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SPEECH/12/403
Viviane Reding
Vizepräsidentin
der
Justizkommissarin
Europäischen
Kommission,
Die EU-Grundrechtecharta und
Zukunft der Europäischen Union
EU-
die
XXV. FIDE-Kongress (Fédération Internationale pour le Droit
Européen)
Tallinn, den 31. Mai 2012
KERNAUSSAGEN DER REDE
Die Krise:
-
Wir stehen an einem entscheidenden Wendepunkt der europäischen
Integration, an dem die Zukunft des Euro von vielen in Frage gestellt wird. Die
Währungsunion ist aber sozusagen in Stein gemeißelt. Sie ist endgültig.
Rechtlich gesehen, kann sie nicht rückgängig gemacht werden.
-
Vizepräsidentin Reding plädiert für einen „Quantensprung“ – eine echte
politische Union: ein Gedanke, der von vielen Entscheidungsträgern im EuroWährungsgebiet aufgegriffen wurde. Die richtige Antwort auf die Krise ist mehr
Europa, nicht weniger.
-
Europa steht derzeit an einem Scheidepunkt. Die Europäische Union wird am
Ende gestärkt aus der Krise hervorgehen: Als stärkere Wirtschafts- und
Währungsunion. Als echte politische Union. Und als eine Union im Dienste
der Bürger.
Die EU-Grundrechtecharta:
-
Um die Krise zu bewältigen, müssen wir das Vertrauen der 500 Millionen
Bürger zurückgewinnen, die in der Europäischen Union leben. Die EUGrundrechtecharta kann dabei eine nützliche Rolle spielen.
-
Die Grundrechtecharta ist für die EU wegweisend: Sie sorgt dafür, dass den
Grundrechten in allen neuen EU-Rechtsvorschriften Rechnung getragen wird.
Zwei
aktuelle
Beispiele
hierfür
sind
die
Reform
der
EUDatenschutzbestimmungen und die Entwicklung einer EU-Initiative zur
Quotenregelung
für
die
Geschlechtergleichstellung
in
den
Entscheidungsgremien privater Unternehmen.
Datenschutz:
-
Privatsphäre ist eine Grundvoraussetzung für die menschliche Würde und
die persönliche Freiheit. Die Überwachung jedes Schrittes, jedes Wortes oder
jeder privaten E-Mail ist mit den Grundwerten Europas nicht vereinbar.
Quoten:
-
Bei der Ausarbeitung von Rechtsvorschriften über eine „europäische
Quote“ ist den damit verbundenen vielfältigen Grundrechtsaspekten
besondere Aufmerksamkeit zu widmen.
-
Die Ergebnisse unserer Prüfung werden in den Rechtsakt einfließen, den die
Kommission im Herbst dieses Jahres vorschlagen wird. Natürlich wird es
hierzu eine umfassende Folgenabschätzung hinsichtlich der Grundrechte
geben.
2
Grundrechtsschutz in Europa: Hin zu einer Europäischen Politischen
Union mit föderaler Grundrechtecharta?
-
Die EU-Grundrechte sollen die nationalen Grundrechte ergänzen, nicht
ersetzen.
-
Dies erklärt, warum die EU im Falle der Ausweisung von Roma aus dem
französischen Staatsgebiet im Sommer 2010 tätig werden konnte, jedoch
nicht im Falle des neuen ungarischen Mediengesetzes.
-
Die EU ist kein Superpolizist für Grundrechte – und sollte es auch nicht sein.
Der Grundrechtsschutz erfolgt nach einem zweistufigen System, in dem
das EU-Grundrechtssystem und die nationalen Grundrechte einander ergänzen.
Exzellenzen, liebe Kollegen,
meine Damen und Herren,
ich freue mich, so viele EU-Rechtsexperten in Estlands wunderschöner Hauptstadt
Tallinn begrüßen zu dürfen.
Wie Sie wissen, stehen wir dieser Tage an einem ganz entscheidenden
Wendepunkt der europäischen Integration. Die Finanzkrise, die mit dem
Zusammenbruch der US-Investmentbank Lehman Brothers begann, hat in Europa
eine ernste Banken- und Staatsschuldenkrise ausgelöst. Sie hat gravierende
Schwachstellen in der Wirtschafts- und Haushaltspolitik mehrerer EUMitgliedstaaten zutage gefördert. Inzwischen wird sogar die gesamte Architektur der
Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion in Frage gestellt, die vor zwanzig
Jahren mit dem Vertrag von Maastricht begründet wurde.
Die Medien befassen sich derzeit mit ganz grundlegenden Fragen: Kann ein
Mitgliedstaat aus der Währungsunion austreten? Oder sogar: Wird der Euro
überleben?
Sie alle sind Experten in EU-Recht. Ich brauche Sie daher nicht daran zu erinnern,
dass der Übergang zur Währungsunion im Vertrag von Maastricht selbst als
ausdrücklich „unwiderruflich" und „unumkehrbar" bezeichnet wird. Die
Währungsunion ist sozusagen in Stein gemeißelt. Sie ist endgültig. Rechtlich
gesehen, kann sie nicht rückgängig gemacht werden. Die nationalen Währungen
wurden mit der Einführung des Euro ein für alle Mal abgeschafft. Die
Wiedereinführung nationaler Währungen ist daher weder in den Verträgen
vorgesehen, noch ist sie nach EU-Recht möglich. Dies kann man nicht oft genug
wiederholen.
Fest steht jedoch auch, dass die Krise eine überfällige Debatte darüber ausgelöst
hat, wo Europa heute steht und worauf wir zusteuern.
Europa ist an einem Scheidepunkt angelangt. Auf der Titelseite seiner jüngsten
Ausgabe veranschaulichte der Economist unsere Situation recht dramatisch: mit
zwei Schildern, die in entgegengesetzte Richtungen weisen und die Aufschrift
„Auflösung” und „Superstaat” tragen.
Ich persönlich bin überzeugt, dass es noch einige Optionen dazwischen gibt. Aber
in der Tat sind wir nun an einem Punkt angelangt, an dem wir uns über die Zukunft
Europas Gedanken machen müssen. Können einzelne Mitgliedstaaten finanzielle
und wirtschaftliche Herausforderungen globalen Ausmaßes tatsächlich alleine
bewältigen? Oder ist es in der europäischen Integration jetzt Zeit für einen weiteren
Quantensprung?
3
Wie Sie sicherlich wissen, plädiere ich schon seit einigen Monaten für einen solchen
Quantensprung1 – eine echte politische Union – und ich freue mich, dass dieser
Gedanke von den Entscheidungsträgern im Euro-Währungsgebiet immer häufiger
aufgegriffen wird2.
Vielleicht bin ich auch daher so fest von einem starken Europa und einer starken
politischen Union überzeugt, weil ich Luxemburgerin bin. Wir Luxemburger wissen
seit langem, dass unser Land zu klein ist, um alleine irgendeine bedeutende Rolle
auf der Weltbühne zu spielen. Wir kleinen Staaten haben gar keine andere Wahl,
als uns mit anderen Staaten zusammenzutun. In unserer globalisierten Welt trifft
dies in immer stärkerem Maße auch auf größere Staaten zu. Sogar Frankreich und
Deutschland sind nicht stark genug, um sich globalen Herausforderungen wie der
Finanzkrise oder dem Klimawandel alleine zu stellen.
Wenn die derzeitige Krise etwas Gutes hat, dann das: Die nationalen Politiker
begreifen allmählich, dass wir nur zusammen stark sind. Und dass die richtige
Antwort auf die Krise mehr Europa ist, nicht weniger.
Damit komme ich zum wichtigsten Punkt der Diskussionen dieses FIDEKongresses. Als erstes Thema haben Sie die EU-Grundrechtecharta gewählt –
angesichts des aktuellen Geschehens meiner Ansicht nach eine sehr treffende
Wahl. Dies sage ich nicht, weil ich die allererste für Grundrechte zuständige EUKommissarin bin. Ich sage dies vor dem Hintergrund der derzeitigen Krise.
In der Krise geht es natürlich in erster Linie um Finanzen, um wirtschaftliche
Ungleichgewichte und Schuldenberge, die von nationalen Regierungen
verantwortungslos angehäuft wurden. Aber letzten Endes geht es bei jeder Art von
Politik – egal ob auf EU- oder nationaler Ebene – stets um die Menschen. Um
unsere Bürger. Wir werden die Krise nur dann bewältigen, wenn wir unsere Bürger
stärker in den Mittelpunkt rücken. Sie sorgen schließlich dafür, dass unsere
Demokratien funktionieren. Daher müssen wir das Vertrauen der 500 Millionen
Bürger zurückgewinnen, die in der Europäischen Union leben.
Die Charta kann dabei eine nützliche Rolle spielen. Laut Präambel der Charta,
erster Erwägungsgrund, stellt die EU „den Menschen in den Mittelpunkt ihres
Handelns […], indem sie eine Unionsbürgerschaft und einen Raum der Freiheit, der
Sicherheit und des Rechts begründet.“ Wenn wir dieser Tage über die Europäische
Politische Union sprechen, dürfen wir dieses wichtige Bestreben nicht vergessen.
Wie Professor Besselink in seinem Gesamtbericht für den heutigen Kongress sagt:
Die Bedeutung, die den Grundrechten beigemessen wird, „bestimmt die
verfassungsrechtliche Natur der Europäischen Union“.
An dieser Stelle möchte ich von meiner Erfahrung mit der Charta während der
ersten beiden Jahre berichten, seit diese rechtsverbindlich ist. Und diese ist
durchaus etwas zwiespältig.
Reding, V., 2012, „A vision for Post-Crisis Europe”, The Wall Street Journal, 8. Februar, S.16.;
Reding, V., 2012, „Mit einer Vision aus der Krise finden”, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. März,
S.10; Reding, V., 2012, „Unir l'Europe politique pour 2020”, L'Echo, 25. Mai, S.13; Reding, V., 2012,
„Dopo la crisi dell'euro l'Europa può fare un grande passo in avanti”, Milano Finanza, 9. Februar,
S.11; Reding, V., 2012, „Una visión de Europa después de la crisis”, El Mundo, 10. Februar, S.19.
2 Rede von Dr. Wolfgang Schäuble MdB in Aachen: http://www.wolfgang-schaeuble.de/index.php?id=30&textid=1524&page=1; siehe
auch den Aufruf in der ZEIT „Wir sind Europa - Manifest zur Neugründung der EU von unten”, 3. Mai
2012: http://www.zeit.de/2012/19/Europa-Manifest/seite-1 und im Guardian „Let's create a
bottom-up Europe”, 3. Mai 2012:
http://www.guardian.co.uk/commentisfree/2012/may/03/bottom-up-europe.
1
4
Einerseits wurde die Charta zu einem bedeutenden Instrument, um die Grundrechte
in allen neuen EU-Rechtsetzungsvorschlägen zu verankern.
Andererseits hat die Charta oft die Erwartungen der Bürger enttäuscht, die sich in
Grundrechtsfragen an die EU-Organe gewandt haben, aber nicht die erhoffte Hilfe
erhalten konnten.
Beides möchte ich hier näher ausführen.
Die Charta als bedeutendes Instrument, um die Grundrechte in allen
neuen EU-Rechtsvorschriften zu verankern
Zunächst zur Situation auf EU-Ebene, wo die positiven Auswirkungen der Charta
heute klar zu erkennen sind: Alles begann im Mai 2010, als die Mitglieder der neuen
Europäischen Kommission – der ersten Kommission, die nach Inkrafttreten des
Vertrags von Lissabon und der Charta ihre Arbeit aufnahm – nach Luxemburg
reisten, um sich nach gängiger Praxis offiziell zur Einhaltung der EU-Verträge zu
verpflichten. Diesmal jedoch war etwas anders. Die 27 Mitglieder des Kollegiums
leisteten nicht nur einen Eid auf die Einhaltung der EU-Verträge, sondern auch auf
die Einhaltung der EU-Grundrechtecharta3. Dies hatte mehr als rein symbolischen
Charakter: Es war die feste politische Zusage des gesamten Kollegiums, die
Beachtung und Einhaltung der Charta in allen EU-Politikbereichen sicherzustellen,
für die die Kommission verantwortlich ist. Dieser Eid erleichterte mir meine Aufgabe
als Kommissarin für Grundrechte deutlich: Denn jetzt musste ich meine Kolleginnen
und Kollegen nicht dazu bringen, der Charta bei ihrer täglichen Arbeit Rechnung zu
tragen. Sie hatten sich ja selbst dazu verpflichtet – jeder einzelne für seinen
Fachbereich. Meiner Erfahrung nach war dies der Ausgangspunkt für eine echte
Grundrechtskultur in der Kommission.
Der nächste Meilenstein war die Annahme der Strategie der Kommission zur
wirksamen Umsetzung der Charta durch die Europäische Union am
19. Oktober 2010. Mit dieser Strategie wurde das eidesstattliche Versprechen in
konkrete Kommissionspraxis umgesetzt. Heute werden Vorschläge der Kommission
nicht nur systematisch auf ihre wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen hin
überprüft, sie alle werden einer detaillierten Grundrechtsbewertung unterzogen. Um
diese
Bewertung
zu
strukturieren
und
sicherzustellen,
dass
die
Kommissionsbediensteten der verschiedenen Generaldirektionen nun auch
Grundrechtsfragen
angemessen
berücksichtigen,
umfasst
die
Kommissionsstrategie eine sogenannte „Grundrechte-Checkliste“. Sie basiert auf
der Rechtsprechung des Gerichtshofs und hilft allen an der Ausarbeitung von EURechtsvorschriften beteiligten Experten dabei, der Grundrechtsthematik in vollem
Umfang gerecht zu werden.
Dies alles war natürlich noch recht theoretisch. Es war die politische Zusage,
Grundrechtsbelange in den EU-Organen ernster zu nehmen. Um sicherzustellen,
dass die Wahrung der Charta nicht nur ein Lippenbekenntnis von Politikern und
Beamten blieb, brauchte es aber noch mehr. Als Kommissarin für Grundrechte
musste ich mehrfach – stets mit Rückendeckung des Präsidenten und des
Juristischen Dienstes der Kommission – politischen Druck auf meine Kollegen
ausüben, damit der Charta in deren Vorschlägen Rechnung getragen wurde. Ich
denke hierbei insbesondere an unsere internen Diskussionen zum Fluggastdaten-
Der Eid enthält nun folgenden Passus: „Ich verpflichte mich feierlich, bei der Erfüllung aller meiner
Pflichten die Verträge und die Charta der Grundrechte der Europäischen Union zu achten.“
(Vollständiger Wortlaut siehe http://europa.eu/rapid/press-release_IP-10-487_de.htm).
3
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Abkommen mit den Vereinigten Staaten, das wiederholt geändert werden musste,
um es mit der Charta in Einklang zu bringen.
Was mir bei dieser Arbeit am meisten geholfen hat, waren mehrere wichtige
Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union – unter anderem das
Test-Achats-Urteil4. Hier stellte der Gerichtshof fest, dass der EU-Gesetzgeber bei
der Umsetzung des Grundrechts der Geschlechtergleichstellung kohärent
vorzugehen hat. Bei der vom Gerichtshof geprüften Richtlinie ging es um die
Gleichstellung von Frauen und Männern bei der Erbringung von Dienstleistungen.
Der Gerichtshof befand, dass die durch den Ministerrat eingeführte Klausel, die
einzelnen Mitgliedstaaten bei Versicherungsprämien eine Abweichung vom
Grundrecht der Gleichstellung gestattete, eine Verletzung dieses Grundrechts
darstellte. Clemens Ladenburger zieht in seinem Bericht, der Ihnen heute vorgelegt
wurde, folgenden Schluss: „Der Gerichtshof wird gegenüber ungeschickten
politischen Kompromissen, die in in sich widersprüchlichen Rechtsvorschriften
Ausdruck finden, weniger tolerant sein.“
In der Rechtssache „Test Achats“ machte der Gerichtshof unmissverständlich klar,
dass es nicht nur eine rechtsverbindliche EU-Grundrechtecharta gibt, sondern
sozusagen auch ein Verfassungsgericht auf EU-Ebene, das für die Anwendung
und, falls nötig, für die wirksame Durchsetzung der Charta eintritt – ein Gerichtshof,
der nicht davor zurückschreckt, EU-Rechtsvorschriften für null und nichtig zu
erklären, wenn diese gegen die Charta verstoßen.
In der Kommission haben diese Urteile zu einer deutlichen Sensibilisierung für
Grundrechtsfragen geführt, und ich hoffe, dass die anderen EU-Organe diesem
Ansatz mit ähnlicher Entschlossenheit folgen werden. Zwei neue Initiativen der
Kommission verdeutlichen, welche Bedeutung den Grundrechten im EUGesetzgebungsverfahren seit neuestem beigemessen wird.
Erstens der Vorschlag für eine Reform der EU-Datenschutzvorschriften, den
die Kommission am 25. Januar 2012 vorgelegt hat. Das Recht auf Datenschutz ist
ein zentrales Grundrecht in der EU. Grund hierfür sind die Erfahrungen, die wir in
der Vergangenheit mit Diktaturen des rechten und des linken politischen Spektrums
gemacht haben. Heute herrscht in Europa Einigkeit darüber, dass die Privatsphäre
eine Grundvoraussetzung für die menschliche Würde und die persönliche Freiheit
ist. Die Überwachung jedes Schrittes, jedes Wortes oder jeder privaten E-Mail ist
mit den Grundwerten Europas und unserem gemeinsamen Verständnis einer freien
Gesellschaft nicht vereinbar. In der Charta sind daher sowohl das Recht auf
Privatleben (Artikel 7) als auch das Recht auf Schutz der personenbezogenen
Daten (Artikel 8) verankert. Das ist aber noch nicht alles: Gemäß Artikel 16 des
Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union kann die EU zudem
harmonisierte Datenschutzvorschriften für den gesamten Kontinent erlassen, mit
denen das Recht auf Datenschutz in die Praxis umgesetzt wird. Der Datenschutz ist
somit einer der wenigen Bereiche, in denen zwischen einem Grundrecht und den
entsprechenden Rechtsetzungskompetenzen des EU-Gesetzgebers umfassende
Kohärenz gewährleistet ist. Datenschutz ist daher ein besonders bedeutendes
Grundrecht in der Europäischen Union, und mit den Kommissionsvorschlägen vom
25. Januar soll dieses Recht im gesamten Binnenmarkt Realität werden.
4
Urteil in der Rechtssache C-236/09
6
Datenschutz ist jedoch auch ein Grundrecht, das leicht mit anderen Grundrechten
kollidiert. Ein wichtiges Beispiel aus der Praxis ist ein möglicher Konflikt mit der
Pressefreiheit. Nehmen Sie das Beispiel eines Journalisten, der einen Artikel über
einen Filmstar schreiben möchte. Dazu will er Fotos veröffentlichen, die diesen
beim Sonnenbaden an einem Strand in Südfrankreich zeigen. Der Filmstar möchte
aber, dass seine Privatsphäre gewahrt wird. Wie ist solch ein Konflikt zwischen
Privatsphäre und Pressefreiheit zu lösen? Bei der Ausarbeitung unserer Vorschläge
haben wir dies in der Kommission eingehend diskutiert. Wir fanden, dass die
Pressefreiheit in den 27 Mitgliedstaaten noch immer recht unterschiedlich geregelt
ist. In einigen genießt sie einen höheren Stellenwert als in anderen. In einigen
existieren eindeutige Gesetze über die Pressefreiheit, in anderen nicht. Die EU hat
keinerlei Befugnis, Gesetze über die Pressefreiheit einzuführen. Gemäß den
Verträgen sind allein die Mitgliedstaaten hierfür zuständig. Dennoch kann der EUGesetzgeber einen möglichen Konflikt zwischen Datenschutz und Pressefreiheit
nicht außer Acht lassen. Wir haben daher in die neue Datenschutzverordnung eine
Klausel aufgenommen, wonach die Mitgliedstaaten für die Verarbeitung
personenbezogener Daten, „die allein zu journalistischen Zwecken“ erfolgt,
Abweichungen und Ausnahmen von gewissen Bestimmungen der Verordnung
vorsehen müssen. Wir überlassen es also den Mitgliedstaaten, Vorschriften zu
erlassen, um das Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten mit den
Vorschriften zur freien Meinungsäußerung in Einklang zu bringen. Dies ist sicherlich
ein schwieriger Balanceakt, bei dem die Besonderheiten jedes Einzelfalls und die
jeweiligen nationalen Gegebenheiten zu berücksichtigen sind.
Ein zweites Beispiel, bei dem sich die Kommission intensiv mit der
Grundrechtsthematik auseinandersetzen musste, ist die derzeitige Diskussion über
eine EU-Initiative zur Quotenregelung für private Unternehmen. Wie Sie
wissen, ist das Thema der Geschlechtergleichstellung seit dem Vertrag von Rom im
Jahr 1957 ein Ziel der EU. Zwar wurden bedeutende Fortschritte erzielt, doch noch
immer sind nur 14 % der Schlüsselpositionen börsennotierter Unternehmen in der
EU von Frauen besetzt. Eine Reihe von Mitgliedstaaten – darunter Frankreich,
Italien, Belgien, Dänemark, Portugal, Österreich, die Niederlande, Spanien,
Griechenland, Finnland und Slowenien – haben daraufhin Rechtsvorschriften mit
verschiedenen Quotenregelungen für Unternehmen erlassen. Wir haben diese
Debatte in der Kommission aufmerksam verfolgt und Maßnahmen gefordert. Unser
Legislativprogramm sieht für das zweite Halbjahr eine EU-Initiative zur Erhöhung
des Frauenanteils in Schlüsselpositionen in der Wirtschaft vor. Dies ist auch für den
EU-Binnenmarkt wichtig, wo wir aufgrund der unterschiedlichen nationalen Quoten
bereits eine Fragmentierung feststellen konnten – beispielsweise im öffentlichen
Beschaffungswesen. Hier haben einige Mitgliedstaaten nun die Möglichkeit, Bieter
auszuschließen, die sich nicht an die nationalen Quoten halten.
Bei der Ausarbeitung von Rechtsvorschriften über eine „europäische Quote“ ist den
damit verbundenen vielfältigen Grundrechtsaspekten besondere Aufmerksamkeit zu
widmen. Einerseits möchten wir die Geschlechtergleichstellung in den
Entscheidungsgremien
mit
gezielten
Maßnahmen
zugunsten
des
unterrepräsentierten Geschlechts fördern. Andererseits dürfen wir einzelne
Kandidaten, die sich in einem Unternehmen um eine bestimmte Position bewerben,
nicht diskriminieren. Daher ist es von zentraler Bedeutung, dass Artikel 23 der
Charta gesonderte Maßnahmen zugunsten des unterrepräsentierten Geschlechts
ausdrücklich gestattet – natürlich nur, sofern es eine solche Unterrepräsentation
tatsächlich gibt. Per definitionem müssen Quotenregelungen zeitlich befristet sein,
da sie sonst zu einer weiteren Ungleichheit führen. Darüber hinaus müssen wir
sicherstellen, dass EU-Quotenvorschriften keinen übermäßigen Eingriff in die
unternehmerische Freiheit darstellen, die in Artikel 16 der Charta als Grundrecht
verbrieft ist.
7
Die Kommission prüft derzeit, wie das Grundrecht auf Geschlechtergleichstellung
am besten mit der unternehmerischen Freiheit in Einklang zu bringen ist. Ich
persönlich war stets der Ansicht, dass eine EU-Quotenregelung vorrangig für die
Mitglieder von Aufsichtsräten in Unternehmen beziehungsweise für die Mitglieder in
den entsprechenden Gremien in einstufigen Unternehmensstrukturen gelten sollte.
Die Ergebnisse unserer Prüfung werden in den Rechtsakt einfließen, den die
Kommission im Herbst dieses Jahres vorschlagen wird. Natürlich wird es hierzu
eine umfassende Folgenabschätzung hinsichtlich der Grundrechte geben.
Exzellenzen,
meine Damen und Herren,
wie Sie sehen, ist die Charta auf EU-Ebene zu einem wichtigen Instrument
geworden. Sicherlich ist noch nicht alles perfekt. Sogar die beste
Grundrechtsbewertung kann zu falschen Schlüssen führen. Dennoch kann keiner
mehr behaupten, die EU-Organe würden die Grundrechte nicht ernst nehmen. Die
Charta und die Tatsache, dass sich die Kommission aktiv für deren Anwendung
einsetzt, haben dazu geführt, dass die Grundrechte heute bei der Konzeption neuer
EU-Strategien und -Vorschläge eine wichtige Rolle spielen.
Leider an der falschen Adresse...
Wie bereits erwähnt, wird die Charta in den 27 EU-Mitgliedstaaten sehr
unterschiedlich angewandt. Tagtäglich gehen bei der Kommission Hunderte
Schreiben von Bürgern ein, die darum bitten, die Kommission möge in diesem oder
jenem Mitgliedstaat für die Einhaltung der Grundrechte sorgen.
So das Beispiel einer Frau aus Spanien, die sich gerade von ihrem spanischen
Ehemann hatte scheiden lassen und die das Scheidungsurteil „unfair“ fand. Sie
wandte sich an die Europäische Kommission und bat diese um Hilfe, da diese ja
„für Grundrechte zuständig“ sei.
Oder der Fall eines französischen Unternehmens, das in Italien bei einer
öffentlichen Ausschreibung nicht berücksichtigt wurde. „Der Richter war
bestechlich“, beschwerte sich das französische Unternehmen und dokumentierte
den Fall auf mehreren Hundert Seiten. „Die Kommission hat die Pflicht, uns zu
helfen und unser Grundrecht auf unternehmerische Freiheit zu schützen.“
Dies sind nur zwei Beispiele von Tausenden von Fällen, die uns seit Inkrafttreten
der Charta zugetragen wurden. Wir versuchen stets im Sinne der
Bürgerfreundlichkeit die Betroffenen an die richtige Adresse zu verweisen – in der
Regel nationale Stellen, die hier weiterhelfen können. Dennoch sind die Bürger
verständlicherweise erst einmal frustriert, wenn sie hören, dass sie mit ihrem
Anliegen bei uns an der falschen Adresse sind.
All diese Fälle zeigen ein grundlegendes und leider weit verbreitetes falsches
Verständnis für den Sinn und Zweck der Charta und für ihren Geltungsbereich.
8
Sinn und Zweck der Charta
Um den Sinn und Zweck der Charta zu verstehen, muss man in die ersten beiden
Jahrzehnte der EU-Rechtsetzung zurückgehen. Die Geschichte wurde schon oft
erzählt, aber ich möchte sie Ihnen dennoch ins Gedächtnis rufen. In den Verträgen
von Paris und von Rom waren keine Grundrechte schriftlich verankert. Dennoch
begannen die neuen Gemeinschaftsorgane Beschlüsse, Verordnungen und
Richtlinien zu erlassen, die über allen nationalen Gesetzen stehen sollten,
einschließlich den nationalen Verfassungen und den in darin verbrieften
Grundrechten. Bald beschwerten sich Wirtschaftsbeteiligte, die mit den
Entscheidungen der supranationalen Institutionen in Brüssel nicht einverstanden
waren, bei ihren nationalen Gerichten mit dem Tenor: Hier in meinem Heimatland
haben meine Grundrechte auf Eigentum und auf die Ausübung meiner
Geschäftstätigkeit Verfassungsstatus und können nicht geändert werden, nicht
einmal durch den Gesetzgeber. Und plötzlich gibt es nun diese Institutionen in
Brüssel, die sich über meine Grundrechte einfach hinwegsetzen dürfen.
Das deutsche und das italienische Verfassungsgericht waren die ersten, die sich
der Sache annahmen. Sie fällten mehrere Urteile, bei denen sie den Vorrang des
Gemeinschaftsrechts in Frage stellten, der bis heute den wichtigsten
Rechtsgrundsatz für das reibungslose Funktionieren der EU darstellt. Kurz gefasst
befanden Sie Folgendes: Solange das europäische Recht die Grundrechte unserer
Bürger nicht genauso schützt wie unsere nationalen Grundrechte, behalten wir uns
das Recht vor, europäisches Recht als mit unseren nationalen Verfassungen
unvereinbar zu erklären und zu verwerfen.5
Der Gerichtshof in Luxemburg nahm sich rasch dieser Thematik an. Um die Lücke
in den Verträgen zu füllen, machte er die Grundrechte zu ungeschriebenen
allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts, wobei er sich von den
Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten und von der Europäischen
Menschenrechtskonvention leiten ließ. Auf diese Art und Weise fanden die
einzelnen Grundrechte nach und nach Eingang in die Rechtsordnung der
Europäischen Gemeinschaften. Mit der 2000 konzipierten und 2007 aktualisierten
Grundrechtecharta wurde die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur
Grundrechtsthematik auf moderne Weise bekräftigt und kodifiziert.
5
Siehe insbesondere den Solange-I-Beschluss des deutschen Bundesverfassungsgerichts,
BVerfGE 37, 271: „Solange der Integrationsprozess der Gemeinschaft nicht so weit
fortgeschritten ist, dass das Gemeinschaftsrecht auch einen von einem Parlament
beschlossenen und in Geltung stehenden formulierten Grundrechtskatalog enthält, der dem
Grundrechtskatalog des Grundgesetzes adäquat ist, ist nach Einholung der in Art. 234 EG
geforderten Entscheidung des EuGH die Vorlage eines Gerichtes der Bundesrepublik
Deutschland an das BVerfG im Normenkontrollverfahren zulässig und geboten, wenn das
Gericht die für es entscheidungserhebliche Vorschrift des Gemeinschaftsrechts in der vom
EuGH gegebenen Auslegung für unanwendbar hält, weil und soweit sie mit einem der
Grundrechte des Grundgesetzes kollidiert.“
9
Wie die Geschichte schön veranschaulicht, waren die Grundrechte auf EU-Ebene
ursprünglich nicht dazu entwickelt worden, um sie auf die Maßnahmen nationaler
Behörden anzuwenden. Sie sollten vielmehr sicherstellen, dass die neu
geschaffenen EU-Organe die Grundrechte genauso wahren, wie die nationalen
Behörden dies auf nationaler Ebene tun. Die EU-Grundrechte wurden somit in
erster Linie geschaffen, um die neuen supranationalen Befugnisse der EUOrgane zu regulieren. Sie sollten die nationalen Grundrechte ergänzen, nicht
ersetzen.
Geltungsbereich der Charta
Der Geltungsbereich der Charta wurde somit absichtlich beschränkt. In Artikel 51
Absatz 1 der Charta heißt es im ersten Satz ausdrücklich: „Diese Charta gilt für die
Organe und Einrichtungen der Union unter Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips
[..].“ Angesichts der Vorgeschichte ist dies logisch. Die Charta richtet sich in erster
Linie an die EU-Organe selbst, da sie nicht an die nationalen
Grundrechtsbestimmungen gebunden sind.
In Artikel 51 Absatz 1 der Charta heißt es weiter: „[Die Charta gilt] für die
Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union.“ Dieser
Wortlaut ist sehr restriktiv. Die Mitgliedstaaten sind nur durch die Charta gebunden,
wenn sie anstelle der Union handeln, z. B. bei der Ausführung eines EUBeschlusses, der Anwendung einer EU-Verordnung auf nationaler Ebene oder der
Durchführung einer EU-Richtlinie. Handeln die Mitgliedstaaten auf eigene Initiative,
besteht keine Veranlassung, sie der Charta zu unterwerfen, da in diesen Fällen die
nationalen Grundrechtsbestimmungen Anwendung finden.
Der Wortlaut ist sogar noch restriktiver als die Rechtsprechung des Gerichtshofs in
der Vergangenheit. Der Gerichtshof kam zu dem Schluss, dass nationale Behörden
an nationales Recht gebunden sind, wenn sie „im Geltungsbereich des
Unionsrechts“ tätig werden. Die Frage, ob der Wortlaut von Artikel 51 der Charta
diese Rechtsprechung tatsächlich einschränkt, überlasse ich Ihren heutigen
fachlichen Diskussionen. Ich persönlich gehe davon aus, dass der Gerichtshof eine
solch einschränkende Wirkung nicht einfach in Kauf nehmen würde, auch wenn die
Verfasser der Charta dies eindeutig bezweckten.
Ob wir Artikel 51 der Charta nun weiter oder enger auslegen – der Grundsatz bleibt
derselbe: Die Charta gilt in erster Linie für die EU-Organe und ihre Maßnahmen. Sie
ersetzt nationale Verfassungen nicht, sondern ergänzt sie lediglich. Die Bürger
müssen sich daher an die Tatsache gewöhnen, dass der Grundrechtsschutz nach
einem zweistufigen System erfolgt: dem nationalen Grundrechtssystem, das ihre
Rechte normalerweise schützt, und der EU-Grundrechtecharta, die nur dann ins
Spiel kommt, wenn es sich um Maßnahmen eines EU-Organs handelt. Auf die
Europäische Menschenrechtskonvention möchte ich an dieser Stelle nicht eingehen
– sie könnte als dritte Stufe dieses Systems betrachtet werden, die dann zum Zuge
kommt, wenn mögliche Rechtsbehelfe in einem der beiden anderen Systeme
ausgeschöpft wurden.
In den vergangenen beiden Jahren wurde die Komplexität dieses zweistufigen
Grundrechtssystems in zwei bedeutenden Rechtssachen verdeutlicht.
10
Zunächst die Ausweisung von Roma – meist rumänischer und bulgarischer
Staatsbürgerschaft – aus dem französischen Staatsgebiet im Sommer 2010. In
diesem Fall konnte sich die Europäische Kommission auf Grundlage des EURechts einschalten, da die Ausweisung von EU-Bürgern aus dem Gebiet eines
Mitgliedstaates in den Geltungsbereich der EU-Freizügigkeitsrichtlinie von 2004
fällt. Wir konnten also auf die Umsetzung dieser Richtlinie durch die französischen
Behörden dringen; der EU-Grundrechtecharta musste Folge geleistet werden,
einschließlich Artikel 19, der Kollektivausweisungen untersagt. Die Kommission
konnte daher ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten; Frankreich änderte
daraufhin seine nationalen Gesetze, um sicherzustellen, dass alle materiell- und
verfahrensrechtlichen Garantien der Freizügigkeitsrichtlinie in das französische
Recht übernommen wurden.
Wogegen wir in diesem Fall rechtlich nicht vorgehen konnten, war die erzwungene
Auflösung mehrerer Roma-Siedlungen in Frankreich, da hierzu keine EURechtsvorschriften existieren. Für diese Thematik waren die nationalen
französischen Gerichte zuständig. Im März 2011 wertete der französische
Verfassungsrat (Conseil Constitutionnel) die Vorgehensweise der französischen
Behörden als Verstoß gegen die französische Verfassung. Dieser Fall ist ein
anschauliches Beispiel dafür, wie nationale Grundrechtsbestimmungen und
die EU-Charta einander ergänzen.
Im zweiten Fall ging es um Ungarn. In den vergangenen Jahren hat das Land
verschiedene Gesetze verabschiedet, die aus grundrechtlicher Sicht erhebliche
Bedenken auslösten und auch vom Europarat geprüft wurden. Dazu zählten u.a. die
sogenannten Grundlagengesetze, die unmittelbar aufgrund der Verfassung
erlassen wurden. Gemäß Artikel 51 der Charta musste die Kommission ihre
rechtliche Analyse auf die Sachverhalte beschränken, bei denen es einen klaren
Bezug zum EU-Recht gab.
Die Kommission konnte im Wege eines am 17. Januar 2012 eingeleiteten
Vertragsverletzungsverfahrens einen Eingriff in die Unabhängigkeit der
ungarischen Datenschutzbehörde unterbinden, da die Datenschutzrichtlinie von
1995 die „völlige Unabhängigkeit“ der nationalen Datenschutzbehörden vorschreibt
– ein Grundsatz, der in Artikel 16 AEUV sowie in Artikel 8 der Charta ausdrücklich
anerkannt wird.
In einem zweiten Vertragsverletzungsverfahren konnte die Kommission dagegen
vorgehen, dass in Ungarn rund 236 Richter und Staatsanwälte vorzeitig in
Pension geschickt wurden, da das vorgeschriebene Rentenalter für diese
Berufsgruppe plötzlich von 70 auf 62 Jahre herabgesetzt worden war. Tätig werden
konnte die Kommission aufgrund der Richtlinie 2000/78/EG zur Gleichbehandlung
in Beschäftigung und Beruf, die eine Diskriminierung aufgrund des Alters untersagt.
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs fällt die Herabsetzung des Rentenalters
für eine bestimmte Berufsgruppe, ohne dass hierfür eine objektive Begründung
vorliegt, auch unter diesen Grundsatz. Dieser Fall trägt somit zur Umsetzung des in
Artikel 21 der Charta festgeschriebenen allgemeinen Diskriminierungsverbots bei,
das auch die Diskriminierung aufgrund des Alters untersagt.
11
Im dritten Fall ging es um das ungarische Mediengesetz, gegen das insbesondere
aufgrund der mangelnden Unabhängigkeit der neuen ungarischen Medienbehörde
von der Regierung ernsthafte Bedenken bestanden. Die Kommission war hier mit
der rechtlichen Situation konfrontiert, dass die EU in Medienangelegenheiten nur
sehr eingeschränkte Befugnisse hat. Presse und Rundfunk fallen praktisch nicht in
den Geltungsbereich der EU-Verträge, wie auch die meisten Medieninhalte. Die
Richtlinie
über
audiovisuelle
Mediendienste
umfasst
nur
gewisse
Mindestregelungen für die Erbringung solcher Dienste im grenzüberschreitenden
Kontext, jedoch sind die einzelnen Mitgliedstaaten rechtlich nicht verpflichtet, eine
unabhängige Medienaufsicht einzurichten. Auf meine Initiative hat die Kommission
2005 eine solche Vorschrift vorgeschlagen. Jedoch unterstützten nur Lettland, die
Niederlande und das Vereinigte Königreich meinen Vorschlag, alle anderen
Mitgliedstaaten lehnten ihn als unzulässige Einmischung in ihre nationalen
Vorrechte ab. Die Kommission konnte daher nur darauf dringen, dass das
ungarische Medienrecht in Bezug auf audiovisuelle Mediendienstleistungen
geringfügig geändert wurde. Im Kern der Sache jedoch, der Unabhängigkeit der
Medienbehörde und ihrer Rolle gegenüber den Printmedien, hatte die Kommission
keine Befugnisse. In Artikel 11 der Charta sind zwar die Freiheit der
Meinungsäußerung, die Informationsfreiheit und die Freiheit der Medien verbrieft,
jedoch gilt dies gemäß Artikel 51 der Charta nur für nationale Beschlüsse, mit
denen die Mitgliedstaaten EU-Recht umsetzen. Dies war bei den meisten Artikeln
des ungarischen Mediengesetzes nicht der Fall.
Man könnte nun argumentieren, dass auch in diesem Fall die EU-Charta und die
nationalen Grundrechte einander in gewisser Weise ergänzten, da das ungarische
Verfassungsgericht am 19. Dezember 2011 befand, gewisse Bestimmungen des
ungarischen Mediengesetzes würden die Freiheit der Printmedien auf
verfassungswidrige Weise einschränken. Dennoch waren nicht alle Beobachter
dieses Falls davon überzeugt, dass das Problem damit aus der Welt geschafft war
und die Freiheit der Medien auch weiterhin in vollem Umfang gewährleistet ist. Ich
selbst bin von einer solchen gegenseitigen Ergänzung erst dann überzeugt, wenn
zweifelsfrei feststeht, dass die ungarische Justiz nach den jüngsten
Verfassungsänderungen völlig unabhängig ist und dies auch bleibt. Die Kommission
wird die Angelegenheit weiterhin aufmerksam verfolgen.
Hin zu einer Europäischen Politischen Union mit föderaler
Grundrechtecharta?
In der Fachliteratur findet man eine Reihe innovativer Vorschläge, wie Brüssel
Fällen wie dem ungarischen Mediengesetz wirksamer begegnen kann. Ich verweise
insbesondere auf den Vorschlag von Armin von Bogdandy und seinen Kollegen,
eine Art „EU-Rettungsschirm” für Grundrechte zu entwickeln. Letztendlich soll mit all
diesen Vorschlägen sichergestellt werden, dass die Charta in den einzelnen
Mitgliedstaaten als „ius commune” angewandt werden kann – auch auf
innerstaatliche Angelegenheiten. Die Beteiligung eines EU-Bürgers als solche sollte
ausreichen, um die Charta ins Spiel zu bringen.
Solch innovativen Lösungen stehe ich durchaus positiv gegenüber. Dennoch sind
sie nach dem derzeitigen primären Unionsrecht nur schwer mit dem Wortlaut und
dem Geist der Verträge zu vereinbaren. Ich kann die Enttäuschung einiger darüber
nachvollziehen, dass die heutige Europäische Union kein europäischer Föderalstaat
ist. Jedoch können wir diese Tatsache nicht durch innovative Auslegungen allein
ändern – und sollten dies meiner Ansicht nach auch nicht.
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Die Europäische Kommission ist derzeit sicher nicht dafür gerüstet, sich als
„Superpolizei für Grundrechte“ allen Grundrechtsangelegenheiten in Europa
anzunehmen. In der Generaldirektion Justiz der Kommission sind nur rund zwölf
Beamte für Grundrechtsfragen zuständig, was kaum ausreicht, um die Erwartungen
von 500 Millionen Bürgern zu erfüllen.
Ich möchte auch eine Parallele zu den Vereinigten Staaten von Amerika ziehen, die
seit 1787 ein Bundesstaat sind. Es ist durchaus bemerkenswert, dass die USVerfassung von ihren Gründungsvätern ursprünglich ohne Grundrechtecharta
konzipiert wurde. Die damaligen „Föderalisten“ sahen nicht die Notwendigkeit einer
föderalen Grundrechtecharta, da die einzelnen Gründungsstaaten bereits selbst
über eine solche Charta verfügten. Es waren eher die Föderalismusgegner, die auf
eine Grundrechtecharta drängten, denn sie standen potenziellen Eingriffen durch
die neue föderale Regierung sehr skeptisch gegenüber. Diesen Zwiespalt erkennt
man gut an der intensiven Debatte zwischen James Madison – ursprünglich Gegner
der föderalen Grundrechtecharta – und James Monroe, der sich für eine
Grundrechtecharta einsetzte, um insbesondere die föderale Steuerhoheit zu
begrenzen. Die „Bill of Rights“ wurde der US-Verfassung schließlich in Form von
zehn Zusatzartikeln angefügt.
Die „Bill of Rights“ diente in erster Linie dazu, die Zuständigkeiten der neuen
föderalen Regierung zu beschneiden. Dementsprechend fand sie ursprünglich
ausschließlich auf die föderale Regierung Anwendung. Es bestand damals keine
Notwendigkeit, sie auf die US-Staaten anzuwenden, da deren jeweilige Verfassung
eine eigene Grundrechtecharta enthielt.
Es brauchte 100 Jahre und, nicht zu vergessen, einen blutigen Bürgerkrieg, bis sich
diese Rechtslage mit Aufnahme des 14. Zusatzartikels in die US-Verfassung – der
Klausel über das ordentliche Gerichtsverfahren – änderte. Erst seitdem findet die
„Bill of Rights“ nicht nur auf föderaler Ebene, sondern aufgrund der „doctrine of
incorporation“ auch auf die einzelnen Staaten Anwendung.
Allen, die in puncto Grundrechte mit dem derzeitigen Stand des Unionsrechts nicht
zufrieden sind, sei Folgendes gesagt: Haben Sie Geduld. Die Charta ist erst seit
zwei Jahren in Kraft! Mit der Zeit wird sie sich mit Sicherheit im spezifischen Kontext
einer Europäischen Union weiterentwickeln, in der sowohl auf nationaler als auch
mittlerweile auf EU-Ebene historisch gewachsene Grundrechtssysteme existieren.
Es gibt in der EU einige vielversprechende Entwicklungen, die zu einer allmählichen
Veränderung führen könnten. Hierbei denke ich insbesondere an das Urteil des
österreichischen Verfassungsgerichts vom 14. März dieses Jahres. Darin erklärt
das Gericht, dass es die Grundrechtecharta – wie bereits die Europäische
Menschenrechtskonvention – von nun an als integralen Bestandteil der
österreichischen Verfassung betrachten werde. Dies ist eine sehr erfreuliche
Entwicklung. Die österreichischen Bürger können sich nun bei Fällen mit EU-Bezug
direkt auf die österreichische Verfassung und somit auf die Charta berufen.
Gleichzeitig stellte das österreichische Verfassungsgericht klar, es werde alle
relevanten Fragen zur Charta im Vorabentscheidungsverfahren an den Gerichtshof
in Luxemburg verweisen. Ich hoffe, dieses „österreichische Modell der
Einbeziehung der Charta“ wird auch anderen Verfassungsgerichten als Vorbild
dienen, da es eine wirksame dezentrale Anwendung der Charta innerhalb der
nationalen Verfassungsordnungen ermöglicht. Europa und seine Bürger können
von einem solchen Ansatz nur profitieren.
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Exzellenzen,
meine Damen und Herren,
bei einem informellen Abendessen vergangene Woche in Brüssel haben die Staatsund Regierungschefs der 27 EU-Mitgliedstaaten die derzeitige Situation Europas
näher analysiert. Sie waren sich darin einig, dass Europa die Krise nur bewältigen
kann, wenn es entschlossen unter Beweis stellt, dass der Euro unumkehrbar und
stabil ist. Eine kleine Arbeitsgruppe aus den Präsidenten des Europäischen Rates,
der Europäischen Kommission, der Eurogruppe und der Europäischen Zentralbank
hat den Auftrag, bis Juni einen Fahrplan und einen Zeitplan für die Beschlüsse
auszuarbeiten, die uns den Übergang zu einer neuen Phase der Wirtschafts- und
Währungsunion ermöglichen sollen. Eines Tages könnten so eine einheitliche
europäische Finanzaufsicht, ein europäisches Bankenrestrukturierungssystem und
gegebenenfalls die gemeinsame Ausgabe staatlicher Schuldtitel in einer
Fiskalunion entstehen.
Wie die Europäische Kommission am Mittwoch erläuterte, muss dies langfristig
auch einen „politischen Prozess umfassen, um weitere Integrationsschritte
demokratisch zu legitimieren und zu rechtfertigen“. Ich denke, dass die
Grundrechtecharta in genau diesem langfristigen Kontext fortentwickelt werden
könnte.
Ist Europa schon reif für eine föderale Lösung nach dem Muster des
14. Zusatzartikels zur US-Verfassung?
Oder sollten wir eher auf einen dezentralen Ansatz vertrauen, bei dem die Charta
ähnlich wie durch das österreichische Verfassungsgericht angewandt wird?
Ich bitte Sie alle, sich aktiv in die heutige Debatte um die politische Union Europas
und die Zukunft der EU-Grundrechtecharta einzubringen.
Denn ich bin davon überzeugt, dass die Europäische Union gestärkt aus der Krise
hervorgehen wird: Als stärkere Wirtschafts- und Währungsunion. Als echte
politische Union. Als eine Union, die im Dienste ihrer Bürger steht und die die
Grundrechte der Bürger noch stärker in den Mittelpunkt all ihrer Aktivitäten rückt.
Ich danke Ihnen für Ihre wertvollen Beiträge zu dieser wichtigen Debatte und
wünsche Ihnen allen eine fruchtbare und inspirierende Diskussion.
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