Autobiografie von Walter H Less (Juni 2011)

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AUTOBIOGRAFIE VON WALTER H. LESS (1917 – 2001)
AUFGEWACHSEN IN LÜNEBURG, DEUTSCHLAND
aus dem Englischen übersetzt
von der 9fl1 Bili-Klasse (2011)
Als ich ein kleiner Junge war, hingen zwei Portraits an einer besonderen Stelle in
unserem Wohnzimmer. Das eine zeigte meinen Großvater väterlicherseits, einen starken,
imposanten Mann, und meine Großmutter, eine ziemlich dünne, gebrechliche Gestalt. Zu der
Zeit, als mein Vater jung war, besaßen sie ein Wirtshaus in Bislupitz in der Gegend von
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Thorn, das sich in dem Teil von Westpreußen befand, der damals zu Deutschland gehörte und
heute ein Teil von Polen ist. Das Wirtshaus war ein Ort, an dem Bauern aus der umliegenden
Umgebung mit ihren Kutschen und Wagen Halt machten, wenn sie auf dem Weg zur Stadt
von Thorn waren, wo sie ihre landwirtschaftlichen Produkte auf dem Marktplatz verkauften.
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Als mein Vater gerade sechs Jahre alt war, starb meine Großmutter Rosalie, die immer
schon kränklich gewesen war, plötzlich und ließ meinen Großvater mit vier Kindern zurück.
Adela, die älteste, mein Vater Louis, der später seinen zweiten Vornamen Leopold annahm,
Jakob und Heinrich. An Adela und Jakob erinnere ich mich ziemlich gut, da sie uns
manchmal besuchten. Heinrich, allerdings, konvertierte zum Christentum, kappte alle
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Beziehungen zu seinen Schwestern und Brüdern und traf meinen Vater nur einmal nach
vielen Jahren wieder. Ein paar Jahren später heiratete mein Großvater erneut, aber als mein
Vater gerade mal zwölf Jahre alt war, trat ein Ackergaul meinem Großvater in den Magen. Er
starb schließlich an den Folgen des Tritts. Später heiratete seine zweite Frau erneut. Trotzdem
sprach mein Vater immer liebevoll von seiner Stiefmutter und blieb viele Jahre mit ihr in
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Kontakt.
Als mein Vater vierzehn Jahre alt war, verließ er - wie es Brauch war – sein Zuhause
und wurde Lehrling im Verkauf in einem Kleidungsgeschäfts in der Nähe. Zu der Zeit war es
für einen jungen Mann zwingend erforderlich, drei Jahre lang in Lehre zu gehen, danach
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musste man vor einer Prüfungskommission beweisen, dass man sein Fach beherrschte, und
erst dann war man ein offizieller Fachverkäufer. Nach dem Abschluss seiner Lehre arbeitete
mein Vater als Verkäufer in unterschiedlichen Läden in ganz Deutschland und übernahm
immer mehr Verantwortung, bis er der Geschäftsführer von einem Geschäft in Lüneburg
wurde.
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Ich kann mich noch sehr gut an die Familie meiner Mutter erinnern. Sie lebte in
Rostock, ungefähr 160 Kilometer von Lüneburg entfernt und wir besuchten sie regelmäßig.
Mein Großvater, Leopold Ahronheim, hatte in der Textilbranche Karriere gemacht, bis ihn die
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Heiratsmitgift schließlich in die Lage versetzte, einen Laden in Rostock zu eröffnen. Er war
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sehr erfolgreich, bis zwei große nationale Geschäftsketten große Kaufhäuser in der Stadt eröffneten. Da entschied er sich in einem recht jungen Alter, sich zur Ruhe zu setzen und sein
Gebäude zu vermieten, anstatt gegen diese starke Konkurrenz anzukämpfen. Meine
Großmutter war eine geborene Bonheim, eine sehr reiche deutsche Bankiers-Familie.
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In den 1870er-Jahren schickten die Bonheims ihre beiden Söhne Albert und Edward in
die Vereinigten Staaten. Sie ließen sich in Sacramento in Kalifornien nieder und mit ihrem
Geld konnten sie Partner des dort ansässigen Weinstock-Kaufhauses werden. Es existiert noch
heute, obgleich es zu einer großen nationalen Kaufhauskette gehört und jetzt viele Filialen
rund um Kaliforniens Central Valley hat.
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Kalifornien fing grade erst an zu wachsen und zu gedeihen. Ihr Geschäft wuchs
ebenfalls und die zwei Brüder wurden schließlich Millionäre. Albert, dessen Sohn ziemlich
jung gestorben war, überließ sein Vermögen der Universität von Kalifornien, wo es immer
noch das Albert Bonheim Stipendium für begabte Schüler gibt. Edward, der zwei Söhne hatte,
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vermachte ihnen sein Vermögen und sie wurden beide erfolgreiche Viehzüchter in der Nähe
von Paso Robles in Kalifornien.
Leopold und Ida Ahronheim hatten vier Kinder: Rosa, die Älteste, Ulrich, meine
Mutter Anna, Edith und Karl. Rosa starb kurz nach ihrer Hochzeit. Ich habe sie nie
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kennengelernt. Ulrich, welcher öfter in dieser Geschichte auftauchen wird, wanderte in den
frühen 1890er-Jahren nach Amerika aus, um den Wehrdienst in Deutschland zu vermeiden. Er
wurde unter die Fittiche seines Onkels Albert genommen, der gerade seinen Sohn verloren
hatte, um für den Einkauf der Weinstock-Filiale zu arbeiten. Edith heiratete Henry Liepmann,
der denselben Berufsweg wie mein Vater eingeschlagen hatte. Dann eröffnete er ein
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Bekleidungsgeschäft in Geestemünde. Durch ihn lernte Karl Henrys Schwester Grete kennen.
Sie heirateten und eröffneten einen Porzellanladen in der gleichen Stadt.
Sobald mein Vater Geschäftsführer des Ladens in Lüneburg geworden war, fing er
natürlich an, über Heirat und Familie nachzudenken. Zu dieser Zeit heirateten wenige Paare
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aus Liebe; eher wurden Ehen von einem oder beiden Eltern der jungen Männer und Frauen
arrangiert, insbesondere in jüdischen Kreisen. So traf es sich gut, dass meine Großeltern
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gerade nach einem geeigneten Ehemann für ihre Tochter Anna suchten. Über reisende
Handelsvertreter, welche beide Geschäfte kannten, hörten sie von diesem jungen
Geschäftsführer in Lüneburg, welcher ziemlich erfolgreich zu sein schien und im richtigen
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Alter war. Ich weiß nicht, wie genau sie einander vorgestellt wurden, aber offenkundig
verlobten sich Leopold und Anna nach einigen Treffen im Haus meiner Großeltern, heirateten
und ließen sich in Lüneburg nieder. Wie es der Zufall wollte, gehörte der Laden meines
Vaters zu einer Geschäftskette, dessen Besitzer kurz nach der Heirat von Anna und Leopold
gestorben war. Nach dem Tod ihres Ehemannes war die Witwe sehr darum bemüht, diese
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Läden zu verkaufen. Mit dem Geld, das er zurückgelegt hatte und entweder mit der Mitgift
meiner Mutter oder einem Darlehen meiner Großeltern, war er in der Lage, den Laden zu
kaufen und benannte den Namen des Ladens in ‚Leopold Less‘ um.
Es war kein besonders großer Laden und es gab einige andere Geschäfte, die mit dem
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meines Vaters konkurrierten. Und dennoch hielt er sich gut. Er warf immer Profit ab, selbst
während der Inflation und der Wirtschaftskrise. Wir führten ein bescheidenes, aber
angenehmes Leben. In unserem Geschäft arbeiteten vier Verkäuferinnen und zwei Lehrlinge.
Zu Weihnachten und den zweiwöchigen Verkaufsmessen stellte mein Vater weitere
kompetente Aushilfe ein, um die zusätzlichen Geschäfte abzuwickeln. Sein Hauptgeschäft
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umfasste Arbeitskleidung, landwirtschaftliche Produkte, Wolle, Unterwäsche und andere
Stapelware. Obwohl viele Städter seine Kunden waren, bestand das Rückgrat seines
Geschäfts aus Bauern und deren Ehefrauen, die mittwochs und samstags in die Stadt kamen,
ihre Stände auf dem Marktplatz aufbauten und ihre Erzeugnisse und Geflügel anboten. Auch
Tauschhandel wurde manchmal betrieben, meistens mit Geflügel, und ich kann mich an zwei
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oder drei Gänse erinnern, die hinten aus unseren Fenstern hingen und darauf warteten,
gekocht und gegessen zu werden. Ich kann mich auch an die Zeit erinnern, als der Laden noch
von Gaslicht erleuchtet wurde und elektrische Geräte installiert wurden. Ebenso, wie der
große Kachelofen durch eine Zentralheizung ersetzt wurde. Bevor Wähltelefone eingeführt
wurden und Telefonisten die Verbindungen herstellten, war unsere Nummer #82, eine der
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ersten in der Stadt.
Mein Bruder Ernst und seine Schwester Käthe wurden 1905 und 1907 geboren und
meine Eltern waren schon zweimal umgezogen, bevor sie sich niederließen, kurz bevor ich in
einer schönen Wohnung, einen halben Straßenzug vom Laden entfernt, geboren wurde. 1914
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brach der Erste Weltkrieg aus; mein Vater wurde einberufen und überließ es meiner Mutter,
den Laden zu führen. Natürlich waren da auch noch die Kinder, um die sie sich kümmern
musste, aber sie hatte ein Dienstmädchen, das sich um die Hausarbeit, die Wäsche und das
Kochen kümmerte. Mein Vater wurde der Sanitätstruppe zugeteilt und verbrachte die meiste
Zeit in der Armee damit, Verletzte zu transportieren, sowohl an der Ost- wie auch an der
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Westfront. Er wurde nie verwundet, 1918 zur Reserve beordert und dort als Wächter eines
Kriegsgefangenenlagers eingesetzt. Leider entkamen kurz vor Ende des Krieges einige
Häftlinge, während er Dienst tat. Er wurde von einem Militärgericht verurteilt, saß aber nur
wenige Wochen ein, da die Regierung des Kaisers gestürzt wurde. Dann kam das Ende des
Krieges und brachte eine Generalamnestie. Er kam nach Hause und übernahm wieder die
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Geschäftsführung.
Zu dieser Zeit hatte Lüneburg etwa 30 000 Einwohner. Es war schon eine Siedlung,
als die Römer Lüneburg im 9. Jahrhundert entdeckten und es wurde immer wichtiger
aufgrund einer Salzquelle am Rande der Stadt. Salz war zu der Zeit ein sehr wichtiges Gut, da
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es genutzt wurde, um Fleisch länger haltbar zu machen und überall auf der damals bekannten
Welt wurde mit Lüneburger Salz gehandelt. Zudem gab es dort eine sehr bedeutende Brücke
über den Fluss in der Stadt und einen sehr hohen Berg, auf dem im Mittelalter eine Festung
errichtet wurde. Ein Teil des Stadtwappens waren die drei Worte: „Mons, Fons, Pons“,
lateinisch für Berg, Quelle und Brücke. Im Mittelalter wuchs Lüneburg und wurde ein
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Mitglied der Hanse und noch heute gibt es sehr imposante Gebäude, welche früher von
wohlhabenden Kaufleuten errichtet wurden.
Die Salzquelle wird mittlerweile nicht mehr genutzt, jedoch ist Lüneburg heute ein bedeutendes Verwaltungszentrum und ist auch ein wichtiger Armeestützpunkt. Es ist eine sehr
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schöne Stadt mit vielen Parks, ein Kurort mit Salzwasser- und Schlammbad und hat einen
durch das Stadtzentrum fließenden Fluss. Das (Real-)Gymnasium, auf welches nur Jungen
von einflussreichen Eltern gingen, hatte ein hohes Niveau und stellte große Erwartungen an
die Schüler. Jeder Schüler trug immer eine Schulkappe, dessen Farbe sich änderte, wenn man
in eine höhere Klasse kam. Um die Stadt herum gab es tiefe Wälder und die Lüneburger
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Heide, welche vor allem in ihrer Blütezeit eine bekannte Touristenattraktion in ganz Europa
ist. Wenn da nicht die Hitler-Revolution gewesen wäre, hätte ich dort sicher mein Leben lang
glücklich leben können.
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Ich wurde 1917 geboren, inmitten des 1. Weltkriegs. Mein Vater erzählte gern die
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Geschichte, dass er mich während eines Fronturlaubs in seinem Rucksack mit nach Hause
gebracht hatte, doch heute glaube ich diese Geschichte nicht mehr (!) Meine frühesten
Erinnerungen sind, dass ich in einem Sandkasten in einem Park gespielt habe und dass ich, als
wir in Berlin meine Tante Adela besuchten, eine U-Bahn sah und nicht verstand, wie ein Zug
ohne Lokomotive fahren konnte. Die nächste Erinnerung betrifft meinen ersten Schultag.
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Ausnahmsweise hatte mein Vater mich begleitet. Doch während der Willkommenszeremonie
merkte er, dass er die Schlüssel seines Geschäfts dabei hatte, dieses jedoch längst geöffnet
sein sollte. So ließ er mich allein, einen kleinen, weinenden Jungen, der von Fremden
getröstet werden musste, bis er 10 Minuten später wieder kam.
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Nach vier Jahren Grundschule ging ich in das örtliche Gymnasium, wo ich es immer
schaffte, zu den besten 10% zu gehören und tatsächlich habe ich die Schule genossen. Ich
hatte einen Freundeskreis und obwohl alle meine Freunde in den Randgebieten der Stadt
lebten und wir, wenn wir dort waren, auf den Feldern spielten, kamen sie doch sehr gerne zu
mir, um im halbleeren Warenhaus meines Vaters zu spielen. Ich kann ihn immer noch rufen
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hören: „Keine Streichhölzer!“. Und so lebte ich bis zum Ende der neunten Klasse (1930) das
Leben eines normalen Schuljungen.
Doch dann zogen dunkle Wolken auf. Häufig musste ich mir antijüdische
Bemerkungen anhören; bestimmte Schulklubs machten mir deutlich, dass sie mich nicht als
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Mitglied haben wollten; und sogar einige meiner sogenannten Freunde wollten nichts mehr
mit mir zu tun haben. Während der nächsten zwei Jahre verschlimmerte sich die Situation
allmählich, bis ich schließlich außerhalb der Schulzeit gar keinen Kontakt mehr zu meinen
Mitschülern hatte, und da ich der einzige Jude an der Schule war, musste ich lernen, mich
selbst zu beschäftigen. Jedoch gab es, von einer kleinen Rangelei abgesehen, keine Gewalt,
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was ein Glück für mich war, wie ich später, als ich schon in Amerika angekommen war, von
anderen jüdischen Kindern hörte, die regelmäßig geschlagen und in einem Fall sogar aus dem
Fenster geworfen wurden.
Einige kurze Bemerkungen zu der Besonderheit der jüdischen Gemeinde Lüneburgs.
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Es gab drei klar getrennte Schichten: eine Minderheit von reichen Bankern, Juristen und
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Geschäftsleuten, die seit mehreren Generationen in dieser Stadt lebten; eine zweite Schicht
von Leuten aus der Mittelklasse, die, wie mein Vater im frühen 20. Jahrhundert, nach
Lüneburg gekommen waren; und dann noch die Mehrheit von Juden, welche die Bereiche
Deutschlands verlassen hatten, die 1920 von Polen übernommen wurden. Sie brachten die
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orthodox- jüdischen Ansichten mit, die in den Ghettos im Osten ihren Lebensstil geprägt
hatten. Traurig war, dass es außer bei Treffen in der Synagoge zu religiösen Anlässen keinen
Kontakt zwischen den verschiedenen Schichten gab. Wie auch immer: Jede Schicht schaute
auf die andere herab und lebte vollkommen getrennt von den anderen. In meinem Kreis gab es
nur ein Mädchen in meinem Alter und darum war ich als Junge gänzlich abhängig von
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Nichtjuden als Freunden. Kurz bevor ich ging, als alle Türen für uns verschlossen blieben,
gab es tatsächlich ein Zusammentreffen, aber ich ging, bevor starke Bande geknüpft werden
konnten.
Während der gesamten späten 1920er und frühen 1930er Jahre fanden in Lüneburg
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politische Demonstrationen statt, welche üblicherweise mit paramilitärischen Märschen durch
die Innenstadt begannen. Zu den Demonstranten gehörten Kommunisten, Sozialisten,
Monarchisten, und natürlich die Nationalsozialisten mit ihren SA- und SS-Abteilungen. Sie
marschierten immer die Hauptstraße entlang, in der wir lebten, und brüllten von lauten
Orchestern begleitet ihre Lieder. Häufig endeten diese Märsche in Kämpfen und
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Blutvergießen, wenn eine gegnerische Gruppe versuchte, die Veranstaltung zu stören.
Nachdem die Nationalsozialisten die Kontrolle über die Regierung ergriffen hatten, war es
selbstverständlich nur noch ihnen erlaubt, diese Märsche durchzuführen. Eine ihrer
Hauptparolen war “Deutschland erwache! Tod den Juden!”. Dies zu sehen und zu hören war
beängstigend. 30 Jahre später, als ich bereits mit meiner Mutter sicher in San Francisco lebte
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und ihre geistigen Fähigkeiten begannen sie zu verlassen, würde sie noch in ihrer Verwirrung
behaupten, dass sich SA-Leute jeden Abend unter ihrem Fenster versammelten, um ihre NaziLieder zu singen.
Mittlerweile waren wir aus unserer Wohnung ausgezogen, hatten das obere Geschoss
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komplett renoviert und als Wohnräume eingerichtet, zogen dort ein und dachten, wir könnten
für immer dort leben. Die Anlage bestand aus einem vorderen Teil, gebaut im 19.
Jahrhundert, sowie einem alten Flügel aus dem 16. Jahrhundert, den Ernst für eine kurze Zeit
als Kanzlei nutzte. Des Weiteren gab es ein großes Warenhauslager im hinteren Teil. Im Jahre
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1933 wurde Hitler Reichskanzler. Mehrere Tage lang standen Mitglieder der SA vor
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jüdischen Geschäften in Deutschland und riefen: “Kauft nicht bei Juden!” Dennoch gab es
einige Leute, die immer noch in unser Geschäft gingen, nur um zu zeigen, dass sie gegen die
Nationalsozialisten waren. Im folgenden Jahr wurde der Hitler-Gruß in allen deutschen
Schulen eingeführt und ersetzte so das übliche “Guten Morgen”. Der Lehrer betrat den
Klassenraum, führte den Hitler-Gruß aus und rief “Heil Hitler”, woraufhin die Schüler an der
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Reihe waren, dasselbe zu tun. Eine Ausnahme stellten die jüdischen Schüler dar, da man der
Meinung war, dass sie es nicht ernst meinen würden. Also wurde dieses Problem gelöst,
indem alle Juden von den öffentlichen Schulen verwiesen wurden.
Während dieser Zeit gab es zwei Vorfälle, die mir in Erinnerung geblieben sind. Der
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erste war, als ich ernsthaft an Typhus erkrankte und unser Hausarzt, den wir 20 Jahre lang
gehabt hatten, es ablehnte mich zu behandeln. Glücklicherweise gab es einen alten, im
Ruhestand befindlichen jüdischen Psychiater in der Stadt, der bereit war, wieder zu
praktizieren und sich um die jüdischen Menschen in Lüneburg zu kümmern. Das andere
Ereignis war gegenteiliger Natur. Wenn die Jugendlichen um die 14 Jahre alt waren, war es
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üblich, dass sie bei einem Mann und seiner Frau Tanzstunden nahmen, zusammen mit
ungefähr 30 anderen Jungen und Mädchen. Ich war angemeldet und hatte eine Zusage
erhalten, aber als die Eltern der anderen Jugendlichen davon hörten, setzten sie den
Tanzlehrer unter Druck und forderten, dass Juden nicht am Tanzkurs teilnehmen dürften. Er
lehnte dies kategorisch ab und verlor dadurch ungefähr die Hälfte seiner Klasse, und obwohl
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meine Eltern anboten, dass ich nicht am Tanzkurs teilnehmen müsse, bestand er darauf, dass
ich blieb. Die Mädchen tanzten nur widerwillig mit mir, sodass ich mich ziemlich fehl am
Platz fühlte und froh war, als es endlich vorbei war.
So kam es, dass ich mit 15 ½ Jahren nach dem ersten Halbjahr der 10. Klasse die
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Schule verließ. Es war schon immer selbstverständlich für meine Familie gewesen, dass ich
irgendwann einmal unser Geschäft übernehmen würde. Und darum hatte mein Vater auch
schon zusammen mit einem Geschäftsfreund aus Hamburg Vorbereitungen getroffen, damit
ich meine Lehrlingsausbildung in dessen Geschäft hätte beginnen können. Doch wie auch
immer, als meine beide Eltern ängstlich auf die Zukunft junger Juden in Deutschland blickten,
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wurde beschlossen, dass es das Beste für mich sei, nach Amerika zu gehen, falls meine Tante
und mein Onkel mich aufnehmen würden. Dahinter steckte der Gedanke, dass, falls die
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Zustände hier noch verzweifelter würden, es dort für mich am sichersten wäre. Falls hier
wieder die Normalität einkehren würde, könnte ich immer noch zurückkehren und dort
anfangen, wo ich aufgehört hatte. So schickten wir einen Brief nach San Francisco und kurz
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bekamen wir die Antwort, dass ich willkommen sei.
Schließlich kam der Mai und es wurde Zeit für mich zu gehen. Viele Leute haben
mich seitdem gefragt: “Hattest du keine Angst?“ - Nein, hatte ich wirklich nicht. Ich machte
mich auf zu einem großen Abenteuer und konnte es kaum erwarten, dass es endlich los ging.
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Mit dem Zug fuhren meine Mutter und ich nach Paris, wo wir zusammen mit Käthe und Hans
eine Woche in einem Flüchtlingslager verbrachten (ein schrecklicher Ort!) und Ernst und ich
fuhren weiter nach Cherbourg, wo ich mein Schiff nach Amerika bestieg. Es war eine recht
ereignislose Fahrt. Am Morgen kamen wir in New York an, jedoch verpasste ich den Gruß
der Freiheitsstatue, da ich mit allen anderen Einwanderern im Speisesaal bleiben musste, wo
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wir von den Behörden abgefertigt wurden. Arbeitskollegen meines Onkels trafen mich im
Hafen und brachten mich ohne Verzögerung zur Grand Central Station, wo ich einen Zug
nach Chicago nahm. Dort stieg ich in einen Zug nach San Francisco, wo ich schließlich nach
einer viertägigen Reise ankam. Die meiste Zeit verbrachte ich damit, die amerikanische
Landschaft in mich aufzusaugen und hoffte, aus dem Zug heraus Büffel, Indianer und
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Cowboys zu sehen, bis ich bemerkte, dass ich dafür wohl 50 Jahre zu spät war. Meine Tante
und mein Onkel trafen mich in Oakland; wir nahmen die Fähre nach San Francisco und ich
war am Ziel. Mir wurde mein Zimmer gezeigt, welches direkt neben der Küche lag. Ich hatte
meine eigene Dusche und Toilette und begann mich einzuleben.
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Zu dieser Zeit befanden sich die U.S.A. immer noch inmitten der Großen
Wirtschaftskrise. Und trotz der Not der deutschen Juden machte es das amerikanische
Außenministerium für die Juden so schwer wie möglich, einzuwandern. Zusätzlich gab es im
Außenministerium und Konsulatswesen einen deutlichen Hang zum Antisemitismus, so dass,
obwohl alle Anforderungen von meinem Onkel und uns erfüllt worden waren, mein Einreise-
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Antrag abgelehnt wurde. Die Begründung war, dass ich wegen meiner angeblich schlechten
Augen eventuell erblinden könnte und dann nicht in der Lage wäre, mir selbständig meinen
Lebensunterhalt zu verdienen. Glücklicherweise kannte mein Onkel Senator Hiram Johnson,
den amtierenden Vorsitzenden des Senats-Ausschusses für Außenbeziehungen, persönlich.
Dieser Ausschuss überwachte das Außenministerium, und nach einem Brief, in dem er sich
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für mich einsetzte, wurde diese Entscheidung zurückgenommen. Schließlich erhielt ich im
März 1934 mein Ausreisevisum. Während der Zeit zwischen meinem Schulabgang und
meiner Ausreise arbeitete ich noch weiter fleißig im Laden meines Vaters.
Folgendes geschah mit meiner Familie, nachdem ich sie verlassen hatte. Sie
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blieb weitere sieben Jahre in Deutschland, wo die Anti-Judengesetze sie dazu zwangen, ihren
Laden zu verkaufen und ihren Besitz zu einem Spottpreis an einen Nazifunktionär abzutreten.
Der Wohnbereich wurde halbiert und der neue Besitzer richtete sich in der oberen Etage ein.
Daher wurden der Laden und das Gebäude während der grauenvollen Ereignisse in der
Reichskristallnacht nicht zerstört, wie es bei anderen jüdischen Besitztümern der Fall war.
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Später wurde eine weitere Familie dazu gezwungen, bei meinen Eltern einzuziehen, nachdem
ihr Besitz zerstört worden war. Dies führte natürlich dazu, dass die Wohnung ziemlich überfüllt war.
Während der Reichspogromnacht wurde mein Vater gefangen genommen und zu
einem Konzentrationslager gebracht, wo er für drei Monate festgehalten wurde. Die KZs
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waren zu dieser Zeit harte Arbeits- und keine Todeslager, welche sie später wurden, und da er
ein Veteran des Ersten Weltkrieges war und plante, das Land zu verlassen, wurde er
schließlich entlassen. Als er in der Nacht seiner Heimkehr an unsere Tür klopfte, erkannte ihn
meine Mutter beinahe nicht wieder. Danach blieben sie noch in ihrer Wohnung, bis sie 1941
nach Amerika aufbrachen. Niemals, wirklich niemals sprach mein Vater über die
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Geschehnisse in dem Lager! Sie hatten ihn gewarnt, dass sie ihn finden und ihn (und seine
Familie) zurückbringen würden, falls er dies täte. Und selbst später, als er sicher in den
U.S.A. lebte, hatte er Angst vor ihrem weitreichenden Einfluss.
Hans, Käthe und ihre kleine Tochter Eva verließen Deutschland im Frühjahr 1938.
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Hans war in der größten Oppositionspartei gegen die Nazis sehr aktiv gewesen, und er wusste,
dass es nur eine Frage der Zeit sein wäre, bevor sie ihn holen würden. Sie verließen das Land,
um nach Frankreich zu gehen. Frankreich erlaubte einer begrenzten Anzahl von Flüchtlingen,
das Land zu betreten, solange man versprach, nicht zu arbeiten und von eigenen Ersparnissen
zu leben.
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Weil Hans ein Arzt war, bekamen er und seine Familie einen Raum in einer
ehemaligen Kaserne des französischen Militärs. Im Gegenzug dafür behandelte er die anderen
dort einquartierten Flüchtlinge. Nur wenige Tage bevor Deutschland in Frankreich einfiel,
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bekamen sie endlich ein Visum und machten sich auf nach Amerika. Auch Ernst hielt sich für
einige Zeit in Paris auf, wo er vor seiner Emigration nach Palästina als Automechaniker
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ausgebildet werden sollte. Dies aber überstieg seine Fähigkeiten, also kehrte er nach
Lüneburg zurück und arbeitete in dem Laden meines Vaters, bevor das Geschäft den Besitzer
wechselte (Anmerkung: Es war ihm von den Nazis verboten worden, als Anwalt zu
praktizieren), dann endlich aber bekam er sein Visum für die U.S.A. und war bereits auf
hoher See, als die Reichspogromnacht stattfand und die Gestapo in ganz Lüneburg vergebens
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nach ihm suchte. Der Familie Liepmann gelang es, komplett nach Amerika auszuwandern und
sie ließ sich im Mittleren Westen nieder. Karls Kinder kamen sicher in den U.S.A an,
während die Zeit für ihn und seine Frau Grete unglücklicherweise ablief und sie in einem der
KZs umkamen. Da die Frau meines Onkels Jakob französische Staatbürgerin war, konnten
mein Onkel und sie nach Vichy-Frankreich flüchten und blieben auch nach Ende des Krieges
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dort.
1940 leistete ich den Schwur als amerikanischer Staatsbürger und setzte alle Hebel in
Bewegung, um meinen Eltern die Ausreise aus Deutschland und die Einreise in die U.S.A. zu
ermöglichen. Aufgrund der Einwanderungsbestimmungen war es U.S.-Bürgern möglich, die
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eigenen Eltern bevorzugt in die U.S.A. einreisen zu lassen. Und trotzdem dauerte es über ein
Jahr, bis der amerikanische Konsul in Hamburg die Visa beantragt und all die nötigen
Dokumente beisammen hatte, dass man ihnen erlauben konnte, Deutschland zu verlassen. Um
das zu tun, ordnete die deutsche Regierung an, dass sie ihre Reisekosten im Voraus bei dem
deutschen Konsul in New York hinterlegen und in U.S. Dollar bezahlen mussten. Des
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Weiteren waren die Kosten am Ende doppelt so hoch wie sie am Anfang sein sollten.
Natürlich hatte ich in den Jahren für diesen Moment gespart gespart, um dieses Geld parat zu
haben und obwohl Ernst und Käthe ein wenig beisteuern konnten, übernahm ich den Großteil
der Kosten.
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Im Sommer 1941 konnten meine Eltern Deutschland endlich verlassen. Nachdem sie
fast 50 Jahre dort gelebt hatten, wanderten sie aus, ohne von irgendjemandem, außer einer
Handvoll verbliebenen jüdischen Freunde, verabschiedet zu werden. Weil sich Deutschland
zu dieser Zeit schon mit Frankreich und England im Krieg befand, führte der einzige noch
offene Weg über Russland, China und Japan, wo sie schließlich an Bord eines Schiffes nach
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San Francisco gingen. Zwar dauerte die harte Reise über einen Monat und war voller
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Entbehrungen, aber trotzdem hatten sie viel Glück, da Deutschland im Herbst 1941 Russland
angriff und im Dezember der Angriff auf Pearl Harbour stattfand. Jedes dieser Ereignisse
hätte eine solche Reise später unmöglich gemacht. Nach 1941 kam die legale Auswanderung
aus Deutschland fast völlig zum Erliegen und die Konzentrationslager wurden eingeführt. Ihr
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ganzes Hab und Gut hatten meine Eltern in zwei Koffern. Ihr gesamtes Vermögen mit
Ausnahme ihres Reisegelds, welches ich ihnen geschickt hatte, war konfisziert worden. Alles,
was zurückgelassen worden war, wurde in Frachtcontainern in Rotterdam gelagert und später
bei einem Luftangriff zerstört.
Wir alle sahen das Schiff in den Hafen unter der Golden Gate Brücke einlaufen und
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fuhren zum Schiffskai, um sie willkommen zu heißen und sie zu ihrer Wohnung in die
Presidio Avenue zu bringen, welche Ernst und ich für sie gemietet hatten. Sie war klein aber
angemessen und hatte einen wunderschönen Blick auf San Francisco. Ich werde nie
vergessen, wie sich mein Vater nach kurzer Zeit dort zu mir umdrehte und fragte: „Aber sag
mir, wer lebt hier?“ Als ich ihm erzählte, dass dies sein neues Zuhause wäre, konnte er es
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nicht fassen und brach in Tränen aus. Ernst zog bei ihnen ein. Sein Lohn reichte für die Miete
und ich übernahm die übrigen Kosten. Nachdem sich meine Eltern ein wenig eingelebt hatten,
nahm meine Mutter einen Job als Babysitter an und verdiente zusätzlich etwas Geld, indem
sie für andere Leute nähte. Mein Vater ging zum Roten Kreuz, wo er Bandagen und ErsteHilfe-Päckchen für das Militär zusammenstellte. Sie gewöhnten sich beide sehr schnell an das
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Leben in Amerika. Und obwohl mein Vater es nie richtig schaffte, gutes Englisch zu
sprechen, kam er dennoch gut zurecht. Besonders die kleinen Kinder mochten ihn und folgten
ihm wie dem Rattenfänger von Hameln überall hin. Zur selben Zeit ließen sich Käthe und
Hans in New York nieder. Hans arbeitete an seiner Aufenthaltsgenehmigung, um wieder
Doktor zu werden und Kate arbeitete in einer Stofffabrik, in der sie Kleider nähte.
ENDE
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