Skript alternative Unterrichtsmethoden

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Arbeitstexte zur
Lehrveranstaltung
Sommer 2006
Fachseminar für
Sonderpädagogik
Reutlingen
Elke Hamburger
0
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1: Einleitung
2
1.1
Unterrichtsplanung
2
1.2
Lernen
4
Kapitel 2: Reformpädagogik
6
2.1
Maria Montessori
7
2.2
Peter Petersen
8
2.3
Celestin Freinet
9
2.4
Helen Parkhurst
12
2.5
Berthold Otto
14
Kapitel 3: Offener Unterricht
15
3.1
Lernen an Stationen
15
3.2
Tages- und Wochenplanarbeit
17
3.3
Freiarbeit
18
3.4
Projektarbeit
19
3.5
Aufgabe
21
3.6
Haltungen des Lehrers / der Lehrerin
22
3.7
Umstellung des Unterrichts
24
3.8
Anforderungen an das Material
26
Kapitel 4: bewegter Unterricht
27
4.1
Einleitung
27
4.2
Bewegung und kindliche Entwicklung
28
4.3
Bewegung und Lernen
30
4.4
Bewegung und Unterricht
32
4.5
Klassenräume - Bewegungsräume
34
4.6
Zusammenfassung
35
4.7
Vier verschiedene Ebenen des bewegten Lernens
36
Zwei Beispiele
37
Literatur
38
1
Kapitel 1
Einleitung
Der Begriff „Alternative“ bedeutet, dass es eine Möglichkeit gibt zwischen zwei oder
mehreren Dingen zu wählen. Das Wort entstand aus dem lateinischen „alternus“,
was so viel bedeutet wie abwechselnd bzw. wechselweise. Diese Grundbedeutung
soll zu Beginn schon deutlich machen, dass es in diesem Skript nicht darum geht,
den fragend-entwickelnden, lehrerzentrierten Unterricht abzuschaffen. Es geht mir
vielmehr darum, den Blick zu öffnen für andere Unterrichtsmethoden, die sich mit
lehrerzentrierten Angeboten abwechseln sollen.
1.1 Unterrichtsplanung
Jede Lehrerin / jeder Lehrer muss bei der Planung von Unterricht ständig
Entscheidungen treffen. Sie / er entscheidet sich für einen Inhalt (Thema), für Ziele,
für Medien und Methoden. Sich für etwas zu entscheiden bedeutet zugleich auch
sich gegen etwas zu entscheiden. Die Entscheidung muss legitimiert und offen
gelegt werden. Alle Entscheidungspunkte sind eng miteinander verknüpft -
wie bei einem Spinnennetz. Wird an einer Stelle etwas verändert, so wackelt das
ganze Netz und muss auf seine Richtigkeit, auf seine „Vollständigkeit“ untersucht
werden.
Die Entscheidung für eine Unterrichtsmethode, für eine Form der
Unterrichtsinszenierung, ist also abhängig von
- den Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler und ihrer Lebenswirklichkeit
- den Zielen, die ich im Unterricht erreichen möchte
- den Inhalten und Themen
2
-
den vorhandenen Medien und Materialien
den Organisationsstrukturen der jeweiligen Schule
den Kompetenzen und Sichtweisen der Lehrer/innen
Bevor wir uns nun verschiedenen alternativen Unterrichtsmethoden zuwenden, sollte
zuerst der Begriff „Methode“ und der Fachbegriff „Unterrichtsmethode“ erläutert
werden.
Methode
Griechisch; meta = hinterher, nach
Hodos = Weg, Gang
Das griechische „methodos“ bedeutet Weg oder Gang einer Untersuchung, nach
festen Regeln oder Grundsätzen geordnetes Verfahren.
Unterrichtsmethoden
„sind planmäßige, zielorientierte Verfahren, Schritte und Formen des Lehrens und
Lernens bei der Vermittlung bzw. Aneignung vorgegebener oder selbstbestimmter
Lerninhalte“ (Strassmeier 2000, Seite 111).
Oder anders formuliert:
Unterrichtsmethoden konstruieren Lernwege – was beim Schüler ankommt, wird
auch davon beeinflusst, wie der entsprechende Inhalt inszeniert und vermittelt wird.
Unterrichtsmethoden können also Lernen ermöglichen, erleichtern aber leider auch
verhindern. Da Lernen ein zutiefst eigenständiger Prozess ist, kann lernen auch nie
von außen veranlasst, sondern nur angeregt werden.
Wie lernen funktioniert bzw. „wie arbeitet unser Gehirn“ habe ich auf der nächsten
Seite versucht grafisch darzustellen.
3
1.2 Lernen
Bewusste Verarbeitung von Daten
Neue Daten werden mit bekannten
Informationen aus dem
Langzeitgedächtnis verglichen
2 bis 3 Sekunden
Aufmerksamkeit
Ultrakurzzeitgedächtnis
Dauerhafte Speicherung von Informationen
Aber
Wissen, das nicht oft genug abgerufen bzw. benötigt wird,
gleitet ins Unbewusste ab – wird zum passiven Wissen
Arbeitsgedächtnis / Kurzzeitgedächtnis
Kerninformation
Lernstoff / Reiz
Vorzimmer des
Gedächtnisses
Speicherung
Das Gehirn arbeitet
länger als man lernt –
auch im Schlaf!
Langzeitgedächtnis
4
Da Lernen ein zutiefst eigenständiger Prozess ist, ist lernen auch abhängig von der
Aufmerksamkeit, der Motivation und der Neugier der Lernenden. Dies sind
individuelle Komponenten, die alleine schon deutlich machen, dass ein Unterricht
schülerorientiert geplant und durchgeführt werden muss. Die Tatsache, dass an der
Schule für Geistigbehinderte teilweise extrem heterogene Klassen zustande
kommen, zwingt die Lehrer/innen dazu, unterschiedliche Zugehensweisen zu
berücksichtigen.
„Jede Schülerin und jeder Schüler verfügt über ein bestimmtes Niveau der
handelnden Auseinandersetzung mit der Welt. Das Handlungsniveau kann
überwiegend




sinnlich-wahrnehmend
handelnd-aktiv
bildlich-darstellend
und begrifflich-abstrakt
sein. Die Handlungsniveaus sind altersübergreifend und erlauben keine
Rückschlüsse auf das Lebensalter der Schülerinnen und Schüler. Die Differenzierung
der Ziele hinsichtlich der Handlungsmöglichkeiten einer Schülerin / eines Schülers
orientieren sich an den Handlungsniveaustufen. So ist gewährleistet, dass ein
gemeinsamer Unterrichtsgegenstand zu einer Thematik auf verschiedenen
Handlungsniveaustufen individualisiert und zieldifferent inszeniert werden kann.
Dadurch wird der Unterrichtsgegenstand mit dem Niveau der Handlungskompetenz
der Schülerin und des Schülers verbunden“ (Abschlussbericht der Arbeitsgruppe
„Bildungsprojekt Schule für Geistigbehinderte“ 2004, Seite 38f).
5
Kapitel 2
Reformpädagogik
Alle Formen von selbstorganisierten Lernens haben als gemeinsames Kennzeichen
die Verlagerung der Aktivität und Entscheidung vom Lehrer / von der Lehrerin auf die
Schüler hin.
Unter dem Oberbegriff „selbstorganisiertes Lernen“ findet man in der Literatur
verschiedene Unterrichtsmethoden, z.B.




LdL (Lernen durch Lehren)
EVA (eigenverantwortliches Lernen)
WELL (wechselseitiges Lehren und Lernen)
Offener Unterricht
Unter offenen Unterrichtsformen versteht man insbesondere folgende Methoden:
o Lernen an Stationen
o Tages- und Wochenplanarbeit
o Freiarbeit
o Projektarbeit
(Nähere Erläuterungen folgen im Kapitel 3)
Offener Unterricht ist wiederum ein Sammelbegriff für verschiedene Ansätze, deren
Wurzeln in der Reformpädagogik zu finden sind.
Im Zentrum des reformpädagogischen Denkens steht nicht die Schule und ihre
Ansprüche an das Kind, sondern die optimale Entwicklung des Kindes und des
Jugendlichen. Die Schule ist aufgefordert diese Entwicklung zu ermöglichen.
„Aus einer liberalen Grundeinstellung mit starkem sozialen Engagement heraus
forderten die Reformpädagogen die ‚neue, freie Schule’, in der allein das Kind im
Mittelpunkt allen erzieherischen Denkens und Handelns stehen sollte. Unter
Berücksichtigung neuester psychologischer Kenntnisse sollten Erziehung und
bestmöglichste Entwicklung der Persönlichkeit der Kinder den Unterricht bestimmen;
die Schule sollte zu einer lebensnahen Gemeinschaft werden, in der die Kinder aktiv
werden können und so durch selbsttätiges lernen zu verantwortungsbewussten,
mündigen und toleranten Mitgliedern der Gesellschaft werden.“ (http://coforum.de)
Wesentliche Vertreter der Reformpädagogik waren
1.
2.
3.
4.
5.
Maria Montessori (1870 – 1952)
Peter Petersen (1884 – 1952)
Celestin Freinet (1896 – 1966)
Helen Parkhurst
Berthold Otto (1859 – 1933)
Die nun folgenden kurzen Erläuterungen zu den grundlegenden Elementen der
einzelnen Reformansätzen sind aus dem Internet entnommen
 www.schule.suedtirol.it/reformpädagogik
6
2.1 Maria Montessori (1870 – 1952)
Im Zentrum ihres frühen Forschungsinteresses stand das wissenschaftliche Studium
der Aufmerksamkeit, gefasst unter der Bezeichnung "psychische Reaktionen"
sowie die experimentelle Untersuchung der Anregungsbedingungen. Für diesen
Untersuchungsansatz griff Maria Montessori auf die einschlägigen
Forschungsarbeiten von Jean Gaspard Itard und Eduard Séguin zurück.
Maria Montessori bezog einen weiteren Faktor mit ein: das Studium der
Entwicklung des Kindes, und zwar nicht als Voraussetzung erster
kinderpsychologischer Erkenntnisse, sondern als Beobachtung kindlicher
Selbstäußerungen unter Gewährung von Entwicklungsfreiheit in konkret
gestalteten pädagogisch-didaktischen Situationen.
Die Polarisation der Aufmerksamkeit ist das Schlüsselphänomen, dessen
Entdeckung Maria Montessori den Zugang zu einer wirksamen Unterstützung
kindlicher Entwicklung gewiesen hat. Sie nennt dieses Phänomen "einen wichtigen
Stützpunkt, auf dem sich die kindliche Arbeit aufbaut."
"Dies ist offenbar der Schlüssel der ganzen Pädagogik: diese kostbaren Augenblicke
der Konzentration zu erkennen, um sie beim Unterricht in Lesen, Schreiben,
Rechnen, später in Grammatik, Mathematik und Fremdsprachen auszunützen. Alle
Psychologen sind sich übrigens darin einig, dass es nur eine Art des Lehrens gibt:
tiefstes Interesse und damit lebhafte und andauernde Aufmerksamkeit bei den
Schülern zu erwecken."
Kinder sind anders, und Kinder lernen auch anders als Erwachsene. Maria
Montessori wie Jean Piaget verweisen hier deutlich auf die Eigenbedeutung der
Kindheit, womit sie betonen, daß Kindheit nicht nur als Vorbereitung auf das
Erwachsensein gesehen werden kann:
Beide schreiben übereinstimmend, dass die intellektuellen und moralischen
Strukturen des Kindes von denen der Erwachsenen grundsätzlich verschieden sind,
dass aber das Kind dem Erwachsenen in seinen wichtigsten Funktionen sehr ähnlich
ist. Wie er ist es ein aktives Wesen, und seine Aktivität unterliegt den Gesetzen des
Interesses und innerer und äußerer Bedürfnisse.
Dieser Prozess einer intensiven persönlichen Entwicklung, eines intensiven
individuellen Lernens bedarf einer für alle Beteiligten einsichtigen und
akzeptierbaren pädagogischen Struktur. Das Ziel aller Erziehungsbemühungen ist für
Maria Montessori die aktive Förderung kindlicher Unabhängigkeit und
Selbstständigkeit durch Selbsttätigkeit.
7
2.2 Peter Petersen (1884 – 1952)
Der Jenaplan ist keine Unterrichtsmethode! Er ist vielmehr ein pädagogisches
Konzept für "Eine freie allgemeine Volksschule nach den Grundsätzen Neuer
Erziehung."
Peter Petersen leitet seine Erziehungsidee mit einer Frage ein:
"Wie soll die Erziehungsgemeinschaft beschaffen sein, in der und durch die ein
Mensch seine Individualität zur Persönlichkeit vollenden kann?"
In der Diskussion der Erziehungsidee ist es wichtig zu wissen, dass die kleine Schule
(in Jena) den Kindern half, "Denken und Wollen anderer Weltanschauungsgruppen"
zu achten und zu verstehen "und dass man die Kunst der Kooperation mit
Andersdenkenden" ernsthaft lernte.
Erziehung vollzieht sich nach der Erziehungsidee Peter Petersens in und durch die
Gemeinschaft. Das Individuum bringt sich mit all seinen Fähigkeiten und
Kenntnissen absichtslos in die echte Gemeinschaft ein und erfährt so seine
Sinnerfüllung: Das Individuum wird zur Persönlichkeit durch Leben in der
Gemeinschaft.
Erst wenn ein echtes und reiches Gemeinschaftsleben funktioniert, kommen
didaktische und methodische Überlegungen und Anstrengungen, die ja unbestritten
die "besonderen Aufgaben" der Schule sind, zu ihrem vollen Recht und zur
Entfaltung ihres schulpädagogischen Sinns.
Im gemeinschaftlichen Leben erfährt und erlebt der Mensch, dass er fähig und dass
es für ihn notwendig ist, in sich das zu entwickeln und zu kultivieren, wozu nur
Menschen fähig sind:








zur Güte,
zum Mitleid,
zum Verstehen,
zur Ehrfurcht,
zur Treue,
zur Rücksicht,
zum Verzeihen,
zur Freude (usw.).
... man erfährt aber ebenso deutlich, dass Gemeinschaft gar nicht erst zu Stande
kommt oder zerstört wird, wenn vielleicht nur eine der angesprochenen Handlungen
nicht vollzogen wird, wenn nur eines der menschlichen Gefühle verweigert wird ...
"Wollen wir also hinaus über die Klasse, wollen wir mehr als eine soziale Gruppe,
dann müssen wir unsere Gruppen so gestalten und nun auch so leben lassen, dass
in ihnen Raum ist für das zwischenmenschliche Geschehen und damit für eine
wirkliche Gemeinschaftsbildung."
(Petersen, Peter, Der kleine Jenaplan, S. 11 f.)
8
2.3 Celestin Freinet (1896 – 1966)
Pädagogik des Volkes
Die pädagogischen Grundideen Célestin Freinets zielen auf "offene und befreiende
Erziehung" ab und manifestieren sich im konkreten Unterricht in den folgenden
Realisierungen. Dabei muss ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass Célestin
Freinet seine Pädagogik als Pädagogik des Volkes und damit auch als eine
Pädagogik für die Regelschule verstanden wissen wollte. Freinet-Pädagogik war
niemals und ist auch heute keine Pädagogik für die, die es "sich leisten"
Schüleraktivität
Die Schüler sitzen nicht mehr passiv in ihren Bänken und warten auf die Aufträge
eines Lehrers, die sie dann in ihren Büchern und Heften arbeiten, sondern sie gehen
im Unterricht alleine, zu zweit oder in Gruppen verschiedenen Arbeiten nach, die sie
sich selbst gewählt haben. Sie





drucken Texte,
arbeiten Referate aus,
führen Experimente durch,
arbeiten an einem Mathematiklehrgang oder
üben auch handwerkliche Tätigkeiten aus.
Die Arbeiten sind für die Schüler nicht sinnentleert. Sie haben sie selbst gewählt und
damit einen wichtigen Schritt zu einer selbstbestimmten Arbeit, zur eigenen
selbstbestimmten Entwicklung und meist auch zu einer kooperativen Arbeit
getan.
Die Unterrichtsplanung wird prinzipiell von den Interessen und den Bedürfnissen
der Schüler ausgehen, wobei der (staatliche) Lehrplan in allen Fällen ein in die
Planung zu integrierendes Element sein wird (muss). Zentrale Elemente der FreinetPädagogik sind jedoch die Selbstbestimmung und die Eigenverantwortung. Diese
können Kindern nur lernen, wenn man ihnen auch täglich die Möglichkeit in einem
ernst zu nehmenden Rahmen dazu gibt. "Zu erkennen, was ich möchte", ist der
entscheidende Entwicklungsprozess des Menschen, eingebettet in eine konkrete
Gemeinschaft in der Auseinandersetzung mit Pflichten, Rechten und Grenzen.
Lernversuche
"Seien wir ehrlich: wenn man es den Pädagogen überlassen würde, den Kindern das
Fahrrad fahren beizubringen, gäbe es nicht viele Radfahrer.
Bevor man auf ein Fahrrad steigt, muss man es doch kennen, das ist doch
grundlegend, man muss die Teile, aus denen es zusammengesetzt ist, einzeln, von
oben nach unten, betrachten und mit Erfolg viele Versuche mit den mechanischen
Grundlagen der Übersetzung und mit dem Gleichgewicht absolviert haben.
Danach - aber nur danach! - würde dem Kind erlaubt, auf das Fahrrad zu steigen. ...
9
Aber sicher, erst wenn der Schüler fehlerfrei auf das Fahrrad steigen könnte, dürfte
er sich frei dessen Mechanik aussetzen. Glücklicherweise machen die Kinder
solchen allzu klugen und allzu methodischen Vorhaben der Pädagogen einen Strich
durch die Rechnung. In einer Scheune entdecken sie einen alten Bock ohne Reifen
und Bremse, und heimlich lernen sie im Nu aufzusteigen, so wie im Übrigen alle
Kinder lernen: ohne irgendwelche Kenntnis von Regeln oder Grundsätzen grapschen
sie sich die Maschine, steuern auf den Abhang zu und ... landen im Straßengraben.
Hartnäckig fangen sie von vorn an und - in einer Rekordzeit können sie Fahrrad
fahren. Übung macht den Rest.
Am Anfang jeder Eroberung steht nicht das abstrakte Wissen - das kommt
normalerweise in dem Maße, wie es im Leben gebraucht wird - sondern die
Erfahrung, die Übung und die Arbeit." (Freinet, Célestin, pädagogische Texte, S. 21.)
Arbeit ist in diesem Sinne für Célestin Freinet ein Grundrecht des Menschen und
deshalb in der Schule ein durchgehendes Prinzip; Arbeit ist ein wesentlicher Teil
der Menschenwürde.
Schulisches Lernen in einer Freinet-Klasse ist in einem hohen Maß
handlungsorientiert und immer von dem Lernenden selbst bestimmt. Freinet geht
auch davon aus, dass jedes Kind die wichtigen Erfahrungen in seinem Leben
selbst machen muss und dass jedes Kind ein grundsätzliches Recht hat, Wahrheiten
selbst zu entdecken. Lebendiges Lernen besteht für Freinet darin, dass das Kind eingebunden in die emotionellen und sozialen Beziehungen seiner Gruppe(n) und in
enger Verbindung zu seinem Milieu - daran geht, die Beschaffenheit seiner Welt, ihre
Werte und Beziehungen herauszufinden. Doch Freinet-Pädagogik heißt auch, ein
Bewusstsein darüber zu entwickeln, dass diese Welt durch meine (des Schülers Verf.) "politische" Arbeit veränderbar ist.
Soll Lernen und Arbeiten für Kinder eine seine Individualität entwickelnde Bedeutung
haben, so muss es im "Hier und Jetzt" stattfinden und sehr wohl auch den
Bedürfnissen und Interessen der Kinder entsprechen. So wird auch der Unterricht in
der Freinet-Pädagogik erfahrungsorientiert, sachbezogen und für das Kind
sinnvoll erlebbar sein.
So wird zum Beispiel die Kulturtechnik des Schreibens immer auf ein Gegenüber
gerichtet sein, dem ich etwas mitteilen kann, mit dem ich etwas austauschen kann.
Wozu schreiben wir in der herkömmlichen Schule, wenn es außer der Lehrerin keiner
liest und am Ende des Schuljahres das Heft weggeworfen wird?
Das Wissen der Kinder
Das Wissen in einer Freinet-Klasse kommt nicht mehr nur vom Lehrer allein. Es ist
viel wichtiger, dass die Kinder lernen können, wie sie sich Wissen aneignen können
mit verschiedenen Arbeitsmaterialien, mit Büchern, Informationsheften und
Nachschlagewerken. Es ist nicht wichtig, dass ich immer wieder "Wissen" serviert
bekomme und dieses reproduzieren kann, sondern dass ich lerne, wie ich mir
"Wissen" selbstständig erarbeiten kann und dieses "Wissen" auch einer
10
Selbstkontrolle unterziehen kann. Wissen ist lebensnotwendig, daher steht das
Lernen von gezieltem, selbstständigem Lernen im Vordergrund der FreinetPädagogik.
Schule als Lebensraum
Im Verständnis Célestin Freinets ist Schule keinesfalls ein Schonraum, sondern
heißt, stellvertretend in der Schule viel für und über das wirkliche Leben zu lernen
und bei aller Freiheit zur individuellen Entwicklung die Verpflichtungen akzeptieren
und damit umgehen zu lernen.
11
2.4 Helen Parkhurst (1887 – 1959)
Der Daltonplan
Helen Parkhursts Daltonplan wurde nach der Stadt Dalton in Massachusetts
benannt. Englische Pädagogen waren es vor allem, die dieses Reformkonzept für die
Sekundarstufe international bekannt gemacht haben. Heute finden wir den
Daltonplan am meisten in den Niederlanden verbreitet. Hier jedoch nicht nur in der
Sekundar-, sondern ebenso in der Primarstufe, in der Fachliteratur meist "SubDaltonplan" genannt.
Grundprinzip
"Das Grundprinzip besteht also darin, die (traditionellen) Lehrstrategien in eine
Didaktik der Aneignungsstrategien zu übersetzen."
Charakteristik des Daltonplans
Die Einführung eines "neuen" pädagogischen Konzeptes setzt in den meisten Fällen
das Erkennen der Defizite des bestehenden Schulsystems voraus. Die dem
Wesen des Daltonplanes - die Bezeichnung "Plan" wird verwendet für die in der
reformpädagogischen Bewegung der Jahrhundertwende und zu Beginn unseres
Jahrhunderts entstandenen Reformprojekte, wie z.B. auch Jenaplan, Winnetkaplan,
Puebloplan usw. - nach zentrale erzieherische Leistung verweist auf ein auch in
unserem System noch bestehendes Defizit: ...,dass sich die Heranwachsenden in
konstruktiven Problemlösungen als lernfähig erfahren können. Einen weiter
gefassten Rahmen dieser Lernfähigkeit bilden bei Helen Parkhurst die Begriffe
"Daseinsbewältigung" und "Lebenstüchtigkeit".
Helen Parkhurst definiert die "pädagogische Freiheit" nicht als absolute
Selbstbestimmung des Schülers, sondern vielmehr als selbstgesetzte
Bestimmtheit des Schülers im Verhältnis zu einer Aufgabe.
Helen Parkhurst meint mit dem Begriff "freedom" jene Freiheit, welche die
persönliche Wahl, die persönliche Entscheidung erlaubt und sogar fordert. Diese
Art von Freiheit schließt auch die Verantwortung des Menschen für andere ein,
wenn er sich für etwas entschieden hat. Daher muss das Kind diese Art von Freiheit
allmählich lernen.
Freiheit und Verantwortung
Dalton definiert Freiheit als Wahlfreiheit, unlöslich verbunden mit der Verantwortung
für die Entscheidungen, die man trifft. Die von Helen Parkhurst in den Mittelpunkt
ihrer Pädagogik gestellte Freiheit ist historisch gesehen auch eine Reaktion auf die
so genannte "Zwangsschule". Es ist nicht die Aufgabe des Lehrers, dem Kind immer
zu sagen, was es tun soll. Es ist aber seine Aufgabe, dem Kind in seiner Entwicklung
zu helfen.
12
Helen Parkhurst versucht mit dem Daltonplan, den Schwerpunkt der Schule auf das
Lernen und nicht auf das Lehren zu verlegen. Im herkömmlichen Unterricht ist es die
Aufgabe des Lehrers, darauf zu achten, dass der Schüler lernt. Ein wesentliches
Prinzip des Daltonunterrichtes ist es aber, dass der Schüler selbst verantwortlich
für seine Arbeit und seinen Fortschritt ist. Der Unterricht wird so abgehalten
(Pensen, Wahlmöglichkeiten, assignments...), dass der Schüler versteht, dass das
Lernen seine Sache ist und nicht die des Lehrers. Dem Schüler Verantwortung für
sein Tun und sein Leben in der Schule zu geben, prägt ebenso dessen
Selbstvertrauen und seine Fähigkeit, initiativ für sich selber zu werden.
13
2.5 Berthold Otto (1859 – 1933)
Die Bertold-Otto-Schule war nicht in Klassen unterteilt, sondern der Unterricht fand in
Kursen und als Gesamtunterricht statt. Unter-, Mittel- und Oberkurs bauten
aufeinander auf. Ein Versetzen bzw. Sitzen bleiben wie in der in Klassen
gegliederten traditionellen Schule konnte es demnach nicht geben. Vielmehr
besuchte der Schüler den ihm gemäßen Kurs und ging mit seinem Kurs in den
nächsthöheren über, wenn die Voraussetzungen der Leistung dafür gegeben waren.
Es gab auch keine Zeugnisse oder Klassenarbeiten mit Benotung. Für die
Unterrichtsstunde war eine Dauer von 35 Minuten vorgesehen. Doch war nicht das
Klingelzeichen maßgebend, sondern die Ermüdung und abnehmendes Interesse am
Unterricht.
Der Unterricht knüpfte immer wieder an das lebendige Interesse der Schüler an und
richtete sich nicht starr nach der Lektionenfolge eines Planes bzw. Lehrbuches.
Der Gesamtunterricht findet nach Otto im Beisein aller Schüler von 6-17 Jahren und
Lehrer statt. Zu Beginn des Unterrichts melden sich die Schüler und stellen eines von
mehreren Themen vor. Es wird so lange diskutiert, bis die Lehrer feststellen, dass
das Interesse der Gesamtheit nachlässt. Die Fragen die sich ergeben, werden zuerst
von den jüngeren Schülern beantwortet, dann von älteren Schülern ergänzt und
wenn notwendig melden sich auch die Lehrer zu Wort. Ziel ist die
Diskussionsfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit, Toleranz und gegenseitige Achtung.
 Das Kind ist ernst zu nehmen und als Mensch zu respektieren.
 Geistige Bildung ist ein geistiger Wachstumsprozess, der sich von innen her
vollzieht.
 Jedes organische Wesen sucht sich das aus, was ihm gerade förderlich ist
und weist das zurück, was ihm schädlich ist.
 Jedes Kind hat einen natürlichen Wissensdrang und ist von sich aus bereit zu
lernen.
 Das Fragerecht der Kinder ist für Otto ein wesentlicher Bestandteil von
Erziehung und Bildung.
 Das Kind hat eine ganzheitliche Auffassungs- und Denkweise. Die Welt ist für
das Kind eine einzige große Gesamtheit und es sucht sich darin
zurechtzufinden.
 Für Otto hatte die Spracherziehung einen hohen Stellenwert. „Gebildet ist, wer
versteht, was er sagt.“
14
Kapitel 3
Offener Unterricht
Der Begriff „offener Unterricht“ bezeichnet verschiedene Unterrichtsmethoden. Um
nicht am eigenen Anspruch zu scheitern, sollten sich Lehrer/innen die folgende
goldene Regel zu Herzen nehmen:
Die Methoden des offenen Unterrichts müssen gut vorbereitet und dürfen nur
allmählich eingeführt werden. Die Methoden müssen sowohl von Schüler/innen wie
auch von Lehrer/innen erst gelernt werden.
3.1 Lernen an Stationen (Lernzirkel, Übungszirkel, Lernparcours)
Bei dieser Methode wird ein Unterrichtsthema in verschiedene Teilaspekte zerlegt
und zu mehreren Lernarrangements zusammengestellt. Jedes Lernarrangement ist
dann eine Station, die von den Schüler/innen alleine oder auch in Gruppen
selbständig erarbeitet werden.
Beispiel:
Thema: Wetter (Unterstufe)
1. Aus alten Zeitungen und Zeitschriften Wettersymbole ausschneiden und den
Oberbegriffen (Regen, Sonne, bewölkt,...) auf einem Arbeitsblatt zuordnen.
2. Eine große Puppe wettergerecht anziehen (in einem Koffer sind verschiedene
Kleidungsstücke für Schnee, Regen, Hitze). An der Wand hängt ein
Wettersymbol und auf der Rückseite sind Fotos der richtigen Kleidungsstücke
als Selbstkontrolle).
3. Nach Vorlage einen Wetterhahn basteln
4. Wetteruhr herstellen
5. Wettersymbole als Puzzle
6. Thermometer ablesen (im Klassenzimmer, auf dem Pausenhof, im
Kühlschrank, im Gefrierschrank) und in eine Skala eintragen
7. Lotto oder Memory mit Wettersymbolkarten spielen
(Differenzierungsmöglichkeit: Symbole und Ganzwörter)
Der Aufbau der Stationen kann von der Lehrperson alleine oder gemeinsam mit den
Schüler/innen geleistet werden.
Das Thema sollte eingeführt sein und grundlegende Arbeitstechniken wie z.B.
ausschneiden, aufkleben, ausmalen sollten die Schüler/innen (bei diesem Beispiel)
beherrschen.
Zu Beginn der Stationenarbeit müssen die Stationen erläutert werden. Es ist sinnvoll,
nicht sofort mit allen Stationen anzufangen, sondern sich auf ca. 3 – 4 zu
beschränken. Je nach Übungsbedarf können die Stationen über einen längeren
Zeitraum immer wieder angeboten werden, so dass die Anzahl der Stationen sich
somit erhöhen kann.
Die Schüler/innen erhalten einen Laufzettel, auf dem die Stationen bildlich und/oder
schriftlich festgehalten sind. Die Schüler/innen kreuzen die Stationen auf ihrem
Laufzettel ab, die sie bearbeitet haben.
15
Durch die Laufzettel ist es möglich, den Schüler/innen unterschiedliche Stationen als
Aufgaben zuzuweisen – je nach Leistungsvermögen der Schüler/innen. Auch die
Einteilung in Pflicht- und Wahlstationen ist möglich.
Die Schüler/innen können die Reihenfolge der Stationen frei wählen und bearbeiten
in ihrem individuellen Tempo die einzelnen Aufgaben.
Die Lehrperson tritt in der eigentlichen Arbeitsphase in den Hintergrund. Die
Schüler/innen sollen Fragen und Probleme selbständig zu lösen versuchen bzw. sich
zuerst an die Mitschüler/innen wenden. Die Lehrperson hat durch diese
Unterrichtsmethode die Gelegenheit, leistungsschwächere Schüler gezielt zu
unterstützen.
Zum Abschluss erfolgt ein gemeinsames Gespräch, bei dem Schwierigkeiten
besprochen und Arbeitsergebnisse gewürdigt werden können.
Aufgabenverteilung beim Stationenlernen im Überblick
(entnommen aus „Lernen konkret“ Heft 4 – Nov. 97, 16. Jahrgang)
Aufgaben der Lehrperson
Aufgaben der Schüler

wählt, in Orientierung am Lehrplan,
an der längerfristigen Planung sowie
am besonderen Förderbedarf der
Schüler / Klasse ein Thema /
Vorhaben aus

werden im Rahmen ihrer
Möglichkeiten an der Themenwahl
beteiligt

zergliedert das Thema / Vorhaben in
Teilthemen / -vorhaben

legt einen ungefähren Zeitrahmen für
das Gesamtthema / -vorhaben fest

bestimmen selbst, wie lange sie an
den einzelnen Stationen tätig sind
(individuelle Zeiteinteilung)


legt die Anzahl der Stationen fest;
teilt diese unter Beachtung einer
Neigungs- und
Leistungsdifferenzierung in Pflichtund freiwillige Stationen ein

wählen aus dem Angebot und legen
die Reihenfolge der Bearbeitung /
Beschäftigung selbst fest

besorgt / erstellt unterschiedliche
Materialien für die einzelnen
Stationen

wählen aus dem Materialangebot das
aus, was zur Bewältigung der
Aufgabe / zur Lösung eines Problems
erforderlich ist

achtet bei den einzelnen Stationen

auf eine Ausgewogenheit von Einzel-,
Partner- und Gruppenarbeit
wählen die Sozialform aus, die zur
Aufgabenbewältigung nach ihrer
Einschätzung am besten geeignet ist

schafft – soweit wie möglich und
sinnvoll – Kontrollmöglichkeiten
arbeiten an den einzelnen Stationen
auf der Grundlage der bisher
gemachten Erfahrungen (des
sachstrukturellen
Entwicklungsstandes)

16
3.2 Tages- und Wochenplanarbeit
Schüler/innen erhalten Arbeitsaufträge, die sie innerhalb eines Tages bzw. über den
Zeitraum einer Woche selbständig bearbeiten sollen. Die Pläne enthalten Pflicht- und
Wahlaufgaben. Es sind Einzel-, Partner- und Gruppenarbeiten möglich. Die
Zeiteinteilung und die Reihenfolge der Bearbeitung der Aufgaben wählen die
Schüler/innen selbst. Am Ende des Tages bzw. der Woche werden dann in einem
Abschlussgespräch die Arbeitsergebnisse präsentiert und aufgetretene
Schwierigkeiten besprochen.
Der Tages- oder Wochenplan kann mit Aufgaben aus unterschiedlichen Bereichen /
Fächern / Themen gestaltet werden (also fächerübergreifend) oder aber auch nur
innerhalb eines Faches (also fachspezifisch – z.B. Mathematik).
Beim geschlossenen Tages- oder Wochenplan bestimmt die Lehrperson / bzw. das
Team selbst die Aufgaben für jeden einzelnen Schüler. Im offenen Tages- oder
Wochenplan legen Schüler und Lehrer gemeinsam die Aufgaben fest.
Im Stundenplan kann dies dann folgendermaßen aussehen:
1. Tagesplan (z.B. jeden Dienstag wird nach dieser Methode gearbeitet)
- beim fächerübergreifenden Tagesplan ist es sinnvoll, den Schüler/innen nicht
nur eine Doppelstunde zur Verfügung zu stellen, sondern den ganzen
Vormittag oder sogar den ganzen Schultag – je nach Umfang des Planes.
- Beim fachspezifischen Tagesplan kann eine Doppelstunde ausreichend sein
2. Wochenplan
Kann fächerübergreifend oder auch fachspezifisch sein
Montag
1. + 2. Std.
3. + 4. Std.
7. + 8. Std.
Dienstag
Wo-pl.
Mittwoch
Wo-pl.
Donnerstag Freitag
Wo-pl.
Wo-pl.
In diesem Beispiel erhalten die Schüler/innen Gelegenheit, innerhalb einer
Woche an 4 Doppelstunden ihre Aufgaben zu bearbeiten.
Woche: vom 11. Juli – 15. Juli 2005
Name: Max Maier
Fach
Deutsch
Aufgabe
erledigt
Lückentext zum Thema „Haustiere“
Hauswirtschaft
Geschirrtücher bügeln
Computer
Löwenzahn Thema „von der Kuh
zur Milch“
Mathematik
LÜK Thema „Geld“
?
o.k.
Weiterarbeit am Gemeinschaftsbild
„Bauernhof“
17
3.3 Freiarbeit
Diese Methode ist die am weitesten gehende Form von selbstorganisiertem Lernen.
Den Schüler/innen werden unterschiedliche Medien und Materialien angeboten, die
sie frei wählen können. Die Lehrperson legt nicht fest, mit welchem
Freiarbeitsmaterial die einzelnen Schüler/innen arbeiten sollen - festgelegt ist nur,
dass gearbeitet werden muss.
Es hat sich als sinnvoll erwiesen, einzelne Schränke oder Regale nur für
Freiarbeitsmaterial herzurichten. Montessori spricht in diesem Zusammenhang von
einer „gestalteten Lernumgebung“.
Die Schüler/innen entscheiden selbst, ob sie einzeln, mit einem Partner oder in einer
Gruppe arbeiten wollen.
Wie auch bei der Tages- und Wochenplanarbeit sind sowohl fächerübergreifende wie
auch fachspezifische Angebote möglich. Festgelegte, wiederkehrende Zeiten sind
notwendig. Es ist möglich, nur an einem Tag oder auch an mehreren Tagen in der
Woche Phasen der Freiarbeit im Stundenplan auszuweisen.
Freiarbeit ist nicht zu verwechseln mit „Freizeit“ – Freiarbeit ist Arbeit. Die Freiheiten,
die die Schüler/innen haben, wie z.B.:
- Wahl der Inhalte und Aufgaben, die bearbeitet werden
- Wahl des Partners
- Wahl der Zeiteinteilung (wie oft übe ich was?)
- Wahl der Materialien
werden durch klare Regeln und Strukturen eingerahmt.
Mögliche Regeln:
(entnommen aus: www.fh-niederrhein.de)
 Wähle das Material, mit dem du arbeiten willst zügig aus, bleibe dann bei der
Arbeit und stelle diese erst fertig, bevor du eine andere Arbeit wählst.
 Arbeite ruhig und konzentriert, flüstere, wenn du sprechen musst.
 Hilf deinen Mitschüler/innen, wenn sie dich um Rat fragen. Störe niemanden,
bewege dich möglichst leise und rücksichtsvoll in der Klasse.
 Erstellte Produkte und schriftliche Arbeiten müssen formal ansprechend sein.
 Wenn es zu dem Material Lösungen gibt, dann vergleiche deine Ergebnisse
mit den Lösungen und berichtige fehlerhafte Ergebnisse.
 Gib vollständige Arbeiten ab.
 Gehe mit dem Material sorgfältig um, räume es nach Gebrauch vollständig
wieder an seinen Platz zurück.
18
3.4 Projektarbeit (entnommen aus www.offener-unterricht.de)
Terminologische Klärung des Projektbegriffs
Die Projektmethode hat sich zu Beginn dieses Jahrhunderts in den USA entwickelt.
In der deutschen Schulpädagogik werden die Ausdrücke 'Projekt', 'Projektunterricht',
'Projektmethode' und 'Projektorientierter Unterricht' verwendet. Hänsel (1988) hat
den Versuch einer terminologischen Abgrenzung vorgenommen. Das Projekt ist
dadurch gekennzeichnet, dass sich die Beteiligten mit Fragestellungen und
Problemen aus ihrem Lebens- und Interessenbereich auseinandersetzen und
Inhalte, Ziele und Verfahren selbst zu bestimmen lernen.
Während der gemeinsamen Durchführung soll kooperatives Verhalten gelernt und
die Möglichkeit der individuellen Entfaltung genutzt werden. Der projektorientierte
Unterricht ist im Gegensatz zum Projektunterricht nur nach einigen Komponenten der
Projektmethode gestaltet.
Merkmale des Projektunterrichts (PU)
"Projektarbeit ist Unterricht. Sie ist ein geplantes und von Inhalten bestimmtes
Geschehen zum Zwecke des Lernens, möglichst mit einem Bezug auf die Institution
Schule. Projektunterricht stellt einen Unterricht dar, der eine bestimmte Form
aufweist. Er hat einen Anfang und ein Ende. Er unterscheidet sich vom
herkömmlichen Unterricht theoretisch und auch praktisch. Es handelt sich um eine
besondere Unterrichtsform. Die besondere Form ist beispielsweise dadurch
gegeben, weil Projektunterricht als einzige Unterrichtsform das Planungsmonopol
des Lehrenden in Frage stellt. Projektunterricht hat damit nicht nur wie jeder andere
Unterricht einen Gegenstand, ein Ziel und eine Methodik, sondern gleichzeitig immer
auch sich selbst zum Gegenstand" (Hänsel, D.: Das Projektbuch Grundschule, S.
31).
Osanko empfiehlt ein schrittweises Lernen dieser besonderen Unterrichtsform von
Lehrern und Schülern gleichermaßen; kleinschrittig, zunächst projektorientiert. Der
Beginn mit kleinen projektorientierten Schritten ist deshalb seiner Meinung nach so
wichtig, weil im Projektunterricht zunächst einmal die gleichen Personen miteinander
handeln, die auch im herkömmlichen Unterricht zusammen arbeiten und dort bereits
ihr Verhalten erprobt und stabilisiert haben. Die Vorbereitung im Regelunterricht
verringert darüber hinaus ein weiteres Problem, das in Schulen auftritt, in denen
einmal im Jahr eine Projektwoche durchgeführt wird. Es ist das Problem der
"Inselbildung". Projektwochen bleiben in der Regel Inseln im Meer des
herkömmlichen Unterrichts. Durch anfänglich projektorientiertes Lernen erfolgt eine
stärkere Verknüpfung mit dem "Normalunterricht".
19
PU ist von den Bedürfnissen und Interessen der SchülerInnen her organisiert.
Projekte sind immer praxisbezogen, aber sie haben auch einige
Wechselbeziehungen zwischen Handeln und Reflexion
Projektlernen orientiert sich an Problemen der Lebenswirklichkeit und ist deshalb
fächerübergreifend, beschränkt. sich nicht auf Aktivitäten in der Klasse und hebt die
45-Minuten-Einheiten auf.
Projektziele und -planung werden aufgrund gemeinsamer Entscheidungen aller
Beteiligten aufgestellt und bei der Auseinandersetzung mit dem Sachverhalt auch
gemeinsam revidiert.
Das Projektziel ist in der Regel ein Produkt oder eine Aktion. Es wird erreicht durch
Lernen mit vielen Sinnen.(aus: Bunk, H.-D., a.a.O., S.11
Projektphasen
1. Projektidee
Am Anfang steht die Projektidee, der Anstoß, der zum Überlegen motiviert und
zu einer gemeinsamen Zieldefinition motiviert. Dieses Ziel sollte im
Klassenraum sichtbar festgehalten werden.
2. Projektplanung
LehrerIn und SchülerInnen überlegen gemeinsam wie sie sich ihrem
Projektziel nähern können. Welche Aufgaben stehen an? Wie komme ich an
Informationen? Wie werden die Aufgaben verteilt? Die Planungsschritte
werden in der Klasse auf einer Wandzeitung festgehalten. Diese werden im
Verlauf des Projektes häufig ergänzt, neu überdacht und verändert.
3. Projektdurchführung
Sie dient der konkreten Erreichung des Projektziels, Informationen werden
ausgewertet und bearbeitet, sodass ein Produkt oder eine Präsentation als
Ergebnis der gemeinsamen Arbeit vorgestellt werden kann. Gerade in der
Grundschule sind Zwischenreflektionen darüber, wer was macht, schon
gemacht hat, was es noch zu tun gibt und welcher Stand schon erreicht ist,
notwendig.
4. Rückblick
Er hat eine wichtige Funktion für die weitere Zusammenarbeit. Positives und
Negatives wird angesprochen, um es zu verstärken oder zu vermindern. Die
Ergebnisse der Präsentation oder Aktion werden ausgewertet.
20
Rolle des Lehrers
"Der Lehrer muss Lernsituationen so gestalten, dass die Kinder zunehmend in die
Lage versetzt werden mitzudenken, mitzuplanen und mitzugestalten. Er trägt dafür
Sorge, dass die Kinder in für sie sinnvollen Zusammenhängen lernen und das
Gelernte anwenden können." (RRL GS S. 12) Eine grundlegende Anforderung an
den Lehrer liegt in der Anbahnung von lehr- und lernbezogenen Voraussetzungen.
Es ist sinnvoll Fähigkeiten und Fertigkeiten, welche die SchülerInnen für Projekte
kennen sollten, langsam einzuführen. Der Lehrer versteht sich während der
Durchführung von Projekten als Koordinator, Berater und Partner der SchülerInnen.
3.5 Aufgabe



Welche der vorgestellten Unterrichtsmethoden können sie sich für ihre Klasse
vorstellen?
Was müssen sie im Vorfeld beachten, damit eine Umstellung gelingt?
Welche Möglichkeiten der Eigenkontrolle durch die Schüler/innen sind
denkbar?
21
3.6 Pädagogische Haltungen des Lehrers /
der Lehrerin im offenen Unterricht
Die persönliche Grundeinstellung des Lehrers / der Lehrerin zum Kind, das eigene
Selbstbewusstsein, die Souveränität im Umgang mit Kindern und Kollegen,
Teamfähigkeit und Sicherheit im herkömmlichen Unterricht und das eigene
Menschenbild sind für die Umsetzung des offenen Unterrichts bedeutsamer als alles
theoretische Wissen über diese Unterrichtsform.
 Der Lehrer / die Lehrerin glaubt an die Selbststeuerungsmöglichkeiten der
Schüler
 Der Lehrer / die Lehrerin gewährt den Schülern im Unterricht, beim Lernen,
Freiheiten
 Der Lehrer / die Lehrerin sieht im Unterrichtsalltag regelmäßig Möglichkeiten
zur Mitgestaltung und Mitbestimmung durch die Schüler vor.
 Der Lehrer / die Lehrerin hat Achtung vor der Würde des Kindes / des
Jugendlichen (sichtbar in Wort und Tat)
 Der Lehrer / die Lehrerin pflegt einen demokratischen Führungs- und
Erziehungsstil: Einladung zum Lernen; Anregung; freundliche Stimme; Schüler
ermutigen; ihnen helfen, sie fördern; akzeptieren; belohnen; bei den Schülern
Fortschritte erkennen und nach diesen suchen; ....
 Der Lehrer / die Lehrerin meidet den autokratischen Erziehungsstil: Macht
demonstrieren; Druck ausüben; negativ kritisieren; scharfe Stimme; traut dem
Schüler wenig zu; übernimmt die alleinige Verantwortung für das Geschehen
in der Gruppe; ..
 Erkennen, dass Selbsttätigkeit in Denken und Handeln sowie
Selbstbestimmung die Wurzeln des Lernens und der Entwicklung des
Selbstbewusstseins sind.
 Der Lehrer / die Lehrerin ist zuversichtlich und optimistisch. Er / sie traut und
mutet den Schülern etwas zu.
 Der Lehrer / die Lehrerin ist gegenwart- und zukunftsorientiert. Es geht um die
Zukunft der Kinder. Er / sie verschließt sich nicht den neuen gesellschaftlichen
und technischen Entwicklungen, reagiert auf diese aber sehr wohl kritisch und
nicht unreflektiert.
 In der Planung, Durchführung und Reflexion von Unterricht berücksichtigt der
Lehrer / die Lehrerin vor allem Schülerinteressen
 Der Lehrer / die Lehrerin achtet darauf, dass im Unterricht die Balance
zwischen Pflichten und Freiheiten bewahrt wird. Es geht nicht ausschließlich
um die Selbstverwirklichung und die Befriedigung eigener Bedürfnisse.
Erledigung von Pflichten und Anpassung in der sozialen Gruppe gehören zu
Grundtugenden und entsprechen der Normalität.
22
 Die Lehrerin / der Lehrer sorgt für eine freundliche, ermutigende und
lernmotivierende Klassenraumgestaltung und Unterrichtsatmosphäre. Das
Klassenzimmer ist in der Ganztagesschule Lern- und Lebensraum. Die
Schüler sollen gerne in die Schule kommen.
 Die Lehrerin / der Lehrer achtet auf die Einhaltung von nachvollziehbaren
Regeln und einer natürlichen und dienlichen Ordnung. Nicht die Lehrerin / der
Lehrer bestimmt die Regeln alleine. Sie / er versucht, diese mit den Schülern
gemeinsam zu finden und zu überwachen.
 Was fällt ihnen noch dazu ein?
23
3.7 Umstellung des herkömmlichen (überwiegend
lehrerzentrierten) Unterrichts auf offene
Lernformen
Folgende Aspekte sind bei der Einführung in das offene Lernen zu berücksichtigen:
 Vor- und Kleinstformen offener Lernsituationen im Unterrichtsalltag immer
wieder ermöglichen.
 Bereits in der Unterstufe Gelegenheit zur Selbsttätigkeit und Selbständigkeit
geben. Ausgehend z.B. vom Freispiel.
 Wahlmöglichkeiten in alltäglichen Situationen ermöglichen.
 Am Anfang nur wenig Wahlmöglichkeiten aufzeigen, damit es für die Schüler
überschaubar bleibt.
 Behutsam und langsam größere Freiräume und
Selbstbestimmungsmöglichkeiten (bzw. Mitbestimmungsmöglichkeiten)
anbieten.
 Nicht von jetzt auf nachher mit offenem Unterricht beginnen. Die Schüler
langsam (Stück für Stück) an diese Lernform heranführen.
 Auch sich selbst Zeit lassen.
 Werden offene Unterrichtsformen eingeführt, wird dies automatisch zum Ziel
der Stunden. Dies bedeutet, dass keine neuen Inhalte zeitgleich mit neuen
Unterrichtsformen eingeführt werden sollten.
 Mit Kolleginnen und Kollegen zusammenarbeiten. Damit sich gegenseitig
unterstützen (z.B. bei der Materialsammlung), sich bestärken (wenn mal
wieder Zweifel aufkommen) und gegen die Vereinzelung der Lehrkräfte sich
schützen. Eine Lernwerkstatt zur gemeinsamen Diskussion und Herstellung
von Material einrichten.
 Mit den Schülern im Vorfeld von offenen Unterrichtsformen, z.B. beim
handlungsorientierten Unterricht, gemeinsam Planungen und Reflexionen
durchführen.
 Selbständigkeit im gesamten Unterrichtsalltag / Schulalltag provozieren.
Schüler für Selbständigkeit loben.
 Zeit für selbsttätiges und selbständiges Handeln einplanen. Dies bringt es
zwangsläufig mit sich, dass weniger Unterrichtsinhalte in eine Stunde
hineingepackt werden können.
 Die Schüler mit dem Lernmaterial im Vorfeld vertraut machen, so dass sie
auch mit der Selbstkontrolle umgehen können.
24
 Partner- und Gruppenarbeit unter dem Aspekt der Kooperation sowie des
gemeinsamen Lernens und Spielens in den Unterricht integrieren.
 Die Schüler zur Reflexion, zur Überprüfung und Selbsteinschätzung des
eigenen Arbeitsergebnisses anregen.
 Die Eltern über die Unterrichtsform und deren Vorteile informieren und
eventuell in die Herstellung der Lernmaterialien einbeziehen.
 Was fällt ihnen noch dazu ein?
25
3.8 Anforderungen an das Material

Die Handhabung des Materials muss klar ersichtlich sein bzw. ohne allzu
große Erklärungen verstanden werden.

Das Material muss stabil sein – es wird ja öfters bearbeitet.

Das Material soll Motivation und Lernfreude erzeugen – also nicht nur nach
Funktionalität, sondern auch nach ästhetischen Gesichtspunkten herstellen.

Das Material sollte eine einfache Selbstkontrolle ermöglichen oder es gibt
Hinweise auf Partner- bzw. Lehrerkontrolle.

Das Material sollte die Neugier und Aktivität der Schüler/innen anregen

Was noch?
26
Kapitel 4
bewegter Unterricht
4.1 Einleitung
Bewegung ist ein Grundbedürfnis des Menschen.
Betrachten wir jedoch die moderne Lebenswelt der
Kinder und Jugendlichen (Schule und Familie) so kann „Sich bewegen
können und dürfen
man feststellen, dass eher Bewegungseinschränkungen
heißt für ein Kind, sich
als Bewegungsförderung (vielleicht bedingt durch eine entwickeln können
veränderte Umwelt) vorherrscht. Schüler/innen mit und dürfen. Dies setzt
geistiger Behinderung erfahren hierbei noch ein mehr individuelle aber auch
an Einschränkungen. Sei es durch organische soziale Bedingungen
Ausgangsbedingungen oder auch durch eine allzu voraus, die
schützende Umwelt. Auch in der Schule für Entwicklung zulassen
Geistigbehinderte wird eher „Sitzunterricht“ als und fördern.“
„bewegter Unterricht“ angeboten, „obwohl nachweislich (Irmischer 1998,
ein hoher Prozentsatz an Unterrichtszeit und Energie Seite 5)
für die ständig benötigte und gelenkte Motivierung der Klasse, für
Aufrechterhaltung der äußerlichen Ordnung,..... verloren geht.“
(Köckenberger 1997, S.11)
die
Bewegung ist nicht gleichzusetzen mit „Sportunterricht“. Kinder können über
Bewegung, ansprechendes Material und Spiel zu vielschichtigen Erkenntnissen im
Unterricht geführt werden.
„Wenn Kognition Erkenntnis bedeutet, dann betreffen kognitive Fähigkeiten die
Möglichkeit, Zusammenhänge zu erkennen, mit diesen Erkenntnissen umzugehen
und sich in der Umwelt zurechtzufinden. ....
Nach Piaget ist Intelligenz der aktive Aufbau von Erkenntnis durch zunehmende
Strukturierung und Organisation von Erfahrung. Diese Erfahrungen finden stets auf
der Ebene von Wahrnehmung und bewegungsbezogener Handlung statt, in
Abhängigkeit von den vorherrschenden Umweltgegebenheiten. ... Durch vielseitige
Sammlung von konkreten Erfahrungen und durch die Ausbildung von
Wahrnehmungs- und Bewegungsmustern wird die Basis für den Erwerb kognitiver
Fähigkeiten geschaffen.“ (Köckenberger 1997, S.15)
Kein Entwicklungsbereich
Kommunikation
steht für sich allein und
kann daher auch
nicht isoliert von
Lern- und
anderen
Arbeitsverhalten
Bereichen
Motorik
en
betrachtet
werden.
Kognition
Motivation
Emotionalität
Wahrnehmung
Sozialverhalten
27
4.2 Bewegung und kindliche Entwicklung
(aus www.mehr-bewegung-in-die-schule.de
„Kinder wollen <groß> werden. Die dazu notwendige Entwicklung kann als eine
schrittweise <Eroberung von Lebensräumen> (in meinen Darstellungen folge ich
Dietrich 1994) gekennzeichnet werden. Die Entwicklung im Leben eines Menschen
ist ein Vorgang, bei dem das Neugeborene - aus dem schützenden Körper der Mutter
entlassen - in eine zunächst ungewohnte Welt kommt, an die es sich erst einmal
anpassen muss. Früh wird die Erfahrung gemacht, dass der eigene Leib etwas
Eigenes, von der übrigen Welt Unterschiedenes ist. Sich-Bewegen und Wahrnehmen
ermöglichen erste Raumerfahrungen. Das Kind lernt, etwas im Raum Angeordnetes
zu fassen und zu manipulieren; die nähere Umgebung des Kinderbetts wird
schließlich erkundet. Das Kind bewegt sich krabbelnd in einem begrenzten Raum.
Nachdem es sich aufrichten kann, gewinnt die Welt um es
herum eine neue Ordnung. Die Bewegung des Kindes im
Raum, der tastende, greifende, sich einverleibende
Umgang mit den Dingen in der unmittelbaren Umgebung
machen eine zunächst fremde Welt mehr und mehr zur
vertrauten Umgebung. Es beginnt ein Eroberungsfeldzug
durch die Wohnung, insbesondere dann, wenn das Kind
endlich eine Tür allein öffnen kann. Das Kind lernt die
Bedeutungen von Dingen und Räumen zu unterscheiden
und zu beachten. Damit eröffnen die erweiterten
Rasen betreten
Bewegungsmöglichkeiten neue Raumstrukturen, und die
verboten!
Bewegungen des Kindes ordnen sich in vorhandene
Räume ein. Später bewegen sich die Eltern und das Kind gemeinsam in das weitere
Umfeld außerhalb derWohnung. Zunächst ganz in der Nähe der vertrauten
Erwachsenen beginnt die Eroberung einer neuen, erweiterten Zone. Es kommt
schließlich der Zeitpunkt, an dem die Distanz zu den Eltern sich weiter vergrößert.
Die Kinder dürfen allein auf den Spielplatz. Eine weitere sozialökologische Zone wird
betreten und erkundet, wenn die Heranwachsenden selbständig auf erste Streifzüge
im Wohnumfeld gehen. Zunächst erobern sie sich zu Fuß die Straße, allein, einmal
auf und ab. Dann werden sie einmal um den Wohnblock herumlaufen. Später suchen
sie, vielleicht auch mit dem Fahrrad, ihnen bekannte Räume auf, um anschließend
aber auch den näheren Umkreis der Wohnumgebung zu verlassen und eigene,
weitere, noch unbekannte Bewegungsräume erschließende Unternehmungen zu
starten.
Diese sozialökologische Betrachtung der kindlichen Entwicklung (vgl. auch
Bronfenbrenner 1981, Baacke 1984, Dietrich/Landau 1990) geht von der
systematischen Eroberung und Bewältigung von sich konzentrisch erweiternden
Umwelten aus. Bereits Piaget weist in seinen Untersuchungen zum Erwachen der
Intelligenz beim Kinde (1973), zum Aufbau der Wirklichkeit beim Kind (1975) und zu
Nachahmung, Spiel und Traum (1969) nach, wie bedeutend die beständige
organisierende Aktivität, das Sich-Bewegen, für die Entwicklung von Kindern ist.
In der Großstadt von heute (und nicht nur dort) stößt diese Erkundung sehr bald auf
Grenzen. Für Kinder, die an stark befahrenen Großstadtstraßen oder in der Nähe
28
von Durchgangsstraßen in ländlicher Umgebung wohnen, ist oft die Haustür die
Grenze zu einem kinder- und bewegungsfeindlichen Raum, in dem sich Spielen
und Bewegen wegen existentieller Bedrohung weitgehend verbieten.
Aber auch Überbehütungen durch das Elternhaus, oft als Schutz für das Kind
gemeint, verhindern <bewegende> Entwicklungsmöglichkeiten. Gerade die
Mädchen werden schon früh in eine bestimmte Rolle gedrängt und geraten in einen
solchen <Schutz> der Eltern. Bewegungsfeindliche Freizeitaktivitäten und Spiele,
aber auch der vermehrte Medienkonsum tragen erheblich dazu bei, dass Kinder
sich ihre Bewegungsumwelt nicht mehr in gleichem Maß erschließen können. Damit
werden ihnen bedeutsame Entwicklungschancen vorenthalten.
Grundschullehrkräfte klagen immer wieder, dass Erstklässler heute unruhiger,
unkonzentrierter und zappeliger als früher seien. <Bei der Sache zu bleiben>, und
das über einen kleinen Zeitraum hinweg, gelingt nur wenigen. Wer genauer
hinsieht, entdeckt oft ein verändertes Bewegungsverhalten. Die Bewegungen sind
häufig unkoordiniert, sie wirken ungerichtet. In der Pause und in der Sporthalle
stellen wir fest, dass auch ganz einfache Aufgaben im Klettern, Springen,
Balancieren, ja sogar Laufen nicht bewältigt werden. Beim Durcheinanderlaufen
stoßen die Kinder mit anderen zusammen. Viele Erstklässler können teilweise ihre
eigenen und fremde Bewegungen nicht hinreichend antizipieren.
Tatsache ist: <In die Schule kommen> bedeutet, dass sich den
Kindern ein neuer Lebensabschnitt eröffnet. Sie betreten (nach
einem möglichen Aufenthalt im Kindergarten) erstmals einen
öffentlichen Raum, den sie mit allen anderen Kindern teilen
(müssen), der für sie errichtet wurde und dessen Nutzung
gesellschaftlichen
Erwartungen
unterworfen
ist.
Die
vorschulischen Bewegungseinschränkungen werden hier
fortgeführt; einleitend ist dazu das Auffälligste benannt worden.
Dies ist angesichts der Bedeutung von Spiel und Bewegung nicht länger zu
verantworten.
Für die ganzheitliche Entwicklung von Kindern und Jugendlichen - und dieser
bedeutsamen Aufgabe müssen sich die Lehrkräfte aller Schulen stellen - sind
vielfältige Bewegungserfahrungen eine unverzichtbare Voraussetzung.“
Rüdiger Klupsch-Sahlmann: Bewegte Schule, in Sportpädagogik 19 (1995) 6, 15-16
29
4.3 Bewegung und Lernen
(aus www.mehr-bewegung-in-die-schule.de)
„Entwicklung und Lernen lassen sich nicht trennen, sie erfolgen zusammen. Nur ist
das, was das Kind lernt, durchaus abhängig vom Entwicklungsstand. Die meisten
grundlegenden und uns selbstverständlichen Dinge lernen die Kinder im Verlauf
ihrer Entwicklung durch Bewegen, durch eine aktive, handelnde
Auseinandersetzung mit der Umwelt. Das Wissen, das lösgelöst vom Handeln in
Bild und Sprache repräsentiert ist, beruht weitgehend auf der aktiven
Auseinandersetzung mit der Umwelt von Menschen früherer Generationen. Diese
handelnde Erkundung nachzuvollziehen verstärkt die Einsicht in das Lernen und in
die Eigenart dieses Wissens.
„Sich-Bewegen ist Welt verstehen in Aktion“ (vgl. auch das <dialogische
Bewegungskonzept> nach Gordijn bei Trebels 1992). Die Welt zu verstehen ist
ohne Bewegung letztlich nicht möglich.
Nach Bruner (Vgl1974, 200 ff.) wird das Wissen auf dreifache Art erworben:
> auf der handelnden,
> auf der bildhaften und
> auf der symbolischen Ebene.
Bruner veranschaulicht diese Form der Aneignung des Wissens mit einem Beispiel:
„Mit dem Hebelarm beispielsweise können Kinder umgehen,
ohne eine genaue Vorstellung von ihm zu haben, wenn sie
nämlich auf einer Wippe herumturnen; dann sind ihnen die
physikalischen Gesetze (handelnd, in Aktion, durch
Bewegung, d. Verf.) gleichsam in Bewegung übergegangen.
Das Kind kann auch zu einer intuitiven oder genaueren
bildlichen Wiedergabe des Hebelarms übergehen und es
dabei zu einer beachtlichen geometrischen Genauigkeit
bringen. Und schließlich ist es möglich, Wippen und
Hebelarme als Newtonsche Drehmomente darzustellen und sie in eine
mathematische Formelsprache zu fassen, die sich von der konkreten Vorstellung
eines Hebelarms weit entfernt hat» (Bruner 1974, 204).
Diese Aneignungsmöglichkeiten des Wissens existieren nebeneinander, so dass
Handeln, Darstellen und Abstrahieren nebeneinander als Lernprozess vollzogen
werden können. „Ein Weltklasse-Fußballer kann zentimetergenau in den Strafraum
flanken, ohne die Differentialgleichungen zu kennen, die die Flugbahn des Balles
beschreiben“ (Bruner 1974, 202f.).
Übertragen auf die Initiierung von Lernprozessen bei Kindern und Jugendlichen
bedeutet dies, dass alle drei Ebenen der Aneignung von Lernstoffen berücksichtigt
werden sollen. Dabei können sie isoliert voneinander gewählt werden - oder die
Erfahrungen auf der einen Ebene werden auf eine andere oder die anderen
überführt.
Da Kinder in aller Regel zuerst über die handelnde, dann die bildliche und
schließlich die symbolische Ebene lernen, ergibt sich daraus für die Lernprozesse
30
in der Grundschule, diese Reihenfolge möglichst einzuhalten. Der handelnde
Umgang, also das Lernen unter Einbezug von Sich-Bewegen, steht grundsätzlich
an erster Stelle schulischen Lernens und Erfahrens.
In den weiterführenden Schulen stellt sich die Abfolge des Lernens auf den
genannten Ebenen möglicherweise anders dar. Schülerinnen und Schüler in den
Klassen der Sekundarstufen I und II verfügen über größere sprachliche und
erweiterte kognitive Fähigkeiten. Hier kann die Abfolge der drei Ebenen auch
verändert werden. Die Erkenntnisse, die die Kinder in einer Sache auf der
bildhaften Ebene gewonnen haben, werden zum Beispiel auf die symbolische
Ebene übertragen, um sie dann auf der handelnden Ebene im praktischen Tun
noch einmal nachzuvollziehen und/oder zu überprüfen. Die Bedeutung der
handelnden Darstellung ist aber auch hier gegeben, denn jede Übertragung von
erworbenem Wissen von einer Darstellungsebene auf eine andere stellt für den
Lern- und Erfahrungsprozess eine Bereicherung dar (vgl. auch Bruner 1974, 205).
Insofern hat das handelnde Lernen, das Lernen in Bewegung auf allen Schulstufen,
eine besondere Bedeutung für die Erschließung der Welt und das tiefere
Verständnis dessen, was Generationen vor uns an Wissen hervorgebracht haben.
Auf den handelnden Umgang mit Lernstoffen zu verzichten würde eine Verarmung
des Lernens bedeuten.“
Rüdiger Klupsch-Sahlmann: Bewegte Schule, in Sportpädagogik 19 (1995) 6, 14-22
Die gedächtnispsychologische Forschung hat gezeigt, dass
eine doppelte Kodierung von Lerninhalten, also Verbindung
von Kognition und Motorik, zu einem schnelleren und sicheren
Wiederauffinden von Wissen im Langzeitspeicher des
Gedächtnisses führen. Die Beteiligung motorischer Zentren im
Gehirn spielen offensichtlich eine wesentliche Rolle bei
Verarbeitungs-, Lern- und Erinnerungsvorgängen.
Bewegung regt das Wachstum von Nervenzellen an und vermehrt die Anzahl der
neuronalen Verbindungen. Bewegung aktiviert bestimmte Hirnregionen und führt so
zu erhöhter Wachsamkeit. Das Gehirn ist Bestandteil eines Gesamtkörpers und
arbeitet nicht isoliert und unabhängig. Bewegung fördert das Selbstbewusstsein,
kann Ängste abbauen helfen und ermöglicht den Abbau von Stress. Dies alles
geschieht, weil durch Bewegung bestimmte Hirnregionen aktiviert werden.
31
4.4 Bewegung und Unterricht
(aus www.mehr-bewegung-in-die-schule.de)
‚Themenbezogenes Bewegen (1) (2) im Unterricht’ eröffnet Lernen mit
weitere Chancen für eine ‚Bewegte Schule’. Geleitet von der allen Sinnen
Überzeugung, dass Lernen von Kindern und Jugendlichen
nicht nur über den Kopf gehen darf, sondern auch ‚Herz und Lernen mit
Hand’ gleichermaßen berücksichtigt werden müssen, können und durch
Lehrkräfte ihre Unterrichtsinhalte schon bei der Planung Bewegung
dahingehend prüfen, ob sie durch einen handelnden Umgang
erschlossen werden können. Im gegenstandsbezogenen Lernen mit
Lernen werden so Bewegungsaktivitäten zu adäquaten Kopf, Herz,
Lernweisen.
Damit
sind
allerdings
nicht
die Hand und Fuß
Unterrichtssituationen gemeint, in denen Kinder quasi von
der Sache her nicht ohne Bewegen auskommen, wie zum
Beispiel bei Schwungübungen, beim Schreiben von Texten, beim schriftlichen
Fixieren mathematischer Probleme oder im Sportunterricht. Sich in einem
thematischen Zusammenhang wirklich zu bewegen kann einen wesentlichen
Beitrag dazu leisten, sich die Sache selbst zu erschließen.
Nimm den FLECK,
das ECK wirf weg,
dann nimm ein 0,
tu's hinten dran,
und nimm ein H,
verlänger's dann.
Jetzt hast du ein sehr kleines Tier.
Das beißt nun in die Beine dir.
Sich dieses Gedicht von Josef Guggenmoos inhaltlich zu erschließen ist auf
vielfältige Weise möglich. Von der Lehrkraft vorgelesen, ist es ein Rätsel für die
Kinder, die nun versuchen, sich bildlich vorzustellen, welches Wort sich ergeben
hat. Andererseits kann eine unterrichtliche Inszenierung auch darauf aus sein,
dass die Kinder mit Hilfe des vorliegenden Textes und Buchstabenkarten das
neue Wort zu entdecken und zusammenzusetzen versuchen. Aber es ist auch
noch ein weiterer methodischer Zugriff denkbar, der den Bewegungsaspekt
umfassend berücksichtigt. Die Kinder bilden eine 7er-Gruppe. Sie haben sich die
verschiedenen Buchstaben umgehängt (wie bei der <Sandwich—Werbung>).
Zuerst einmal stellen sie sich zum Wort Fleck zusammen. Anschließend bewegen
sich die Buchstaben E, C, K aus der Gruppe weg, und die beiden Buchstaben 0
und H kommen an der entsprechenden Stelle hinzu. So eröffnet sich den Kindern
die Möglichkeit, das Rätsel handelnd zu erschließen, und die anderen Kinder der
Klasse, die Aktion beobachtend, sehen, wie sich das ursprüngliche Wort bewegt
und verändert.
Wie in diesem geschilderten Beispiel sind viele andere unterrichtliche
Inszenierungen denkbar, durch die sich die Kinder einen unterrichtlichen Inhalt
über Bewegung erschließen können. Im Fach Mathematik werden Zahlen
erlaufen, Rechenaufgaben <räumlich> gelöst, indem sich die Kinder in ZahlenGruppen aufstellen und Rechenoperationen in Bewegung umsetzen. Lieder
32
können in allen Schulstufen durch die szenische Darstellung intensiver erlebt
werden als durch das Singen oder Interpretieren des Textes allein. Gedichte wie
das oben zitierte betreffen die Grundschule. Aber auch in den weiterführenden
Schulen erschließen sich Gedichte, Prosa und anderes auch durch eine szenische
Nachgestaltung. Im Religionsunterricht, auch in den weiterführenden Schulen,
kann die Symbolik des Labyrinths als ein Zeichen des Lebenswegs, der mitunter
von vielen Irrungen und Wirrungen begleitet ist, aber dennoch zum Ziel führt, auch
wenn man sich immer wieder davon entfernt, bewegend erfahren werden: Das
Labyrinth der Kathedrale von Chartres wird auf dem Boden des Schulhofs
nachgezeichnet, und die Schülerinnen und Schüler erleben ihren Lebensweg im
Gehen.
Diese Beispiele sollen dazu anregen, auch solche Chancen zu nutzen, die sich
durch das bewegungsbezogene Erschließen von Unterrichtsinhalten ergeben
können. Dies kann unter anderem dann erforderlich sein, wenn andere Formen
der Erschließung nicht die gleiche Qualität sichern oder aber die unterschiedlichen
Lerndispositionen von Kindern und Jugendlichen vermehrt einen thematischen
Zugang über alle Sinne erforderlich machen.“
Rüdiger Klupsch-Sahlmann: Bewegte Schule, in Sportpädagogik 19 (1995), 14-22
(1) Heute, fast 5 Jahre nach dieser Veröffentlichung, bin ich nicht mehr ganz meiner Meinung von
damals. Die Diskussion mit meinem Kollegen Heiner Ziesmer , Fachleiter für Sport und Sprache am
Studienseminar für das Lehramt für die Primarstufe in Mönchengladbach, hat mich dazu geführt, für
diesen Baustein nicht mehr den Begriff des 'themenbezogenen Bewegens' zu verwenden, sondern
den des 'themenerschließenden Bewegens'. Mit dieser Veränderung soll deutlich werden, dass
ich dem Be-Greifen der Dinge dieser Welt über Bewegung eine besondere Bedeutung beimessen
möchte, weil ich hierin mittlerweile auch eine besondere Qualität der Bewegten Schule sehe. Ich bin
dabei, diese veränderte Orientierung zu verschriftlichen und eine Abgrenzung zum
themenbezogenen Bewegen zu formulieren, die meines Erachtens mehr den Bereich einer
bewegungsbezogenen unterrichtlichen Methode meint und damit eigentlich dem Baustein
'Schulraum - Bewegungsraum' zuzuordnen ist. (Rüdiger Klupsch-Sahlmann, im Mai 2001)
(2) Mittlerweile (Oktober 2001) habe ich die entsprechenden Gedanken differenziert
verschriftlicht. Interessierte Leser finden die grundlegenden Ausführungen zum
themenerschließenden Bewegen hier: Themenerschließendes Bewegen, in: Grundschule 33
(2991) 10, 41-42
33
4.5 Klassenräume - Bewegungsräume
(aus www.mehr-bewegung-in-die-schule.de)
„Klassenräume sind in aller Regel keine Bewegungsräume. Sie sind der Ort, an
dem die Schülerinnen und Schüler den größten Teil des Schultags verbringen. Die
Funktion des Klassenraums ist durch Sitzordnungen geprägt, die eine
durchgehende Konzentration auf die Inhalte des Unterrichts ermöglichen sollen. In
der Regel ist der Blick nach vorne gerichtet, wo die Lehrenden agieren. Aber so
vielfältig die Sitzordnungen auch sein mögen, traditionell mit Zweiertischen, in
Hufeisenform, mit Sechser-Gruppentischen oder anderen Arrangements: Das Sicham-Platz-Bewegen, das Herumzappeln oder sogar das Durch-den-Raum-Gehen
wird in der Regel als Störung der unterrichtlichen Inszenierung gedeutet. Was dies
bedeutet, ist hier bereits hinreichend erläutert worden. Wenn Schülerinnen und
Schüler in ihren Klassenräumen zusammen mit ihren Lehrkräften nicht nur lernen,
sondern auch <leben>, dann bedeutet dies, „sich um übereinstimmende Deutungen
des Raumes zu bemühen, Räume in ihren Funktionen festzulegen und ihre
Nutzung zu kontrollieren“ (Dietrich 1992, 19). Deshalb sollte das Interesse der
Lehrkräfte, den Kindern und Jugendlichen Unterrichtsinhalte möglichst effektiv zu
vermitteln, in keinem Widerspruch zu den Bewegungsbedürfnissen der
Schülerinnen und Schüler stehen. Dietrich fordert für den Sportunterricht, dass es
möglich sein muss, „verschiedene Raumdeutungen nicht nur zuzulassen, sondern
dies auch zu befördern“ (Dietrich 1992,19).
Dies muss in gleichem Maß auch für den Klassenraum als Bewegungsraum gelten.
Die grundlegende Form der <Übereinstimmung> bei der Nutzung des
Klassenraums als Bewegungsraum besteht darin, dass die Kinder und
Jugendlichen erfahren, dass ein Sich-Bewegen von Seiten der Lehrkräfte
akzeptiert, ja sogar angeregt und inszeniert wird und dass die Lehrkraft
Bewegungsaktivitäten der Kinder und Jugendlichen nicht als Störung eines
unterrichtlichen Vorhabens deutet.
Ein in der Praxis des <bewegten Unterrichts> bewährtes <Möbelstück> ist der
Sitzball. Der Körpergröße der Kinder und Jugendlichen angepasst liegen in den
Klassenräumen neben den normalen Stühlen Sitzbälle bereit, die alternativ für eine
kurze Zeit immer wieder als Sitzmöbel verwendet werden. Hier entsteht das
faszinierende Bild eines Unterrichts, der Bewegung akzeptiert.
Entgegen den Erwartungen der Beobachter entsteht keine Unruhe, nur weil einige auf dem Ball sitzend - andauernd in Bewegung sind. Die Bewegungen sind ruhig,
verhalten. Niemand hüpft auf dem Ball herum. Und: Die leisen Bewegungen stören
nicht. Vielmehr sind die Kinder und Jugendlichen durchgehend konzentriert und
äußern ihr Bewegungsbedürfnis nicht mehr durch unruhiges Wackeln auf dem
Stuhl, Kritzeln und Kratzen auf dem Tisch oder indem sie den Tischnachbarn
necken.“
Rüdiger Klupsch-Sahlmann: Bewegte Schule, in Sportpädagogik 19 (1995) 6, 14-22
34
4.6 Zusammenfassung
 Durch Bewegung erschließt sich das Kind die Welt.
 Bewegung ermöglicht dem Kind eine intensive Auseinandersetzung
mit der personalen und sächlichen Umwelt.
 Durch Bewegung lernt das Kind seinen Körper kennen. Es macht
nachhaltige Körpererfahrungen.
 Bewegung macht kräftiger und ausdauernder.
 Kinder gestalten und verändern vor allem durch Bewegung ihre
Umwelt.
 Bewegung erleichtert den Zugang zu anderen Menschen.
Allgemein fördert Bewegung:
 die geistige allgemeine Leistungsfähigkeit
 die Wachheit und Aktivitätsbereitschaft
 das Wohlbefinden
 die Zusammenarbeit von rechter und linker Gehirnhälfte
 die Gedächtnisleistung
 die Kommunikation
 die Beweglichkeit von Denkvollzügen
 die Konzentration
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4.7 Vier verschiedene Ebenen des bewegten Lernens
(entnommen aus: www.bewegtes-lernen.de)
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1.Abwechselnde Beanspruchung von Kopf und Körper:
Die Kinder können sich länger konzentrieren, wenn sie sich nach konzentrierter
Kopfarbeit kurzzeitig bewegen dürfen.
Beispiel: Die Kinder haben ein Arbeitsblatt fertig. Sie dürfen in der Klassenzimmerecke eine
Minute lang auf einen Boxsack schlagen. Dann nehmen sie sich das nächste Arbeitsblatt und lösen
am Tisch die Aufgaben.
2. Gleichzeitige Beanspruchung von Kopf und Körper:
Die Kinder dürfen sich bewegen, während sie bestimmte Denkaufgaben lösen. Dies
schafft Motivation, Abwechslung und Konzentration.
Beispiel: Die Kinder übersetzen einen deutschen Satz ins Englische, während sie auf dem Rollbrett
zur anderen Raumseite fahren. Dort tragen sie das Ergebnis in das Arbeitsblatt ein.
3. Sinnvolle Verknüpfung:
Die Kinder müssen sich bewegen, um die Denkaufgabe handelnd zu bewältigen. Das Lösen
der dadurch sinnvollen und sinnhaften Aufgaben wird spielerisch und selbstverständlich.
Beispiel: Die Kinder fahren mit Inlineskates zu verschiedenen Blechdosen, die mit einem
Buchstaben beschriftet sind. Sie werfen eine Bildkarte in die Blechdose mit dem
Anfangsbuchstaben des Wortes.
4. Inhaltliche Verknüpfung:
Die Kinder erfahren durch die konkrete Handlung in der Bewegungsaufgabe die
tatsächliche Bedeutung der schulischen Aufgabe.
Beispiel: Die Kinder bauen mit Schaumstoffbausteinen einen Turm. Sie tragen die Anzahl der
verwendeten Steine in das Arbeitsblatt ein. Sie werfen mit einem Ball den Turm um, zählen die
"weg"-gefallenen Steine und tragen sie als Subtrahend in das Arbeitsblatt ein. Schließlich werden
die restlichen stehenden Steine als Ergebnis der Subtraktion gezählt.
Sie wollten nur den Kopf,
doch es kam das ganze Kind.
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- Beispiele – (aus Köckenberger 1997 „bewegtes Lernen“)
Mathematik:
Ergebniskarte zur Addition bringen
Das Kind wählt zwei beliebige RollbretterWaggons, die mit jeweils einer Ziffer
gekennzeichnet sind. Es belädt die Waggons
mit entsprechend vielen Bausteinen, hängt die
Waggons an die Lokomotive und zählt alle
Güter zusammen. Es sucht die Ziffernkarte
dieser Summe und hängt sie der Lokomotive
oder sich als Nummernschild um. Die Rechnung
kann auf ein Arbeitsblatt (Führerschein)
eingetragen werden. Dann darf das Kind mit
dem Zug eine Runde fahren.
Ist auf dem Arbeitsblatt die Summe
vorgegeben, muss das Kind entsprechende
Waggons auswählen.
Genauso kann ein Summand (ein Waggon)
vorgegeben sein.
Deutsch: Buchstaben erlernen
Mathematik:
Mächtigkeit erfahren
Im Raum sind auf dem Boden Papierbögen
mit unterschiedlichen Ziffern verteilt, von
jeden Ziffern zwei gleiche. Über jedem
Papierbogen sind entsprechend viele
Blechdosen / Schaumstoffwürfel zum Turm
aufeinandergeschichtet. Das Kind sucht zwei
gleichhohe Türme, die es mit dem Rollbrett /
auf den Armen tragend / mit dem
Straßenbesen schiebend vorsichtig aus dem
Feld transportiert. Das Kind erhält die
Erfolgskontrolle über das Vergleichen der
Turmhöhen nebeneinander, über Abzählen
der einzelnen Bausteine der Türme oder
über die darunterliegenden Papierbögen
samt Ziffer.
Deutsch: Fehlende Buchstaben ertasten
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Literatur:
Köckenberger, Helmut
Bewegtes Lernen
Borgmann Verlag 2002
Oberacker, Peter
Lernen durch Handeln
Verlag Konrad Wittwer1982
Raeggel, Mechthild / Sackmann, Christa
Freiarbeit mit Geistigbehinderten
verlag modernes lernen 1997
Schulte-Peschel, Dorothee / Tödter, Ralf
Einladung zum Lernen
verlag modernes lernen 1996
Sowa, Martin (Hrsg.)
„Das reißt uns vom Hocker“
verlag modernes lernen 2000
Wallrabenstein, wulf
„Offene Schule – offener Unterricht“
rororo 1998
www.fh-niederrhein.de
www.mehr-bewegung-in-die-Schule.de
www.offener-unterricht.de
www.ph-freiburg.de
(Teilprojekt Bewegter Unterricht)
www.schule.suedtirol.it
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