakteristisch beginnt das Evangelium
Veritatis mit den Worten: 'Das Evangelium der Wahrheit ist Freude für die, die vom Vater der
Wahrheit die Gnade empfangen haben, ihn zu erkennen...' Dasselbe meint Marcion mit dem
berühmten Anfang seiner Antithesen: 'O Wunder über Wunder, Verzückung, Macht und Staunen ist,
daß man gar nichts über das Evangelium sagen, noch über dasselbe denken, noch es mit
irgendetwas vergleichen kann.'"
C.F.v.Weizsäcker, Die Tragweite der Wissenschaft. I. Stuttgart 1964, 196.
Vgl. Romano Guardini, das Ende der Neuzeit, Basel 1950, spricht ausdrücklich
die "neuzeitliche Unredlichkeit" an, "jenes Doppelspiel, welches auf der einen
Seite die christliche Lehre und Lebensordnung ablehnte, auf der anderen aber
deren menschlich-kulturelle Wirkungen für sich in Anspruch nahm." (S.128) Ob
durch das, was an Macht über die Natur schrittweise gewonnen wird, die
Menschheit menschlicher wird, ist für Guardini der einzige Maßstab, der an die
Kultur gelegt werden kann. Aber "kein Hymnus auf Fortschritt und Kultur schafft
die Tatsache aus der Welt, daß... die Anstrengung des Menschen mit einer
innerlichsten
Unfruchtbarkeit
geschlagen
ist".
Woher
sonst
die
Ungeheuerlichkeit
des
wachsenden
Welthungers,
der
Verelendung,
der
Verfeindungen auf höchster politischer Ebene, des Rassenhasses?“
136
H.Blumenberg,
Säkularisierung
und
Selbstbehauptung.
Erweiterte
und
überarbeitete Neuausgabe von "Die Legitimität der Neuzeit", erster u. zweiter
Teil, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1983, S.77.
134
135
118
Wenn das aber richtig sein soll, so Aland, dann kann es keine angemessene Übertragung des
Begriffs auf irgendein Phänomen der Neuzeit geben. "Für die Neuzeit ist heute nichts zweifelhafter
als die Frage, ob Gott ist."137
11.2 Die Neuzeit als zweite und endgültige Überwindung der Gnosis (Hans Blumenberg)
In „Legitimität der Neuzeit“, 1963, nimmt Hans Blumenberg die These Voegelins auf und kehrt sie
um, indem er die Neuzeit als zweite und endgültige "Überwindung der Gnosis" (S.78) darstellt.
Blumenberg setzt voraus, daß die erste Überwindung der Gnosis am Anfang des Mittelalters nicht
gelungen war und ihr Schatten als Frage das christliche Mittelalter begleitet. Das christliche
Mittelalter hat in der "Auseinandersetzung mit der spätantiken und frühchristlichen Gnosis seinen
Ausgang genommen". Es ließe sich sogar die These vertreten, "daß die Einheit seines rationalen
Systemwillens aus der Bewältigung der gnostischen Gegenposition begriffen werden kann" (ibid.).
Die zweite und endgültige Überwindung der Gnosis am Ausgang des Mittelalters ist das Resultat
des Siegeszugs von Wissenschaft und Technologie. Dieses Geschehen steht von Anfang an "unter
der Macht des Zweifels, daß die Welt schon ursprünglich nicht zugunsten des Menschen geschaffen
sein könnte" (S.90). Durch das Projekt Wissenschaft habe in der Neuzeit eine "Flucht in die
Transzendenz" als "Ausweg" seine humane Relevanz verloren. Die Last des neuzeitlichen
Menschentums sei anderer Art als die ihm von Gnosis und Christentum auferlegte: "sie ist
Verantwortung für den Zustand der Welt als zukunftsbezogene Forderung, nicht als vergangene
Urschuld" (ibid.). Es gibt im Kosmos Atheos der Neuzeit keinen Fluchtpunkt "jenseits" der Welt.
Darum kann es in der Neuzeit auch keinen gnostischen Exodus aus der Welt geben.
Blumenberg legt diese Auffassung dar im zweiten Teil: "Theologischer Absolutismus und humane
Selbstbehauptung", und darin im 1.Kapitel: "Die mißlungene Abwendung der Gnosis als Vorbehalt
ihrer Wiederkehr". Seine Deutung der Gnosis setzt sich der gleichen Kritik Barbara Alands aus wie
die Voegelins, wenn er sagt:
"Das Problem, das die Antike ungelöst hinterließ, war die Frage nach dem Ursprung des Übels in
der Welt. Die Idee des Kosmos, die die klassische Philosophie der Griechen beherrschte und die
den Vorrang der platonisch-aristotelischen und der stoischen Tradition fundierte, hatte darüber
entschieden, daß die Frage nach dem Übel in der Philosophie nur einen sekundären, systematisch
nebenläufigen Rang erhielt. Die antike Metaphysik ist noch nicht einmal Kosmodizee,
Rechtfertigung der Welt, weil die Welt der Rechtfertigung weder bedarf noch fähig ist. Kosmos ist
alles und der platonische Mythos vom Demiurgen versichert, daß in der Welt die Möglichkeit
dessen, was sein konnte und wie es sein konnte, in der Nachbildung der Ideen ausgeschöpft worden
ist...
Die Gnosis ist von einem radikaleren metaphysischen Typus. Wo sie das platonische System
benutzt, ist sie doch nicht dessen Konsequenz, sondern besetzt die Stellen des Systems um. Der
Demiurg ist zum Prinzip des Übels geworden, zum Gegenspieler des transzendenten Heilsgottes,
der mit der Erschaffung der Welt nichts zu tun hat. Die Welt ist das Labyrinth des verirrten
Pneuma, als Kosmos ist sie die Ordnung des Unheils, das System einer Falle..."
Diese wenigen Zeilen genügen schon um zu sehen, daß Blumenberg die Gnosis nicht als Religion
zur Kenntnis nimmt, sondern als einen metaphysischen Typus. Auf dieser Ebene findet Blumenberg
auch die erste Überwindung der Gnosis vor: Es ist für ihn Augustinus, der die Bilanz zwischen dem
Zustand der Welt und der Schuld des Menschen eröffnet hat und der dabei zum Theologen der
einmaligen ganz großen Urschuld der Menschheit geworden ist.
Barbara Aland, Was ist Gnosis? Wie wurde sie überwunden? Versuch einer
Kurzdefinition. In: J.Taubes, Hrsg., Religionstheorie und Politische Theologie.
Bd.2, Gnosis und Politik. München 1984. S.54-65.
137
119
"Genau dort, wo Marcion zur Überzeugung von der Bösartigkeit des alttestamentlichen
Gesetzgebers gekommen war, im Römerbrief des Paulus, fand Augustin das theologische
Instrumentarium für das Dogma von der universalen Schuld des Menschen und für die Auffassung
von seiner Rechtfertigung als einem Freispruch, der im Gnadenwege gewährt wurde und die
Folgen der Schuld nicht aus der Welt schaffte. Dort fand er auch die Lehre von der absoluten
Prädestination, die den Gnadenweg auf die kleine Zahl der Erwählten beschränkte und dadurch
die Schuld der Allzuvielen als Erklärung der fortdauernden Verderbnis der Welt in Geltung ließ.
Der gnostische Dualismus war für das metaphysische Weltbild beseitigt, aber er lebte im Schoße
der Menschheit und ihrer Geschichte als absolute Sonderung von Berufenen und Verworfenen fort.
Diese zur Rechtfetigung Gottes ersonnene Krudität hat ihre verschwiegene Ironie darin, daß auf
dem Umweg über die Vorstellung der Prädestination eben doch die Urheberschaft des absoluten
Prinzips für die kosmische Verderbnis wieder hereingeholt wird, deren Elimination der ganze
Aufwand gegolten hatte. Für diese Sünde in ihrer universalen Auswirkung konnte letztlich eben
doch nur der Urgrund der Dinge selbst verantwortlich gemacht werden - die massa damnata hatte
dafür nur noch die Folgen zu tragen."138
Der späte Augustin, der Theologe der Erbsünde und der Prädestination, ist die wichtigste Quelle
und Autorität für die theologische Spekulation des späten Mittelalters. Daher kann Blumenberg
resumieren: "Die nicht überwundene, sondern nur transponierte Gnosis kehrt in Gestalt des
verborgenen Gottes und seiner unbegreiflichen absoluten Souveränität zurück. Mit ihr bekam es
die Selbstbehauptung der Vernunft zu tun.“ (ibid.)
"Augustins folgenreiche Wendung von der Gnosis zur menschlichen Freiheit rettet die 'Ordnung'
für das Mittelalter und bereitet die Wiederkehr des Aristoteles auf der Höhe der Scholastik vor. Der
Preis für diese Rettung des Kosmos war nicht nur die Schuld, die der Mensch sich daran zumessen
sollte, wie er die Welt vorfand, sondern auch die Resignation, die ihm seine Verantwortung für den
Weltzustand auferlegte: der Verzicht darauf, eine Wirklichkeit durch Handeln zu seinen Gunsten zu
verändern, deren Ungunst er sich selbst zuzuschreiben hatte. Die Sinnlosigkeit der
Selbstbehauptung war das Erbe der nicht überwundenen, sondern nur 'übersetzten' Gnosis."
(o.c.157)
Ich halte dafür, daß Blumenberg ungeachtet seines antireligiösen Vorurteils bzw. "blinden Flecks"
bedeutsame Zusammenhänge gesehen hat. Seine Thesen haben andere provoziert, weiterzudenken.
11.3 Positivistische Inversion der Gnosis?
Daß die Realität viel komplexer ist, als die einzelnen Schneisen, welche von einzelnen Forschern
durch den Wald geschlagen werden, glauben machen wollen, läßt sich am Beispiel Ernst Machs
(1838-1916), des Physikers und Wissenschaftshistorikers, der zum Begründer des österreichsichen
Positivismus und zum Ahnherrn des Wiener Kreises geworden ist, zeigen. (Als sich in den
zwanziger Jahren dieser Zirkel begründete, von dem die in den angelsächsischen Ländern lange
dominierende analytische Philosophie abstammt, nannte er sich "Verein Ernst Mach"; der Wiener
Kreis wollte damit dokumentieren, daß er die Gedanken Machs weiterzuführen beabsichtigte.)
In einem Aufsatz über Mach schildert Manfred Sommer dessen Schlüsselerlebnis:
"Im Jahre 1855 machte ein junger Mann, der eben angefangen hatte, Physik zu studieren, vor den
Toren der Stadt Wien einen Spaziergang. Es war, wie er drei Jahrzehnte später berichtet, ein
'heiterer Sommertag', als folgendes geschah: ganz 'plötzlich' fühlte er sein Ich nicht mehr der Welt
gegenüberstehen, sondern als eins mit ihr. Dieser mystische Augenblick der Ununterschiedenheit
Blumenberg, o.c., Neuausgabe: Säkularisierung und Selbstbehauptung, 1983²,
S.156.
138
120
von Ich und Welt, der Indifferenz von Subjekt und Natur ist, wie der Spaziergänger uns weiter
mitteilt, 'für seine ganze Anschauung bestimmend geworden'. Diese Anschauung bestand, wie sich
zeigen sollte, darin, daß es nichts Subjektives und nichts Objektives mehr gab, sondern nur noch
neutrale Empfindungen."139
Manfred Sommer hat sich gefragt, wie die Philosophie Ernst Machs mit seinem mystischen
Erlebnis an jenem heiteren Sommertag des Jahres 1855 zusammenhängt; seine Antwort lautet:
Machs Positivismus ist die Inversion der Gnosis.
Die geistige Situation, in der Mach lebt und denkt, ist geprägt vom cartesianischen Dualismus von
res cogitans und res extensa, Innenwelt und Außenwelt, Bewußtsein und Wirklichkeit. Da
innercartesianisch nicht auszumachen ist, daß es überhaupt eine Beziehung zwischen ihnen gibt,
geschweige denn, wie ein solches commercium aussehen könnte, wird das Bewußtsein, in dem das
Subjekt mit sich selbst vertraut wird, zu einer Dimension, die mit der realen Welt nichts mehr zu
tun hat.
Da ist es kein Wunder, wenn man eine Art Höhlenbewußtsein ausbildet, wie es schon in Platons
Höhlengleichnis als Ausdruck der Entfremdung literarisch ausgestaltet ist. Mach sagt einmal: "Die
Welt, von der wir doch ein Stück sind, kam uns ganz abhanden und wurde uns in absehbare Ferne
gerückt."140 - ein Stück gnostischer Mythos! Eine weitere gnostische Formel Machs lautet: "Gewiß
wird man sich aber wundern, wie uns die Farben und Töne, die uns doch am nächsten liegen, in
unserer physikalischen Welt von Atomen abhanden kommen konnten, wie wir auf einmal erstaunt
sein konnten, daß das, was da draußen so trocken klappert und pocht, drinnen im Kopfe leuchtet
und singt"141
Mach nimmt in einer Art prophetischer Heilsverheißung einen heilen monistischen Zustand
vorweg, von dem aus man verwundert auf den dualistischen zurückblicken wird. Sommer dazu:
"Auffällig ist hier: Im Innern der 'Höhle' ist es hell, und draußen ist es dunkel. Hier im 'Gefängnis'
'leuchtet und singt' es, während es dort draußen 'klappert und pocht'. Da haben sich, nimmt man die
antike Gnosis zum Vergleich, die Verhältnisse umgekehrt. Licht und Finsternis haben ihre Plätze
getauscht: Hell leuchtend ist nicht der gute Gott dort draußen (Pneuma) und dunkel ist nicht die
böse Welt hier innen (Kosmos). Diese Umkehrung - helles Diesseits, dunkles Jenseits - ist eine
erste Komponente dessen, was ich mit Inversion der Gnosis bezeichne."142
11.4 Das gnostische Rezidiv als Gegenneuzeit (Taubes, Marquard)
Die Rede vom Ende der Neuzeit ist in den 70er Jahren von konservativ-christlichen Kreisen auf
andere, kulturkritische übergesprungen. Es gab die Diskussion um die sog. Postmoderne.
Jacob Taubes sagt einmal: "...vorausgesetzt, daß die Thesen von Hans Blumenberg Gewicht haben,
und man sagen kann, daß die Neuzeit eine endgültige Überwindung der Gnosis darstelle, so ist zu
fragen, ob das gnostische Rezidiv seit den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts nicht ein Ende
jener Jahrhunderte überspannenden Sinnstruktur, genannt "Neuzeit", anzeigt, so daß der Topos:
"Ende der Neuzeit", zuerst als kulturkritischer Gemeinplatz in Umlauf gekommen, nicht doch ein
Symptom für eine Krise im Selbstverständnis der Gegenwart seit dem Ende des 1.Weltkriegs
darstellt."143
Manfred Sommer, Positivismus als Inversion der Gnosis: Ernst Mach. In:
Gnosis und Mystik in der Geschichte der Philosophie. Hrsg.v.Peter Koslowski.
Artemis Verlag Zürich und München 1988. S.276-295.
140 Ernst Mach, Die Analyse der Empfindungen, Jena, 6.Aufl. 1922, 9.
141 Ernst Mach, Populär-wissenschaftliche Vorlesungen, Leipzig 5.Aufl. 1923,
S.244.
142 M.Sommer, o.c. 286.
143 Jacob Taubes, Das stählerne Gehäuse und der Exodus daraus oder ein Streit um
Marcion, einst und heute. In: Ders., Hrsg., Religionstheorie und Politische
Theologie, Bd.2, Gnosis und Politik. München etc. 1984. S.9-15.
139
121
(Angekündigt habe sich diese Wende schon in Max Webers frühen Studien zum "Geist des
Kapitalismus", 1905. In diesem Zusammenhang bezeichnet Taubes Max Webers Terminus
"Verhängnis" als "gnostische Hieroglyphe" - ein wie mir scheint etwas großzügiges Verfahren der
Zuordnung zur Gnosis. Ein wichtiger Beitrag zu dieser Diskussion um die Krise der Moderne
stammt von Karl Löwith: Das Verhängnis des Fortschritts. Verhandlungen des Siebten Deutschen
Kongresses für Philosophie 1962, edd. H.Kuhn, F.Wiedemann, München 1964, 15-29.)
Odo Marquard über dieses gnostische Rezidiv:
"Es liegt in der Konsequenz von Blumenbergs Ansatz, zu sagen: der Nominalismus ist die
Wiederbelebung, die Wiederkehr der Gnosis: die Rache der Gnosis an ihrer ersten
Überwindung".144
"Die Negation der Universalien ist ein eschatologischer Vorgang, sozusagen auch ein Weltende:
das Ende der alten Erkennbarkeit der Welt. Die Universalien-Negation - durch die Weltfremdheit
des Gottes der 'potentia absoluta' - ist Weltnegation: Nominalismus ist Negativierung der Welt
durch Positivierung der Weltfremdheit Gottes."145
Das Schema der Eschatologie146 macht es komplizierter, ist aber tatsächlich nicht zu umgehen. Die
gnostische Negativierung der Welt und Positivierung der Weltfremdheit verbindet sich
unvermeidlich mit Gedanken der biblischen Eschatologie: die Welt ist übel und böse; sie kann
erlöst werden nur noch durch ihr Ende. Aber dieses heilsbringende Ende läßt auf sich warten und
bleibt aus ("verzögerte Parusie"): Gott zögert. Das löst auf Seite des Menschen zunächst Ungeduld
aus. Es kommt - weil das Weltende auf sich warten läßt und ausbleibt - zu interimistischen
Erlösungssuchen: dem gnostisch-spekulativen Weg in die Innerlichkeit und dem - gnostischmanichäischen Weg ins Engagement für das gute Prinzip gegen das böse.
Mit Hans Urs von Balthasar kann man es auch so ausdrücken:
"Zwei Richtungen also bedrohen vor allem die christliche Endlehre: der vulgäre wie gelehrte
Chiliasmus maßt sich einen innergeschichtlichen Absolutheitsstandpunkt an, zieht den Himmel auf
die Erde herab, die naturalistische Gnosis stellt den Menschen auf den jenseitigen
Absolutheitsstandpunkt, hebt ohne Sprung die Erde in den Himmel."147 Das scheint ein praktisches
Kriterium der verschiednen geistigen Strömungen unseres Jahrhunderts zu sein.
Ein Haus, das einsturzgefährdet ist und mich daher existentiell bedroht, kann ich entweder fliehen
oder zerstören. ("Macht kaputt, was euch kaputt macht!") Konversion und Revolution sind die zwei
Möglichkeiten.
Berühmte Beispiele für Konversionen sind die des Paulus vor Damaskus und die des Blaise Pascal,
dokumentiert in seinem Memorial von 1654. Letztere wird oft mit der cartesischen "certitude"
kontrastiert, die anscheinend erfolgreicher war.
Thomas Macho stellt dazu fest:
"Angesichts der theoretisch postulierten Differenz zwischen einem gütigen oder einem boshaften
Gott zog sich Descartes auf den Boden der Selbstvergewisserung zurück; Pascal dagegen fing
Feuer an der Erfahrung einer Differenz zwischen dem Gott der Gelehrten (der Philosophen wie
Odo Marquard, Das gnostische Rezidiv als Gegenneuzeit. In: J.Taubes,
Religionstheorie und Politische Theologie, Bd.2, Gnosis und Politik, München
etc. 1984, S.31-36. S.32
145 l.c.
146 Literatur zum Stichwort "Eschatologie": H.U.v. Balthasar, Eschatologie. Die
Theologie der letzten Dinge. In: Theologie heute. Eine Vortragsreihe des
Bayerischen Rundfunks, hrsg. v. Leohard reinisch. München, Beck, 1959.
Christian Schütz, Grundlegung der Eschatologie. In: Mysterium Salutis. Grundriß
heilsgeschichtlicher Dogmatik.
Josef Ratzinger, Eschatologie - Tod und ewiges Leben. Kleine katholische
Dogmatik Bd.X, Regensburg 1977
147 H.U.v.Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele. Studie zu einer Lehre von
letzten Haltungen. Bd.I. Der deutsche Iealismus. Salzburg-Leipzig 1937. S.26.
144
122
Theologen) und dem lebendigen Gott eines kontingenten Offenbarungsgeschehens. In der
wahrheitstheoretischen Auseinandersetzung zwischen Descartes und Pascal stand die Frage des
Wissens - die Frage der Gnosis - in elementarer Hinsicht zur Disposition. Welche Auffassung den
Sieg davongetragen hat, ist bekannt. Die Gnosis wurde durch Diagnosen überwunden."148
Macho trauert über die Niederlage der gnostischen Konversion und sucht die Spuren eines
gnostischen undergrounds, der gegen den mainstream der römisch-katholischen Welteroberung am
Primat der Seele festhält. - Sie sehen, daß das, was Voegelin den gnostischen Bewegungen, wie er
sie versteht, vorwirft, nämlich ein Herrschaftswissen, vom Freund der Gnosis Macho der
christlichen Großkirche vorgeworfen wird. - Descartes und alles, was er nach sich zog, samt der
Kirche auf der einen Seite, Pascal und der underground auf der anderen Seite. - Solche
Einteilungen führen in die Irre. Wahr an ihnen sind nur die Zusammenhänge, aber die lassen sich
nicht zähmen und in ein System bringen.
Was ist nun mit "gnostisches Rezidiv" eigentlich gemeint? Dazu könnte man einzelne "Symptome"
(um in der medizinischen Terminologie zu bleiben) heranziehen, vielleicht möglichst kräftige wie
die Anthroposophie. Das stärkste Symptom einer Krankheit ist der durch sie hervorgerufene exitus.
Reden wir also gleich vom "Tod des Subjekts", einem typischen Thema der jüngsten Jahrzehnte.
Am Anfang steht die Kritik Nietzsches an Descartes' Satz "Ego cogito, ergo sum". - "Es gibt keine
unmittelbaren Gewißheiten: cogito, ergo sum setzt voraus, daß man weiß, was 'denken' ist und
zweitens was 'sein' ist. es wäre also, wenn das est (sum) wahr wäre, eine Gewißheit auf Grund
zweier richtiger Urtheile, hinzugerechnet die Gewißheit, daß man ein Recht überhaupt zum
Schlusse, zum ergo hat - also jedenfalls keine unmittelbare Gewißheit."149
"Nietzsche stellt diesem cartesianischen Ansatz einen anderen Ausgangspunkt und eine andere
Behandlungsart gegenüber. Er hat beides - die thematische und die methodische Umstellung - auf
eine Formel gebracht, die in die Zeit der eben zitierten Auseinandersetzung mit Desacrtes gehört:
'Wesentlich, vom Leibe ausgehen und ihn als Leitfaden zu benutzen.' (Ebd. S. 635) Nicht das
Denken bildet den Ausgangspunkt der von Nietzsche projektierten neuen Philosophie, sondern der
Leib, doch dieser fundamentale Paradigmenwechsel ist auch für die Behandlungsart der neuen
Thematik nicht ohne Folgen: An die Stelle der einheitlichen, 'die' Wahrheit gewährleisten sollenden
Methode rückt der 'Leitfaden'; eine vorsichtigere, beweglichere, aber auch gefährlichere
Orientierungsmöglichkeit ist damit gemeint (auch wenn an anderer Stelle Nietzsche der
Physiologie exemplarischen Charakter zuerkennt), wenn auch damit der Vorrang der Methode
gegenüber der 'Realität' im Vergleich zu Descartes womöglich noch gesteigert ist - das Bedürfnis
nach Sicherung wächst angesichts höchster Unsicherheit, und eine Welt von solcher Art, daß es zur
Orientierung in ihr einen Leitfaden braucht, heißt, wie bekannt, Labyrinth."150
Im Gefolge Nietzsches ist ein wichtiger Meilenstein die Descartes-Interpretation Martin
Heideggers. Darin ist ein Grundgedanke: Mit Descartes wird die Auslegung des Menschen als
Subjekt vollzogen. Damit vollzieht sich ein grundsätzlicher Wandel in der Auslegung des
Verhältnisses des Menschen zum Sein.
"Haec cognitio, ego cogito, ergo sum, est omnium prima et certissima, quae cui libet ordine
philosophanti occurat."151
Heidegger "übersetzt", d.h. interpretiert, das cogitare als Vorstellen. Damit erhält das Wesen des
Menschen eine bisher nicht gekannte zentrale Stellung, und die spätere Kritik am Subjekt geht von
Peter Sloterdijk/Th.H.Macho (Hrsg), Weltrevolution der Seele, Bd.II, S.493
Nietzsche, Krit. Studienausgabe Bd. 11, München 1980, S. 641.
150 Helmuth Vetter, Welches Subjekt stirbt? In: Tod des Subjekts? Hrsg.v. Herta
Nagl-Docekal und Helmuth Vetter, Wien München (R.Oldenbourg) 1987 (=Wiener
Reihe Themen der Philosophie Bd 2). S. 30f.
151
R.Descartes, Principia I 7, in: Ch.Adam/P.Tannéry (Hrsg.), Oeuvres de
Descartes VIII-1, Paris 1964, S.7.
148
149
123
diesem "Zentrismus" aus. Die Kritiker erkennen in solchem Zentrismus einen "Machtanspruch".
Koslowski: Absolute Vernunftherrschaft ist ein verfehltes Projekt der Moderne. Der
Linkshegelianismus und Marxismus als der Diskurs der Moderne sind eine Form der Gnosis ohne
transmundanen Erlöser.
Ich gehe jetzt nicht darauf ein, ob mit der kritischen Abrechnung mit dem neuzeitlichen
Subjektbegriff nicht nur eine isolierte Fragestellung, sondern die Philosophie selbst auf dem Spiele
steht. Mit den verschiedenen Versuchen, das vernünftige autonome Subjekt als eine Fiktion zu
erweisen und es einer Theorie der irreduziblen Pluralität und historischen Kontingenz der
Bedingungen allen Denkens und Handelns aufzulösen, bzw. alle Ansprüche auf Wahrheit und
normative Verbindlichkeit genealogisch zu entlarven, verbindet sich ja die These vom Ende der
Philosophie.152 Ich rede auch nicht davon, was es bedeuten könnte, jenseits des "Grundsätzlichen",
also "postmodern", nach dem Tod des Subjekts dennoch zu philosophieren; nicht von Lyotard,
Foucault, Derrida etc.
Ich mache nur auf die Assoziation zur Gnosis aufmerksam, die einem in diesem zeitgenössischen
Diskurs kommen muß.
Entweltlichung, Rückkehr zum transzendenten Ursprung: das ist die Lehre, die Heilslehre der
Gnosis nach dem vorherrschenden Verständnis in unserem Jahrhundert.
Das Gegenteil ist dann "Verweltlichung", also das, was bei Husserl "objektivierende Auffassung"
und bei Heidegger "Verfallen" genannt wird.153 Ist also der von Nietzsche, Husserl und Heidegger
eingeleitete Prozeß wirklich eine Wiederkehr der Gnosis? Vielleicht beantwortet sich diese Frage
von selbst, wenn man zusätzlich frägt: überwiegt das Gemeinsame oder das Trennende?
11.5 Existentialanalytik als pneumatische Gnosis oder Meta-Gnosis?
1928 hat Hans Jonas mit einer Dissertation in Marburg bei Heidegger promoviert, aus der er dann
sein Werk "Gnosis und spätantiker Geist" weiterentwickelt hat. Rudolf Bultmann hat das Entstehen
dieses Werks mit aufmerksamer Anteilnahme verfolgt. Das ist interessant, weil Jonas damit von
vornherein in den Zusamenhang der phänomenologischen Schule gestellt ist. Die husserlsche
"objektivierende Auffassung" spielt denn auch eine zentrale Rolle bei Jonas. Daß, mit Husserl, das
Bewußtsein seine Erlebnisse objektiviert; daß, mit Heidegger, das Dasein sich verweltlicht und der
Welt verfällt; daß, mit Bultmann, das Heilsereignis welthaft verstanden und in Mythen
vergegenständlicht wird: darin manifestiert sich durchgängig eine Tendenz zur Veräußerlichung und
Hypostasierung. Vom Ich zum Ding, vom Dasein zur Welt, vom Ereignis zum Symbol. Diese
gleichsam natürliche Inklination macht den Gegenzug entsprechend mühsam. Was not tut, mag
"phänomenologische Reduktion", Wende zur "Eigentlichkeit" oder "Entmythologisierung" heißen:
immer geht es um die schwierige Zurückholung des 'Subjekts' aus den 'Objekten', an die es sich so
leicht verliert und in denen es sich so gern verkennt. Diese zwei konträren Bewegungsrichtungen 'Objektivation' und 'Resubjektivierung', 'Verweltlichung' und 'Entweltlichung' - durchziehen denn
auch Jonas' Buch "Gnosis und spätantiker Geist" von Anfang bis Ende.154
Gesetzt den Fall, ein nachdenklicher Mensch des 20.Jh., der in dieser Schultradition aufgewachsen
ist, erkennt fasziniert in den Zeugnissen der alten Gnosis sein philosophisches Weltbild wieder. Er
erkennt auch das geschichtliche Fortwirken dieser alten Gnosis. Daß z.B. der genius malignus des
Herta Nagl-Docekal, Tod des Subjekts? Einleitung zum gleichnamigen Band
o.c., S.7f.
153
Vgl.Martin Heidegger, Sein und Zeit, 11., unveränd.Aufl., Max Niemeyer
Verlag Tübingen 1967, S.175f.: 38 Das Verfallen und die Geworfenheit. <Handout
10,1>
154 Manfred Sommer, Positivismus als Inversion der Gnosis: Ernst Mach. In:
Gnosis und Mystik in der Geschichte der Philosophie. Hrsg. v. Peter Koslowski.
Zürich und München (Artemis) 1988. S. 278.
152
124
Descartes, wenn auch nur als Hypothese, der fortwirkende gnostische böse Demiurg ist, ist ja nicht
zu übersehen. Er erkennt schließlich, daß er mit seinem Weltbild selbst in der gnostischen
Deszendenz steht. Er möchte Klarheit über die Bedingtheiten seiner eigenen Sicht gewinnen. Er
unternimmt es daher, die gesamte Geistesgeschichte im Licht des erkannten Zusammenhangs
durchzuarbeiten. Er kommt nicht sehr weit damit, weil ihm, was ihn ehrt, nach dem ersten Drittel
klar ist, welch ungeheure, in einem Menschenleben nicht zu bewältigende Arbeit er sich da
vorgenommen hat. Sein Werk bleibt aber ein außerordentlich interessantes Fragment. Es reizt, sich
zu überlegen, wie es weitergegangen wäre, und Spuren des Gesamtplans im ersten Teil
aufzufinden.
Manfred Sommer hat es versucht und eine These aufgestellt, die im Detail zu diskutieren hier
ebenfalls die Zeit fehlt. Er meint den Gesamtplan als einen Dreischritt zu erkennen, der dem
gnostischen Schema der drei Stufen des Humanen entspricht: Hyle, Psyche, Pneuma, dieses als
geschichtliche Entwicklung vom Niederen zum Höheren darstellt. Gnosis wäre demnach nicht
etwas ein für allemal dingfest zu Machendes, sondern ein sich Entwickelndes.
Es beginnt mit dem Mythos, mit der mythologisch-objekthaften Gestalt der Gnosis, in der die
Entweltlichung selber weltlich-kosmisch dargestellt, also "verweltlicht" ist.
Aber der Weg, den die Gnosis als eine Gestalt menschlicher Daseinsauslegung in der Geschichte
zurücklegt, ist selber gnostisch-weltflüchtig. Während im Mythos noch die "Verweltlichung" der
Entweltlichungstendenz dominiert, hat die "mystische Philosophie" diese Entweltlichungstendenz
selbst schon ein Stück weit entweltlicht. In der neuplatonischen Metaphysik, die hier gemeint ist,
wird nämlich das äußerlich-kosmische Heilsdrama zu einem innerseelischen Vorgang und somit
"die Entweltlichung ganz ins Innere hineingenommen". (Jonas, o.c., I., S.63) Aber: als Metaphysik
hat sich der Neuplatonismus noch nicht restlos von der "Verweltlichung", sprich: Verdinglichung,
befreit. Schon subjektivierend, aber noch objektivierend; schon "ins Innere" gekehrt, aber noch an
Hypostasen gebunden: so ist die Entweltlichungstendenz im Neuplatonismus noch nicht zu ihrer
"eigentlichen", das heißt restlos entweltlichten Darstellung gekommen. Dies gelingt erst in der
dritten und letzten Phase: in eben der Daseinsanalyse, die Jonas alias Heidegger selber in seinem
Gnosis-Werk darstellt. Das ist also das Grundschema der sukzessiven Entweltlichung: die Gnosis
ist, erstens als Mythologie 'kosmisch'; zweitens als Metaphysik 'psychisch'; und drittens als
Existenzanalyse 'pneumatisch'.155
Wenn das stimmte und Jonas tatsächlich dieser Dreischritt vorschwebte, so hätte er sein eigenes
Werk also als Endgestalt der Gnosis aufgefaßt. Wohlgemerkt: diese Endgestalt selbst und nicht nur
deren historisch-distanzierte Darstellung.
Aber erstens hat er dieses Werk nicht zu Ende geführt. es gibt neben der Darstellung der narrativmythologischen und der mystisch-metaphysischen Gnosis nicht noch eine eigene existenziale.
Sommer meint, im Übergang von der ersten zur zweiten Stufe bzw. in der Darstellung dieses
Übergangs liege selbst schon die dritte.
Ich halte mich lieber an die Aussage von Jonas, seine Darstellung sei ironisch gemeint.
Zwischen dem Anfang des Werks von Hans Jonas und seinem als vorläufig deklarierten, aber dann
doch endgültigen Ende liegt die Katastrophe des 20. Jahrhunderts, die in ihrem Charakter als
Apokalypsis - Enthüllung des Wesens des Menschen und seines Gottes - sich erst durchsetzen muß.
Ein anderer deutscher Jude, der diese Katastrophe ebenfalls in Amerika überlebt hat, hat vielleicht
die treffendste Erklärung für das Abbrechen der Arbeit von Hans Jonas gegeben: Theodor
Wiesengrund Adorno, mit den Schlußsätzen seiner Minima moralia.156
M.Sommer, o.c. 283.
Theodor W.Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1951. S.333f. <Handout 10,2> Vgl. Ders.,
Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen. Dritte, erweiterte Ausgabe,
155
156
125
Inhalt
1. Einleitung
1.1 Drei Texte (Perlenlied, Böhme, Bloch)
1.2 Zugänge (Biographie, "Wiederkehr der Religion", Wiederbegegnung von Philosophie
und
Theologie, Projekt der Moderne, Hilfsdisziplinen der Religionsphilosophie,
Definitionsfragen zu "Religion" und "Religionsphilosophie", Wozu heute
Religionsphilosophie?, Zusammenhang mit dem Thema "Gnosis"
1.3 Überblick über die Vorlesung; Literaturempfehlung
2. Umfang des Sachgebiets, Definitionsfragen
2.1 Der Terminus "Gnosis"; ginóskein; Abgrenzung gegen aisthánesthai, dokein, doxázein;
Zusammenhang mit eidénai; Erkenntnistheorie der Griechen (Plato Resp 476 c ff., 50c
ff.)
2.2 Gnosis als historische religiöse Bewegung
2.2.1 Die Frage ihrer "Herleitung" (hellenistische, orientalische, heterodox-jüdische)
2.2.2 Die Frage ihres "Wesens" (Paradigma für das Grundproblem der
Religionsphilosophie; Vielgestaltigkeit; Grundzüge - der Begriff "gnosis"
selbst,
Dualismus, Kosmologie, Soteriologie, Eschatologie, Gemeindestruktur, Kult)
2.3 Geschichtlicher Umfang des Sachgebiets
2.3.1 Zeittafel, Entstehungszeitraum (Apokalyptik und Weisheitsliteratur)
2.3.2 Mittelalterliche Ketzerbewegungen
2.3.3 Wirkung auf den Islam
3. "Gnosis" als Zentralbegriff der spätantiken Gnosis - Fragen zur Typologie
3.1 Erkennntis des eigenen Geist-Selbst des Gnostikers und der mit diesem Geist-Selbst
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1966, s.197ff.: "Wenn Haecker gegen den
Kiekegaardschen Spiritualismus sagt: 'Der Mensch soll Geist werden, als der er
angelegt ist, wenn möglich reiner Geist, ein fast gnostischer Irrtum
Kierkegaards': dann setzt Gnosis von der Bestimmung des Menschen als eines bloß
Geistigen sich fort in einer Theologie, die Gott in die Kategorien des reinen
Geistes einordnet, als der ihm der Mensch erscheint; damit aber Gott in jene
Natur auflöst, welche in Wahrheit gerade die absolute Spiritualität des
Menschen ist. Mythische Dialektik verschlingt den Gott Kierkegaards wie Kronos
seine Kinder."
126
konsubstantialen Gottheit. "Wer wir sind"; Philosophie des Subjekts
3.1.1 Gnostischer Kunstmythos und Idealtypos
3.1.2 Wer bin ich?
3.1.3 Gnôthi sautón
(1) Bescheidung
(2) Entfremdung
3.1.4 Selbsterfahrung und Gotteserfahrung
3.2 Offenbarung (Anthropogonie, Theogonie)
3.3 Erlösung
3.3.1 Erlösung im christlichen Verständnis
3.3.2 Zu Erlösung, Erlöstsein, Erlöser in der Gnosis
3.3.3 Mythos
(1) Literatur
(2) Allgemeines
(3) „Entmythologisierung“, „Arbeit am Mythos“
(4) Dialektik der Aufklärung
(5) Albert Camus, Der Mythos von Sisyphos
(6) Zur Annahme eines gnostischen Grundmythos
3.4 Dualismus
3.4.1 Aspekte des gnostischen Dualismus
3.4.2 Der gnostische Dualismus im religionsgeschichtlichen Vergleich
3.5 Der unbekannte Gott
3.5.1 Areopag-Rede
3.5.2 Negative Theologie
3.5.3 Abstraktion
3.5.4 Das Böse
4. Quellenkunde
4.1 Vorbemerkung
4.2 Die sekundären Quellen
(1) Justin, (2) Irenäus, (3) Hippolyt, (4) Tertullian, (5) Clemens,
(6) Origenes, (7) Eusebius, (8) Epiphanius, (9) Spätere
4.3 Primärquellen
4.3.1 Quellenzitate bei den Häresiologen
4.3.2 Weitere Originaltexte
4.3.3 Der Nag Hammadi - Fund
5. Zur Geschichte und Methodologie der Forschung
5.1 Ältere Forschung
5.2 Hans Jonas
5.3 Aspekte der gegenwärtigen Forschungssituation
5.3.1 Einsicht in die Zirkelstruktur der typologischen und historischen
Abgrenzungsversuche
5.3.2 Einsicht in die "Arbeit des Mythos" in der Philosophie
5.3.3 Faszination der Ansätze einer theologischen Ästhetik
5.3.4 Berührungspunkte der Gnosis mit dem Existentialismus
5.3.5 Glanz und Elend der Phänomenologie
6. Gnosis und Neues Testament
6.1 1 Kor 13
127
6.2 Literatur
6.3 Das hermeneutische Problem
6.4 Die Fakten
6.5 Erläuterung
6.5.1 Konkurrenz
6.5.2 Gegensätze
6.5.3 Innerchristliche Erscheinung
6.5.4 Einfluß
6.5.5 Methodologische Reflexion
7. Gotteserkenntnis, Schau und Vollendung bei Philo Alexandrinus
7.1 Zur Person Philos
7.2 Philos Werke
7.3 Unterschiede in der Handhabung der allegorischen Methode
7.4 Gotteserkenntnis bei Philo
7.5 Transzendenz und Immanenz Gottes
7.6 Die Wurzeln des philonischen Agnostizismus
7.7 Mittelbare Gotteserkenntnis ("Kann man Gott aus der Natur erkennen?")
7.8 Unmittelbare Gotteserkenntnis
7.9 Die zwei Grundmöglichkeiten: Pistis und Gnosis
8. Plotins Schrift "Gegen die Gnostiker" II 9 (33)
8.1 Zur Person und zur Stellung Plotins in der Geistesgeschichte
8.2 Charakterisierung aus religionsphilosophischem Blickwinkel
8.2.1 Religiöse Färbung
8.2.2 "Ich"
8.2.3 Konkrete Religion interessiert kaum
8.2.4 Grundmotive
9. Die christlichen Alexandriner
9.1 Gleichzeitigkeit der großen Systeme
9.2 Der Wegbereiter: Clemens Alexandrinus
9.3 Platonismus und Gnosis bei Origenes
10. Augustinus
10.1 Allgemeines
10.2 Dualismus
10.3 Freiheit und Gnade
10.4 Wirkung auf die weitere Geistesgeschichte
11. Gnosis als ideenpolitischer Begriff im 20. Jahrhundert
11.1 Denuntiation des neuzeitlichen Denkens als "gnostisch"
11.2 Die Neuzeit - zweite und endgültige Überwindung der Gnosis?
11.3 Positivistische "Inversion" der Gnosis?
11.4 Das "gnostische Rezidiv als Gegenneuzeit"?
11.5 Existentialanalytik als "pneumatische Gnosis" oder "Meta-Gnosis"?
128
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