Jörg Wollenberg „Ich kann nur bedauern, von dieser Untat nichts gehört zu haben.“ Generalfeldmarschall Wilhelm Ritter von Leeb zur Erschießung von jüdischen Frauen und Kindern Anfang Dezember 1941 in Riga. - Ein anderer Blick auf die Wehrmachtsverbrechen im Spiegel des Nürnberger Nachfolgeprozesses gegen das Oberkommando der Wehrmacht , die SüdostGeneräle und die Einsatzgruppen (1947/48) - Kommentator (Autor): Am 31. Juli 1941 beauftragte Hermann Göring den Chef der Sicherheitspolizei und des SD, Reinhard Heydrich, mit der umfassenden Vorbereitung zur „Gesamtlösung der Judenfrage“. Im Gefolge der damit einsetzenden Radikalisierungsphase der NS-Judenpolitik begannen ab Mitte Oktober 1941 die Deportationen von Juden aus dem Reichsgebiet in die Ghettos Kowno, Lodz, Minsk und Riga, ab Mitte 1942 in das Ghetto Theresienstadt. Den zur Deportation verurteilten deutschen Juden wurde die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen und ihr Vermögen beschlagnahmt. Das Finanzamt registrierte fein säuberlich die Umverteilung der Gegenstände und den Preis, den der Volksgenosse dafür zu zahlen hatte. Die Spur dieser jüdischen Mitmenschen führt in der Regel in den Tod oder sie blieben „verschollen“, landeten im Nichts. Aber der Verbleib ihrer Bettwäsche, der Teppiche, Kleiderschränke, des Küchengeschirrs oder der Klaviere wurde penibel vom Finanzamt festgehalten. Wer schlüpfte in die Leibwäsche der Familie Katz aus Lübeck? Wer tafelte von Silbergeschirr des Oberrabbiners Joseph Carlebach aus Hamburg? Wer erwarb den Besitz von Karl Löwenstein D:\75884672.doc 2 aus Elmshorn, der Familie Wallach aus Kiel oder von Max Plaut aus Hamburg? Und wer übernahm in Bielefeld den Besitz der nach Riga deportierten Familien Stein, Rosenthal, Oppenheimer oder Hauptmann? Allein 88 Deutsche jüdischen Glaubens wurden am 13.12.1941 von Bielefeld nach Riga deportiert. Einer der größten Transporte verließ Nürnberg schon am 29.11. 1941: 512 Nürnberger Juden wurden nach Jungfernhof bei Riga gebracht. Davon wurden lediglich 16 gerettet. Die SD-Hauptaußenstelle Bielefeld berichtet am 16.12.1941 über den Bielefelder „Transport“: Sprecher 2: „Abtransport von 400 Juden aus dem Regierungsbezirk Minden. Am Donnerstag, den 11.12.41 begann im hiesigen Bereich die Aktion zur Verschickung der ersten jüdischen Familien nach Riga. Gegen 10 Uhr trafen die ersten jüdischen Familien in Bielefeld ein und wurden im Kyffhäusersaal am Kesselbrink untergebracht. Nach zweitägigem Aufenthalt, der zu Durchsuchungen, Gepäckkontrolle u. dgl. benutzt wurde, ging der Transport am Samstag um 15 Uhr ab. Obwohl diese Aktion von Seiten der Staatspolizei geheim gehalten wurde, hatte sich die Tatsache der Verschickung von Juden doch in allen Bevölkerungskreisen herumgesprochen. Dementsprechend war auch eine Vielzahl von stimmungsmäßigen Äußerungen zu erfassen. Es muß festgestellt werden, daß die Aktion von dem weitaus größten Teil der Bevölkerung begrüßt wurde. Einzeläußerungen war zu entnehmen, daß man dem Führer Dank wisse, daß er uns von der Pest des jüdischen Blutes befreie. Ein Arbeiter äußerte z.B. „Das hätte man vor 50 Jahren mit den Juden machen sollen, dann hätte man weder einen Weltkrieg noch den jetzigen Krieg durchstehen brauchen.“ Erstaunen zeigte man vielfach in der Bevölkerung, daß man den Juden zum D:\75884672.doc 3 Transport nach dem Bahnhof die gut eingerichteten städt. Verkehrsautobusse zur Verfügung stellte...“ (Stadtarchiv Bielefeld, M 18, Nr. 17) Sprecher 3: „Meine Wohnung habe ich so herzurichten“, heißt es in einem Merkblatt, „daß sie bei meinem Verlassen polizeilich versiegelt werden kann. Gas-, Licht –und Wasserleitung habe ich abzustellen. Verderbliche Ware habe ich zu entfernen. Das Feuer in den Öfen muß gelöscht werden. Die Wohnung habe ich in sauberem Zustand zu hinterlassen. Die Gas- und Lichtrechnungen sind bei den städtischen Werken vorher zu begleichen. Den Hausverwalter werde ich von meiner Evakuierung verständigen.“ Sprecher 2: Dem Hausverwalter schließlich war auch der Wohnungsschlüssel abzuliefern, während die Zimmer- und Schrankschlüssel stecken bleiben sollten. Die Polizei hatte einen ersten 8-, dann 16-seitigen Fragebogen ausgegeben, der alle erdenklichen Habseligkeiten erkundete: Sprecher 3: „Besitzen Sie ein Panzerschließfach und was befindet sich darin? Welche Ansprüche stehen Ihnen aus Lizenzverträgen, Patent-, Urheber-, Marken- und Musterschutzrechten zu? Besitzen Sie Gemälde, Briefmarken-, Münzsammlungen? Wo sind diese verwahrt? Der Depotschein ist beizufügen.“ Sprecher 2: Das Wohnungsinventar ist nach Zimmern gegliedert: Schlafzimmer mit Zahl der Bettvorlegen, Brücken, Gardinen-Stores, Kopfkissen und Steppdecken usw., Küche mit Zahl der Kochtöpfe und Bügeleisen, das Wohnzimmer einschließlich Globus, Lexikon und Papierkorb. Und auch die Servietten, die Frottiertücher und Schlafanzüge mußten arisiert werden, die Schals, Krawatten und Garnituren Unterwäsche. Wurde der Jude auch als Fäkalie verladen, schlüpfte man D:\75884672.doc 4 gleichwohl behaglich in seine Leibwäsche. Ihre Umverteilung oblag einer Behörde, so kundig wie nüchtern: dem Finanzamt. Sprecher 3: Zum obersten Liquidator der Beute war der Oberfinanzpräsident von Berlin berufen, der dies Amt an die lokalen Oberfinanzdirektionen delegierte. Geschwind, um die Wohnungen freizumachen, waren die Berufsvertretungen des Spediteurgewerbes zur Verteilung der Räumungsaufträge eingeschaltet worden, während das Pfandleihgewerbe und der amtliche Versteigerer Schätzwerte bezifferten. Die Preise waren stets angemessen, der Fiskus verschleuderte nichts, eine Bereicherung der SS-Kundschaft hat kaum stattgefunden. Daran ist nichts Seltsames. Persönliche Arisierungsgewinne sind nur herausgeschlagen worden, solange Juden als Zwangsverkäufer existierten. Nach ihrer Verschleppung trat das Finanzamt als Auktionator auf, und schon die Unzahl der Interessenten an der jüdischen Hinterlassenschaft sorgte für korrekte Bezahlung. Sprecher 2: Diese Regelungen galten nach dem am 23. Oktober 1941 angeordneten Verbot der Auswanderung der Juden aus Deutschland. Ein Verbot, das mit der Ankündigung ihrer Evakuierung in die Ostgebiete verbunden war. Folgenden Text mußten so auch Juden unterschreiben, die im Dezember 1941 nach Riga deportiert wurden: Sprecher 1: „Ich, der unterzeichnende Jude, bestätige hiermit, ein Feind der Deutschen Regierung zu sein und als solcher kein Anrecht auf das von mir zurückgelassene Eigentum, auf Möbel, Wertgegenstände, Konten oder Bargeld zu haben. Meine deutsche Staatsbürgerschaft ist hiermit aufgehoben, ich bin vom 17. November 1941 an staatenlos.“ Sprecher 2: D:\75884672.doc 5 Für die Deportation war die Polizei zuständig. Diese sah sich allerdings durch eine neue Nachlaßregelung düpiert, nach der nicht die Gestapo, sondern das Finanzamt das Geschäft mit dem zurückgelassenen Eigentum der Juden abwickelte. So auch in Bremen. Das Finanzamt notierte: Sprecher 3: „Judenmöbel, gekauft im Auftrag von Opitz, Angestellter der Atlas-Werke“, für die leitenden Direktoren des Werkes und Mitglieder des Vorstandes: 19.12.1941 Dr. Daseking (Bettwäsche) 105,- RM 21.02.1942 Dr. Daseking (1 Orientteppich 2,3-3,4 m)1.450,- RM 03.03.1942 Dr. Daseking (Kristall und Glas) 65,- RM 23.04.1942 Dr. Daseking (Küchengeschirr) 110,- RM 26.06.1942 Dr. Daseking (Kleiderschrank) 120,- RM 25.02.1942 Direktor Harmsen (1 Brücke) 300,- RM 15.05.1942 Direktor Blaum (1 Flügel) 2.000,- RM Kommentator (Autor): Es muß hinzugefügt werden: Die zitierten Finanzamtsakten sind in der Regel nicht zugänglich. Sie sind verschwunden. Sie haben die Archive nur in Ausnahmefällen erreicht. Die Prominenz der Arisierungsgewinnler half dabei, diesen Vorgang nach 1945 ungeschehen zu machen, auch wenn die Gegenstände sich noch in den Wohnungen befinden (z.B. der Flügel). Ich bin D:\75884672.doc 6 durch Zufall auf diese Akte gestoßen. Sie stammt aus dem Nachlaß des ehemaligen Betriebsratsvorsitzenden der Atlas Werke zu Bremen, Johann Reiners, jenem „eisernen Metaller“ der ersten Stunde, der die Verwaltungsstelle der IG Metall in Bremen prägte und der mir seine Privatakten zur Auswertung überließ. Zurück zu den aus Bielefeld deportierten Juden: Weitere 400 Juden aus Bielefeld erlitten zwischen 1942 und 1945 das gleiche Schicksal. Sie wurden nach Theresienstadt und Auschwitz deportiert. Nur 25 von ihnen überlebten Ghetto und KZ-Aufenthalt. Auch für mindestens 95 Prozent der insgesamt 946 Juden aus Hamburg und Schleswig-Holstein, davon allein 753 aus Hamburg, 90 aus Lübeck und 54 aus Kiel, bedeutete der Transport vom 6. Dezember 1941 in Richtung „Ostland“ den Tod. Als im Dezember 1941 6-7000 Juden in 28 Transporten aus Deutschland Riga per Eisenbahn erreichten und über das Lager Skirotowa in das provisorisch eingerichtete Lager Jungfernhof (Jumpramunize) bei Riga abgeschoben wurden, waren bereits hunderttausende sowjetischer und baltischer Juden getötet worden - von der Wehrmacht und den Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD. Unmittelbar vor ihrer Ankunft in Riga fanden in Skirotowa bei Riga jene schrecklichen Ereignisse statt, die zur Ermordung von über 40.000 jüdischen Frauen und Kindern führten. Sie werden im folgenden aus der Sicht der Generäle dargestellt, die 1947/48 vor dem Militärgericht in Nürnberg von den USA-Amerikanern dazu zur Verantwortung gezogen wurden. Es kommen folgende Militärs zu Wort: der Generalmajor Walter Bruns, Leiter des „Brückenstabs Bruns“, der Generalfeldmarschall Wilhelm Ritter von Leeb, Chef der Heeresgruppe Nord, und sein Nachfolger, Feldmarschall Georg Küchler. Letzterer zeichnete auch mitverantwortlich für den Tod von D:\75884672.doc 7 Hunderttausenden an Zivilisten in Leningrad (von 4 Millionen Einwohnern dieser belagerten und ausgehungerten Stadt). Die zitierten Quellen stammen im ersten Teil aus der Handakte von Leeb, angefertigt von seinem Verteidiger Laternser, die mir Gerald Fleming (Emeritus Reader der University of Surrey und Autor des Buches über „Hitler und die Endlösung“, 1982, der als Jude 1938 aus Baden-Baden vertrieben wurde) zur Verfügung stellte und die zum Teil mit in die Akten eingegangen sind, die Jörg Friedrich (1993) erstmals systematisch durchgearbeitet und veröffentlicht hat: Der Prozeß der Vereinigten Staaten von Amerika gegen Wilhelm von Leeb und andere: OKW-Prozeß, High Command Case, Bayerisches Staatsarchiv Nürnberg, KV, Fall 12 (mit über 10.000 Seiten an Dokumenten, Zeugenverhören, Beweisverfahren, Anklageschriften, Verteidigungsdokumenten, Schlußplädoyers der Angeklagten etc.). Zu den Tötungsaktionen ist zu bemerken, daß die neuere Forschung im Begriff ist, die Zahlen der Toten zu reduzieren. Nach Einsicht der in Riga lagernden Akten der zuständigen Kommission aus der UDSSR kommen jüngere Forscher zu der Erkenntnis, daß die Zahl der Ermordeten im Ghetto von Riga weit unter 30.000 liegen (M. Vestermanis,1998,S.472-492). In den folgenden Texten gehen wir weiterhin von den Zahlen aus, die im Nürnberger Prozeß gegen das Oberkommando der Wehrmacht und gegen die Einsatzgruppen zu Grunde gelegt wurden. Gelegentlich unterbrechen wir die Lesung durch Musikbeiträge, um Zeit zum Nachdenken und zum Luftholen zu lassen. Wir greifen dabei zurück auf Komponisten, die sich immer wieder mit diesem Thema auseinander gesetzt haben: Karl Amadeus Hartmann, Hans Werner Henze und Peteris Vasks. aus Riga. Alternativ dazu bietet sich der Rückgriff auf die von Pablo Casals zwischen 1929 und 1936 eingespielte Cello-Sonaten an (CD 48030 AAD) D:\75884672.doc 8 Einspielband: K.A. Hartmann, Concerto funebre, 1. Satz, 1,34 Min. oder Felix Mendelssohn-Bartholdy, Nr 49 in D-dur, op. 109 Sprecher 1: Am 18. Dezember 1948 behandelte das Amerikanische Militärtribunal im Nürnberger Prozeß gegen das OKW einen die Wehrmacht besonders belastenden Fall: Die Erschießung von über 40.000 Juden in Riga. Zu den Ereignissen im Ghetto von Riga vom 29.11. bis 1.12.1941 und vom 8. und 9.12.1941 hatte der Generalmajor der Pioniere, Walter Bruns, Kommandeur des Brückenstabes Riga, im Kreuzverhör folgende Aussage bezeugt: Sprecher 2: „Die ganze Sache hat etwa drei Tage gedauert. Jede Stunde hat etwa 1.200 bis 1.500 Frauen und Kindern das Leben gekostet, und die Erschießung ging 10 Stunden am Tage.“ Kommentator: Frage: „Waren es lauter Frauen?“ Sprecher 2: Bruns: „Das waren nur Frauen, ja, und Kinder.“ Kommentator: Frage: „Hörten Sie von irgendwelchen Ausrottungsaktionen von Juden außer der, die Sie eben beschrieben haben?“ Sprecher 2: Bruns: „Es hat sich eine solche in Petrowska und in verschiedenen anderen Orten ereignet. Als ich von dem Rigaer Vorkommnis erzählte, wurde mir gesagt, es seien in dem Dreieck Kowno-Winnitza-Schitomir auch derartige Exekutionen vorgekommen. Das Exekutionskommando in Riga rühmte sich selbst, in der Ukraine mehrere hunderttausend und zuletzt bei Minsk 67.000 erledigt zu haben, wie sich die Leute immer ausdrückten.“ D:\75884672.doc 9 Kommentator: Frage: „Bedeutet das getötet?“ Sprecher 2: Bruns: „Ja. Das war der übliche Ausdruck geworden.“ Sprecher 1: Ein anderer Pionier und Regimentskommandeur will davon nichts mitbekommen haben. General Wilhelm Ullersperger, Korpspionierführer des 26. Armeekorps der 18. Armee, behauptete vor dem Nürnberger Tribunal, von den Judenerschießungen in Riga nichts gehört und gewußt zu haben, obwohl er sich zu diesem Zeitpunkt in der Stadt aufhielt und zudem militärischer Kommandant Rigas war. Der Hauptangeklagte im OKW-Prozeß, der Feldmarschall Ritter von Leeb, zur Zeit der Judenerschießungen noch Chef der Heeresgruppe Nord, fertigte zu den Vorgängen eine Handakte an, die ihm sein Verteidiger Hans Laternser zusammengestellt haben dürfte (NOKW, 8 29 ff). Wir zitieren aus der Akte des Generals: Sprecher 3: „Zur Zeugenvernehmung Bruns am 18.2.1948: Judenerschießungen in Riga. Vorgang: Erschießung von 42 - 45.000 jüdischen Frauen und Kindern Anfang Dezember 1941 in Riga durch SS. General Bruns, Kommandeur des Brückenbaustabes in Riga, dem General der Pioniere v. Scheven bei der Heeresgruppe Nord (H.Gr.) unterstellt, rief Oberstleutnant Richter beim General der Pioniere an und meldete die bevorstehende Exekution. Er brachte einen Bericht über die beginnende Erschießung persönlich zum General der Pioniere beim Ob.d.H. (Oberkommando des Heeres) und schickte einen Durchschlag dieses Berichts an Oberstleutnant Richter. D:\75884672.doc 10 Stellungnahme: Ganz Litauen und Lettland gehörten schon seit Monaten zum Reichskommissariat Ostland. Sie waren der Einflußnahme und Befehlsgewalt der H.Gr. entzogen. In Riga befand sich der Sitz des Reichskommissariats. Die Untaten fanden also unter den Augen und durch Organe des Reichskommissariats statt. Die militärische Sicherung des Reichskommissariats oblag dem Wehrmachtsbefehlshaber, General Bremer. Er hatte seinen Dienstsitz in Riga. Er unterstand dem OKW (Oberkommando der Wehrmacht). Es bestand ebenso wenig ein dienstlicher Zusammenhang zwischen ihm und der H.Gr.Nord wie zwischen dem Reichskommissariat und der H.Gr.Nord. Die Zahlenangaben von General Bruns sind unglaubwürdig. Woher sollen diese 45.000 jüdischen Frauen und Kinder hergekommen sein? Schon die lettische Bevölkerung hat die Juden in Riga im Juli ausgerottet. 45.000 Personen entsprechen in Vierer-Reihe einer Marschlänge von etwa 12 km! Wie hätten diese 45.000 Erschossenen in 3 Massengräbern bestattet werden können? Da nach Angaben von Bruns die Exekution 3 Tage zu je 10 Stunden dauerte, hätten in jeder Minute 25 Menschen erschossen werden müssen! Ich kann nur bedauern, von dieser Untat nichts gehört zu haben. Wenn ich auch nicht die Möglichkeit gehabt hätte, sie durch Befehl zu verhindern, so konnte ich doch beim Ob.d.H. auf die Unmöglichkeit einer solchen Politik der Gewalt und der Ausrottung hinweisen und vorstellig werden. Gerade in den ersten Tagen des Dezember war ich von schwerer Sorge über die Frontlage erfüllt. Die Lage bei Tychwin hatte sich so entwickelt, daß ein Rückzug hinter den Wolchow unvermeidlich geworden war. Das Schicksal von 3 - 4 Divisionen hing hiervon ab. Ich hatte mit Hitler schwer zu ringen, ihm diesen Entschluß abzuringen.“ Sprecher 1: D:\75884672.doc 11 Nichtwissen, Unzuständigkeit und militärische Notwendigkeit, das sind die Worthülsen, die immer wieder von den Generälen zur Verteidigung ihrer Taten bemüht wurden. Wie Leeb gingen auch die anderen Angeklagten vor: Wenn Verbrechen in ihre Zuständigkeit fielen, haben sie nichts davon erfahren; wenn sie davon erfahren hatten, fielen sie nicht in ihre Zuständigkeit; wenn aber die Zuständigkeit bewiesen werden konnte und die Kenntnis aktenkundig war, dann handelten die Generäle aus militärischer Notwendigkeit. In diesem Fall stammte das belastende Material von einem General selbst, der zu den allzu wenigen mutigen Offizieren gehörte, die gegen das Verbrechen demonstrierten. Der General der Pioniere Bruns hatte eine schriftliche Dienstmeldung über die ihm „unerklärliche Schießerei und Schreierei“ angefertigt und diese Admiral Canaris, dem Chef der Abwehr, und dem Generalobersten Halder im Oberkommando des Heeres noch im Dezember 1941 zugeleitet. Das Ergebnis dieser Intervention: Der Vertreter des zivilen Gebietskommissars informierte den General Bruns - diskret und heimlich - über den Befehl, der den Bedürfnissen des Heeres nach Entlastung Rechnung trug: „Derartige Massenerschießungen müssen in Zukunft in unauffälliger Form erfolgen.“ Für wen unauffällig? Können 40.000 Personen so unauffällig verschwinden? Für die Truppe waren es „Randerscheinungen des Krieges“, die der Polizei oder den unteren Befehlsebenen der Armee zugemutet wurden. Einspielband: Hartmann, Concerto funebre, letzter Satz, 3,53 Min. oder Giuseppe Valentini, Gavotte aus der Violin-Sonate in E-dur (1,47 Min.) Sprecher 1: Doch zurück zu dem Mut und dem Bekenntnis des Generals, der Widerspruch anmeldete. Am 8. April 1945, also noch vor Ende des Krieges, hatte Generalmajor Bruns zu den Massenerschießungen von Riga erneut ausgesagt D:\75884672.doc 12 vor den Briten im besetzten Göttingen. Diese Aussagen befanden sich ebenfalls in der Handakte des Hauptangeklagten von Leeb. Wir zitieren aus diesem „C.S.D.I.C. (U.K.) G.G. Report“ der Briten: Sprecher 2: Bruns: „Als ich davon hörte, daß am Freitag die Juden erschossen werden sollten, ging ich zu dem 21-jährigen Bürschchen und sagte, daß sie (die Juden) sich in meinem Dienstbereich sehr nutzbar gemacht hatten, außerdem: der Heereskraftfahrpark hatte 1500, dann hatte die Heeresgruppe etwa 800 Frauen eingesetzt, um Wäsche zu nähen von den Beständen, die wir in RIGA gefunden hatten, dann nähten in der Nähe von RIGA etwa 1200 Frauen aus mehreren Millionen gefundener Schaffelle das, was uns dringen fehlte: Ohrenschützer, Pelzkappen, Pelzwesten usw.. Es war doch nichts vorgesehen, weil ja doch der Krieg in RUSSLAND schon siegreich beendet war bekanntlich im Oktober 1941. Kurz und gut, alles Frauen, die nutzbar eingesetzt waren. Habe ich versucht, die zu retten. Zu diesem Bürschchen da, ALTENMEYER (aus Falkenburg am Krößinsee, Dienstgrad: Ordensjunker) - den Namen vergesse ich nicht, der kommt auch auf die Verbrecherliste -. Zu dem sage ich: „Hören Sie mal, das sind doch wertvolle Arbeitskräfte für uns!“ „Wollen Herr Oberst die Juden als wertvolle Menschen bezeichnen?“ Ich sage: „Hören Sie mal, Sie müssen zuhören, was ich sage, ich habe gesagt wertvolle Arbeitskräfte. Über ihren Menschenwert habe ich ja gar nicht gesprochen.“ Sagt er: „Ja, die müssen erschossen werden, ist FÜHRER-Befehl!“ Ich sage: „FÜHRER-Befehl?“ „Jawohl, und da zeigt er mir das. SKIROTOWA war es, 8 km von RIGA, zwischen SCHAULEN und MITAU sind ja auch die 5000 Berliner Juden plötzlich aus dem Zug raus erschossen worden. Das habe ich zwar nicht gesehen, aber das bei SKIROTOWA - also kurz und gut, es gab dann mit dem Kerl da noch eine Auseinandersetzung, ich habe dann telephoniert mit dem General im Hauptquartier, mit JAKOBS und mit ABERGER und mit einem Dr. D:\75884672.doc 13 SCHULTZ, der da war beim General der Pioniere, wegen dieser Arbeitskräfte; ich sagte ihm noch: „Ich will mich Ihrer Auffassung anschließen, daß das Volk an den Völkern der Erde gesündigt hat, dann laßt sie doch nutzbare Fronarbeit leisten, stellt sie an die Straßen, laßt die Straßen streuen, daß uns die Lastkraftwagen nicht in die Gräben schlittern.“ „Ja, die Verpflegung!“ Ich sage: „Das bißchen Fressen, was die kriegen, ich will mal 2 Millionen Juden annehmen - 125 Gramm Brot kriegten sie per Tag - wenn wir das nicht mehr aufbringen, dann wollen wir lieber heute als morgen Schluß machen.“ Dann habe ich telephoniert usw. und denke doch nicht, daß das so schnell geht. Jedenfalls, Sonntag morgens höre ich, daß sie es schon machen. Das Ghetto ist ausgeräumt worden, da ist ihnen gesagt worden: „Ihr werdet umgelagert, nehmt die wichtigsten Sachen noch mit.“ Im übrigen war das eine Erlösung für die, denn wie sie im Ghetto behandelt wurden, das war ein Märtyrium. Ich wollte es nicht glauben, da bin ich rausgefahren und habe mir den Laden angeguckt.“ Kommentator: Zwischenfrage: „Das Ausland hat das doch alles gewußt, nur wir Deutschen haben es nicht gewußt.“ Sprecher 2: Bruns: „Ich will Ihnen etwas sagen: es mag das eine oder andere gestimmt haben, es ist aber auffallend, daß das Exekutionskommando, was an dem Morgen da erschoß, also an jeder Grube sechs Maschinenpistolenschützen – die Gruben waren 24 m lang und ungefähr 3 m breit, mußten sich hinlegen wie die Sardinen in einer Büchse, köpfe nach der Mitte. Oben sechs Maschinenpistolenschützen, die dann den Genickschuß beibrachten, Wie ich kam, war sie schon so voll, da mußten die Lebenden also dann sich drauflegen und dann kriegten sie den Schuß; damit nicht so viel Platz verloren ging, mußten sie sich schön schichten. Vorher wurden sie aber ausgeplündert an der D:\75884672.doc 14 einen Station - hier war der Waldrand, hier drin waren die drei Gruben an dem Sonntag und hier war noch eine 1 ½ km lange Schlange und die rückte schrittchenweise - es war ein Anstehen auf den Tod. Wenn sie hier nun näher kamen, dann sahen sie ,was drin vor sich ging. Ungefähr hier unten mußten sie ihre Schmucksachen und ihre Koffer abgeben. Das Gute kam in den Koffer und das andere auf einen Haufen. Das war zur Bekleidung von unserem notleidenden Volk - und dann, ein Stückchen weiter, mußten sie sich ausziehen und 500 m vor dem Wald vollkommen ausziehen, durften nur Hemd oder Schlüpfer anbehalten. Das waren alles nur Frauen und kleine Kinder, so 2jährige. Dann diese zynischen Bemerkungen! Wenn ich noch gesehen hätte, daß diese Maschinenpistolenschützen, die wegen Überanstrengung alle Stunden abgelöst wurden, es widerwillig gemacht hätten! Nein, dreckige Bemerkungen: „Da kommt ja so eine jüdische Schönheit“. Das sehe ich noch vor meinem geistigen Auge. Ein hübsches Frauenzimmer in so einem feuerroten Hemd. Und von wegen Rassenreinheit: in RIGA haben sie sie zuerst rumgevögelt und dann totgeschossen, daß sie nicht mehr reden konnten. Dann habe ich zwei Offiziere rausgeschickt, von denen einer jetzt noch lebt, weil ich Zeugen haben wollte. Ich habe ihnen nicht gesagt, was los ist; „Gehen Sie zum Wald von SKIROTOWA raus, gucken Sie sich an, was da los ist, und machen sie einen Bericht darüber.“ Dann habe ich zu dem Bericht noch ein Amtsschreiben dazugemacht, und habe ihn persönlich zu JAKOBS hingebracht. Der sagte: „Hier liegen schon zwei Beschwerden von Pionierbataillonen aus der UKRAINE vor.“ Da hatten sie sie am Rande von den großen Erdspalten totgeschossen und reinfallen lassen und dann hat es beinahe Pest gegeben, also jedenfalls pestilenzartige Düfte. Sie hatten sich eingebildet, sie könnten mit der Kreishacke die Ränder dann abpickeln und dann würden die begraben sein. Dieser Löß war so hart, daß zwei Pionierbataillone nachher die Ränder absprengen mußten, da hatten sich die Bataillons darüber beschwert. Das lag D:\75884672.doc 15 auch bei JAKOBS. Er sagte: „Wir wußten nicht recht, wie wir es dem FÜHRER zu Gehör bringen sollten. Machen wir auf dem Wege über CANARIS.“ Der hatte diese scheußliche Aufgabe, immer so die günstige Minute abzupassen und dem FÜHRER so leise Andeutungen zu machen. Vierzehn Tage später war ich mit einer anderen Angelegenheit bei dem Oberbürgermeister oder wie damals die besondere Funktionsbezeichnung war, da zeigte mir der ALTENMEYER triumphierend: „Hier ist eine Verfügung gekommen, daß derartige Massenerschießungen in Zukunft nicht mehr stattfinden dürften. Das soll vorsichtiger gemacht werden.“ Ich weiß aber jetzt aus meinen letzten Warnungen, daß ich seit der Zeit noch verschärft bespitzelt wurde.“ Kommentator: „Allerhand, daß Sie überhaupt noch leben.“ Sprecher 2: Bruns: „Ich habe in GÖTTINGEN jeden Tag auf meine Verhaftung gewartet.“ Einspielband: H.W. Henze, Sinfonie Nr. 9 (Bericht der Verfolger) 1,46 Min. oder Johann Sebastian Bach, Orchestersuite Nr.3, in D-dur, BMW 1068 (3,16) Sprecher 1: Wenige Wochen vor dem Judenmord in Riga belagerte die 18. Armee Leningrad. Dazu wurden die Generäle von Leeb, Warlimont und von Küchler in Nürnberg vernommen. Worum ging es? Nach fünf Wochen langer Belagerung erhielt von Leeb im Oktober 1941 den Führerbefehl, eine Kapitulation Leningrads weder zu fordern noch anzunehmen. Das hieß faktisch: Errichtung eines Vernichtungslagers mit 3 Millionen zum Tode Verurteilter, also mindestens zweimal so viel Opfer wie in Auschwitz. Erst im Nürnberger Kreuzverhör will von Leeb seine Rolle durchschaut haben nachdem eine bedrückende Last an Beweisstücken seine Schuld dokumentiert D:\75884672.doc 16 hatte. Unter anderem hatte ihm ein Stabsoffizier der 18. Armee den Plan zur Ausrottung dieser Millionen „unnützer Esser“ folgendermaßen begründet: „Vorteile a): Ein großer Teil der kommunistischen Bevölkerung Rußlands, der gerade unter der Bevölkerung Leningrads zu suchen ist, wird ausgerottet. b) Wir brauchen 4 Mio. Menschen nicht zu ernähren. Nachteile: a) Seuchengefahr, b) die seelische Einwirkung durch die vor unserer Front verhungernden Massen auf unsere Truppe ist groß. c) Der feindlichen Presse wird ein wirksames Propagandamittel in die Hand gegeben“. Sprecher 3: Leeb kommentierte das Papier in Nürnberg treffend und trocken: „Da scheint sich also einer der Herren im Armee-Oberkommando 18 Gedanken gemacht zu haben.“ Es sind Gedanken eines jüngeren Offiziers, die wir acht Wochen später, am 13.11.1941, im Memorandum der Konferenz der Stabschefs aller Heeresgruppen und Armeen in Orscha wiederfinden: „Die Frage der Ernährung der Zivilbevölkerung ist katastrophal. Es ist klar, daß an oberster Stelle die Truppe und ihre Bedürfnisse stehen. Dabei wird das flache Land immer noch einigermaßen erträglich dastehen. Unlösbar dagegen ist die Frage der Ernährung der Großstädte. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß insbesondere Leningrad verhungern muß, denn es ist unmöglich, diese Stadt zu ernähren. Aufgabe der Führung kann es nur sein, die Truppe hiervon und von den damit verbundenen Erscheinungen fernzuhalten.“ Einspielband: Vasks, Musica dolorosa, 1. Teil; oder Beethoven, Menuett in G-dur, 2,31 Min. Sprecher 1: Die Generäle rechtfertigten ihr Tun vor dem Militärtribunal in Nürnberg mit der allgemeinen Lebensmittelknappheit, die im Winter 1941 auch das deutsche Heer in Versorgungsschwierigkeiten brachte. Bei der Verteilung der knappen D:\75884672.doc 17 Nahrung kam den Generälen wie von selbst die Theorie der „nutzlosen Esser“ in den Sinn. Der dem Widerstand zugerechnete Generalstabschef des Heeres Franz Halder, in Nürnberg Verteidigungszeuge, notierte damals in sein Tagebuch: Kommentator: „Was tun mit Insassen der Irrenanstalten im besetzten Gebiet? Russen sehen Geistesschwäche als heilig an. Trotzdem Tötung notwendig.“ Sprecher 1: Im Befehlsbereich der 18. Armee, die unter dem Kommando des ebenfalls in Nürnberg angeklagten Generalfeldmarschall von Küchler stand, befand sich im Gebäude eines ehemaligen Klosters ein Asyl, das 230 unheilbar kranke Frauen beherbergte: Epileptikerinnen und Syphilitikerinnen. Nahrung und Medikamente waren fast verbraucht und da keine Zuteilung beabsichtigt war, rechnete die Abwehrabteilung Küchlers damit, daß die hungrigen Frauen im Gelände streuen und deutsche Soldaten infizieren könnten: Kommentator: „Diesem ausgesprochenen Gefahrenherd zu erlauben, unmittelbar hinter den vorgeschobenen Linien der Winterstellung zu verbleiben, erscheint untragbar. Es kommt hinzu, daß die Insassen der Anstalt auch im Sinne deutscher Auffassung Objekte nicht mehr lebenswerten Lebens darstellen.“ Sprecher 1: Am 1. Weihnachtstag des Jahres 1941 ordnete Küchler an, die Frauen einem Erschießungskommando des Sicherheitsdienstes auszuhändigen. Am 3. Januar meldete der Generalstabschef des 18. Armeekorps: „Die Angelegenheit ist bereinigt.“ Mit Hilfe einer Notiz des Nachrichtenoffiziers des 28. Armeekorps versuchte die Verteidigung, Küchler in Nürnberg aus dieser Schlinge zu ziehen. Diese Notiz betraf ein Telefongespräch mit dem Armeekommando. Und aus der Notiz D:\75884672.doc 18 wird sichtbar, daß hinter der Vernichtung der 230 kranken Frauen ein sehr profanes Interesse stand: Das Asyl Makarewskaja war zum Zeitpunkt der Kontaktierung des 28. Armeekorps mitten in die Frontlinie geraten. Es war höllisch kalt und das Armeekorps suchte zur Unterbringung von Truppen dringend Herberge. Darüber konferierten die Nachrichtenoffiziere am Telefon unverblümt. Beide interessierten sich für das Gebäude des Asyls, nicht für die Kranken. Sie waren ihnen völlig gleichgültig. Da die Liquidierung von Kranken zwecks Quartierbeschaffung für Soldaten militärisch illegal ist, bemüht der Abwehroffizier des 28. Armeekorps für sein elendes Räumungsinteresse eine ideologisch hochtrabende Floskel, das „lebensunwerte Leben“. Vermutlich erinnerte Küchler, ein General mit einem privat ganz antinazistischen Ambiente, den Vorfall in Nürnberg tatsächlich nicht mehr. Im Dezember 1941, mit Minustemperaturen um 40º, bei verlustreichen Gefechten, in mangelhafter Bekleidung, denkt ein Armeeführer intensiver an die Verfassung seiner Soldaten als an einige Dutzend Syphilitikerinnen. Auch wenn einige hunderttausend Gegner wehrlos zu Grunde gehen, ändert sich nichts an der berechnenden Attitüde. Halder vermerkt in seinem Tagebuch, daß für Bewachung und Transport von 20.000 Gefangenen eine Division vonnöten sei. Bei 3 Mio. Gefangenen und 152 Divisionen der deutschen Rußland-Armee leuchtet ein, daß die Aufgabe nicht zu bewältigen ist. Die wenigen, zumeist alten, schwachen Bewachungsmannschaften schossen darum auf den Gefangenenmärschen alles zusammen, was lahmte. Weil die Schlachtfelder der Kesselschlachten so riesig seien, notiert Halder, fehlte es an Kräften, die Kessel rasch zu leeren. Darum fallen die von der Versorgung abgeschnittenen Eingekesselten der Wehrmacht nach langer Zeit halb verhungert in die Hände (vgl. dazu Jörg Friedrich, 1993, S. 308/09). Einspielband: Vasks, Musica dolorosa, Teil 2 ; oder Bach, Andante aus der Sonate Nr.2 in A-moll (3,34) D:\75884672.doc 19 Sprecher 1: Zeitlich parallel zum Prozeß gegen die Generäle des Oberkommandos der Wehrmacht und der Süd-Ost-Generäle fand in Nürnberg der Prozeß gegen die SS-Intellektuellen statt. Im Prozeß gegen die Einsatzgruppen der SS stammte das Hauptbelastungsmaterial von den Tätern selbst. 90 selbstverfaßte Tätigkeitsberichte der angeklagten 22 Einsatzgruppenführer um den SSIntellektuellen Ohlendorf stellten Anklage und Gericht vor ein menschliches Rätsel. Die Angeklagten nannten sich unschuldig, weil sie ihr Töten als eine Notwendigkeit begriffen hätten. Sprecher 2: „Wir müssen bedenken“, heißt es im Anklageplädoyer von General Taylor, „daß die Einsatzgruppen kleine Verbände von 500 bis 800 Leuten waren. Vier dieser kleinen Verbände, zusammengenommen nicht mehr als 3000 Mann, töteten mindestens eine Million Menschen innerhalb einer Spanne von 2 Jahren. Diese Zahlen ermöglichen Schätzungen, die es sehr erleichtern, diesen Fall zu verstehen. Sie zeigen, daß die vier Einsatzgruppen durchschnittlich 1350 Morde am Tag über eine zweijährige Periode hinweg vollbrachten. 1350 Menschen an einem normalen Tag abgeschlachtet, 7 Tage die Woche, durch mehr als hundert Wochen.“ Nach den Tätigkeitsberichten der Einsatzgruppen wurde „erschossen, ... beseitigt, ... erfaßt und liquidiert, ... exekutiert, ... hingerichtet, ...entledigt, erledigt, ...unschädlich gemacht, ... entsprechend behandelt, ...von Juden gereinigt, ...die jüdische Frage gelöst.“ . Sprecher 1: Welche Tötungsdimensionen sich damit verbanden, läßt sich an dem Lagebericht „UdSSR 133“ verdeutlichen. Dieser verzeichnete in den Zeiten der D:\75884672.doc 20 Belagerung Leningrads und des Judenmassakers in Riga 133 Operationen, durchgeführt von der Armeegruppe B, die SS-Brigadeführer Erich Naumann leitete: Sprecher 3: „83 von mehreren hundert Insassen eines Zwangsarbeiterlagers in Mogilew wurden am 25. Oktober 1941 als rassisch minderwertige Elemente mit asiatischem Einschlag liquidiert. Die Verantwortung für ihre Beibehaltung im rückwärtigen Heeresgebiet war nicht länger tragbar. Als Resultat zahlreicher Beschwerden über ihr aufreizendes Verhalten wurde eine Gesamtzahl von 2200 Juden nordöstlich von Mogilew in Gorki und Umgebung im Zuge einer Razzia erledigt. Die Operation wurde in enger Zusammenarbeit mit der Militärpolizei durchgeführt. Am 19. Oktober 1941 wurden in Mogilew Judenaktionen größeren Ausmaßes mit Unterstützung durch das Polizeiregiment Mitte gestartet. Hierdurch wurden 3726 Juden beiderlei Geschlechts und jeden Alters liquidiert. Diese Maßnahmen waren notwendig, weil die Juden seit der Besetzung von Mogilew durch deutsche Truppen die Autorität der Besatzungsmacht herausforderten und trotz der bereits gegen sie ergriffenen Maßnahmen nicht nur versäumten, sich solcher Aktionen zu enthalten, sondern ihre anti-deutsche Tätigkeit (Sabotage, Unterstützung von Partisanen, Weigerung zu arbeiten) in solchem Ausmaß und mit solcher Hartnäckigkeit fortsetzten, daß dies im Interesse der Aufrechterhalten der Ordnung in den rückwärtigen Gebieten nicht länger geduldet werden konnte.“ Sprecher 2: Im Berichtzeitraum wird folgende Leistung festgehalten: Gesamtsumme der von der Einsatzgruppe B liquidierten Personen: 45.467 Sprecher 1: Als der hochgebildete Wirtschaftswissenschaftler und Rechtsanwalt Otto Ohlendorf, der zum SS-Gruppenführer aufstieg, im Nürnberger Verhör von D:\75884672.doc 21 seinem Verteidiger gefragt wurde, wie er sich den Abscheu erkläre, mit dem die ganze Welt die Judenvernichtung im Osten betrachte, antwortete er, daß diese Taten in der Öffentlichkeit als isolierte Exzesse beschrieben würden, vollbracht von der SS. Sprecher 3: „Man hat sie aus ihrem Zusammenhang genommen und die SS allein verantwortlich gemacht. In Wirklichkeit sind diese Exekutionen im Osten eine Konsequenz des totalen Krieges gewesen.“ Sprecher 1: Dem ist nicht zu widersprechen. Als Ohlendorf sich am 15. Oktober 1947 hierüber vernehmen ließ, ging es ihm um das Vernichtungskonzept des Rußlandfeldzugs, das von den Generälen der Wehrmacht mit verfaßt worden war. Unter ihrer Oberhoheit wurde die alles entscheidende Schwelle der nazistischen Judenpolitik genommen: „die von der Rassendiskriminierung zur Rassenausrottung. Die Judenrasse aber war nur die Chiffre für den imaginären Feind. Indem die Taten der Einsatzgruppen menschenmöglich waren, ist eine Grenze der Zivilisation niedergelegt worden.“ (Jörg Friedrich). Kommentator – Autor: Jörg Friedrich, einer der besten Kenner dieser nach wie vor umstrittenen Kriegsverbrechen gegen die Menschheit, ein engagierter, höchst kompetenter Mitarbeiter in meinen achtziger Jahren in Nürnberg, faßt in seinem 1993 bei Piper vorgelegten Buch - „Das Gesetz des Krieges. Das deutsche Heer in Rußland 1941 bis 1945. Der Prozeß gegen das Oberkommando der Wehrmacht“ - die Ereignisse folgendermaßen zusammen: Sprecher 3: „Das Nürnberger Dokument PS 4064 enthält einen Befehl des Generalfeldmarschalls Erich von Manstein, der strategische Genius des D:\75884672.doc 22 deutschen Heeres. Manstein instruiert darin die Soldaten seiner 11. Armee, den Kampf im Osten nicht „nach europäischen Kriegsregeln zu führen. Das jüdischbolschewistische System muß ein für allemal ausgerottet werden. Nie wieder darf es in unseren europäischen Lebensraum eingreifen. Für die Notwendigkeit der harten Sühne am Judentum muß der Soldat Verständnis aufbringen... Manstein, (von den Briten im Hamburger Curio-Haus-Prozeß) zu 18 Jahren verurteilt, wirkte nach seiner vorzeitigen Haftentlassung - und ich möchte einschieben, daß ihm in seiner bitteren Haft der seinerzeitige Bundeskanzler Adenauer Kondolenzbesuche abstattete - als militärischer Berater der Bundesregierung. Das Verständnis „für die harte Sühne am Judentum“ wurde bekanntlich erzielt. Der Durchbruch von der Diskriminierung zur Vernichtung der Juden erfolgte während des Rußlandfeldzugs und zwar in dem reibungslosen Zusammenwirken von Generalität und Einsatzgruppen. Die zivilisatorische Schranke vor dem Massenmord zerbrach im Offizierskorps. Die grundsätzliche Verantwortung der Militärbefehlshaber für die Judendeportationen im besetzten Europa möchte ich nur streifen: Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark, Norwegen. Dort überall hatte die Invasionsarmee die exekutive Gewalt, d.h., sie war verantwortlich für Leib und Leben der Bevölkerung. Sie darf sie nicht irgendwelchen Eichmanns übertragen. Das ist die Verantwortung der Generalität.“ Einspielband: Vasks, Musica dolorosa, Teil 3; oder Bach, Komm süßer Tod, aus „Schemelli Gesangbuch“, (3,34 Min.) Sprecher 1: Die Bestrafung der Generäle in Nürnberg wirkte auf die Zeitgenossen hart. Vier lebenslängliche Haftstrafen wurden verhängt, darunter für Warlimont, Reinecke und List. Küchler erhielt 20, v. Leeb 3 Jahre Haft. In den Urteilen sah sich fast die ganze deutsche Wehrmacht gedemütigt. D:\75884672.doc 23 Ohlendorf und 13 Mitangeklagte wurden im Einsatzgruppen-Prozeß zum Schafott verurteilt. Weitere 8 erhielten Haftstrafen zwischen 3 Jahren und Lebenslänglich. Kein Bedauern, keine Einsicht war von den Generälen zu hören. Im Gegenteil: Sie rechtfertigten ihre Anweisungen, Kommandos und Greueltaten trotz zahlloser vorgelegter und von Zeugen bestätigter Beweise. Sprecher 2 „Wir sind nicht schuldig... Wir taten unsere soldatische Pflicht für unser Vaterland, für Deutschland, so, wie wir sie Jahrzehnte hindurch getan hatten... Wir hatten nur das eine Ziel, das Land zu befriedigen. Jeder Gedanke an Terrorisierung, Dezimierung oder gar Ausrottung lag uns völlig fern...“, erklärte Feldmarschall List am 19. Februar 1948 vor dem Militärgerichtshof der Vereinigten Staaten von Amerika in Nürnberg im Namen aller Angeklagten, die im Fall 7 (Prozeß gegen die Südost-Generale), im Geiselmordprozeß, verurteilt worden waren. „Um zu einer gerechten Würdigung zu kommen“, heißt es weiter in seinem Schlußwort vor dem Nürnberger Militärtribunal, „ist weiter erforderlich, die inneren Verhältnisse zu berücksichtigen, unter denen zu dienen wir gezwungen waren. Wir waren durch unseren Eid und die Gehorsamspflicht gebunden; und wir lebten unter dem Zwang einer sich mehr und mehr dämonisch wie chaotisch gestaltenden Diktatur; in einer Diktatur, in der trotzdem ein starkes Neben- und Gegeneinander herrschte, in der aber dem einzelnen nur geringste Handlungsfreiheit gelassen war; in einer Diktatur, von der sich der Außenstehende keine Vorstellung machen kann, am wenigsten der freie Bürger einer freien Demokratie. Auch können die ganzen Zusammenhänge nicht verstanden werden, ohne einen Blick zu tun auf den Hintergrund des damaligen Geschehens. Gegen uns standen im wesentlichen die g l e i c h e n Kräfte, die heute auf dem Balkan eine Gewaltherrschaft aufgerichtet haben und D:\75884672.doc 24 in Europa aufrichten wollen; die Kräfte, die die Welt in Spannung halten, die Kräfte, gegen die sich heute die westliche Welt wendet. Möge ein gütiges Schicksal solche Kämpfe, wie wir zu führen gezwungen waren, der Nation ersparen, die heute über u n s zu Gericht sitzt. Dem Urteil des Gerichtes sehen wir mit Ruhe entgegen. Sollte es zu einer Verurteilung kommen, so werden wir sie tragen als Soldaten für die ehemalige deutsche Wehrmacht, als Generale für unsere braven tapferen Soldaten, als Deutsche für unser Volk.“ Einspielband: Vasks, Musica dolorosa, Teil 4; oder Robert Schumann, Träumerei aus den „Kinderszenen“ op.15 (3,16) Sprecher 1: Eine solche Vorwärtsverteidigung beeindruckte offensichtlich die alliierten Militärs ebenso wie die Plädoyers der Verteidiger-Gruppe um Dr. Hans Laternser mit seinen Mitarbeitern Dr. Friedrich Frohwein, Dr. Harald Lucht, Dr. Albrecht Schütze und Professor Dr. Erich Schwinge. Die teilweise selbst schwer belasteten Juristen bereiteten auch das Schlußwort von Feldmarschall von Leeb vor, das dieser im Namen der Angeklagten im Prozeß gegen das Oberkommando der Wehrmacht (Fall 12) am 27. Oktober 1948 in Nürnberg hielt: Sprecher 3: Hohes Gericht! Ich bin beauftragt, im Namen der Angeklagten das Schlußwort zu sprechen. Es kann wohl nicht als Überheblichkeit gewertet werden, wenn wir der Meinung sind, daß der deutsche Offizier über die Grenzen seines Vaterlandes hinaus ein Ansehen genossen hat, das sich nicht nur auf sein fachliches Können, D:\75884672.doc 25 sondern im wesentlichen auf die soldatischen Eigenschaften stützte, die das wahre Wesen des Soldatentums ausmachen. Als diese Eigenschaften sehen wir an die Treue, die innere Verbundenheit zwischen Offizier und Mann, den Gehorsam, das Pflichtbewußtsein, die Selbstlosigkeit, den persönlichen Einsatz. Die außergewöhnlich hohen Offiziersverluste in beiden Weltkriegen, auch unter den Generalen, sind ein Beweis für unsere Opferbereitschaft. Wir Angeklagten gehörten diesem Offizierskorps seit Jahrzehnten an. Wir sind in diesem Wesen des Soldatentums erzogen und groß geworden. Wir erfüllten unsere soldatischen Pflichten mit gleichbleibender Hingabe unter dem deutschen Kaiser während des ganzen ersten Weltkrieges, in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. Im Dritten Reich unter der Diktatur Hitlers sahen wir uns aber Entwicklungen gegenüber, die unseren Grundsätzen und unserem Wesen widersprachen. Nicht wir Offiziere haben uns geändert, sondern die Forderungen, die an uns gestellt worden sind, haben sich geändert. Gegen diese Entwicklung im Dritten Reich haben wir uns gestemmt. Aber die Mittel, die in einer Diktatur wirksam sein konnten, waren beschränkt... Im Osten ging die Härte der Kriegsführung von Rußland aus. Der Aufruf Stalins, alle Deutschen niederzumachen, führte die Partisanen zu einer entarteten Kriegführung. Wir deutschen Soldaten hatten eine solche Kriegführung bisher nicht angewandt, wir haben sie auch in Rußland und auf anderen Kriegsschauplätzen nicht gewollt und nicht gesucht. Wir mußten uns gegen diese entartete Kriegführung wirksam schützen. Wir waren in Notwehr. Gegenüber den Anordnungen Hitlers, die unser menschliches und soldatisches Empfinden verletzten, waren wir nicht dessen willenlose Werkzeuge. Wir haben solche Anordnungen im Rahmen des Möglichen und des Zweckmäßigen bekämpft, im Wortlaut gemildert und in der Ausführung unwirksam gemacht D:\75884672.doc 26 oder abgeschwächt. Der Gegenbefehl des Oberbefehlshabers des Heeres über die Aufrechterhaltung der Mannszucht und viele andere Gegenmaßnahmen sind Beweise unserer Notwehr und unseres Kampfes. Was über den rein kriegerischen Zweck des Krieges hinaus auf russischem Boden geschehen ist, fällt der Wehrmacht nicht zur Last. Es ist ohne unser Wissen und Zutun geschehen. Keiner der Angeklagten hat etwas von dem Geheimen Führerbefehl und dem organisierten Massenmord durch die Einsatzgruppen, die uns nicht unterstellt waren, gewußt. Wir stehen dem Anklagepunkt IV ohne Begreifen gegenüber, an einem gewissen Plan und an einer Verschwörung zur Begehung von Verbrechen nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 beteiligt gewesen zu sein. Ich fasse zusammen: Wir Angeklagten haben unsere Pflichten als Soldaten zu erfüllen gehabt und unter Diktatur schärfster Form mit uneingeschränkter Gesetzesgewalt, mit ihren schweren Auswüchsen und mit ihrem Mißtrauen gegenüber uns, das sich bis zum Haß gesteigert hat und das seine Gegenwirkung in den Ereignissen vom 20. Juli 1944 fand. Wir standen im Kampfe nach außen gegen die äußeren Feinde, wir standen gleichzeitig im Kampfe nach innen gegen die Partei, ihre Einflüsse, ihre Forderungen, ihre fast uneingeschränkte Macht, besonders auch auf dem Gebiete der Wehrmachtspflege, und wir standen im Kampfe gegen unseren eigenen obersten Vorgesetzten. Es liegt wohl eine tiefe Tragik darin, daß wir als die berufenen Hüter der soldatischen Gehorsamspflicht gezwungen waren, gegen diesen Grundpfeiler jeden Soldatentums unserem obersten Vorgesetzten gegenüber zu handeln. Bisher hat wohl noch kein Soldat dieser Welt unter solchen Erschwernissen und in solcher Tragik zu kämpfen gehabt. D:\75884672.doc 27 Wir haben im ersten Weltkrieg gegen kein Recht verstoßen und wir sind im zweiten Weltkrieg dieselben geblieben. Wir sind nicht von verbrecherischen Instinkten geleitet gewesen, wie die Anklage glauben machen will, sondern wir haben ein Leben entsagungsvollen Dienstes und selbstloser Pflichterfüllung unserem Vaterland und unseren Soldaten gegenüber hinter uns. Es ist nicht notwendig und auch gar nicht möglich, uns die Maske vom Gesicht zu reißen, wie die Anklage der deutschen Öffentlichkeit durch den Rundfunk verkündet hat, weil wir keine Maske getragen haben. Wir sind Soldaten, die ihr Soldatentum auch in diesem zweiten Weltkrieg unter den Wirrnissen einer diktatorischen Gewalt hochgehalten haben. Wir rufen zu unseren Zeugen die Hunderttausende von Frontsoldaten auf, die unter unseren Befehlen gestanden haben.“ Einspielband: Pete Seeger, Last train to Nurnberg, 2,41 Min. Kommentator – Autor: Postscriptum: Von der Solidarität der Deutschen mit den NS-Tätern. Die in Nürnberg verurteilten Offiziere wurden bald wieder gebraucht und in die gewandelte bundesdeutsche Gesellschaft integriert. Der Aufbau der Bundeswehr – aber auch der Nationalen Volksarmee der DDR – verlangte nach ihrer Kompetenz. Die Integration der Nazitäter in die bundesdeutsche Gesellschaft begann bald nach 1945. Der Protest gegen die Farce der Entnazifizierung, gegen die Rehabilitationskampagne, blieb vergeblich, auch in Bielefeld – trotz der Massenstreiks von 1947/48 gegen die allzu milden Urteile des Bielefelder Schwurgerichts, das den Nazi Bankier von Schröder, Mitglied des „Freundeskreis Himmler“ (wie Oetker-Chef Richard Kaselowsky) ebenso wie den Bielefelder Gestapochef Kaufmann mit geringen Strafen davonkommen ließ. Einige der Nazi Täter wurden Minister, Staatssekretäre, Ministerialbeamte, blieben Professoren und Richter und erhielten hohe Auszeichnungen. D:\75884672.doc 28 Im März 1964 verlieh z.B. der damalige Bundespräsident Heinrich Lübke dem Obersturmbannführer der SS und nunmehrigen stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden der Ruhrchemie in Oberhausen, Dr. Heinrich Bütefisch, das Große Bundesverdienstkreuz. Bütefisch war ein Pionier chemischer Großprojekte. Sein bedeutendstes Projekt war ein Werk zur synthetischen Herstellung von Treibstoff, das er im Auftrage des Konzerns IGFarben leitete – ein Bauprojekt, an dem sich 250 deutsche Firmen beteiligten. Der Standort war von der IG-Farben mit Sorgfalt ausgesucht worden. Man entschied sich für ein Gelände nicht weit weg von Auschwitz. Von dort aus ließe sich nach Beendigung des soeben begonnenen Rußlandfeldzuges der riesige östliche Raum bis in die Tiefen Asiens mit Treibstoff und Kunstgummi versorgen. Daneben zählten Gummi und Treibstoff zu den strategisch entscheidenden Rüstungsgütern, ohne die ein Krieg nicht zu führen war. Im Nürnberger IG-Farben-Prozess von 1947/48 mußte sich Bütefisch zusammen mit 23 anderen Direktoren und Aufsichtsratsmitgliedern für die sogenannte IG-Auschwitz verantworten, die 25.000 Personen das Leben gekostet hatte; 25.000 Personen von 300.000 Auschwitzinsassen, die die Fabrikation der IG-Farben durchlaufen hatten. Wer nicht arbeitsfähig war, wurde nach Auschwitz-Birkenau zur Vergasung abtransportiert. SSObersturmbannführer Bütefisch war in der IG-Farben die geeignete Person gewesen, um mit der SS zu verhandeln, die das Konzentrationslager führte. Mit Himmlers Stabschef Wolf wurde vereinbart, daß die SS (pro Auschwitzhäftling) für einen gelernten Arbeiter 4,00 RM, einen ungelernten Arbeiter 3,00 RM und für ein Kind 1,50 RM pro Tag erhielt und daß zur Bewachung auf dem Firmengelände der IG-Farben tüchtige Berufskriminelle ausgesucht wurden, in einem Verhältnis von 20:1. Die Vereinbarung ist enthalten in dem Nürnberger Dokument NI 15 148 (Fall 6). D:\75884672.doc 29 Als Bütefisch 1964 das Bundesverdienstkreuz erhielt, erinnerte man sich schlimmstenfalls noch an die sechs Jahre Haft, aber auf gar keinen Fall an Dokument 15 148, auch nicht an die anderen 15.000 Dokumente der Industrieprozesse gegen Flick, Krupp und IG-Farben. Sie waren nicht in das gesellschaftliche Bewußtsein gedrungen. Des Bundesverband der Deutschen Industrie hatte den Auschwitzfabrikanten für diese Ehrung vorgeschlagen. Nach Auskunft des Verfassungsschutzes war Bütefisch absolut unverdächtig. Man hatte auch im Strafregister nachgeschlagen, doch da waren die Nürnberger Strafen nicht aufgeführt. Bütefisch galt also nicht als vorbestraft. Unglücklicherweise fand in Frankfurt zur gleichen Zeit der Auschwitzprozeß statt. Es wurden die Namen dreier ehemaliger Vertreter der IG-Farben genannt, die vor dem Frankfurter Gericht aussagen sollten: Otto Ambros, Walter Dürrfeld und eben jener Heinrich Bütefisch. Schnell legten sie Atteste vor, um aus gesundheitlichen Gründen nicht vor Gericht erscheinen zu müssen. Aber Bütefisch wurde erkannt, zumindest als unwürdig angesehen, das Bundesverdienstkreuz zu tragen; es wurde ihm innerhalb von zwei Tagen aberkannt. Seine Mandate in führenden Wirtschaftsunternehmen behielt er. Die Unkenntnis über solche Zusammenhänge mag auch auf der Unzugänglichkeit des Materials des IG-Farben-Prozesses beruhen. Er ist – wie alle Nürnberger NS-Nachfolgeprozesse – nicht veröffentlicht, nur in Auszügen dokumentiert. Und das ist den Verurteilten natürlich sehr recht. Was bedeuten schon die immer wieder als „Siegerjustiz“ diffamierten Nürnberger Prozesse in der Bundesrepublik! Die von deutschen und internationalen Gerichten am Massenmord in Auschwitz für schuldig befundenen Täter wie Bütefisch waren nicht nur nach der Meinung der damaligen deutschen Bundesregierung integre Leute. Die Wiedereingliederung der Täter in die bundesdeutsche Gesellschaft machte auch vor den extremsten Fällen nicht halt: Professor Fanz Six, als Angehöriger der Einsatzgruppe B verurteilt, Ende August 1941 für 17.000 D:\75884672.doc 30 Judenmorde verantwortlich zu sein, kam nach 1945 bei Mannesmann als Werbedirektor unter und bediente den Bundesnachrichtendienst mit seinen Kenntnissen, usw., usw. Die Rehabilitierungen sind vor allem auf die Unkenntnis der zwölf Nürnberger Nachfolgeprozesse gegen die hochrangigen Täter und Helfer des NS-Systems in Wirtschaft, Wehrmacht, Justiz, Ärzteschaft, Diplomatie und Staatsverwaltung zurückzuführen. „Die Tätergesellschaft“, konstatierte Jörg Friedrich, „hat sich spurlos in die Nachkriegsgesellschaft verflüchtigt, sie ist dort nicht weiter auffällig geworden und stirbt friedlich aus. Den Aufbau von Demokratie und Rechtsstaat hat der NS-Täter nicht behindert. Das größte geschichtsbekannte Verbrechen wurde mit dem größten Resozialisierungswerk abgeschlossen.“ Hier liegen die Wurzeln einer „Vergangenheitspolitik“, die den späten Vorwurf einer „unbewältigten Vergangenheit“ begründeten und die Norbert Frei noch einmal überzeugend dargestellt hat. „Der nette Kerl von nebenan“, „der brave anständige Deutsche“, um ein Lieblingswort des „Führers“ Adolf Hitler zu gebrauchen, der für zwölf Jahre sich an der Vorbereitung und Durchführung des Massenmordes beteiligte, wurde bruchlos in die Nachkriegsgesellschaft integriert. Mit welchen Folgen? Schon der Schriftsteller und Publizist Maximilian Harden, Opfer eines Mordanschlags der Femeorganisation „Consul“ vom 3. Juli 1922 hatte in dem Prozeß gegen die Attentäter den Richtern, die ihn zum Hauptangeklagten zu machen drohten, entgegengehalten: „Ihr Deutschen geht zugrunde durch eure Solidarität mit euren Mördern.“ Einspielband: Ina Deter, 40 Jahre danach, 3 Min. Literaturhinweise: Hannes Heer/Klaus Naumann (Hg.) Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 - 1944, Hamburg 1995; D:\75884672.doc 31 Jörg Friedrich: Das Gesetz des Krieges. Das deutsche Heer in Rußland 1941 bis 1945. München 1993(Piper); Jörg Friedrich/Jörg Wollenberg: Licht in den Schatten der Vergangenheit. Zur Enttabuisierung der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse, FrankfurtM. 1987(Ullstein-Buch) Detlef Bald u.a.: Mythos Wehrmacht, Berlin 2001(Aufbau-Taschenbuch) Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden, Berlin 1982 (FischerTaschenbuch, 1990); Ulrich Herbert (Hg.): Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1939 - 1945. Neue Forschungen und Kontroversen, Frankfurt/M. 1998; Ian Kershaw: Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick, Reinbek 1994; Götz Aly: Endlösung. Völkerverschiebung und Mord an den europäischen Juden, Frankfurt/M. 1995; Jörg Friedrich/Jörg Wollenberg (Hg.): Licht in den Schatten der Vergangenheit. Zur Enttabuisierung der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse, Berlin 1987; Daniel Jonah Goldhagen: Hitlers willige Vollstrecker, Berlin 1996; Christopher R. Browning: Ganz normale Männer. Das Polizeibataillon 101 und die Endlösung in Polen, Reinbek 1993; Jörg Wollenberg, u.a.: Menetekel. Das Gesicht des Zweiten Weltkrieges. Nürnberger Gespräch zum 50. Jahrestag der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges, Krakau/Nürnberg 1991. Meinert/Schäfer: Juden in der Stadt Bielefeld, Bielefeld 1983 ; Jörg Wollenberg (Hrsg.): Niemand war dabei und keiner hat’s gewußt? Die deutsche Öffentlichkeit und die Judenverfolgung 1933-1945, München 1989(Piper, USA- Ausgabe New Jersey 1996) D:\75884672.doc 32 Margers Vestermanis: Die nationalsozialistischen Haftstätten und Todeslager im okkupierten Lettland 1941-1945, in:Ulrich Herbert u.a. (Hrsg),Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Stuktur, Bd.I,Göttingen 1998,S.472-492 Hamburger Institut für Sozialforschung(Hg.): Verbrechen der Wehrmacht.Ausstellungskatalog, Hamburg 2002 D:\75884672.doc