Weichenstellungen für die Zukunft - Elemente einer neuen

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Experten mahnen eine durchgreifende Reform des
Gesundheitswesens an
Von Gerd Glaeske, Karl W. Lauterbach, Bert Rürup und Jürgen Wasem
Weichenstellungen für die Zukunft - Elemente einer neuen
Gesundheitspolitik
1 Aufbruch für eine neue Gesundheitspolitik
Solidarität und Gemeinwohlorientierung einer Gesellschaft zeigen sich immer dort, wo es darum geht,
Menschen in existenziellen Notlagen zu helfen. Dies gilt insbesondere, wenn es um die Gesundheit und
die medizinische Versorgung von Kranken geht. Menschen können nur dann an der Gesellschaft
teilhaben und auch Eigenverantwortung übernehmen, wenn sie gesundheitlich dazu in der Lage sind.
Gesundheit und Gesundheitspolitik ist deshalb nicht allein Privatsache, sondern eine gesellschaftliche
Aufgabe.
Solidarität und Verantwortung in der Gesundheitspolitik heißt daher, die Gesunden helfen den Kranken,
die Jungen den Alten, die sozial besser Gestellten den sozial Schwachen. Dies ist kein Prinzip von
gestern, sondern ein Grundwert einer modernen und humanen Gesellschaft. Wer dies aufgibt will eine
Gesellschaft mit weniger Solidarität und Gemeinwohlorientierung.
Das deutsche Gesundheitswesen steht vor großen Herausforderungen und Reformnotwendigkeiten.
Denn die bestehenden Strukturen, Institutionen und Instrumente werden zunehmend ineffizient sowohl
für die Leistungserbringer, die Beitragszahler wie für den einzelnen Patienten.
Bei der Reform des Gesundheitssystems geht es um eine evolutorische Weiterentwicklung, nicht aber um
einen Ersatz des bestehenden Systems. Ziele sind:
- bessere Qualität und stärkere Patientenorientierung,
- verbesserte Effizienz- und Kostenstruktur bei hoher Leistungsfähigkeit und Versorgungssicherheit für
den einzelnen Patienten,
- Bewertung des medizinischen Fortschritts und eine Bewältigung der im demografischen Wandel der
Gesellschaft angelegten Probleme,
- eine qualitäts- und effizienzorientierte Wettbewerbsordnung des Gesamtsystems, die Verkrustungen,
Ständestrukturen und Lobbyinteressen aufbricht und flexible und moderne marktwirtschaftliche
Steuerungsinstrumente durchsetzt und
- eine Gesundheitspolitik, die präventive Maßnahmen stärkt und das Gesundheitsverhalten des
Einzelnen verbessert.
Das Gesundheitssystem ist heute nicht einfach nur ein Sozialsystem, es ist ein mächtiger, in einer
alternden Wohlstandsgesellschaft wachsender Wirtschaftszweig mit einem Volumen von 413 Mrd. DM
pro Jahr. In ihm bündelt sich ein bislang kaum durchschaubares und steuerbares Geflecht von
Wirtschafts-, Stan-des-, Lobby- und politischen Interessen. Der Verbraucher, der Patient, fühlt sich
überfordert gegenüber diesem System und den jeweiligen Interessengruppen, die häufig die Patienten für
ihre Interessen instrumentalisieren.
Die jeweiligen Interessengruppen im Gesundheitsbereich führen seit Jahren einen erbitterten
Verteilungskampf um ihren Anteil an einem begrenzten Gesamtbudget.
Die Politik versucht seit Jahren dieses System zu gestalten. Sie ist dabei mit einem komplexen Geflecht
konfrontiert, das gut organisiert die eigenen Interessen und Strukturen bewahren will und in
zunehmenden Maße Reformen zu blockieren versucht. Die Gesundheitspolitik der 90er hat mit
Ausnahme des GSG bestenfalls zu Notreparaturen bzw. kurzfristigen Kostendämpfungen geführt.
Die 1998 eingeleitete neue Gesundheitspolitik hat sich zunächst auf überfällige Korrekturmaßnahmen
konzentriert,
um
dann
strukturverändernde
Maßnahmen
einzuleiten,
wie
etwa
beim
Risikostrukturausgleich, bei der Einführung von Fallpauschalen, der Wahlfreiheit bei Kassen, der
integrierten Versorgung, der Wiedereinführung der Primärprävention, der Stärkung der Patientenrechte
durch die Krankenkassen.
Jetzt muss es um eine neue Phase der Gesundheitspolitik gehen. Der Aufbau einer modernen,
qualitätsorientierten Wettbewerbsordnung ist notwendig, bei der der Staat
- die Rahmenbedingungen für eine patientenorientierte Wettbewerbsordnung, die Effizienz, Qualität
und Solidarität sichert,
-
die Qualitätsziele für die Leistungen und Anbieter,
die solidarisch zu finanzierenden Leistungen in der GKV und
den gesetzlichen Rahmen definiert.
Auf dieser Grundlage kann ein "solidarischer Wettbewerb" die verkrusteten Strukturen im
Gesundheitsbereich neu ordnen und zu mehr Patientenorientierung beitragen.
Wettbewerb heißt dabei nicht, die solidarischen Finanzierungsstrukturen aufzugeben, Wahl- und
Regelleistungen einzuführen, immer mehr Gesundheitsrisiken oder -leistungen zu privatisieren.
Wettbewerb heißt vielmehr, den Rahmen für eine solidarische Wettbewerbsordnung klar festzulegen und
klare Beziehungen zwischen den Akteuren im Gesundheitssystem zu definieren und die Rolle des
Patienten im Gesundheitssystem zu stärken.
Dies wird nicht kurzfristig möglich sein. Aber Schritt für Schritt müssen die entscheidenden
Weichenstellungen vorgenommen werden, um den Strukturwandel im Gesundheitssystem
voranzubringen. Dabei muss die Politik ihre Rolle ebenso neu definieren, wie Ärzte, Krankenkassen,
Pharmaindustrie etc.
Wir brauchen eine gesellschaftliche Diskussion zur Gesundheitspolitik, in der Ziele, Strukturen und die
Verantwortung der einzelnen Akteure erörtert werden. Ein Deutsches Gesundheitsforum kann dazu einen
Beitrag leisten. Dort, wo gemeinsame Lösungen vorstellbar sind, sollten sie umgesetzt werden. Dort, wo
dies nicht geht, muss die Politik im Sinne eines solidarischen, wettbewerbsorientierten
Gesundheitssystems entscheiden.
Die Zeit der Kampagnenpolitik im Gesundheitswesen, die Zeit der wechselseitigen Interessensblockaden
und das Schwarze-Peter-Spiel müssen ein Ende haben. Letztlich kann dabei niemand gewinnen. Die
Verlierer stehen allerdings fest, die Beitragszahler und die Patienten.
Dies ist ein ehrgeiziges Ziel, aber die Zeit dafür ist reif, diese Debatte verantwortlich zu eröffnen. Dazu
soll dieses Papier einen Beitrag leisten.
2 Herausforderungen und Strukturprobleme des deutschen Gesundheitssystems
2.1 Fehlsteuerungen im deutschen Gesundheitswesen
Die Strukturen des deutschen Gesundheitssystems sind über Jahrzehnte gewachsen. Die
unterschiedlichen Interessen haben sich in einer Form organisiert, wie in keinem anderen
gesellschaftlichen oder sozialpolitischen Bereich. Diese wechselseitige Interessensblockade
unterschiedlicher Akteure hat zu einem System des kleinsten gemeinsamen Nenners geführt. Diese
Negativkorrektur unterschiedlicher Interessen unterminiert die Leistungsfähigkeit und Akzeptanz des
deutschen Gesundheitssystems. Alle Akteure im Gesundheitssystem müssen sich wieder auf die
hippokratische Maxime, die effiziente und qualitätsgesicherte Versorgung des Patienten, besinnen. Dazu
ist als ein neuer Grundkonsens in der Gesundheitspolitik notwendig. Die Orientierung an den Interessen
der Einzelakteure im Gesundheitsbereich blockiert das System und sichert keine Zukunft mehr, weder für
Ärzte, Standesorganisationen, Krankenhäuser, pharmazeutische Industrie oder Patienten.
Die Strukturen im Gesundheitssystem haben - so der Sachverständigenrat für das Gesundheitswesen zu einer Parallelität von Über-, Unter- und Fehlversorgung geführt. Diese Fehlsteuerungen sind das
Kernproblem für ein patienten-, gesundheits- und effizienzorientiertes Gesundheitssystem.
Der Sachverständigenrat für das Gesundheitswesen hat für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen
die wichtigsten Versorgungsprobleme im Detail untersucht. Dieser Rat kommt zu dem Ergebnis, dass es
in allen untersuchten Bereichen in erheblichem Umfang zu einem Nebeneinander von kostensteigernden
Qualitätsproblemen und Versorgungsdefiziten, zu einer Parallelität von Über-, Unter- und Fehlversorgung
gekommen ist. Diese Fehlsteuerungen sind das Kernproblem für ein patienten-, gesundheits- und
effizienzorientiertes Gesundheitssystem. Besonders ausgeprägt sind die Probleme erwartungsgemäß bei
den chronischen Erkrankungen.
·Weniger als die Hälfte der Patienten mit Herzinfarkten in Deutschland werden so behandelt, wie dies
dem wissenschaftlichen Standard entsprechen würde.
·Patienten mit Diabetes konnte trotz zahlreicher Modellprojekte keine flächendeckende Verbesserung der
Versorgung angeboten werden.
·Es fehlt im Gegensatz z.B. zu den Niederlanden, Großbritannien, und Schweden ein flächendeckendes
qualitätsgesichertes
Früherkennungsprogramm
für
die
Brustkrebsvorsorge
durch
Mammographiescreening. Der aktuelle wissenschaftliche Standard wird entweder nicht ausreichend
gekannt oder umgesetzt.
·Bei der Krebsbehandlung können im deutschen Gesundheitssystem in 11 von 12 Krebsarten schlechtere
Überlebensraten als in den Vereinigten Staaten nachgewiesen werden.
Eine zukünftige Gesundheitspolitik muss diese Fehlsteuerungen im System korrigieren.
2.2 Leistungsfähigkeit des deutschen Gesundheitswesens im internationalen
Vergleich
Das deutsche Gesundheitssystem hatte im internationalen Vergleich über Jahrzehnte hinweg eine
Vorbildfunktion. Zu den Stärken des Systems im internationalen Vergleich zählen nach wie vor
-
die ausreichend vorhandenen modernen medizinischen Einrichtungen,
eine Versorgung ohne Wartelisten, ein schneller und unbürokratischer Zugang zum Arzt und
Krankenhaus,
ein umfassender Versicherungsschutz für alle sowie
ein einheitlicher und vom Einkommen unabhängiger Leistungsanspruch, der allein durch das
medizinisch Notwendige definiert wird.
Dennoch hat Deutschland seine Vorbildfunktion im Gesundheitswesen in den letzten Jahren eingebüßt.
Die Lebenserwartung in Deutschland liegt unter dem Durchschnitt der Länder der Europäischen Union
und hat sich in den letzten zehn Jahren weniger gut entwickelt als die in vielen unserer Nachbarländer.
Im OECD-Vergleich der Sterblichkeit für wichtige Volkskrankheiten zeigen sich für Deutschland fast
immer durchschnittliche oder über dem Durchschnitt vergleichbarer europäischer Länder und den
Vereinigten Staaten liegende Werte.
Vergleicht man z.B. die Sterblichkeit aufgrund eines Schlaganfalls, Diabetes mellitus, Darmkrebs und
Brustkrebs in Deutschland mit der Sterblichkeit in Frankreich, Italien, England, Finnland, Schweden, den
Niederlanden und den Vereinigten Staaten, so belegt Deutschland für jede dieser Erkrankungen einen
der drei schlechtesten Plätze.
Vom Sachverständigenrat für das Gesundheitswesen der konzertierten Aktion im Gesundheitswesen
wurden gravierende Qualitätsdefizite festgestellt, die zu dieser Entwicklung mit beigetragen haben. Das
deutsche Gesundheitssystem, so lautete die Schlussfolgerung des Rates, leiste nicht, was es leisten
könne.
Diesen gravierenden Qualitätsproblemen stehen im internationalen Vergleich deutlich über dem
Durchschnitt liegende Ausgaben gegenüber. Nur in den Vereinigten Staaten wird ein höherer Anteil des
Bruttoinlandproduktes für die Gesundheitsversorgung ausgegeben als in Deutschland. Deutschland hat
die höchsten Ausgaben, relativ und absolut, für Gesundheit in Europa.
Im Vergleich mit den oben genannten Ländern belegt Deutschland für die Zahl der Ärzte pro Einwohner,
die Krankenhausbetten pro Einwohner und die durchschnittliche Krankenhausverweildauer jeweils einen
der drei "Spitzenplätze" mit entsprechenden Konsequenzen für die Beitrags- und Kostenstruktur. Daher
hat der Sachverständigenrat die Kosten-Nutzen-Relation des deutschen Gesundheitssystems im
internationalen Vergleich als unbefriedigend bewertet.
2.3 Struktur und Qualitätsdefizite des deutschen Gesundheitswesens
Ohne klare Strukturen und Qualitätsziele kann es kein effizientes und hochwertiges Gesundheitssystem
geben. Qualitäts- und Versorgungsziele müssen jedoch die Maßstäbe für eine moderne
Gesundheitspolitik sein. Strukturen, Institutionen und Instrumente der Gesundheitspolitik müssen sich an
diesen Qualitäts- und Versorgungszielen orientieren und nicht umgekehrt.
Fehlen evidenzbasierter Standards und unabhängiger Institutionen in der Qualitätssicherung
Der Sachverständigenrat kommt zu dem Ergebnis, dass die aufgedeckten Qualitätsprobleme ohne
Versagen auch der Selbstverwaltung nicht hätten entstehen können. Eine wichtige strukturelle
Fehlentwicklung besteht darin, dass die eingeleitete Öffnung für den Wettbewerb nicht zu der
notwendigen Verlagerung der Zuständigkeit für die Steuerung der Qualität der Versorgung auf
Institutionen außerhalb des Wettbewerbs führte.
So werden die Rahmenbedingungen für die Qualität im Wettbewerb von den Akteuren im
Gesundheitssystem, die diese Rahmenbedingungen ausfüllen sollten, selbst bestimmt. Wird z.B. ein
neues Entgeltsystem im Krankenhaussystem beschlossen, fällt die Entscheidung über das konkret zu
wählende System durch die Vertreter der Krankenkassen und Trägervereinigungen von Krankenhäusern,
die von den unterschiedlichen Systemen jeweils Wettbewerbsvorteile oder -nachteile zu erwarten haben.
Das System gleicht daher einem Wettkampf, in dem sich die Teilnehmer während des laufenden Spiels
die Regeln selbst geben, je nach Interessenslage und Einfluss.
Obwohl der Zusammenhang zwischen einer bestimmten Anzahl an durchgeführten chirurgischen
Eingriffen und der Ergebnisqualität gesichert ist, gibt es bislang in Deutschland keine verbindlichen
Mindestmengen für die Durchführung selbst sehr komplizierter chirurgischer Eingriffe in
Krankenhausabteilungen und ambulant operierenden Einrichtungen. Beispielsweise wird die für die
Brustkrebschirurgie notwendige Mindestzahl von Eingriffen zur Sicherung eines bestimmten
Qualitätsstandards von einem großen Teil der in Deutschland operierenden gynäkologischen
Einrichtungen nicht erreicht.
In den Vereinigten Staaten, Canada, England, Schweden, Finnland, den Niederlanden und zahlreichen
anderen Ländern wurden nationale Einrichtungen aufgebaut, die im Auftrag des Staates zumindest einen
Teil der wichtigsten Anforderungen an die Qualität der Versorgung definieren. Diese gelten dann für alle
am Wettbewerb teilnehmenden Einrichtungen und können ohne Einfluss der betroffenen
Wettbewerbsteilnehmer im Sinne der Versicherten und Patienten festgelegt werden.
Kein anderes europäisches Land überlässt die Entscheidungshoheit im Bereich der
Qualitätsanforderungen so konsequent den unmittelbar betroffenen Wettbewerbern. Für das deutsche
Gesundheitssystem existiert z.B. kein nationales Institut für Qualität in der Medizin, das diese Aufgabe im
Auftrag des Staates übernimmt. Nicht einmal für die wichtigsten Volkskrankheiten in Deutschland gibt es
qualitativ hochwertige wissenschaftliche Behandlungsleitlinien. Dies ist eine von mehreren Ursachen
dafür, dass sehr häufig die Versorgung dem wissenschaftlichen Standard nicht entspricht.
Fehlende sektorenübergreifende Versorgung
Im deutschen Gesundheitssystem existiert eine starke Trennung des ambulanten und des stationären
Sektors. Beide Sektoren haben ein getrenntes Entgeltsystem, welches die Leistung und insbesondere die
Qualität der Versorgung nicht ausreichend berücksichtigt. Durch die Trennung der Budgets,
Entgeltsysteme und Zuständigkeiten der beiden Sektoren kommt es zu einer Diskontinuität der
Versorgung.
Eine sektorenübergreifende Versorgung, wie sie insbesondere in der Krebsbehandlung und bei
fortgeschritten Herz- und Kreislauferkrankungen medizinisch sinnvoll wäre, wird daher selten
durchgeführt, obwohl vom Gesetzgeber in der Gesundheitsreform 2000 einige Möglichkeiten dazu
geschaffen wurden.
Fehlen eines Hausarztwahltarifs
Im Bereich der ambulanten Medizin hat sich in den skandinavischen Ländern und in den Niederlanden
ein Hausarztmodell bewährt, in dem der Hausarzt eine Lotsenfunktion für den Patienten übernimmt. Auch
in Deutschland gibt es erste, gute, modellhafte Erfahrungen für eine solche Versorgungsform.
In Deutschland fehlt für den Versicherten bislang die Möglichkeit, sich in ein wirtschaftlich attraktives
Hausarztmodell einzuschreiben. Mit einem solchen Modell hätte der Versicherte die Wahl zwischen
einem einheitlichen und alles medizinisch Notwendige umfassenden Leistungskatalog mit gezieltem
Zugang und dem jetzigen ungesteuerten Zugang zu bestimmten Leistungen.
Eine Wahlmöglichkeit zwischen einem gezielten oder zufälligen Zugang zur Versorgung ist eine bessere
Alternative als die häufig geforderte Einschränkung des Leistungskatalogs. Die mit einem solchen Modell
einhergehenden Effizienzgewinne durch Vermeidung von Fehlversorgung und Überversorgung können
an den Versicherten weitergegeben werden.
Fehlen von Disease Management Programmen für chronisch Kranke
Bislang fehlen evidenzbasierte Disease Management Programme für chronisch Kranke. Solche Disease
Management Programme sind Voraussetzungen in unserem differenzierten unübersichtlichen
Gesundheitssystem, die notwendige Leistungen zu vernünftigen Kosten und Qualitätsstandards für die
Patienten verfügbar machen. Mit dem jetzt vom Bundestag verabschiedeten Gesetz zur Novellierung des
Risikostrukturausgleichs wird das bislang fehlende Disease Management erstmalig gefördert.
Für die Hausarztmodelle als auch für die Chronikerprogramme brauchen die Krankenkassen die
Möglichkeit, mit Ärzten, Ärztenetzen und auch Krankenhäusern direkt Behandlungsverträge schließen zu
können. Durch die Möglichkeit, mit einzelnen Leistungserbringern zu kontrahieren, kann sich ein
Wettbewerb um Wirtschaftlichkeit und Qualität entwickeln.
Voraussetzung zur Sicherung der Versorgungsqualität ist in einem solchen System die Vorgabe
verbindlicher, evidenzbasierter Qualitätsanforderungen durch eine neutrale Stelle.
Neuausrichtung des Krankenhausentgeldsystems
Bei vergleichbarer Qualität betragen die Wirtschaftlichkeitsunterschiede im Krankenhaus bis zu 40 %. Mit
der Einführung eines in Schritten realisierten bundeseinheitlichen System von Fallpauschalen und
gleichzeitig definierten Qualitätsanforderungen wird das bestehende Selbstkostenerstattungsprinzip mit
seinen Fehlsteuerungen (Fehlbelegung, Verweildauer) abgelöst. Eine solche Regelung wird zu
Kostensenkungen und zu einer sinnvollen Konzentration der Fälle auf dafür entsprechend spezialisierte
Einrichtungen und Abteilungen kommen.
Die Gesamtkosten der Versorgung werden bei gleichzeitiger Verbesserung der Qualität sinken. Durch die
Verbesserung der Effizienz von planbaren Eingriffen auf spezialisierte Zentren wäre eine gezielte
Nutzung frei werdender Ressourcen zur Sicherung einer wohnortnahen, qualitativ hochwertigen
Basisversorgung möglich. So könnte zum Beispiel die Möglichkeit von Direktverträgen zunächst auf
solche Eingriffe beschränkt werden, die in der Regel planbar durchgeführt werden.
2.4 Institutionelle Blockaden des deutschen Gesundheitswesens
Die Zahl der Kassenärzte hat sich seit 1960 in Deutschland mehr als verdreifacht. Gleichzeitig nimmt das
medizinische Wissen in Diagnostik, Therapie und Rehabilitation rasant zu. Folge dieser Entwicklungen ist
das Auseinanderfallen der Einheitlichkeit des ärztlichen Berufs.
Daraus hat der Gesetzgeber bereits 1989 (GRG) die Konsequenz gezogen, der kassenärztlichen
Selbstverwaltung den Auftrag zu erteilen, die Versorgung in eine hausärztliche und eine fachärztliche zu
gliedern. Dieser Auftrag blieb aber ohne Umsetzung durch die Selbstverwaltung, weshalb der
Gesetzgeber 1993 (GSG) die Gliederung selbst konkretisieren musste.
Analog verlief die Entwicklung im Vergütungsbereich. In der EBM-Reform 1987 blieb die behauptete
Aufwertung der zuwendungsintensiven Leistungen aus. Auch die darauf hin im GSG vom Gesetzgeber
verfügten direkten Vorgaben für die Umstrukturierung der Vergütungsstrukturen durch die gemeinsame
Selbstverwaltung brachte nicht die anvisierten Ergebnisse. Deshalb musste dies in der
Gesundheitsreform 2000 unmittelbar gesetzlich normiert werden.
Auch in anderen Bereichen hat die gemeinsame Selbstverwaltung vielfach über Jahre hinweg gesetzliche
Aufgaben konsequent nicht umgesetzt.
Diese wenigen Beispiele belegen die strukturelle Überforderung insbesondere der kassenärztlichen
Selbstverwaltung. Die programmatisch von den Ärzten stets beschworene Einigkeit kann die zunehmend
härteren Verteilungskämpfe um Honoraranteile zwischen den Ärztegruppen nicht mehr verdecken. Das
Monopol KV ist insbesondere im Hinblick auf Vertrags- und Vergütungsstrukturen zumindest in dieser
Form nicht mehr zukunftsfähig.
Der Gesetzgeber hat im Gesundheitsreformgesetz 2000 die Einführung eines pauschalierenden
Entgeltsystems für alle vollstationären und teilstationären Krankenhausleistungen beschlossen. Danach
ersetzt das neue Vergütungssystem zum 01.01.2003 die bisherigen Vergütungsregelungen. Die
gemeinsame Selbstverwaltung von Spitzenverbänden und der Deutschen Krankenhausgesellschaft hatte
bis zum 30.06.2000 bzw. bis zum 31.12.2001 die entsprechende Umsetzungsstruktur zu vereinbaren. Die
Selbstverwaltung einigte sich am 27.06.2000 auf eine Vereinbarung.
Jedoch wurde bislang keiner der in der Grundsatzvereinbarung vom 27.06.2000 einvernehmlich von der
Selbstverwaltung festgehaltenen Termine realisiert. Dieses Vorgehen der Selbstverwaltung hat dazu
geführt, dass der Einführungstermin 2003 unter keinen Umständen mehr eingehalten werden kann.
Selbst der Start 2004 steht zunehmend in Frage.
Dies zeigt, dass die bisherigen institutionellen Strukturen des deutschen Gesundheitssystems selbst zu
einem Innovations-, Qualitäts- und Effizienzhemmnis geworden sind. Eine Reform des deutschen
Gesundheitssystems muss daher im Rahmen einer solidarischen Wettbewerbsordnung die
zunehmenden Interessens-, Verteilungs-, Umsetzungs- und Qualitätsblockaden aufbrechen. Dies liegt
sowohl im Interesse der Patienten als auch der anderen Akteure im Gesundheitssystem.
2.5 Chancen und Konsequenzen des medizinischen Fortschritts
Auch in Zukunft werden durch den medizinischen Fortschritt die Möglichkeiten zur Verbesserung der
Versorgung zunehmen. Allerdings entsprechen die Möglichkeiten des wissenschaftlichen Standards nur
unzureichend der Umsetzung in die Behandlung der Patienten.
Gleichzeitig muss die Unterscheidung zwischen echten Innovationen und Pseudoinnovationen stärker als
bisher durchgesetzt werden. Arzneimittel, die im Vergleich zu ihren bereits vorhandenen Alternativen nur
einen minimalen Zusatznutzen aufweisen, aber deutlich mehr kosten, sind keine echten Innovationen.
Der medizinische Zusatznutzen von Innovationen muss stärker als bisher vergleichend bewertet werden.
In Deutschland fehlt, im Gegensatz zu England, Australien und anderen Ländern, ein nationales Institut
für die Gewährleistung einer rationalen Arzneimitteltherapie. Nur durch ein solches unabhängiges Institut
kann geprüft werden, ob der Nutzen neuer Arzneimittel für die Übernahme in die Erstattung durch die
gesetzlichen Krankenkassen ausreichend sicher belegt ist. Die undifferenzierte Übernahme von
Pseudoinnovationen mit unvertretbar hohen Kosten behindert die Entwicklung echter Innovationen.
Hersteller, die sich auf echte Innovationen spezialisiert haben, werden benachteiligt. Für sie fehlt ein
Verfahren, welches angemessene Wettbewerbsbedingungen bietet. Dies schadet auch dem Standort
Deutschland.
Gleiches gilt für medizintechnische Innovationen in der ambulanten und stationären Versorgung. Nur
durch eine konsequente Anwendung der Prinzipien der evidenzbasierten Medizin, des Health Technology
Assessments und der Gesundheitsökonomie lässt sich das Potential des technischen Fortschritts voll
nutzen. Die notwendigen Bewertungen müssen sich an vernünftigen Kosten-Nutzen-Grundsätzen und
Qualitätsstandards orientieren und in verbindlicher Form für alle an diesem Wettbewerb teilnehmenden
Anbieter und Krankenkassen umgesetzt werden.
2.6 Herausforderungen des demografischen Wandels
Deutschland wird älter. Der Anteil der über 60-Jährigen wird bis zum Jahr 2040 von heute 20% auf ein
Drittel ansteigen, während der Anteil der 20-60-Jährigen von rd. 58% auf 50% sinkt. Das
Erwerbstätigenpotential wird im gleichen Zeitraum von 37 auf 24 Millionen Menschen abnehmen. Diese
Veränderung der Alterspyramide wird Konsequenzen für das Volumen der Gesundheitsleistungen mit
sich bringen und die Einnahmeseite der GKV durch das Verschieben der Verhältnisse von
Beitragseinnahmen durch eine geringe Erwerbsbevölkerung und erhöhte Ausgaben belasten.
Die durchschnittlichen Ausgaben je Versicherten nehmen mit dem Alter zu. Dieses altersabhängige
Ausgabenprofil ist im Zeitablauf zunehmend steiler geworden, d.h. die Ausgaben für die medizinische
Versorgung der älteren Bevölkerung sind pro Person schneller gestiegen als die Ausgaben im
Durchschnitt.
Die deutlich höheren Zuwachsraten bei den Ausgaben für die medizinische Versorgung der älteren
Bevölkerungsgruppen sind im Zusammenhang mit einer überdurchschnittlich starken Inanspruchnahme
medizinischer Leistungen, aber auch in Verbindung mit einer zunehmend aufwendigeren Versorgung in
diesen Altersgruppen zu sehen. Es sind jedoch nicht primär High-Tech-Leistungen, die den
Ausgabenanstieg im Alter erklären.
Die Ausgaben im Rentenalter in der stationären Versorgung spielen eine besonders große Rolle: Sie
liegen je Mitglied in der KVdR um das 2,8fache über den Krankenhausausgaben je AKV-Mitglied.
Die Gleichung: "Mehr alte Menschen, höhere Ausgaben für stationäre Versorgung" ist dennoch zu
undifferenziert, da bei einer älter werdenden Bevölkerung die Notwendigkeit von medizinischen
Leistungen nicht unbedingt ansteigen muss, wenn in den nächsten Jahren auf der Grundlage einer neuen
Gesundheitspolitik die Prävention gestärkt wird. Entscheidend ist nicht das durchschnittliche Alter der
Bevölkerung, sondern der durchschnittliche Gesundheitszustand.
Gerade bei chronischen Erkrankungen älterer Menschen sind in der Zwischenzeit optimierte
Einstellungsmöglichkeiten durch eine weiterentwickelte Pharmakotherapie möglich, die bei den typischen
im Alter auftretenden Erkrankungen (Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Stoffwechselerkrankungen,
Gelenkerkrankungen usw.) eine effiziente Versorgung ermöglichen. Voraussetzung ist aber auch hier der
rationale Umgang mit Arzneimitteln, eine adäquate Indikationsstellung und die Sicherung der
Prozessqualität im Sinne einer evidence-based-medicine in der ambulanten Versorgung.
Wir werden die Konsequenzen des demografischen Wandels für das Gesundheitssystem nur dann bei
kalkulierbaren Kosten und Beiträgen bewältigen können, wenn Prävention, Qualitätsstandards und
effizienter Arzneimitteleinsatz im System durch Strukturmaßnahmen möglich werden. Dies nutzt auch den
alten Patienten.
2.7 Kostenentwicklung des deutschen Gesundheitswesens
In Deutschland wurden 1998 rd. 413 Mrd. DM für medizinische Produkte und Dienstleistungen des
Gesundheitswesens ausgegeben; dies waren 10,9 % des Bruttoinlandsproduktes (BIP). Im langfristigen
Trend sind die Gesundheitsausgaben damit überdurchschnittlich gestiegen - so betrug der Anteil am BIP
1970 nur 5,7 %. Allerdings ist der Anteil seit Beginn der Kostendämpfungsgesetze (1977) bis zur
Wiedervereinigung im wesentlichen konstant bei rd. 8 bis 8,5 % geblieben. Infolge der Wiedervereinigung
erfolgte Anfang der neunziger Jahre ein erheblicher Schub.
Die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung sind bis Anfang der neunziger Jahre etwas
schneller als die Gesundheitsausgaben insgesamt gewachsen. In den letzten Jahren sind sie nur noch
langsamer als die übrigen Gesundheitsausgaben gestiegen. Dabei verlief das Wachstum seit Ende der
siebziger Jahre weitgehend parallel zur Entwicklung des Bruttoinlandsproduktes. Dennoch stieg der
durchschnittliche Beitragssatz weiter an: von 8,2 % in 1970 über 11,4 % (1980) und 12,5 % (1990) auf
13,6 % (2000).
3 Innovation und solidarischer Ausgleich - die Politik seit 1998
Die Neuorientierung der Gesundheitspolitik der gegenwärtigen Bundesregierung ist mit dem SolidaritätsStärkungsgesetz und der Gesundheitsreform 2000 eingeleitet worden. Durch die Rückkehr zum
Sachleistungsprinzip bei der Zahnbehandlung ist der Schutz der Patienten vor Ansprüchen der
Leistungserbringer umfassend gewährleistet. Auch unsoziale Leistungsausgrenzungen (Einschränkungen
des Zahnersatzes für Kinder und Jugendliche) wurden zurückgenommen.
Nach den Grundsätzen "Prävention vor Kuration" und "Rehabilitation vor Frühverrentung und Pflege" hat
der Gesetzgeber für die Versicherten sowie Patienten Grundlagen für effektivere Versorgungsstrukturen
geschaffen. Die Förderung von Selbsthilfegruppen hat einen neuen Stellenwert erhalten, denn die
Selbsthilfe dient in vielfältiger und wirksamer Weise als Ergänzung professioneller
Gesundheitsdienstleistungen.
Durch das neue Gesetz zur Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX) wurden die
Rechte der Versicherten gestärkt und deren Leistungsansprüche verbessert, Rehabilitationsleistungen
können u.a. Krankenhausleistungen nicht mehr ersetzen. Die ambulante Rehabilitation soll zudem die
wohnortnahe Betreuung im Sinne der Patienten sichern.
Im Sinne einer optimalen Versorgung ist die Zusammenarbeit im Gesundheitswesen zu intensivieren. Die
bisherige starre Aufgabenteilung zwischen der ambulanten und stationären Versorgung ist aufgebrochen
worden. Integrierte, sektorübergreifende Versorgungsformen zwischen Haus- und Fachärzten, zwischen
ärztlichen und nichtärztlichen Leistungserbringern und zwischen ambulantem und stationärem Sektor
können die Versorgungssituation und die Behandlungsabläufe verbessern.
Die Grundlagen für eine Verbesserung der Qualität der medizinischen Versorgung wurden konzipiert. Sie
wurden erreicht durch Qualitätssicherung, die Bewertung von Kosten und Wirtschaftlichkeit medizinischer
Technologien und der verbesserten Nutzung des Medizinischen Dienstes.
Dieses Qualitätssicherungsgebot gilt für alle Leistungsbereiche. Erstmals wurde auch für
Krankenhausleistungen ein Gremium geschaffen, das etablierte und neue medizinische Untersuchungsund Behandlungsmethoden daraufhin überprüft, ob sie für eine ausreichende, zweckmäßige und
wirtschaftliche Versorgung erforderlich sind.
Ziel der Reform des Risikostrukturausgleiches ist es, die Morbidität der Patienten bei den
Ausgleichszahlungen zwischen den Krankenkassen zu berücksichtigten.
Disease Management Programme für ausgewählte "Volkskrankheiten" bilden ab 2002 eine wichtige Basis
für weitere Qualitätsverbesserungen in der Patientenversorgung, insbesondere bei der Versorgung
chronisch kranker Menschen. Krankenkassen, die derartige Programme für ihre Versicherten anbieten,
erhalten über den Risikostrukturausgleich einen Ausgleich. Damit wird erstmals berücksichtigt, dass
Krankenkassen, die sich gezielt um eine Verbesserung der Versorgung ihrer chronisch Kranken
bemühen, keine finanziellen Nachteile haben, sondern im Vergleich zum Status Quo deutlich besser
gestellt werden.
Eine deutliche Stärkung des Solidarprinzips soll dann zum 1. Januar 2007 erfolgen. In die Berechnung
des Risikostrukturausgleiches sollen verstärkt Faktoren der Morbidität aufgenommen werden. Den
Krankenkassen wird es dann nicht mehr möglich sein, durch Selektion von gesunden Versicherten
Beitrags- und Wettbewerbsvorteile zu erlangen, da gesunde und kranke Versicherte im
Risikostrukturausgleich unterschiedlich berücksichtigt werden.
Mit der schrittweisen Einführung eines diagnose-orientierten Fallpauschalensystems ab 2003 bis 2007
wird in Krankenhäusern die Wirtschaftlichkeit, Transparenz und Qualität gefördert. Mit dem
Fallpauschalensystem erfolgt die Zuordnung der Mittel entsprechend der Leistungen ("Geld folgt der
Leistung"). Die Fallpauschalen werden die im internationalen Vergleich zu hohen Verweildauern in
Deutschland weiter verkürzen.
Die Transparenz des neuen Entgeltsystems vereinfacht den Vergleich von Krankenhausleistungen für
alle Beteiligten. Krankenhäuser können von den guten Lösungen anderer Krankenhäuser lernen
(Benchmarking/Orientierungswerte). Patienten wird die Wahl eines Krankenhauses erleichtert, da die
Qualität - die zudem durch finanzielle Anreize gefördert wird - insbesondere bei hochspezialisierten
Leistungen leichter identifizierbar ist.
(Veröffentlichung von Daten: Akkreditierung)
4 Prinzipien einer solidarischen Gesundheitspolitik
4.1 Solidarische Strukturen sichern
Es gibt keine Notwendigkeit für einen grundlegenden Systemwechsel in Richtung einer Privatisierung des
Gesundheitsrisikos. Ein solches System wäre weder kostengünstiger, wie internationale Erfahrungen
zeigen, noch böte es eine qualitativ bessere Versorgung. Die paritätische Finanzierung ist ein Element
von Solidarität und hat sich im Grundsatz bewährt. Solidarität heißt, auch weiterhin die finanzielle
Leistungsfähigkeit bei der Beitragsbemessung zur gesetzlichen Krankenversicherung zu berücksichtigen,
Familien sowie sozial Schwache zu entlasten und einen gleichen Zugang zu medizinisch notwendigen
Leistungen zu gewährleisten.
Eine solidarische Gesundheitspolitik muss auch weiterhin jedem, unabhängig von Alter, Einkommen,
Familienstand und Lebenslage, den Zugang zu medizinisch notwendigen und angemessenen Leistungen
garantieren. Dies schließt die Teilnahme am qualitätsgesicherten Fortschritt ein.
4.2 Selbstbestimmung und Eigenverantwortung stärken
Bereits mit der Gesundheitsreform 2000 ist der Anspruch des Patienten auf objektive Information und
Mitsprache verbessert worden. Eine moderne Gesundheitspolitik orientiert sich am Leitbild eines
informierten und mündigen Patienten. Versicherer und Leistungserbringer im Gesundheitswesen müssen
sich in Zukunft verstärkt an Wünschen, Bedürfnissen und Interessen ihrer "Kunden" orientieren und sie in
Entscheidungen einbeziehen. Sie haben auch die Pflicht, eine nicht-interessengeleitete Information von
Patienten und Versicherten durch unabhängige Institutionen sicherzustellen. Dem Leitbild des mündigen
Patienten entspricht es auch, ihm in Zukunft mehr Wahlmöglichkeiten bei der Art und Weise wie die
medizinischen Leistungen erbracht werden, einzuräumen. Die Bereitschaft und die Fähigkeit der
Patienten zur Selbsthilfe muss zukünftig bei der Erstellung von Behandlungsleitlinien stärker
berücksichtigt werden. Der Schutz der Patienten vor Behandlungsfehlern und Nebenwirkungen von
Arzneimitteln ist u. a. auch durch veränderte Haftungsregelungen zu verbessern.
4.3 Versorgung für alle und Finanzsicherheit erhalten
Eine angemessene gesundheitliche Versorgung ist auch weiterhin für jeden zu garantieren, der sie
benötigt. Dieser Anspruch muss unabhängig vom Einkommen, der individuellen Leistungsfähigkeit und
dem individuellen Krankheitsrisiko bestehen. Dieser Anspruch darf nicht von der Finanzlage der
gesetzlichen Krankenversicherung abhängig gemacht werden. Dies bedeutet zugleich, dass
Beitragssatzstabilität zwar ein wichtiges Ziel der Gesundheitspolitik ist, aber ohne dass dadurch die
notwendige gesundheitliche Versorgung des Einzelnen in Frage gestellt wird.
4.4 Den Fortschritt medizinisch bewerten und seine Chancen nutzen
Der medizinische Fortschritt ist ein Beitrag zu einer verbesserten medizinischen Versorgung des
Einzelnen. Er muss weiterhin durch Forschung und Entwicklung im Bereich der Medizin gefördert
werden. Dabei müssen die Interessen der Versicherten an wirksamer Prävention, verbesserten
Therapien und angemessener Versorgung im Vordergrund stehen. Wir brauchen von ökonomischen
Interessen unabhängige Institutionen, die Innovationen am Maßstab allgemein akzeptierter Kriterien
bewerten und sie in die Fortschreibung von Behandlungsleitlinien aufnehmen. Echte Fortschritte dürfen
den Patienten aus ethischen Gründen nicht verweigert werden. Der therapeutische Nutzen muss vor
einer allgemeinen Anwendung jedoch zweifelsfrei belegt sein. Dies ist zum jetzigen Zeitpunkt für weniger
als die Hälfte der medizinischen Leistungen der Fall, die heute routinemäßig erbracht werden.
4.5 Effizienz und Qualität verbessern
Eine Gesundheitspolitik, die den Versicherten und den Patienten in den Mittelpunkt stellt, muss dafür
Sorge tragen, dass Effizienz und Qualität medizinischer Leistungen ständig verbessert werden. Die
Patienten haben das Recht, eine gesicherte Qualität medizinischer Leistungen zu erhalten. Das
gegenwärtige System der "Therapiefreiheit" muss sich an eindeutigen Qualitätskriterien orientieren. Dies
ist sowohl im Sinne der Ärzte wie der Patienten. Deshalb sind die notwendigen institutionellen Reformen
einzuleiten, um einerseits mehr Wettbewerb bei Krankenkassen und Anbietern von
Gesundheitsleistungen zu schaffen und andererseits durch unabhängige Institutionen hohe
Qualitätsstandards und die Einhaltung der Wettbewerbsregeln durch Aufsichtsinstitutionen zu sichern.
4.6 Prävention stärken
Eine moderne Gesundheitspolitik setzt auf den Vorrang der Prävention. Zahlreiche Studien belegen, dass
durch systematische Präventionsprogramme die Entstehung chronischer Krankheiten verhindert oder
hinauszögert und damit Behandlungskosten eingespart werden können. Prävention ist dabei eine
Aufgabe, an der sich neben den unmittelbaren Akteuren des Gesundheitswesens auch öffentliche
Institutionen auf Bundes-, Länder- und Gemeindeebene beteiligen müssen. Auch im Bereich der
Prävention ist Qualitätssicherung auf der Basis einer systematischen Auswertung der Programme
unverzichtbar. Prävention trägt dazu bei, auch sozial Benachteiligten gleiche Gesundheitschancen zu
ermöglichen.
4.7 Die Qualifizierung im Gesundheitsbereich verbessern
Für den Gesundheitsbereich gilt stärker noch als für andere Bereiche der Gesellschaft, dass das
verfügbare Wissen durch die Informations- und Kommunikationstechnologien immer schneller wächst.
Dies stellt wachsende Anforderungen an die im Gesundheitswesen Tätigen. Sie müssen die Bereitschaft
zu lebensbegleitendem Lernen mitbringen. Gleichzeitig müssen die institutionellen Voraussetzungen
dafür geschaffen werden, dass entsprechende Weiterqualifizierungs- und Weiterbildungsangebote
verstärkt wahrgenommen werden können. Auch hierzu kann eine Verstärkung des Wettbewerbs im
Gesundheitswesen einen wesentlichen Beitrag leisten.
5 GKV 2010 - Eckpunkte und Instrumente einer Strukturreform des
Gesundheitssystems
Mit dem Gesundheitsstrukturgesetz und dem Gesundheitsreformgesetz 2000 sind wichtige
Weichenstellungen für die Neuorientierung des Gesundheitswesens eingeleitet worden:
- Mit der Einführung der Krankenkassenwahlfreiheit ist die Voraussetzung für eine wettbewerbliche
Steuerung der Gesundheitsversorgung geschaffen worden.
- Mit der integrierten Versorgung sind die Chancen verbessert worden, die Nachteile aus den
abgeschotteten Versorgungsbereichen zu überwinden.
- Mit der Einführung einer Positivliste ist eine wesentliche Voraussetzung für eine rationale
Arzneimitteltherapie beschlossen worden.
Auf diesen Eckpunkten muss eine neue Gesundheitsreform aufsetzen und vor allem auf die
Wettbewerbs-, die Qualitäts-, Präventions- und Steuerungsdefizite des deutschen Gesundheitssystems
abstellen.
5.1Eine moderne, solidarische Wettbewerbsordnung aufbauen
Im Mittelpunkt einer neuen Gesundheitsreform muss der Aufbau einer modernen, solidarischen
Wettbewerbsordnung stehen. Das Prinzip der solidarischen Ausrichtung des Gesundheitswesens bleibt
richtig - die Solidarität zwischen Gesund und Krank, Jung und Alt, Einkommensstark und
Einkommensschwach, Kinderlosen und Familien mit Kindern muss erhalten bleiben.
Fest steht aber auch: Die bisherigen Möglichkeiten des Wettbewerbs werden kaum zur Verbesserung
von Qualität und Wirtschaftlichkeit in der Krankenversicherung genutzt. Krankenkassen, aber auch Ärzte,
Krankenhäuser und die übrigen Erbringer von Gesundheitsleistungen sind heute zu sehr durch starre
Vorschriften eingeschränkt. Insbesondere sind die Krankenkassen in zu vielen Bereichen zu gemeinsam
und einheitlich zu treffenden Entscheidungen verpflichtet, und es ist vorgeschrieben, mit wem sie auf der
Seite der Leistungserbringer Verträge abschließen müssen.
Damit ist der Wettbewerb, der durch das GSG eingeleitet worden ist, auf halber Strecke stehen
geblieben. Es fehlen die notwendigen Instrumente in den Beziehungen zwischen Krankenkassen und
Leistungserbringern, damit sich die wirtschaftliche und qualitätsgesicherte Versorgung im Wettbewerb
herausbilden kann. Umgekehrt haben auch einzelne Leistungserbringer oder Gruppen von
Leistungserbringern kaum Chancen, sich durch besondere Leistungsfähigkeit oder besondere
Wirtschaftlichkeit zu profilieren und so einen größeren Marktanteil in der Versorgung der Versicherten an
sich zu binden.
Die Regeln, die heute gemeinsames und einheitliches Handeln vorschreiben, müssen revidiert werden.
Eine wettbewerbliche Öffnung ist erforderlich, damit sich Innovationen in Qualität und Wirtschaftlichkeit
durchsetzen können.
Dabei darf Wettbewerb gerade im Gesundheitswesen kein Selbstzweck sein. Er soll vielmehr eine immer
bessere Versorgung mit Diensten und Gütern im Krankheitsfall gewährleisten, indem er Kassen und
Leistungserbringer dazu zwingt,
- die im Rahmen der GKV vorgesehenen Gesundheitsleistungen nach Art und Qualität so bereit zu
stellen, dass sie den Patientenwünschen entsprechen;
- die Angebote des Gesundheitssystems effizient einzusetzen und die Gesundheitsleistungen
möglichst wirksam und kostengünstig zu erbringen;
- medizinische, technische und ökonomische Innovationen einzuführen und dadurch die Patienten
qualitativ immer besser und effizienter zu versorgen;
- die eingesetzten Ressourcen leistungsgerecht zu entlohnen und sie flexibel an medizinische,
medizintechnische, ökonomische und politische Datenänderungen anzupassen.
Ein so verstandener Wettbewerb lässt keine unangreifbaren Marktpositionen, Angebotsstrukturen,
Produktionsverfahren oder Besitzstände zu.
Notwendig ist ein neuer GKV-Ordnungsrahmen mit einem allgemeinen, dauerhaften Öffnungsgebot für
alle Krankenkassen.
Dies hat Konsequenzen
- für die Organisation der GKV,
- für das Verbänderecht und die Selbstverwaltungsorganisation,
- für die Gründung von Krankenkassen,
- für die Fusion von Krankenkassen,
- für die Finanzierung der Verwaltungskosten.
Ein von Solidarität und Wettbewerb geprägter Ordnungsrahmen hat sowohl Konsequenzen für die
Krankenkassen wie die Leistungserbringer.
Insgesamt bedarf der gesamte erste Abschnitt des 6. Kapitels des SGB V einer Revision. Die erhöhten
Anforderungen an die Einzelkassen erfordern eine weitere Professionalisierung im Kassenmanagement
und eine Aufgabenkonzentration der Selbstverwaltung auf tatsächliche Kernaufgaben.
Dies gilt auch für die Zwangsmitgliedschaft aller Vertragsärzte in den KVen. Diese können allenfalls
formale Voraussetzungen zur Teilnahme an der GKV-Versorgung prüfen. Die Sicherstellung der
Versorgung ist durch die Erfüllung gesetzlich normierter Vorgaben durch die Krankenkassen zu
garantieren. Krankenkassen wie Leistungserbringer sollten ihre jeweils gemeinsamen Interessen auf
Landes- und Bundesebene durch die Bildung von Dachverbänden organisieren.
Ein neuer Wettbewerbsrahmen führt auch zu veränderten Inhalten und Formen staatlicher Aufsicht.
Staatlicher Aufsicht sollte als wesentliche Aufgabenstellung zukünftig die Funktion zukommen, den
einheitlichen Wettbewerbsrahmen zu sichern. Die Sicherung der potentiellen Vorteile wettbewerblichen
Verhaltens durch die Krankenkassen für die Versicherten ist die zentrale Zukunftsaufgabe der
Staatsaufsicht.
Zu einer solidarischen Wettbewerbsordnung gehören:
- Ein einheitlicher Leistungskatalog
Um zu vermeiden, dass der Wettbewerb sich auf die Frage konzentriert, in welcher Form möglichst
vieler "guter Risiken", d.h. junge und gesunde Versicherte für eine Krankenkasse gewonnen werden
können, muss es neben einem morbiditätsorientierten und leistungsgerechten Risikostrukturausgleich
auch einen einheitlichen Leistungskatalog geben. Ein sinnvoller Wettbewerb muss sich auf die Frage
konzentrieren, welche Qualität und welche Kosten-Nutzen-Relation eine bedarfsgerechte Versorgung
für alle Versicherten haben muss. Vermieden werden muss ein Wettbewerb, in dem sich die
Versorgung nicht mehr am medizinisch notwendigen Bedarf, sondern an der Zahlungsfähigkeit der
Versicherten oder ihrer Attraktivität für die Krankenkassen orientiert. Nicht die Frage, welche
Leistungen von den Krankenkassen finanziert werden, sondern von wem und wie die Leistungen
erbracht werden, sollte Gegenstand des neuen Wettbewerbs sein.
- Ein Übergang des Sicherstellungsauftrags auf die Krankenkassen
Der Sicherstellungsauftrag sollte in der Verantwortlichkeit der Krankenkassen liegen. Wie in jedem
wettbewerblichen System muss die Leistung von demjenigen garantiert werden, der auch die
Verantwortung für die Kosten trägt. Zwischen den Krankenkassen und den Kassenärztlichen
Vereinigungen bzw. den Krankenhäusern können gegenwärtig keine echten Verhandlungen
stattfinden, da es weder für den Anbieter noch für den Nachfrager Alternativen gibt. Eine
Krankenkasse wird vom Versicherten mit seinen Beiträgen verpflichtet, eine bedarfsgerechte
Versorgung zu garantieren. Dieser Verantwortung entledigt sich die Krankenkasse heute durch die
pauschale Weitergabe dieses Auftrags an einen Monopolanbieter.
- Ein Fortfall des Kontrahierungszwangs gegenüber Leistungserbringern und Krankenkassen
Voraussetzung für jede Form von Wettbewerb ist ein funktionierender Markt. Kein Markt kann
funktionieren, in dem jeder Nachfrager gesetzlich verpflichtet ist, mit jedem Anbieter zu kooperieren.
Dies bedeutet für den Nachfrager, dass er auch Leistungen einkaufen muss, von denen er weiß, dass
sie seinen qualitativen Anforderungen nicht entsprechen. Dennoch müssen die Krankenkassen auch
mit diesen Einrichtungen Verträge schließen, die keine gesicherte Versorgungsqualität bieten.
Umgekehrt werden die Leistungserbringer gezwungen, auch Leistungen zu erbringen, die sie
betriebswirtschaftlich nicht darstellen können. Dies führt dazu, dass die Leistungen unterhalb des
notwendigen fachlichen Qualitätsstandards erbracht werden müssen.
- Eine Rückführung einheitlicher und gemeinsamer Verträge
Der Markt führt dann zu mehr Effizienz, wenn er Anbietern mit hoher Qualität und einer guten KostenNutzen-Relation Vorteile ermöglicht. Diese Vorteile entstehen zu Lasten derer, die eine
entsprechende Qualität nicht anbieten können. In der jetzigen Wettbewerbsordnung der gesetzlichen
Krankenversicherung wird aber genau dieser Effekt des Wettbewerbs ausgeschaltet, da die Verträge
grundsätzlich einheitlich und gemeinsam für alle Krankenkassen und alle Leistungserbringer gestaltet
werden müssen. Dies führt zu einer Situation, in der sich die besonders hochwertige
Vertragserfüllung nicht lohnt. Wenn der Sicherstellungsauftrag durch die Krankenkassen
übernommen wird, darf es für die Leistungserbringer keine Pflicht geben, einen Einheitsvertrag aller
Krankenkassen erfüllen zu müssen. Umgekehrt kann es einer Krankenkasse und den Patienten nicht
zugemutet werden, über den Bedarf hinaus oder in Fällen inakzeptabler Qualität dennoch einheitlich
Verträge abschließen zu müssen.
- Eine Weiterentwicklung des Leistungskatalogs
Die Prüfung des Leistungskatalogs auf Bedarfsgerechtigkeit kann weder den Krankenkassen noch
den Leistungserbringern aufgetragen werden. Für Versichertengruppen, die als Mitglieder nicht
attraktiv sind (z.B. ältere Versicherte oder chronisch Kranke), haben die Krankenkassen ein
Interesse, den Leistungskatalog nicht über das unvermeidbare Maß auszudehnen. Die Prüfung neuer
Verfahren für die Aufnahme in den Leistungskatalog bzw. die Prüfung bereits etablierter Verfahren im
Lichte des technischen Fortschritts muss unabhängig geregelt und klar definiert und zugeordnet sein.
Dazu sollte auf wissenschaftlichen Sachverstand und dafür eingerichtete Institutionen zurückgegriffen
werden, wie dies in England z.B. durch das National Institute of Clinical Excellence (NICE) getan
wird. Gegenwärtig übernehmen diese Aufgabe die gemeinsamen Ausschüsse der Spitzenverbände.
Wettbewerbsregulation muss frei von Interessenskonflikten sein, ein Management der
Interessenskonflikte alleine reicht nicht aus.
5.2 Qualitätssicherung als Instrument einer modernen Gesundheitspolitik
Sowohl die Weiterentwicklung des bedarfsgerechten Leistungskatalogs als auch die Definition von
Qualitätsstandards dürfen in einem wettbewerblichen Gesundheitssystem dem Markt nicht vollständig
überlassen werden.
Insbesondere für sozial schwache Gruppen, für chronisch Kranke und für ältere Menschen muss auch in
einer wettbewerblichen Gesundheitsversorgung die Qualität der Versorgung sichergestellt und
weiterentwickelt werden. Wo solche Qualitätsmängel auftreten, muss der Wettbewerb durch die Vorgabe
von Qualitätsstandards entsprechend gestaltet werden.
Dies ist Aufgabe der staatlichen Aufsicht hinsichtlich des Sicherstellungsauftrags der Krankenkassen.
Institutionen, die die Aufgabe der Qualitätssicherung und -weiterentwicklung übernehmen, dürfen nicht
selbst Teil des Wettbewerbs sein oder von am Wettbewerb teilnehmenden Institutionen getragen werden
oder abhängig sein.
Selbstverständlich ist jeder einzelne Leistungserbringer zur ständigen internen Qualitätssicherung
verpflichtet. Für viele medizinische Probleme gibt es eine aufwendige und eine weniger aufwendige
Versorgung, die sich in ihrer Kosten-Nutzen-Relation häufig sehr stark unterscheiden.
Daher sollten ähnlich wie in den Vereinigten Staaten, Canada, Großbritannien, Schweden, Finnland,
Norwegen, Italien, Australien und in den Niederlanden Institutionen geschaffen werden, die Vorgaben für
einen Qualitätswettbewerb in der Medizin geben.
Dazu sollte von dieser Institution in wichtigen Bereichen der Qualitätsstandard definiert werden, der für
eine bedarfsgerechte Versorgung notwendig ist. Dies kann durch die Entwicklung oder Übernahme
wissenschaftlich gesicherter Leitlinien (evidenzbasierte Leitlinien) geschehen. Die Institutionen sollten wie
Verbraucherschutzeinrichtungen arbeiten, die die Interessen von Patienten und von Beitragszahlern
hinsichtlich einer angemessenen und qualitätsorientierten Versorgung vertreten.
Der Aufbau einer solchen Institution ist besonders wichtig im Bereich der Arzneimittelversorgung, wo
Kosten-Nutzen-Relationen bei alten und neuen Arzneimitteln überprüft werden müssen, bevor sie
flächendeckend und ohne Einschränkung in die gesetzliche Krankenversicherung eingeführt werden
können.
Im Bereich der Arzneimittel sind eindeutige Regelungen und Instrumente vorzusehen:
- Zulassung neuer Medikamente in die GKV, ggf. auch nur befristet
- Endgültige Aufnahme in den Leistungskatalog der GKV nach Zulassungauf der Basis von
Langzeitstudien
- Arzneimittelpositivliste
- Aufbau eines pharmaökonomischen Bewertungssystems
- Zulassung von Versandhandel, wettbewerbliche Preisgestaltung
- Zulassung von Krankenhausapotheken, auch bei der Versorgung ambulantbehandelter Patienten.
Die Prüfung der Effizienz eines Arzneimittels führt dazu, dass Scheininnovationen und Produkte, die
minimal besser und erheblich teurer als ihre Alternativen sind, langsamer und zu geringeren Kosten in
das Gesundheitssystem einziehen, während sich der Prozess bei echten Innovationen und Arzneimitteln
mit guter Wirtschaftlichkeit beschleunigt.
5.3 Bedarfsgerechte und effiziente Versorgungsstrukturen entwickeln
Oberstes Ziel muss dabei die Neuausrichtung der Strukturen auf die Belange der Patienten sein. Es gilt,
Behandlungsabläufe über die hergebrachten Sektoren des traditionellen Gesundheitssystems hinweg
medizinisch zu definieren und in Kooperationen zwischen ambulant tätigen Ärzten, Krankenhäusern,
Reha- und Pflegeeinrichtungen anzubieten.
Diese Gesundheitsanbieter werden deshalb künftig Behandlungen von Beginn der Diagnose bis zum
Abschluss der Betreuung gemeinsam organisieren und anbieten und damit die bisherigen Grenzen der
Sektoren des Gesundheitssystems überwinden.
Entscheidend ist, dass der Wettbewerb über Qualität und Preis erfolgt. Gruppen von Anbietern
konkurrieren mit anderen Gruppen von Anbietern. Nicht der Umfang der Leistungen soll
Differenzierungsmerkmal im neuen System sein, sondern die Art der Leistungserbringung. Das Prinzip
des umfassenden Gesundheitsschutzes kann so in einer solidarisch finanzierten Krankenversicherung
gesichert werden.
Die Krankenkassen müssen ihren Versicherten den gesetzlich garantierten Leistungsumfang sichern,
indem sie entsprechende Verträge mit Gesundheitsdienstleistern abschließen. Jene Kassen, die eine
solche Garantie nicht abgeben können, da sie geeignete Verträge mit Leistungsanbietern nicht vorweisen
können, dürfen in festgelegten Regionen, keine Versicherungsleistungen anbieten und kontrahieren.
Definierte Notfallbehandlungen müssen auch künftig in allen Gesundheitseinrichtungen erhalten und von
den Krankenkassen finanziert werden.
Anbietergruppen oder Gesundheitsunternehmen sollen die Möglichkeit erhalten, den Krankenkassen
künftig genau beschriebene Behandlungskonzepte für ambulante, stationäre etc. Versorgung anzubieten.
Es soll sich dabei um eine umfassende Dienstleistung vom Beginn bis zum Ende oder für einen
festgelegten Zeitraum der Behandlung handeln.
Die Qualität wird durch staatlich festgelegte Normen bestimmt, die sich sowohl auf die Dienstleistungen
als auch auf die Dienstleister bezieht. Dienstleistungen müssen beispielsweise definierte
Mindestanforderungen
für
Behandlungskomponenten,
Erfolgsquoten
und
Gewährleistungsverpflichtungen beinhalten. Dienstleister müssen z. B. jährliche Mindestmengen pro
Behandlung erbringen und regional ein festgelegtes Mindestsortiment anbieten.
Die vertraglichen Vereinbarungen zwischen einzelnen Anbietern oder Anbietergruppen und
Krankenkassen oder Krankenkassengruppen enthalten neben den Leistungs- und Qualitätsfestlegungen
insbesondere auch Preisfestsetzungen. Durch vereinbarte Rabattstaffeln lassen sich Effizienzgewinne
auf die Krankenkassen und Beitragszahler übertragen.
Der Staat bezieht die Sicherstellungsgarantie künftig konsequent auf die Patientenbedarfe. Er schafft
deshalb eine gesetzliche Ordnung, die dieser Zielrichtung folgt. Er schützt damit nicht mehr die Existenz
der Anbieter, sondern sichert einen fairen Wettbewerb. Durch geeignete Rahmenbedingungen kann der
Wettbewerb folgende Strukturen schaffen:
- Patienten werden in einer Versorgungspyramide betreut, die die Lösung eines Patientenproblems auf
der jeweils effizientesten Stufe des Versorgungssystems bewirkt. Dazu gehören:
- hausärztliche Versorgung
- fachärztliche Versorgung flächendeckend außerhalb des Krankenhauses
- fachärztliche Versorgung ambulant, aber krankenhausabhängig
- stationäre Krankenhausversorgung.
- Hausärztliche Versorgung wird auch in Zukunft vorwiegend in Einzel- oder Gemeinschaftspraxen
krankenhausunabhängig erbracht werden. Hausärzte werden neben der derzeit üblichen
Basisbetreuung der Patienten die Lotsenfunktion im System und den Kanon der Grundversorgung im
Rahmen des Disease-Managements beherrschen. Hausärztliche Versorgung kann durch die
Krankenkassen in Form von Verträgen nach einheitlichen Mindestqualitäts- und HöchstpreisStandards sichergestellt werden.
- Fachärztliche Leistungen, die z.B. teuere Investitionen in Technik oder know how voraussetzen,
werden in Zukunft häufig in räumlicher und personeller Einheit mit den Fachärzten am Krankenhaus
erbracht werden.
- Krankenhäuser werden in die Lage versetzt, sowohl stationäre Behandlung als auch fachärztlich
ambulante Behandlungen anzubieten.
- Ambulante und stationäre Rehabilitation wird in effizienter Weise mit der akut stationären Versorgung
verzahnt.
5.4Präventive Instrumente einer modernen Gesundheitspolitik ausbauen
Eine vorausschauende Gesundheitspolitik braucht Präventionsmaßnahmen bei Volkskrankheiten.
Primärprävention dient dem Patienten, baut soziale Unterschiede bei den Gesundheitserwartungen ab
und trägt zur langfristigen Finanzierbarkeit der GKV bei.
Notwendig sind verbindliche Verpflichtungen und Instrumente für eine vorausschauende
Präventionspolitik, die sich auch an sozial Benachteiligte richtet.
Durch die Ernährung, das Bewegungsverhalten und den Tabakkonsum wird die Häufigkeit von
Herzinfarkten, Herzschwäche, Schlaganfällen, Diabetes mellitus, Bluthochdruck, Demenz und
bestimmten Krebsarten gleichzeitig beeinflusst.
Bei der Entwicklung eines rationalen Gesundheitssystem muss der Bekämpfung dieser Risikofaktoren
eine hohe Bedeutung zukommen. Der Erfolg solcher Programme lässt sich durch internationale
Erfahrungen belegen. So hat zum Beispiel ein übergreifendes Herz- und Kreislaufpräventionsprogramm
in Finnland innerhalb von 20 Jahren fast eine Halbierung der Zahl der neuen Herzinfarkte verursachen
können.
Aufgrund der langen Vorlaufzeit für die Wirkung solcher Programme muss jetzt eine Verlagerung der
Prioritäten hin zur Prävention erfolgen, wenn man den Herausforderungen, z.B. des demografischen
Wandels erfolgreich begegnen will. Die wichtigsten notwendigen Initiativen sind
- ein nationales Herz- und Kreislaufpräventionsprogramm,
- ein Anti-Tabakprogramm
-
ein Früherkennungsprogramm für Krebs, insbesondere
Mammographiescreeningprogramm für Brustkrebs.
ein
qualitätsgesichertes
nationales
5.5 Moderne und flexible Steuerungsinstrumente entwickeln
Im Wettbewerb der Leistungserbringer und im Wettbewerb der Krankenkassen werden sich
bedarfsgerechte und effiziente Versorgungsstrukturen entwickeln. Die Krankenkassen müssen dazu in
ihren
Verträgen
mit
den
Krankenhäusern,
Ärzten
und
übrigen
Leistungserbringern
Steuerungsinstrumente einsetzen, die Qualität und Wirtschaftlichkeit der Versorgung zum Durchbruch
verhelfen.
Gegenwärtig werden die Steuerungsinstrumente in der Gesundheitsversorgung größtenteils vom
Gesetzgeber detailliert vorgegeben. Dies ist umso entbehrlicher, je wettbewerbsorientierter die
gesundheitliche Versorgung ausgerichtet wird; also so viel Markt wie möglich, so viel Staat wie nötig.
Bis die stärker wettbewerbliche Orientierung des Gesundheitswesens greift, kann die Gesundheitspolitik
nicht vollständig auf bisherige Steuerungsinstrumente verzichten. Insbesondere ist kurzfristig ein Verzicht
auf die Budgetierung als Instrument nicht möglich. Die sektorale Budgetierung sollte durch ein
sektorübergreifendes Globalbudget ersetzt werden.
Das Parlament hat aus gesamtgesellschaftlicher Verantwortung heraus die Aufgabe, den Umfang der
sozialstaatlich finanzierten Gesundheitsversorgung zu bestimmen. Zur gesamtgesellschaftlichen
Aufgabe, die die Politik wahrnehmen muss, gehört auch die Bestimmung des Umfanges des
Leistungskataloges der Krankenkassen. Die Gesundheitspolitik muss fortlaufend kritisch überprüfen und
entscheiden, was sozialstaatlich finanziert werden soll.
Die Bestimmung konkreter medizinischer Methoden und Verfahren, die die Krankenkassen sicherstellen
sollen, ist hingegen nicht Aufgabe der Politik. Vielmehr sollte eine staatliche Agentur mit der Überprüfung
beauftragt werden, welche Verfahren ihren Nutzen und ihre Wirtschaftlichkeit bewiesen haben, so dass
eine solidarische Finanzierung vertretbar ist.
5.6Transparenz und differenzierte Nutzung der unterschiedlichen Angebote im
Gesundheitswesen erhöhen
Ein Gesundheitswesen, das die Patientenversorgung im Wettbewerb regelt, bedarf einer modernen
Gesundheitsberichterstattung und einer systematischen Versorgungsforschung. Beide Instrumente
müssen regional und überregional nutzbare Daten für Patienten, Versicherte, Krankenversicherungen,
Leistungserbringer und Politik zur Verfügung stellen.
Anhand der Daten muss es möglich sein, Aussagen über Quantität und Qualität von Leistungen zu
treffen. Es muss überprüfbar sein, ob der Versicherte tatsächlich zum richtigen Zeitpunkt das
medizinische Versorgungssystem bei Bedarf erreicht, an die richtige Stelle bzw. Ebene des Systems
gelangt und dort effizient versorgt wird. Nur bei bestmöglicher Transparenz können die Akteure im
Gesundheitswesen begründete Entscheidungen treffen.
Die Gesundheitsberichterstattung mit ihren Daten muss
- dem Patienten erlauben, sich selbst ein Bild von der Qualität und der Leistungsfähigkeit zu machen,
- den Kassen ermöglichen, kassenspezifische, wettbewerbliche Analysen und Versorgungsanalysen
ihrer Versicherten zu erstellen,
- Leistungserbringern Auswertungen zur Quantität und Qualität ihrer Leistungen zu Verfügung zu
stellen, um Vergleiche untereinander im Rahmen einer Wettbewerbsordnung machen zu können,
- der Politik auf allen Ebenen Analysen über den medizinischen Versorgungsbedarf der Bevölkerung
bereit zu stellen.
Für eine qualifizierte Gesundheitsberichterstattung muss zudem Raum bestehen, eigene Auswertungen
zu fertigen und darüber öffentlich zu berichten. Diese Veröffentlichung und Bewertung von Daten darf
keinen Weisungen unterliegen.
Die Ausgestaltung der Krankenversicherungskarte muss auf freiwilliger Basis auf die heutigen
technischen Möglichkeiten angepasst werden. Das dient der Vermeidung von Doppeluntersuchungen,
Unverträglichkeiten in der Arzneimittelversorgung sowie der Verbesserung und Dokumentation von
Behandlungsabläufen.
5.7 Solidarische Elemente im Gesundheitssystem verbreitern
Wettbewerb steht in einem Spannungsverhältnis zur Solidarität. Krankenkassen und Leistungserbringer,
die dem Wettbewerb ausgesetzt sind, haben möglicherweise ein starkes Interesse daran, sich der
solidarischen Verpflichtungen zu entledigen. Notwendig ist daher ein Ordnungsrahmen, der Solidarität
sichert.
Eine wesentliche Rolle in diesem Ordnungsrahmen spielt der jetzt gesetzlich neu geregelte
Risikostrukturausgleich. Er muss morbiditätsorientiert weiterentwickelt werden, damit die Krankenkassen
sich auch dauerhaft um (insbesondere: chronisch) Kranke versicherte bemühen. Gerade, wenn die
Krankenkassen mehr Wettbewerbsinstrumente als bisher erhalten sollen, ist es erforderlich, den
Risikostrukturausgleich weiter zu entwickeln.
Die Versichertenstrukturen der Krankenkassen sind sehr unterschiedlich. Seit Einführung der
Kassenwahlfreiheit haben sie sich zudem auseinander entwickelt. Aber auch wenn sich die Strukturen
stärker angleichen sollten, bleibt der Risikostrukturausgleich auf Dauer erforderlich. Sonst entstehen für
die Krankenkassen rasch wieder falsche Anreize.
Zur Sicherung und Verbreiterung der Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung gehört auch
eine Weiterentwicklung ihrer Finanzierungsgrundlagen. Immer mehr Versicherungspflichtige haben
nennenswerte Einkünfte auch aus anderen Einkunftsarten als ihrem Arbeitseinkommen. Diese Einkünfte
sind bislang nicht beitragspflichtig. Die Höhe des Einkommens, nicht die Frage aus welchen
Einkunftsarten dies kommt, sollte über die Höhe der Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung
entscheiden. Eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage bzw. die Abkoppelung der
Versicherungspflichtgrenze von den Löhnen ist daher sachgerecht und entspricht dem Prinzip der
Finanzierung nach der Leistungsfähigkeit.
Andere Einkunftsarten in die Beitragspflicht einzubeziehen, bedeutet nicht automatisch mehr Geld für die
Gesundheitsversorgung. Vielmehr ermöglicht eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlagen bei
gleichen Leistungsausgaben eine Senkung des Beitragssatzes. Damit wird auch eine Entlastung des
Faktors Arbeit und der Lohnzusatzkosten ermöglicht. Auch wirtschaftspolitisch macht daher ein Einbezug
anderer Einkunftsarten in die Beitragsbemessung Sinn.
Die heutige Grenzziehung bei der Versicherungspflicht der Arbeitnehmer ist willkürlich. Die
Versicherungspflichtgrenze führt dazu, dass finanzstarke Versicherte sich der Solidargemeinschaft GKV
entziehen können. Richtig ist, dass die privat Versicherten im Krankheitsfall überproportionale
Finanzierungsbeiträge leisten. Richtig ist aber auch, dass die Kalkulation der Prämien in der PKV nach
dem Kapitaldeckungsverfahren einen Beitrag zur Entlastung der Wirkungen der demografischen
Entwicklung leisten. Gleichwohl ist eine Überprüfung der Versicherungspflichtgrenze notwendig.
Alternativ sollte auch geprüft werden, ob und wie die Privatversicherten hinsichtlich ihres deutlich höheren
Einkommens in den Risikostrukturausgleich der GKV einbezogen werden können. Festzuhalten bleibt
aber, dass eine solidarische (Zwangs)Versicherung eine Beitragsbemessungsgrenze erfordert, um den
solidarischen Ausgleich zu begrenzen, um den Beitrag nicht zu einer Steuer werden zu lassen.
Zur mittel- und langfristigen Sicherung der Finanzierungsbasis der GKV einerseits und zur
Wiedergewinnung einer durchgängigen sozialen Symmetrie andererseits sind Strukturentscheidungen
unerlässlich. Die Prinzipien der Leistungsfähigkeit und Beitragsgerechtigkeit in einem sozialen
Krankenversicherungssystem sind den sozio-ökonomischen Bedingungen des 21. Jahrhunderts
entsprechend neu zu definieren. Mit entsprechenden Maßnahmen kann nicht nur der Anstieg der
Beitragssätze in der GKV gestoppt werden, sondern können die Beitragssätze sinken.
Der Einstieg ist mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 15. März 2000 zur notwendigen
Gleichstellung
der
Rentner
bei
der
Beitragsbemessung
gemacht.
Der
seit
dem
Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) 1993 umfassende Einkommensbegriff der freiwillig versicherten
Rentner wird auch auf pflichtversicherte Rentner ausgedehnt. Damit wird sowohl eine der
Leistungsfähigkeit als auch dem Gebot der Generationengerechtigkeit angemessene Finanzierung
erreicht.
Die Versicherungspflicht- und Beitragsbemessungsgrenze in der GKV sollte überprüft werden.
Letztlich ist zu prüfen, in welchem Umfang der versicherte Personenkreis in der GKV mittelfristig
auszudehnen ist. Sonderrechte für einzelne Gruppen von Erwerbstätigen, sich der Solidarität der GKV zu
entziehen, sind kaum begründbar und bieten keine Antworten auf die Herausforderungen einer
solidarisch finanzierten, zukunftsorientierten Gesundheitspolitik.
Durch die GKV werden teilweise seit Jahrzehnten verschiedene Leistungssegmente finanziert, die mit
dem für die GKV konstitutiven Solidarprinzip, dem internen sozialen Ausgleich innerhalb der
Versichertengemeinschaft, nicht begründet werden können. Bei diesen Leistungen handelt es sich um
primär sozial- und/oder familienpolitisch motivierte Ausgaben. Diese krankenversicherungsfernen
Leistungen bedienen unabhängig vom Versicherungsfall Krankheit gesamtgesellschaftlich zu
bearbeitende Aufgabenstellungen.
Das Gesamtvolumen der durch die GKV finanzierten krankenversicherungsfernen Leistungen beträgt
derzeit jährlich rund 4 Mrd. DM. Die Leistungen und ihre Finanzierung müssen auf den Prüfstand gestellt
werden. Hierdurch wird nicht zuletzt ein Beitrag zu Transparenz und aufgabenbezogener Zuordnung der
Finanzverantwortung in unserem Sozialstaat geleistet.
5.8 Beschäftigungschancen im Gesundheitssystem nutzen,
Qualifizierung und Fortbildung verbindlich regeln
Das Gesundheitswesen ist ein an Bedeutung zunehmender Wirtschaftsfaktor mit hohem
Wachstumspotential. Rund 413 Mrd. DM fließen in diesen Sektor. Den größten Anteil daran hat weiterhin
die GKV, die mit 232 Mrd. DM mehr als die Hälfte der Ausgaben für Gesundheit umsetzt. Auf die PKV
entfallen 32 Mrd. DM und in der gleichen Größenordnung bewegen sich die direkten Ausgaben der
privaten Haushalte für Gesundheit mit 45,5 Mrd. DM (Stand 1998).
Das Gesundheitswesen sichert die Beschäftigung von rund 2,2 Millionen Menschen. Rund 20% der im
Gesundheitswesen Tätigen sind ÄrztInnen, ZahnärztInnen und ApothekerInnen. Mit über 900 000
Beschäftigten stellen Krankenschwestern und Krankenpfleger fast die Hälfte der Mitarbeiter des
Gesundheitssektors. Vielfach gehen sie unter schwierigen Bedingungen bei hoher physischer,
psychischer und zeitlicher Belastung ihrer Arbeit nach.
Die Verbesserung dieser Arbeitsbedingungen muss ebenfalls Ziel von Strukturreformen im
Gesundheitswesen sein. Die Effizienzgewinne durch am Wettbewerbsgedanken orientierte
Strukturreformen müssen auch dazu genutzt werden, die Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen zu
verbessern. Dies dient den Beschäftigten ebenso wie den Patienten.
Der wissenschaftlich-technische Fortschritt im Gesundheitswesen wird in den nächsten Jahren
beschleunigt weitergehen. Das stellt neue Anforderungen an alle Beschäftigten im Gesundheitswesen.
Die Qualität der erbrachten Leistungen kann nur so gut sein, wie das vorhandene Qualifikationsniveau.
Daher müssen neben einer soliden Erstausbildung verbindliche Anforderungen an eine obligatorische
Weiterbildung für alle im Gesundheitswesen Tätigen festgelegt werden. Dieses Prinzip des
lebensbegleitenden Lernens sollte im Rahmen einer Weiterbildungsordnung im Gesundheitsbereich
erfolgen.
6 Zukunft gewinnen durch Modernisierung und soziale Verantwortung
Gesundheit ist die Voraussetzung für eine freies und erfülltes Leben eines jeden Menschen. Die
Gesundheitspolitik ist deshalb eine der zentralen Aufgaben des Staates. Das deutsche
Gesundheitssystem hat über lange Zeit einen weltweit anerkannt hohen Maßstab in der Versorgung von
Kranken gesetzt. Durch seine heutigen Strukturen und eine quasi monopolisierte Erbringung von
Versicherungs- und Versorgungsleistungen hat sich das System jedoch zunehmend selbst blockiert.
Trotz hoher Aufwendungen der Versicherten und einer herausragenden Forschungsleistung erreicht das
System als ganzes oftmals nur noch ein mittelmäßiges Leistungsniveau.
Der Schlüssel zu einer Verbesserung der Versorgung der Patienten kann nicht in der Einschränkung von
Leistungen oder einer Erhöhung der Versicherungsbeiträge liegen. Er liegt vielmehr in der Nutzung der
immensen Effizienzressourcen, die im System enthalten sind. Die Einführung eines "solidarischen
Wettbewerbs" im Gesundheitssystem ist deshalb der richtige Weg, den Menschen in Deutschland jene
Versorgung zu garantieren, die sie aufgrund ihrer Versicherungsbeiträge und des medizinischen
Wissenstandes verdient haben.
Den Rahmen für eine solidarische Wettbewerbsordnung im Gesundheitswesen zu schaffen, bedeutet,
einen kontrollierten Wettbewerb um Qualität und Preis zwischen den verschiedenen Gruppen von
Anbietern von Gesundheitsleistungen einzuführen. Dabei wird nicht der Umfang der Leistungen, sondern
die Art, wie diese Leistungen erbracht werden, der entscheidende Faktor des solidarischen Wettbewerbs
sein. Auf diese Weise kann das Prinzip des umfassenden Gesundheitsschutzes im Rahmen eines
solidarisch finanzierten Krankenversicherungswesens gesichert werden.
Marktwirtschaft und soziale Sicherung miteinander verbinden - dieses Prinzip hat Deutschland zu einer
der stabilsten und angesehensten Wirtschaftsordnungen der Welt gemacht. Es ist Zeit, diese Prinzipien
nun auch im deutschen Gesundheitswesen zu nutzen. Zum Wohle der Patienten, zum Wohle der vielen
Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten, und nicht zuletzt zum Wohle des Gemeinwesens, das die
Lasten der bestehenden Selbstblockade mitzutragen hat.
Modernisierung und soziale Verantwortung - diese beiden Prinzipien gehören zusammen, wenn die
Menschen den notwendigen Wandel akzeptieren sollen. Das vorgelegte Papier zeigt den Weg, wie die
Zukunft des deutschen Gesundheitssystems in sozialer Verantwortung gestaltet werden kann.
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Copyright © Frankfurter Rundschau 2001
Dokument erstellt am 04.12.2001 um 21:06:04 Uhr
Erscheinungsdatum 04.12.2001
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