PHILOKTET 1950 Eingerichtet auf dem Gestirn unseres Schmerzes als Baracke. Aber fester denn jede Festung und dauernder. Ausgesetzt den bittersten Wettern. Ewiges Provisorium: Ich.l t.'\,L~ Philoktet, in Händen das Schießzeug de~ Herakles, krank mit Aussatz ausgesetzt auf Lemnos, das ohne ihn leer war Von den Fürsten mit wenig Mundvorrat, zeigte da keinen Stolz, sondern schrie, bis das Schiff schwand, von seinem Schrei nicht gehalten. Und gewöhnte sich ein, Beherrscher des Eilands, sein Knecht auch An es gekettet mit Ketten umgebender Meerflut, von Grünzeug Lebend und Getier, jagbarem, auskömmlich zehn Jahre lang. Aber im zehnten vergeblichen Kriegsjahr entsannen die Fürsten Des Verlassenen sich. Wie den Bogen er führte, den weithin Tödlichen. Schiffe schickten sie, heimzuholen den Helden Daß er mit Ruhm sie bedecke. Doch zeigte sich der da von seiner Stolzesten Seite. Gewaltsam mußten sie schleppen an Bord ihn Seinem Stolz zu genügen. So holte er nach das Versäumte. Johannes Bobrowski Das Wort Mensch Das Wort Mensch, als Vokabel eingeordnet, wohin sie gehört, im Duden: zwischen Mensa und Menschengedenken. Die Stadt alt und neu, schön belebt, mit Bäumen auch und Fahrzeugen, hier hör ich das Wort, die Vokabel hör ich häufig, ich kann aufzählen von wem, ich kann anfangen damit. Wo Liebe nicht ist, sprich das Wort nicht aus. Christa Wolf "Nichts weiter als ein Mensch sein" Giinltr Kli1/trl 50 51 Auch bier (siehe Text 24) erinnert sich die Verfasserin an ihre Studienkam~radin Christa T. (Krischan) : Mir fällt ein, daß wir sie nie fragen konnten: Was wiJ]st du werden? Wie 'man andere doch fragt, ohne fürchten zu müssen, an Unaussprechliches zu rühren. Man saß sich gegenüber, im Oberstock unseres Stammcafes (Christa T. hatte die Universität gewechselt, auch das Fach, sie studierte das dritte, vierte Jahr, als ich sie wiedertraf), sie blätterte in 1 Aus: Notizen in Kreide. In : Verkündigung des Wetters. München 1966, S. 7. At Aufzeichnungen. Man sieht sie oft an diesem runden Marmortisch in der Nische sitzen, mit verschiedenen Leuten, die nur mit ihr, nicht untereinander befreundet sind. Sie sitzt auch allein da, sie hat zu tun, scheint es. Sie bereitet sich vor - worauf? Mit den letzten Pfennigen Stipendium bezahlt sie den billigen dunklen Kuchen, sie tut, was alle tun, warum soll man sie nicht fragen dürfen, es wäre ja gelacht: Was willst du werden, Krischan ? Da läßt sie die Kladde sinken, mit einer Bewegung, die man nicht gesehen haben will, da hat sie das Seminar vergessen, das ihr Sorge machte, kann lange hinaussehen, hinunter auf die Leute, die einzeln und in Gruppen aus der dunklen gegenüberliegenden Gasse treten, sich trennen, einander noch einmal zuwinken oder gemeinsam weitergehen: Alltäglicher konnte kein Schauspiel sein. Was sah sie denn? Also? - Der bekannte Blick, dunkel, leicht spöttisch, ein wenig vorwurfsvoll. Ich? Lehrerin doch wohl? konnte sie fragen. Da gab man es auf, da schwieg man, ließ die Sache auf sich beruhen, bestand nicht darauf, sie festzulegen, da allzu deutlich war: Sie konnte es wirklich nicht wissen. Sie gab sich ja Mühe hineinzupassen, sie fiel nicht aus bloßem übermut heraus. Sie hatte ja den guten Willen, sich einen Namen zuzulegen, die auf andere so vorzüglich zutrafen, sie hat es sich als Mangel angekreidet, daß sie nicht fröhlich wie aus der Pistole geschossen erwidern konnte: Lehrerin, Aspirantin, Dozentin, Lektorin. .. Ach, sie traute ja diesen Namen nicht. Sie traute sich ja nicht. Sie zweifelte ja, inmitten unseres Rauschs der Neubenennungen, sie zweifelte ja an der Wirklichkeit von Namen, mit denen sie doch umging; sie ahnte ja, daß die Benennung kaum je gelingt und daß sie dann nur für kurze Zeit mit dem Ding zusammenfällt, auf das sie gelegt wurde. Sie zuckte davor zurück, sich selbst einen Namen aufzudrücken, das Brandmal, mit welcher Herde in welchen Stall man zu gehen hat. Leben, erleben, freieI großeI Leben! 0 herrliches Lebensgefühl, daß du mich nie verläßt! Nichts weiter als ein Mensch sein. . . Was willst du werden, Krischan ? Ein Mensch? Nun weißt du . . .' Sie ging ja schon. Sie gab ja zu, daß man an sich zu arbeiten hatte. Sie verschwand für Tage. Sie arbeite, hieß es, und wir taten, als glaubten wir daran; dann war sie wieder da, kurz vor den Prüfungen. Wir hatten den ganzen Stoff schon wiederholt, wir hatten schon unsere Kladden ausgetauscht, hatten schon Auszüge gemacht und Karteikarten angelegt, hatten Lernkollektive gebildet und waren Verpflichtungen eingegangen: Keine Durchschnittsnote unter "gut" I Da erschien sie wieder und konnte sich unschuldsvoll nach den Themen erkundigen. Wir verbargen unsere Verzweiflung. Anstatt sie in der nächsten Versammlung zu befragen, wo sie denn um Gottes willen gewesen sei, womit sie denn ihre Tage hingebracht habe, anstatt sie zur Verantwortung zu ziehen, steckte man ihr Hefte zu, bot ihr Hilfe an. Günter, unser sommersprossiger Sekretär, legte ihr seine Tabellen vor: wie sie durch schlechte Lernergebnisse die Durchschnittsnoten ihrer Seminargruppe drücken werde. Ob sie das wirklich wolle? Um keinen Preis J sagte Christa T., ihr seid - ja alle so tüchtig I Sie ging zu einer Freundin, Gertrud Born, und ließ sich das Vers schema der Merseburger Zaubersprüche abfragen, gehorsam deklamierte sie: Ik gihÖrta dat seggen, es wurde spät, sie mußte nach Hause gebracht werden. Es stellte sich heraus, daß sie Dostojewski gelesen hatte und nun nachdenken mußte über die BehauptUng, das Allerweichste könne das Allerhärteste be. siegen. Ob dieser Satz immer gelte, mußte man sich doch fragen. Wolf Biermann Rücksichtslose Schimpferei 1 Ich Ich Ich bin voll Haß bin voll Härte der Kopf zerschnitten das Hirn zerritten Ich will keinen sehn I Bleibt nicht stehn t Glotzt nicht I Das Kollektiv liegt schief Ich bin der Einzelne das Kollektiv hat sich von mir isoliert Stiert mich so verständnisvoll nicht an I Ach, ich weiß ja schon Ihr wartet mit ernster Sicherheit daß ich euch in das Netz der Selbstkritik schwimme Aber ich bin der Hechtl Ihr müßt mich zerfleischen zerhacken, durchn Wolf drehn wenn ihr mich aufs Brot wollt I )8 2 Ja, wenn ich zahnlos wäre nenntet ihr mich reif Wenn ich bei jeder fetten Lüge milde lächeln würde wär ich euch der Kluge Wenn ich über das Unrecht hinweggehn würde wie ihr über eure Frauen hinweggeht - ihr hättet mich schon längst in euer Herz geschlossen 3 Das Kind nicht beim Namen nennen die Lust dämpfen und den Schmerz schlucken den goldenen Mittelweg gehen am äußersten Rande des Schlachtfelds den Sumpf mal Meer, mal Festland nennen das eben nennt ihr Vernunft Und merkt nicht, daß eure Vernunft aus den Hirnen der Zwerge aus den Schwänzen der Ratten aus den Ritzen der Kriechtiere entliehen ist? Ihr wollt mir den Kommunismus predigen und seid die Inguisition des Glücks. Ihr zerrt die Seelen auf den Feuerpfahl. Ihr flechtet die Sehnsucht auf das Rad. Ihr I Geht mir weg mit euren Schwammfressen I Geht beleidigt und entrüstet I Geht mit Kopfschütteln über meine falsche Haltung aber Geht I 4 Ich will beharren auf der Wahrheit ich Lügner 5 Ich habe euch lieb Hier habt ihr den Schrieb schwarz auf weiß ich liebe euch heiß aber jetzt laßt mich bitte allein sein auf der schiefen Linie getrennt vom Kollektiv Ich liege eben schief Ich lieg bei meiner Frau und die kennt mein Herz Günter Kunert Individueller Ausbruchsversuch 1 Allein zu sein: Allein. Allein Das ist die Trübsal und die seltne Eigenheit Des großen Menschenaffen dieses abgeplatteten Planeten. 2 Worin er umgeht: Sein besondres Fleisch, Wuchs auf zur Dornenhecke mit der Menschenaffe112eit Die er sich manchmal mühte zu zertreten 3 Und auszuroden. Immer neu gefangen Gewaltig rüttelnd am Gegitter seines Ich: Daraus kann ihn kein anderer befrein. 4 Das hofft ans Ziel noch einmal zu gelangen Und kommt nicht weiter als zu sich Und steht am Ende wieder da: Allein. Allein. Sarah Kirsch Der Droste würde ich gern Wasser reichen Der Droste würde ich gern Wasser reichen in alte Spiegel mit ihr sehen, Vögel nennen, wir richten unsre Brillen auf Felder und Holunderbüsche, gehen glucksend übers Moor, der Kiebitz balzt Ach, würde ich sagen, Ihr Levin2 schnaubt nicht schon ein Pferd? Die Locke etwas leichter - und wir laufen den Kiesweg, ich die Spätgeborne hätte mit Skandalen aufgewartet - am Spinett das kostbar in der Halle steht spielen wir vierhändig Reiterlieder oder das Verbotene von Villon3 Der Mond geht auf - wir sind allein Der Gärtner zeigt uns Angelwerfen bis Levin in seiner Kutsche ankommt der schenkt uns Zeitungsfahnen, Schnäpse gießen wir in unsre Kehlen, lesen Beide lieben wir den Kühnen, seine Augen sind wie grüne Schattenteiche, wir verstehen uns jetzt gründlich auf das Handwerk FISCHEN Kleine Adresse Aufstehn möcht ich, fortgehn und sehn, ach, wär ich Vogel, Fluß oder Eisenbahn, besichtigen möcht ich den Umbruch der Welt. Wo ist die Praxis hinter der Grenze? Wo Steppen kombinate ? Slums? Streiks? Weizen im Meer? Segen und Fluch der Zivilisation? Warum nicht New Y ork? Durch alle Straßen muß ich in Stöckelschuhn, dreieckige Birnen suchen im U-Bahn-Schacht, gehn, alles sehn, was ich früh aus spreu trockenen Zeitungen klaube. Dann, wenn ich müde und traurig bin 2 Levin Schücking (1814-1883), Schriftsteller, Freund der Droste. S Vgl. Anm. 5, S. 140. A9 Jens Gerlach vielleicht stirnrnts, Aluminiumfassaden, am Cityrand DreCk - } fahr ich im Lift in die x-te Etage, rede mit der Klimaanlage, nehm einen Drink, notiere das klassenbewußte Broadway-Gedicht. Pack meinen Koffer, werfe ein blutendes Plasteherz ein, und weiter gehts, gradaus nach Sibirien, wo Bäume geerntet werden. Hah, wie schrein die elektrischen Sägen, wie steigt Sägemehl pyramidenhoch, wie wuchert der Wald, wie brechen die Städte heq:inl Und die Flüsse! Im Boot will ich sein, über Fische treiben, die werden gefangen wie immer, doch die ergrauten Söhne der Fischer baun Wasserkanonen, zersägen mittlere Berge damit, setzen Staudämme ein und verteilen das Wasser gerecht. Mit ihnen rede ich nächtelang, Gebratenes kauend und Wodka. Ach, warum bin ich Dichter, ackre den Wagen der Schreibmaschine übers kleine Papierfeld, fahr Taxi und koche mit Wasser? Wär ich Ardenne4, Gewichtheber, fluß oder Eisenbahn fortgehen möcht ich, sehn und wiederkommen. Reiner Kunze Pfarrhaus (für pfarrer W.) Wer da bedrängt ist findet mauern, ein dach und muß nicht beten 4 Prof. Manfred v. Ardenne, Dresden, bekannter Naturwissenschaftler ich weiß nicht was soll es bedeuten die welt schaut sehr merkwürdig aus die eben das Taglicht noch scheuten die karnen schon längst wieder raus. da flattert so manches gelichter und schnuppert vergnügt in den wind es gibt kaum noch höhere richter die nicht nazis waren und sind. die würdigen Bundesminister verehren den herrn jesse christ und sind dabei reisige rüster und keiner ist noch pazifist. auch schreiten die herrn generale wie ehedem silbern besternt nicht einer hat aus dem finale. des letzten versuchs was gelernt. der antifaschist hockt im kittchen der wehr wirtschaftsführer regiert und beichtet einschlägigen flittchen wie hoch er und wen er geschmiert. der prediger predigt von babel und tanzt selbst ums güldene kalb der dichter beschaut seinen nabel und fragt nicht wofür und weshalb. die menge starrt blind in die röhre und siehet dort alles und nichts und hört nicht die schnatternden chöre des bundesverfassungsgerichts. und wissend und unwissend spalten sie frieden und welt und atom und graben die gruft sich und falten die Händchen vorm kriegs gott aus chrom. sie lassen sich jegliches bieten und falln wieder alle in schuld und steigen auch preise und mieten sie üben sich dumpf in geduld. da scheinen in brüdern und schwestern die hirne und herzen versteint und wer sie erinnert an gestern der gilt als ein lügner und feind. so sieht es heut aus in den leuten sie werden, so scheines nie gescheit ich weiß nicht was soll es bedeuten DU WEISST NICHT? DANN WIRD'S ABER ZEIT! .Günter Kunert Schillers Bett Schillers Bett steht im Schillerhaus der Goethestadt2. Vor dem Bett stehen Touristen: Wir wollen sein3, wissen nicht was, ehrfürchtig zumindest oder wenigstens verschämten Gähnens Herr, müde vor der winzigen Ruhestätte: zu klein für meinen Freund Reinhard4, sein magerer Leib liegt, der leinenen Jacke, der Brille entkleidet, jetzt sich räkelnd im Grunewald und wuchert der Erde zu, Schiller hierin folgend. Ein einig etwas wollen wir sein, nicht eineiig. Keine Zwillinge. Keine deutschen Siamesen. Vor dem Bettchen, der fahlen Decke, entfärbten Kränzchen, dem Schleifchen, stellt sich nicht her, was wir nie waren: ein einig Volk. Ein Volk von einigen Herrschaften, vielen Knechtschaften, versippt nur wie Habicht und Huhn. Brüder aber sind Lettau in Berlin und ich in Berlin und alle, verdammt zum Erwachen aus Tellschen Träumen. 2 Weimar. S Vgl. Schiller, Wilhe1m Tell II, 2: Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr. "einzig" wird meist als "einig" wiederg, geben, so auch hier in Abschnitt 4. 4 Reinhard Lettau, geb. 1929, westdeutscher Schriftsteller. 20 Certi '('etzner Frieder'ike Ihretwegen ist es wohl, daß ich liebe, was nicht nach stolzer !föhe strebt. was schwei{!;e/ld spricht: niedriw,s. breitÜsti{!;es Gewächs und der Geist des Wassers. Gabriela Mistral Die feingefältelten, knöchellangen Böcke schwangen über schwar;.:bestrumpften Füllen in Pantoffeln. Warum schlurften sie nicht wie bei anderen alten Frauen'? Kur;.:e, weiche Schritte. Und ohne Hast die Kammerstiel(e herunter, hin und her auf steinernem Küehenl)(Jden, ÜI)t~r ",,,,benen Gart<~nw,~!!:. Und die Bewegung der Höcke liell ein Tisehbein tiin;.:eln und das Gras sich in Wellen neigen und erheben. Nur ich, das Kind, schaute Friederike w. Eines troekenen Au{\usttal(es hörte sie auf zu trinken und zu sprechen und starb kampflos, wie es einer Zweiundneun;.:igjähri{\en ;.:ukam. So m(~inlen die Erwaehs(~nen, I,~{\ten schwar;.:e Kostüme an, und seehs Mä",,,,r mit ZylindcrhÜten tnt{\en einen schwar;.:en Kasten, zweimal liin{\er als Friederike, aus dem Haus. Auf der lehmfarbel",n Straße cin schwar/.(~r IlundertfÜßer im Schleppgang. Hier, im {\rünen I-Icr;.:en Deutschlands, sagte der Lehrer an einem Erdloch, und die Kinder sangen nach: [m schönsten Wiesengrunde ist meiner Heimat flaus. Sie schienen die riesige, grüne Mulde zwischen den blauen Wällen von Harz und Thüringer Wald zu meinen. Nach geheimer Hegieanweisung senkten die Erwachsenen glcichzeitig die Lider und schwenkten die Zylinderhüle in gefaltet<' Ilände vor dem Geschlecht. Es sah aus wie ein gemeinsamer Schnitt durch die Luft. Die Erde mÜge ihr leieht werden. Duld,'rin, die zeill,.b"lIs nicht aus dem Tal, immer wieder Feuer unter den Topf IIlId Wasser auf die Pflanzen, ja ja, Opfer des tyrannischen Manns und tyranniseher Kinder. Im Ilause Kostümwechsel. GeblÜmte SchÜr;.:en und kariert<' Arbeitshemden, Hunderthänder schnitten feingefältelte l!iicke zu l'ut;.:lappen kachelten die Kammer ;.:um Bad asphaltierten We!!:e feinmaschiges Net;.: auf rlem Tal und die Iliinge hinauf hinaus Bä der als Fullersatz, die Kinder heißen S\'en und Manuela. Friederike - '? Ein Wort im Schleppgang. Name für 'inr-Zeit wie I {erd feuer oder Sichel; ach ja, einsl sollen dort, an (kr nÜrdliehen Allfwiilbung des Horizonts, Siebein gegen berüstete Heiter erhoben worden sein tausendfach niedergeritten, was ein Menseh der NeuZeit hätte vorausrechnen können. Die Talbewohner schmiieken neue Kamine mit Sidwln. die Friederike zu bÜndelweisem Abheben des Schwadgetreides l)('nut;.:le. Manchmal, in frierlliehen Näehten, vibrierl der Grund ohne Vorwarnung und wider alle Vernunft, hier ist es ('rdll<'l..'nsidÜ'r seit Friederikes Gedenken, und bei Lichte besehen sh'hen die Bergwälle unverändert im Kostüm der Wälder. Wir kaufen :\nsiehtskarten von fruchtbaren, f'rÜnen Talsehiiß,'n im Sdllltze blauer HÖhen und hängen sie auf wie Cläubif'e ihn' Ikon,'n. Das Neugeborene der Naehbarin heißt Friederike. leh nähe gefältelte Baumwollriieke und blick(, hiiufi!!:er in den Spiegel; alle Leute sagen, Friederikc wäre spät ergraul. Ihr ova"'r Kopf. Der vergessene Blick aus brillenlosen, wiißrig blaw'n Augen, vorhei an tyranniseh fuchlelnden Armen, Erde lind Ililnmcl waren groß, sagt man. Wie in der Kindheit trage ich Stoffschuhe ohne Absiitze: sie knallen nieht wie Stiefel und schlurfen nicht wie Pantoffeln. Manchmal, in den wenigen stillen Nächten, höre ich Friederikes kurzen, weichen Schritt umgehen unter oder über dem geschorenen Gras, unheirrbar hin und her und oI1l1'~ .llast, als wiir' der Fluchtweg ohnehin verlegt. Bei Lichte besehen, ist es mein Gang. 2-l HELGA SCHUBERT: RESI Resi verdient jeden Montag fünfzehn Mark. Unversteuert. Von elf bis sechzehn Uhr. Dafür putzt sie Fenster, wäscht die kleine Wäsche, saugt Staub, wischt Staub, wischt auf und räumt auf. bensversicherung. Die andere Freundin hat einen zwölf Jahre Jüngeren, Verheirateten. Aus dem gleichen Haus. Seine Frau kauft immer bei ihr Gemüse. Weiß aber nichts. Darum ist die zweite Freundin Silvester auch dabei. Um sechzehn Uhr wäscht sie sich die Hände, zieht die Kleiderschürze aus, zieht ihr Kleid an, holt eine Zigarette aus ihrer Handtasche und setzt sich an den Tisch. Dann klingelt es. Sie macht auf und läßt sich vom Tag erzählen. Sie läßt sich Kaffee machen, den Tisch decken, und dann trinkt sie ihren Kaffee und raucht die zweite Zigarette. Manchmal kriegt sie ein Paar. getragene Schuhe geschenkt oder getragene Kindersachen für den Neffen. Wenn Schulferien sind, bringt Resi am Montag ihren Neffen mit. Der wird nicht gefragt, was er essen möchte. Die Kinder werden viel zuviel gefragt. Aber sie unter-. nimmt was mit ihm. Fährt mit ihm FahrstUhl und Rolltreppe. Seine Eltern sind zu alt, die lassen ihm so was nicht mehr zugUte kommen. Resi kauft ihm auch Schnellhefter. Seine Mutterweiß jagar nicht, was das ist. Resi ist katholisch. Wenn eine Katholische einen Evangelischen heiratet, ist das besser, als wenn eine Evangelische einen Katholischen heiratet. Weil sonst die Kinder nicht richtig beten lernen. Eine Mutter achtet doch mehr auf so was. Bei ihnen in der Familie haben alle Schwestern einen Evangelischen geheiratet. Da ging es gut. Aber der richtige Glaube ist es nicht. Mandeln rausnehmen ist nicht richtig, weil man davon Krankheiten kriegt. An die Mandeln ließ ihre Mutter niemand ran. Wenn man Gürtelrose hat, muß man sie besprechen lassen. Aber man muß daran glauben. Wenn ihr was hilft, dann glaubt Resi auch daran. Resi ist arm. Sie wohnt mietfrei beim Bruder und seiner Frau. Am Montag ißt sie hier, am Dienstag bei der Frau, die die Versicherung für sie bezahlt, am Freitag kocht sie für den verwitweten Schwager, am Sonnabend und Sonntag ißt sie zu Hause von dem Stück Fleisch, das beim Schwager übrigbleibt, am Mittwoch und Donnerstag ißt sie auch zu Hause, da fällt ein Teller für sie ab, weil sie für den Neffen kocht, dessen Mutter an diesem Tag in einer GastwirtSchaft aushilft. Resi kauft sich kaum was. In der Woche ein Viertel Butter und am Sonnabend zwei Schrippen, im Monat ein Glas Pflaumenmus und einmal in der Woche hundert Gramm Teewurst. Sie zieht an, was man ihr schenkt. Das ändert sie sich. Auf den Wintermantel näht ihr die Freundin in jedem zweiten Jahr einen neuen Pelzkragen, denn die ist Kürschnergehilfin. Resi hat Schneidern gelernt. Aber jetzt kann sie nicht mehr so mit den Augen. Sie konnte schon vor der Mauer nicht mehr so mit den Augen. Darum hat sie drüben bei Osram gearbeitet und schönes Geld verdient, eins zu vier. Aber nach der Mauer wollte sie sich ihre Zeit ein bißchen einteilen und ging im Haushalt arbeiten. Die Leute reißen sich um einen, und man hat sein Mittagessen. Zuerst hat sie bei einer anderen Frau gearbeitet. Die wartete morgens schon, und wehe, wenn Resi einen Zug zu spät kam. Sie blieb dafür länger, da hat die Frau nicht geschimpft. Dort mußte Resi sogar das Treibham saubermachen. Der Frau, bei der sie jetzt arbeitet, ha~ sie das gleich erzählt. Die sagte, den Garten lassen Sie, das ist mein Hobby. Hier bleibt sie erst mal. Resi hat schon zweimal jemand in den Tod gepflegt. Erst die Mutter, weil alle Geschwister aus dem Haus waren und sie als einzige unverheiratet. Später die Schwester. Resi wußte, daß die Schwester Krebs hatte, und sie weinte oft, beim Kaffee Montag um sechzehn Uhr. Sie kam dann sechs Wochen nicht. Da pflegte sie die Schwester, lag nachts auf einer Luftmatratze vor dem Bett und machte ihr die Lippen naß. Der Mann und die Kinder sollten nicht gestört werden. Die mußten doch am nächsten Tag wieder arbeiten. Manchmal, am Wochenende, kriegt sie Besuch von einem Mann. Den kennt sie schon zwÖlf Jahre. Doch jetzt braucht sie keinen mehr zum Heiraten. Bloß immer Socken waschen. Damals, als sie noch heiraten wollte, war er noch verheiratet. Jetzt sagt sie sich, wozu mit einem Kerl belasten. Resi erbte das rote Jackenkleid und machte es sich enger. Der Mann der Schwester mußte versorgt werden. Warum extra das Bett im Wohnzimmer machen. Sie schläft neben ihm in den Ehebetten. Und als er sich im Schlaf in ihr Bett dreht, hängt sie fast draußen. Vielleicht schläft er doch nicht. Sie sagt, er hat jemand gefragt, ob Resi ihn wohl heiraten würde, wenn das Trauerjahr um ist. Aber sie will nicht. Der erzählt so viel von Politik, und wenn sie bloß "hm" sagt, ärgert er sich, weil er so gern streitet. Er soll gesagt haben, daß sie ihm bloß die Wirtschaft zu machen braucht. Aber sie kennr die Männer. Bei der Beerdigung der Schwester kommen auch die Westberliner. Mit Passierscheinen, aus einem familiären Grund. Resi kriegt von ihnen fünfzig Westmark für die viele Mühe. In ihrer Jugend ist Resi gern ausgegangen. Sie hat sich ausgetObt. Mittwochs kamen immer die Geschäftsleute. Und wenn sie einen an die Bar einluden und was springen ließen, wußte man gleich, die waren nett. Dann hat man sich verabredet. Damals gab es noch Tischteicfon und Spiegeltanzflächen. Damit geht sie in den Intershop. Als sie dran ist, läßt die Verkäuferin sie erst mal warten. Dann kauft Resi eine Flasche Dujardin, fünf Büchsen Ölsardinen, fünf Tafeln Schokolade, zwei Tafeln Kinderschokolade, ein halbes Pfund Kaffee und eine Stange Zigaretten. Da staunt die Verkäuferin vielleicht. Die beiden Freundinnen sollen am Wochenende zu Besuch kommen, und Resi will es nicht knapp haben. Resi spielt regelmäßig Kanaster mit zwei Freundinnen. Um Zehnrelpfennige. Vom Gewinn machen sie in jedem Jahr eine Busfahn in die schöne Umgebung. Da ist auch Mittagessen dabei. Das Geld reicht noch für die Silvesterfeier. Für neun Pfannkuchen, drei Bratwürste, eine Flasche ROtwein, Salzstangen und eine Flasche Spezi. Auch mir den beiden Freundinnen. Am nächsten Montag bringt Resi eine Tafel Kinderschokolade mit und schenkt sie. Sie hat so viel davon, und Kinder essen so was gern, sagt sie. Die eine Freundin ließ sich scheiden. Und kurz danach verunglÜckie der C;eschiedene. }'Litle sie doch wirklich noch die p;"lr \Vochen w;lrten k"nncII \Xlcgen seinet' I,c 22. AUS: MAXIE WANDER: LEBEN WÄR' EINE PRIMA ALTERNATIVE Montag (Augusl) Nach einer schlechten Nacht(ein Gewitter kündigte sich endlich an) den }festen Willen<, täglich den Tag zu überdenken und aufzuschreiben. Heut abend kommt übrigens Berti aus Wien zurück. Ich freue mich, freue mich nicht, wenn ich all die Mühsal bedenke, die mir seine Lahmheit beschert. Aber trotz des dummen Kreislaufs (seiteiniger Zeit Gleichgewichtsstörungen!) fühle ich mich einigermaßen stark und den Aufgaben gewachsen. Es war ein guter Sommer, viel heitere Hitze, die allerdings zum Trödeln verleitete. Vorgestern den sowjetischen Tschaikowski- Film gesehen, mit Fingers, die störten, und Horst und Rüdiger, die etwas weniger störten. Obwohl ein schlecht gemachter Film, waren wir sehr beeindruckt. Smoktunowski wie immer großartig, und das Schicksal Tschaikowskis bewegt dennoch. Außerdem lese ich gerade den Roman von Klaus Mann, der viel aufrichtiger ist als der Film. Morgens, beim Frühstückskaffee redeten wir lange über den Film, Fred, Horstl, Rüdiger und ich. Ein gutes, langes Gespräch. Fred war endlich einmal aus seinem Hamsterbau herausgelockt und diskutierte leidenschaftlich. Wie gefällt er mir da! Wir redeten von der Aufgabe der Kunst, von Bewegung und Ziel, von der Notwendigkeit, zu träumen (Lenin) und an das Gute und den Sinn unserer Opfer zu glauben. Auch von Sicherheit und Risiko redeten wir. Armer Horst, der immer Sicherheit will und das Absolute, der sich so schwer mit den Mühen des Provisorischen und Fragwürdigen befreunden kann. Der Garantien verlangt, die es nicht gibt, Ziele, die nicht sichtbar zu machen sind, Verläßliches, das nur in der Bewegung und im täglichen Kampf zu finden ist. Was er mit dem Kopfbegreift und strahlend akzeptieren möchte, wird von seinen Gefühlen abgelehnt. Wenn er weiter dieses enge Leben führt, ohne Bewährungsprobe, ohne die Möglichkeit, etwas zu leisten, seine Kräfte zu messen, sie herauszufordern, was wird mit ihm geschehen. . . Aber ist es nicht überhauptdas Problem sehr vieler Menschen? Auch bei uns. Gerade bei uns. Die soziale Sicherheit, der relative Wohlstand, der scheinbare Mangel an sozialen und psychischen Spannungen. Oje, was bringt das hervor? Und dazwischen Tschaikowskis Violinkonzert (Fred hat die Platte von Alfred Kurella geschenkt gekriegt), das er geschrieben hat, als er nach der mißglückten, bedrückenden Ehe aufatmen kann. Wie lange ich es nicht gehört habe, und wie wunderschön es doch ist! Apropos Aufgabe der Kunst, Fred hat bei seiner letzten Lesung im Klub einen guten Satz gebaut: »Laßt uns arbeiten' aber auch faul sein. Laßt uns Kraftwerke bauen, aber auch Luftschlösser. Ohne Luftschlösser keine Kraftwerke!« (August) Ich bin müde. Fred fährt bald nach Paris - aus verschiedenen Gründen, nicht nur weil keine Devisen da sind, bleibe ich hier. Schließlich muß einer die Kinder versorgen, das Haus in Schuß halten, einfach dasein. Ich lese, ich schreibe, ich grüble. Wie wär es zur Abwechslung ohne irgendeine Weisheif' Laß dich fallen, sei schön locker, vergiß das Erworbene. scheiß auf alle Ismen, die dir im Kopf herumgeistern und mit denen du doch nichts anzufangen weißt. Sei schön lokker. Horch auf dein Inneres. Pause. . . Um zu horchen. Ich empfange Besucher, habe einen Flirt, den ich aber im Grunde fad finde. Fred ist drei Tage in Leipzig, kommt zurück, weil Maurice überraschend aus Paris gekommen ist. Maurice und Fred sitzen stundenlang im Zimmer oder auf der Terrasse und reden französisch. Maurice spricht so rasch und mit so viel Leidenschaft, dieser Narr, daß ich wenig verstehe und müde werde. Ein phantastischer Kommunist, aber einer, von dem man was lernen kann. Wirwollen ihm ein anständiges Essen bieten, denn er ist ein gutes Essen gewöhnt. Zwei Gaststätten in unserem stolzen Kleinmachnow (18 000 Einwohner, mehrere Großbetriebe) sind geschlossen, wegen Urlaub, Krankheit oder Inventur. Die dritte Gaststätte hat nur Bockwurst und Salat. Wir sind schließlich Anhänger der Arbeiterklasse und geben klein bei. Aber die Bockwurst schmeckt fad, und der Salat ist ranzig. Maurice bekommt einen roten Kopf. Wir setzen uns in den Wagen und fahren bereits zwanzig Kilometer im Kreis, um einem Gast, einem ausländischen begeisterten Kommunisten und Anhänger der DDR, ein gutes Essen zu bieten. Wir fahren schließlich weitere 17 Kilometer in die Bezirkshauptstadt Potsdam. Endlich eine große feine Gaststätte, wo es gutes Essen gibt. Normalerweise. Aber dort ist alles baumvoll, ein Teil der Gaststätte gesperrt: Betriebsfeier. Der Kellner gibt uns nur grantig Antwort, es wirkt wie ein Hinausschmiß. Maurice schluckt, er ist weiß im Gesicht. Der Magen hängt uns heraus, aber der Durst ist schlimmer. Wenigstens Pinkeln kann er gehn und auf der Toilette Wasser trinken. Er schweigt jetzt, sein Redestrom ist versiegt. Wir fallen in ein kleines Care, das von Jugendlichen voll ist. Junge hübsche Mädchen und Burschen. Sehr hübsche Mädchen. Maurice strahlt. Es gibt auch was zu essen. Rindfleisch salat. Nach einer halben Stunde werden wir bedient. Inzwischen fängt Maurice ein Gespräch mitJugendlichen an. Fred übersetzt. Maurice stellt kitzlige Fragen. Die Antworten sind lakonisch und gleichgültig. Auf politisch brisante Fragen bekommt Maurice einsilbige gelangweilte Antworten. »Diese Menschen interessieren sich doch überhaupt nicht für Politik!« stellt Maurice völlig entgeistert fest. Der Zauber der jugendlichen Schönheit ist verflogen. Um halb zehn wird das Lokal geschlossen. Wir haben mit Mühe aufgegessen. Die Jugendlichen ziehen willig ab, wie Schafe. (So haben wir es nicht gesehen, wie es Maurice sieht. Was überhaupt sieht man noch? Gewöhnt man sich an alles?) Drei Jugendliche stehen nicht rechtzeitig auf, der Gaststättenleiter kommt und weist sie ziemlich barsch hinaus. Maurice ist nahe daran zu platzen und einen Streit anzufangen. Nicht mit dem' Gaststättenleiter- mit den Jugendlichen: »Warum laßt ihr euch das gefallen? Warum, merde, laßt ihr euch so behandein? « Und wo gehen die Menschen jetzt hin? In die Betten? Das Leben fängt doch jetzt erst an! »Vergiß nicht, wir sind ein Arbeiterstaat, Arbeiter stehen zeitig auf und gehen zur Arbeit!« Maurice, der Kommunist, der Barrikadenkämpfer, haut buchstäblich mit der Faust auf den Tisch. Mit solchen Argumenten kann man ihm nicht kommen. Es gibt auch Menschen, die morgen nicht arbeiten, es gibt Schichtarbeiter, es gibt Urlauber, es gibt Künstler, es gibt Menschen, die leben wollen, die nachts diskutieren wollen oder einfach mit Menschen beisammen sein. Na schön, das kann man auch privat machen, in den Zimmern, - schachtelteuch ein, zieht euch zurück, verschanzt euch, wie die Bürger, jeder in seinem }Salon<, jeder für sich, züchtet 23 auch Individualisten, Leute, die auf Partys herumsitzen. Den ganzen Weg zurück hat er geschimpft. Zwei Sätze habe ich behalten: » Menschen, die nicht mehr kämpfen, sind wie ein Zug auf einem Abstellgleis!« Und» Leute, die nicht mehr aufbegehren, resignieren, alles hinnehmen, das ist unser Untergang!« (August) Mein Leben stellt sich mir im Augenblick als ein aufreibender, scheinbar unlösbarer Widerspruch zwischen meinen Triebansprüchen und meine-r Moral dar. Man kann nicht vital und spontan nach außen leben wollen - und gleichzeitig seinen Altruismus pflegen, den mir mein Vater in die Wiege gelegt hat, und später mein Mann. Ich habe G. in Berlin besucht, bin mit ihm essen gegangen, wir haben lange geredet, viel überlegt, ich war bei ihm. Fred weiß es. Ich deute es an. Ich provoziere. Er schweigt. Ist es seine Weisheit, sein stilles Dulderturn, Großzügigkeit, Schwäche. Ich brüte über meine Beziehungen zu Fred. Habe ich ihn in seiner >unkämpferischen Nachgiebigkeit< bestätigt und gefördert, weil ich seine Ideale auch für mich anerkannte? Hätte es ihn nicht selber freier gemacht, wenn ich weniger auf seine Moral eingegangen wäre und mehr seine Tabus ignoriert hätte? Aber ich habe mich ja dagegen aufgelehnt, sowohl gegen seine sittlichen Anforderungen als auch gegen die vielen Tabus. Aufgelehnt ja - aber immer affektbetont und aggressiv. Und sporadisch. DerTeufelskreis, aus dem man so schwer ausbrechen kann, wenn der Partner nicht hilft: strenge Anforderungen an sich selber und Triebverzicht. Aggressives Sichdurchsetzen aus schlechtem Gewissen und zeitweilige Triebbefriedigung-erneute Schuldgefühle durch die hohe Zensur in mir und Unterdrückung der Triebe. Und wieder Aggressionen. . . (So ein Quatsch, Freud hätt seine Freud an mir!) Vielleicht verzichten wir fürs erste auf die Schuldgefühle, dazu muß man seine Vorstellungen über sich selbst herunterschrauben! Mir fällt dabei ein Buch von Dr. Frankl ein, er erzählt darin die einleuchtende Geschichte von einem Mann, dem der Psychiater allein dadurch geholfen hat, daß er ihm riet, sich einzugestehen, er wäre im Grunde nur ein Schlemihl! Fred läßt mich für ein paar Tage verreisen, als Ausgleich. Ich möchte sie nützen, um zu schreiben. Ich will schreiben- Ich hab es oft erfahren, daß nur während der Arbeit Klarheit kommt, daß das Feuer, das man entbehrt und aus Trägheit nicht mehr sucht, allmählich wieder aufflammt. Man muß tätig sein! Wie demü tigend der Gedanke, daß diese alte Erkenntnis immer wieder vergessen wird und immer wieder mühsam erworben werden muß. Meine Widersprüche zermürben mich, ich muß lernen, mit ihnen zu leben, mich von ihnen nicht unterkriegen zu lassen. Schreiben und etwas tun - trotz allem! Nicht auf die Erleuchtung warten, auf die Reinheit der Seele. Niemals wird man dahin gelangen. Was zählt, ist Tätigkeit! 24 Wolf Biermann Deutschland ein Wintermärchen - Kapitel I Im deutschen Dezember floß die Spree von Ost- nach Westberlin .da schwamm ich mit der Eisenbahn hoch über die Mauer hin Da schwebte ich leicht übern Drahtverhau und über die Bluthunde hin das ging mir so seltsam ins Gemüt und bitter auch durch den Sinn Das ging mir so bitter in das Herz - da unten, die treuen Genossen So mancher, der diesen gleichen Weg zu Fuß ging, wurde erschossen Manch einer warf sein junges Fleisch in Drahtverhau und Minenfeld. durchlöchert läuft der Eimer aus wenn die MP von hinten bellt Nicht jeder ist so gut gebaut wie der Franzose Franz Villon5 der kam in dem bekannten Lied mit Rotweinflecken davon Ich dachte auch kurz an meinen Cousin den frechen Heinrich Heine der kam von Frankreich über die Grenz beim alten Vater Rheine Ich mußte auch denken, was allerhand in gut hundert Jahren passiert ist daß Deutschland inzwischen glorreich geeint und nun schon wieder halbiert ist Na und? Die ganze Welt hat sich in Ost und West gespalten doch Deutschland hat - wie immer auch die Position gehalten: 6 Fran<;ois Villon, französischer Lyriker aus vorklassischer Zeit, lebte im 15. Jahrhundert. Biermann hat eine "Ballade auf den Dichter Fran<;ois Villon" geschrieben, auf die er hier hinweist. Die Position als Arsch der Welt Sehr fett und sehr gewichtig Die Haare in der Kerbe sind aus Stacheldraht, versteht sich Daß selbst das Loch - ich mein' Berlin in sich gespalten ist da haben wir die Biologie beschämt durch Menschenwitz Und wenn den großen Herrn der Welt der Magen drückt und kneift dann knallt und stinkt es ekelhaft in Deutschland. Ihr begreift: Ein jeder Teil der Welt hat so sein Teil vom deutschen Steiß der größre Teil ist Westdeutschland Mit gutem Grund, ich weiß. Die deutschen Exkremente sind daß es uns nicht geniert in Westdeutschland mit deutschem Fleiß poliert und parfümiert Was nie ein Alchemist erreicht sie haben es geschafft Aus deutscher Scheiße haben sie sich hartes Gold gemacht Die DDR, mein Vaterland ist sauber immerhin die Wiederkehr der Nazizeit ist absolut nicht drin So gründlich haben wir geschrubbt mit Stalins hartem Besen daß rot verschrammt der Hintern ist der vorher braun gewesen Bettina Wegner Für meine weggegangenen Freunde - Wenn ich nach einer angstdurchträumten N:J.cht erwache da kommt es manchmal, daß ich weinend lache weil ich vermisse, was ich einmal hatte die Schutzhaut, meine harte, meine glatte die ist zerrissen und blieb irgendwo. Es sind so viele von uns weggegangen ach, hätte niemals niemand damit angefangen. Trauer und Wut, das hat euch weggetrieben. Mensch, wär das schön, ihr wäret alle hiergeblieben bei euch, bei uns und auch bei mir. Stille Statistik wird sich jetzt mit euch befassen und doch habt ihr ein bißchen mehr verlassen als euren Zorn und eure Bitterkeit das Viel an Unrecht und Verlogenheit. Da war noch andres, das lohnte, hier zu bleiben. Ich meine alle, die euch \virklich brauchen und jetzt in ihrer Trauer untertauchen die euch noch folgen werden auf die gleiche Reise und die hier bleiben, sterben still und leise an euch, an uns und an sich selber auch. Ich werde dieses Lied vielleicht nur summen und eines Tages vielleicht ganz verstummen. Schweigend und klein verbucht man die Verluste. Ich weiß nur sicher, daß ich bleiben mußte daß unsre Ohnmacht nicht noch größer wird. 2~