Jörg Wollenberg

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Jörg Wollenberg
„Ich kann nur bedauern, von dieser Untat nichts gehört zu haben.“
Generalfeldmarschall Wilhelm Ritter von Leeb zur Erschießung von
jüdischen Frauen und Kindern Anfang Dezember 1941 in Riga.
- Ein anderer Blick auf die Wehrmachtsverbrechen im Spiegel des Nürnberger
Nachfolgeprozesses gegen das Oberkommando der Wehrmacht , die SüdostGeneräle und die Einsatzgruppen (1947/48) -
Kommentator (Autor):
Am 31. Juli 1941 beauftragte Hermann Göring den Chef der Sicherheitspolizei
und des SD, Reinhard Heydrich, mit der umfassenden Vorbereitung zur
„Gesamtlösung der Judenfrage“.
Im Gefolge der damit einsetzenden Radikalisierungsphase der NS-Judenpolitik
begannen ab Mitte Oktober 1941 die Deportationen von Juden aus dem
Reichsgebiet in die Ghettos Kowno, Lodz, Minsk und Riga, ab Mitte 1942 in
das Ghetto Theresienstadt. Den zur Deportation verurteilten deutschen Juden
wurde die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen und ihr Vermögen
beschlagnahmt.
Das Finanzamt registrierte fein säuberlich die Umverteilung der Gegenstände
und den Preis, den der Volksgenosse dafür zu zahlen hatte. Die Spur dieser
jüdischen Mitmenschen führt in der Regel in den Tod oder sie blieben
„verschollen“, landeten im Nichts. Aber der Verbleib ihrer Bettwäsche, der
Teppiche, Kleiderschränke, des Küchengeschirrs oder der Klaviere wurde
penibel vom Finanzamt festgehalten. Wer schlüpfte in die Leibwäsche der
Familie Katz aus Lübeck? Wer tafelte von Silbergeschirr des Oberrabbiners
Joseph Carlebach aus Hamburg? Wer erwarb den Besitz von Karl Löwenstein
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aus Elmshorn, der Familie Wallach aus Kiel oder von Max Plaut aus Hamburg?
Und wer übernahm in Bielefeld den Besitz der nach Riga deportierten Familien
Stein, Rosenthal, Oppenheimer oder Hauptmann? Allein 88 Deutsche jüdischen
Glaubens wurden am 13.12.1941 von Bielefeld nach Riga deportiert. Einer der
größten Transporte verließ Nürnberg schon am 29.11. 1941: 512 Nürnberger
Juden wurden nach Jungfernhof bei Riga gebracht. Davon wurden lediglich 16
gerettet.
Die SD-Hauptaußenstelle Bielefeld berichtet am 16.12.1941 über den
Bielefelder „Transport“:
Sprecher 2:
„Abtransport von 400 Juden aus dem Regierungsbezirk Minden.
Am Donnerstag, den 11.12.41 begann im hiesigen Bereich die Aktion zur
Verschickung der ersten jüdischen Familien nach Riga. Gegen 10 Uhr trafen die
ersten jüdischen Familien in Bielefeld ein und wurden im Kyffhäusersaal am
Kesselbrink untergebracht. Nach zweitägigem Aufenthalt, der zu
Durchsuchungen, Gepäckkontrolle u. dgl. benutzt wurde, ging der Transport am
Samstag um 15 Uhr ab.
Obwohl diese Aktion von Seiten der Staatspolizei geheim gehalten wurde, hatte
sich die Tatsache der Verschickung von Juden doch in allen
Bevölkerungskreisen herumgesprochen. Dementsprechend war auch eine
Vielzahl von stimmungsmäßigen Äußerungen zu erfassen. Es muß festgestellt
werden, daß die Aktion von dem weitaus größten Teil der Bevölkerung begrüßt
wurde. Einzeläußerungen war zu entnehmen, daß man dem Führer Dank wisse,
daß er uns von der Pest des jüdischen Blutes befreie. Ein Arbeiter äußerte z.B.
„Das hätte man vor 50 Jahren mit den Juden machen sollen, dann hätte man
weder einen Weltkrieg noch den jetzigen Krieg durchstehen brauchen.“
Erstaunen zeigte man vielfach in der Bevölkerung, daß man den Juden zum
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Transport nach dem Bahnhof die gut eingerichteten städt. Verkehrsautobusse
zur Verfügung stellte...“ (Stadtarchiv Bielefeld, M 18, Nr. 17)
Sprecher 3:
„Meine Wohnung habe ich so herzurichten“, heißt es in einem Merkblatt, „daß
sie bei meinem Verlassen polizeilich versiegelt werden kann. Gas-, Licht –und
Wasserleitung habe ich abzustellen. Verderbliche Ware habe ich zu entfernen.
Das Feuer in den Öfen muß gelöscht werden. Die Wohnung habe ich in
sauberem Zustand zu hinterlassen. Die Gas- und Lichtrechnungen sind bei den
städtischen Werken vorher zu begleichen. Den Hausverwalter werde ich von
meiner Evakuierung verständigen.“
Sprecher 2:
Dem Hausverwalter schließlich war auch der Wohnungsschlüssel abzuliefern,
während die Zimmer- und Schrankschlüssel stecken bleiben sollten. Die Polizei
hatte einen ersten 8-, dann 16-seitigen Fragebogen ausgegeben, der alle
erdenklichen Habseligkeiten erkundete:
Sprecher 3:
„Besitzen Sie ein Panzerschließfach und was befindet sich darin? Welche
Ansprüche stehen Ihnen aus Lizenzverträgen, Patent-, Urheber-, Marken- und
Musterschutzrechten zu? Besitzen Sie Gemälde, Briefmarken-,
Münzsammlungen? Wo sind diese verwahrt? Der Depotschein ist beizufügen.“
Sprecher 2:
Das Wohnungsinventar ist nach Zimmern gegliedert: Schlafzimmer mit Zahl
der Bettvorlegen, Brücken, Gardinen-Stores, Kopfkissen und Steppdecken usw.,
Küche mit Zahl der Kochtöpfe und Bügeleisen, das Wohnzimmer einschließlich
Globus, Lexikon und Papierkorb. Und auch die Servietten, die Frottiertücher
und Schlafanzüge mußten arisiert werden, die Schals, Krawatten und Garnituren
Unterwäsche. Wurde der Jude auch als Fäkalie verladen, schlüpfte man
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gleichwohl behaglich in seine Leibwäsche. Ihre Umverteilung oblag einer
Behörde, so kundig wie nüchtern: dem Finanzamt.
Sprecher 3:
Zum obersten Liquidator der Beute war der Oberfinanzpräsident von Berlin
berufen, der dies Amt an die lokalen Oberfinanzdirektionen delegierte.
Geschwind, um die Wohnungen freizumachen, waren die Berufsvertretungen
des Spediteurgewerbes zur Verteilung der Räumungsaufträge eingeschaltet
worden, während das Pfandleihgewerbe und der amtliche Versteigerer
Schätzwerte bezifferten. Die Preise waren stets angemessen, der Fiskus
verschleuderte nichts, eine Bereicherung der SS-Kundschaft hat kaum
stattgefunden. Daran ist nichts Seltsames. Persönliche Arisierungsgewinne sind
nur herausgeschlagen worden, solange Juden als Zwangsverkäufer existierten.
Nach ihrer Verschleppung trat das Finanzamt als Auktionator auf, und schon
die Unzahl der Interessenten an der jüdischen Hinterlassenschaft sorgte für
korrekte Bezahlung.
Sprecher 2:
Diese Regelungen galten nach dem am 23. Oktober 1941 angeordneten Verbot
der Auswanderung der Juden aus Deutschland. Ein Verbot, das mit der
Ankündigung ihrer Evakuierung in die Ostgebiete verbunden war. Folgenden
Text mußten so auch Juden unterschreiben, die im Dezember 1941 nach Riga
deportiert wurden:
Sprecher 1:
„Ich, der unterzeichnende Jude, bestätige hiermit, ein Feind der Deutschen
Regierung zu sein und als solcher kein Anrecht auf das von mir
zurückgelassene Eigentum, auf Möbel, Wertgegenstände, Konten oder Bargeld
zu haben. Meine deutsche Staatsbürgerschaft ist hiermit aufgehoben, ich bin
vom 17. November 1941 an staatenlos.“
Sprecher 2:
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Für die Deportation war die Polizei zuständig. Diese sah sich allerdings durch
eine neue Nachlaßregelung düpiert, nach der nicht die Gestapo, sondern das
Finanzamt das Geschäft mit dem zurückgelassenen Eigentum der Juden
abwickelte. So auch in Bremen. Das Finanzamt notierte:
Sprecher 3:
„Judenmöbel, gekauft im Auftrag von Opitz, Angestellter der Atlas-Werke“, für
die leitenden Direktoren des Werkes und Mitglieder des Vorstandes:
19.12.1941
Dr. Daseking (Bettwäsche)
105,- RM
21.02.1942
Dr. Daseking (1 Orientteppich 2,3-3,4 m)1.450,- RM
03.03.1942
Dr. Daseking (Kristall und Glas)
65,- RM
23.04.1942
Dr. Daseking (Küchengeschirr)
110,- RM
26.06.1942
Dr. Daseking (Kleiderschrank)
120,- RM
25.02.1942
Direktor Harmsen (1 Brücke)
300,- RM
15.05.1942
Direktor Blaum (1 Flügel)
2.000,- RM
Kommentator (Autor):
Es muß hinzugefügt werden: Die zitierten Finanzamtsakten sind in der Regel
nicht zugänglich. Sie sind verschwunden. Sie haben die Archive nur in
Ausnahmefällen erreicht. Die Prominenz der Arisierungsgewinnler half dabei,
diesen Vorgang nach 1945 ungeschehen zu machen, auch wenn die
Gegenstände sich noch in den Wohnungen befinden (z.B. der Flügel). Ich bin
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durch Zufall auf diese Akte gestoßen. Sie stammt aus dem Nachlaß des
ehemaligen Betriebsratsvorsitzenden der Atlas Werke zu Bremen, Johann
Reiners, jenem „eisernen Metaller“ der ersten Stunde, der die Verwaltungsstelle
der IG Metall in Bremen prägte und der mir seine Privatakten zur Auswertung
überließ.
Zurück zu den aus Bielefeld deportierten Juden:
Weitere 400 Juden aus Bielefeld erlitten zwischen 1942 und 1945 das gleiche
Schicksal. Sie wurden nach Theresienstadt und Auschwitz deportiert. Nur 25
von ihnen überlebten Ghetto und KZ-Aufenthalt.
Auch für mindestens 95 Prozent der insgesamt 946 Juden aus Hamburg und
Schleswig-Holstein, davon allein 753 aus Hamburg, 90 aus Lübeck und 54 aus
Kiel, bedeutete der Transport vom 6. Dezember 1941 in Richtung „Ostland“ den
Tod. Als im Dezember 1941 6-7000 Juden in 28 Transporten aus Deutschland
Riga per Eisenbahn erreichten und über das Lager Skirotowa in das
provisorisch eingerichtete Lager Jungfernhof (Jumpramunize) bei Riga
abgeschoben wurden, waren bereits hunderttausende sowjetischer und
baltischer Juden getötet worden - von der Wehrmacht und den Einsatzgruppen
der Sicherheitspolizei und des SD. Unmittelbar vor ihrer Ankunft in Riga
fanden in Skirotowa bei Riga jene schrecklichen Ereignisse statt, die zur
Ermordung von über 40.000 jüdischen Frauen und Kindern führten. Sie werden
im folgenden aus der Sicht der Generäle dargestellt, die 1947/48 vor dem
Militärgericht in Nürnberg von den USA-Amerikanern dazu zur Verantwortung
gezogen wurden.
Es kommen folgende Militärs zu Wort: der Generalmajor Walter Bruns, Leiter
des „Brückenstabs Bruns“, der Generalfeldmarschall Wilhelm Ritter von Leeb,
Chef der Heeresgruppe Nord, und sein Nachfolger, Feldmarschall Georg
Küchler. Letzterer zeichnete auch mitverantwortlich für den Tod von
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Hunderttausenden an Zivilisten in Leningrad (von 4 Millionen Einwohnern
dieser belagerten und ausgehungerten Stadt).
Die zitierten Quellen stammen im ersten Teil aus der Handakte von Leeb,
angefertigt von seinem Verteidiger Laternser, die mir Gerald Fleming (Emeritus
Reader der University of Surrey und Autor des Buches über „Hitler und die
Endlösung“, 1982, der als Jude 1938 aus Baden-Baden vertrieben wurde) zur
Verfügung stellte und die zum Teil mit in die Akten eingegangen sind, die Jörg
Friedrich (1993) erstmals systematisch durchgearbeitet und veröffentlicht hat:
Der Prozeß der Vereinigten Staaten von Amerika gegen Wilhelm von Leeb und
andere: OKW-Prozeß, High Command Case, Bayerisches Staatsarchiv
Nürnberg, KV, Fall 12 (mit über 10.000 Seiten an Dokumenten,
Zeugenverhören, Beweisverfahren, Anklageschriften,
Verteidigungsdokumenten, Schlußplädoyers der Angeklagten etc.). Zu den
Tötungsaktionen ist zu bemerken, daß die neuere Forschung im Begriff ist, die
Zahlen der Toten zu reduzieren. Nach Einsicht der in Riga lagernden Akten der
zuständigen Kommission aus der UDSSR kommen jüngere Forscher zu der
Erkenntnis, daß die Zahl der Ermordeten im Ghetto von Riga weit unter 30.000
liegen (M. Vestermanis,1998,S.472-492).
In den folgenden Texten gehen wir weiterhin von den Zahlen aus, die im
Nürnberger Prozeß gegen das Oberkommando der Wehrmacht und gegen die
Einsatzgruppen zu Grunde gelegt wurden.
Gelegentlich unterbrechen wir die Lesung durch Musikbeiträge, um Zeit zum
Nachdenken und zum Luftholen zu lassen. Wir greifen dabei zurück auf
Komponisten, die sich immer wieder mit diesem Thema auseinander gesetzt
haben: Karl Amadeus Hartmann, Hans Werner Henze und Peteris Vasks. aus
Riga. Alternativ dazu bietet sich der Rückgriff auf die von Pablo Casals
zwischen 1929 und 1936 eingespielte Cello-Sonaten an (CD 48030 AAD)
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Einspielband: K.A. Hartmann, Concerto funebre, 1. Satz, 1,34 Min. oder
Felix Mendelssohn-Bartholdy, Nr 49 in D-dur, op. 109
Sprecher 1:
Am 18. Dezember 1948 behandelte das Amerikanische Militärtribunal im
Nürnberger Prozeß gegen das OKW einen die Wehrmacht besonders
belastenden Fall: Die Erschießung von über 40.000 Juden in Riga. Zu den
Ereignissen im Ghetto von Riga vom 29.11. bis 1.12.1941 und vom 8. und
9.12.1941 hatte der Generalmajor der Pioniere, Walter Bruns, Kommandeur des
Brückenstabes Riga, im Kreuzverhör folgende Aussage bezeugt:
Sprecher 2:
„Die ganze Sache hat etwa drei Tage gedauert. Jede Stunde hat etwa 1.200 bis
1.500 Frauen und Kindern das Leben gekostet, und die Erschießung ging 10
Stunden am Tage.“
Kommentator:
Frage: „Waren es lauter Frauen?“
Sprecher 2:
Bruns: „Das waren nur Frauen, ja, und Kinder.“
Kommentator:
Frage: „Hörten Sie von irgendwelchen Ausrottungsaktionen von Juden außer
der, die Sie eben beschrieben haben?“
Sprecher 2:
Bruns: „Es hat sich eine solche in Petrowska und in verschiedenen anderen
Orten ereignet. Als ich von dem Rigaer Vorkommnis erzählte, wurde mir
gesagt, es seien in dem Dreieck Kowno-Winnitza-Schitomir auch derartige
Exekutionen vorgekommen. Das Exekutionskommando in Riga rühmte sich
selbst, in der Ukraine mehrere hunderttausend und zuletzt bei Minsk 67.000
erledigt zu haben, wie sich die Leute immer ausdrückten.“
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Kommentator:
Frage: „Bedeutet das getötet?“
Sprecher 2:
Bruns: „Ja. Das war der übliche Ausdruck geworden.“
Sprecher 1:
Ein anderer Pionier und Regimentskommandeur will davon nichts
mitbekommen haben. General Wilhelm Ullersperger, Korpspionierführer des
26. Armeekorps der 18. Armee, behauptete vor dem Nürnberger Tribunal, von
den Judenerschießungen in Riga nichts gehört und gewußt zu haben, obwohl er
sich zu diesem Zeitpunkt in der Stadt aufhielt und zudem militärischer
Kommandant Rigas war.
Der Hauptangeklagte im OKW-Prozeß, der Feldmarschall Ritter von Leeb, zur
Zeit der Judenerschießungen noch Chef der Heeresgruppe Nord, fertigte zu den
Vorgängen eine Handakte an, die ihm sein Verteidiger Hans Laternser
zusammengestellt haben dürfte (NOKW, 8 29 ff). Wir zitieren aus der Akte des
Generals:
Sprecher 3:
„Zur Zeugenvernehmung Bruns am 18.2.1948: Judenerschießungen in Riga.
Vorgang: Erschießung von 42 - 45.000 jüdischen Frauen und Kindern Anfang
Dezember 1941 in Riga durch SS.
General Bruns, Kommandeur des Brückenbaustabes in Riga, dem General der
Pioniere v. Scheven bei der Heeresgruppe Nord (H.Gr.) unterstellt, rief
Oberstleutnant Richter beim General der Pioniere an und meldete die
bevorstehende Exekution. Er brachte einen Bericht über die beginnende
Erschießung persönlich zum General der Pioniere beim Ob.d.H.
(Oberkommando des Heeres) und schickte einen Durchschlag dieses Berichts
an Oberstleutnant Richter.
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Stellungnahme: Ganz Litauen und Lettland gehörten schon seit Monaten zum
Reichskommissariat Ostland. Sie waren der Einflußnahme und Befehlsgewalt
der H.Gr. entzogen. In Riga befand sich der Sitz des Reichskommissariats. Die
Untaten fanden also unter den Augen und durch Organe des
Reichskommissariats statt.
Die militärische Sicherung des Reichskommissariats oblag dem
Wehrmachtsbefehlshaber, General Bremer. Er hatte seinen Dienstsitz in Riga.
Er unterstand dem OKW (Oberkommando der Wehrmacht).
Es bestand ebenso wenig ein dienstlicher Zusammenhang zwischen ihm und der
H.Gr.Nord wie zwischen dem Reichskommissariat und der H.Gr.Nord.
Die Zahlenangaben von General Bruns sind unglaubwürdig. Woher sollen diese
45.000 jüdischen Frauen und Kinder hergekommen sein? Schon die lettische
Bevölkerung hat die Juden in Riga im Juli ausgerottet. 45.000 Personen
entsprechen in Vierer-Reihe einer Marschlänge von etwa 12 km! Wie hätten
diese 45.000 Erschossenen in 3 Massengräbern bestattet werden können?
Da nach Angaben von Bruns die Exekution 3 Tage zu je 10 Stunden dauerte,
hätten in jeder Minute 25 Menschen erschossen werden müssen!
Ich kann nur bedauern, von dieser Untat nichts gehört zu haben. Wenn ich auch
nicht die Möglichkeit gehabt hätte, sie durch Befehl zu verhindern, so konnte
ich doch beim Ob.d.H. auf die Unmöglichkeit einer solchen Politik der Gewalt
und der Ausrottung hinweisen und vorstellig werden.
Gerade in den ersten Tagen des Dezember war ich von schwerer Sorge über die
Frontlage erfüllt. Die Lage bei Tychwin hatte sich so entwickelt, daß ein
Rückzug hinter den Wolchow unvermeidlich geworden war. Das Schicksal von
3 - 4 Divisionen hing hiervon ab. Ich hatte mit Hitler schwer zu ringen, ihm
diesen Entschluß abzuringen.“
Sprecher 1:
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Nichtwissen, Unzuständigkeit und militärische Notwendigkeit, das sind die
Worthülsen, die immer wieder von den Generälen zur Verteidigung ihrer Taten
bemüht wurden. Wie Leeb gingen auch die anderen Angeklagten vor: Wenn
Verbrechen in ihre Zuständigkeit fielen, haben sie nichts davon erfahren; wenn
sie davon erfahren hatten, fielen sie nicht in ihre Zuständigkeit; wenn aber die
Zuständigkeit bewiesen werden konnte und die Kenntnis aktenkundig war, dann
handelten die Generäle aus militärischer Notwendigkeit.
In diesem Fall stammte das belastende Material von einem General selbst, der
zu den allzu wenigen mutigen Offizieren gehörte, die gegen das Verbrechen
demonstrierten. Der General der Pioniere Bruns hatte eine schriftliche
Dienstmeldung über die ihm „unerklärliche Schießerei und Schreierei“
angefertigt und diese Admiral Canaris, dem Chef der Abwehr, und dem
Generalobersten Halder im Oberkommando des Heeres noch im Dezember 1941
zugeleitet. Das Ergebnis dieser Intervention: Der Vertreter des zivilen
Gebietskommissars informierte den General Bruns - diskret und heimlich - über
den Befehl, der den Bedürfnissen des Heeres nach Entlastung Rechnung trug:
„Derartige Massenerschießungen müssen in Zukunft in unauffälliger Form
erfolgen.“
Für wen unauffällig? Können 40.000 Personen so unauffällig verschwinden?
Für die Truppe waren es „Randerscheinungen des Krieges“, die der Polizei oder
den unteren Befehlsebenen der Armee zugemutet wurden.
Einspielband: Hartmann, Concerto funebre, letzter Satz, 3,53 Min. oder
Giuseppe Valentini, Gavotte aus der Violin-Sonate in E-dur (1,47 Min.)
Sprecher 1:
Doch zurück zu dem Mut und dem Bekenntnis des Generals, der Widerspruch
anmeldete. Am 8. April 1945, also noch vor Ende des Krieges, hatte
Generalmajor Bruns zu den Massenerschießungen von Riga erneut ausgesagt D:\75884672.doc
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vor den Briten im besetzten Göttingen. Diese Aussagen befanden sich ebenfalls
in der Handakte des Hauptangeklagten von Leeb. Wir zitieren aus diesem
„C.S.D.I.C. (U.K.) G.G. Report“ der Briten:
Sprecher 2:
Bruns: „Als ich davon hörte, daß am Freitag die Juden erschossen werden
sollten, ging ich zu dem 21-jährigen Bürschchen und sagte, daß sie (die Juden)
sich in meinem Dienstbereich sehr nutzbar gemacht hatten, außerdem: der
Heereskraftfahrpark hatte 1500, dann hatte die Heeresgruppe etwa 800 Frauen
eingesetzt, um Wäsche zu nähen von den Beständen, die wir in RIGA gefunden
hatten, dann nähten in der Nähe von RIGA etwa 1200 Frauen aus mehreren
Millionen gefundener Schaffelle das, was uns dringen fehlte: Ohrenschützer,
Pelzkappen, Pelzwesten usw.. Es war doch nichts vorgesehen, weil ja doch der
Krieg in RUSSLAND schon siegreich beendet war bekanntlich im Oktober
1941. Kurz und gut, alles Frauen, die nutzbar eingesetzt waren. Habe ich
versucht, die zu retten. Zu diesem Bürschchen da, ALTENMEYER (aus
Falkenburg am Krößinsee, Dienstgrad: Ordensjunker) - den Namen vergesse ich
nicht, der kommt auch auf die Verbrecherliste -. Zu dem sage ich: „Hören Sie
mal, das sind doch wertvolle Arbeitskräfte für uns!“ „Wollen Herr Oberst die
Juden als wertvolle Menschen bezeichnen?“ Ich sage: „Hören Sie mal, Sie
müssen zuhören, was ich sage, ich habe gesagt wertvolle Arbeitskräfte. Über
ihren Menschenwert habe ich ja gar nicht gesprochen.“ Sagt er: „Ja, die müssen
erschossen werden, ist FÜHRER-Befehl!“ Ich sage: „FÜHRER-Befehl?“
„Jawohl, und da zeigt er mir das. SKIROTOWA war es, 8 km von RIGA,
zwischen SCHAULEN und MITAU sind ja auch die 5000 Berliner Juden
plötzlich aus dem Zug raus erschossen worden. Das habe ich zwar nicht
gesehen, aber das bei SKIROTOWA - also kurz und gut, es gab dann mit dem
Kerl da noch eine Auseinandersetzung, ich habe dann telephoniert mit dem
General im Hauptquartier, mit JAKOBS und mit ABERGER und mit einem Dr.
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SCHULTZ, der da war beim General der Pioniere, wegen dieser Arbeitskräfte;
ich sagte ihm noch: „Ich will mich Ihrer Auffassung anschließen, daß das Volk
an den Völkern der Erde gesündigt hat, dann laßt sie doch nutzbare Fronarbeit
leisten, stellt sie an die Straßen, laßt die Straßen streuen, daß uns die
Lastkraftwagen nicht in die Gräben schlittern.“ „Ja, die Verpflegung!“ Ich sage:
„Das bißchen Fressen, was die kriegen, ich will mal 2 Millionen Juden
annehmen - 125 Gramm Brot kriegten sie per Tag - wenn wir das nicht mehr
aufbringen, dann wollen wir lieber heute als morgen Schluß machen.“ Dann
habe ich telephoniert usw. und denke doch nicht, daß das so schnell geht.
Jedenfalls, Sonntag morgens höre ich, daß sie es schon machen. Das Ghetto ist
ausgeräumt worden, da ist ihnen gesagt worden: „Ihr werdet umgelagert, nehmt
die wichtigsten Sachen noch mit.“ Im übrigen war das eine Erlösung für die,
denn wie sie im Ghetto behandelt wurden, das war ein Märtyrium. Ich wollte es
nicht glauben, da bin ich rausgefahren und habe mir den Laden angeguckt.“
Kommentator:
Zwischenfrage:
„Das Ausland hat das doch alles gewußt, nur wir Deutschen haben es nicht
gewußt.“
Sprecher 2:
Bruns: „Ich will Ihnen etwas sagen: es mag das eine oder andere gestimmt
haben, es ist aber auffallend, daß das Exekutionskommando, was an dem
Morgen da erschoß, also an jeder Grube sechs Maschinenpistolenschützen – die
Gruben waren 24 m lang und ungefähr 3 m breit, mußten sich hinlegen wie die
Sardinen in einer Büchse, köpfe nach der Mitte. Oben sechs
Maschinenpistolenschützen, die dann den Genickschuß beibrachten, Wie ich
kam, war sie schon so voll, da mußten die Lebenden also dann sich drauflegen
und dann kriegten sie den Schuß; damit nicht so viel Platz verloren ging,
mußten sie sich schön schichten. Vorher wurden sie aber ausgeplündert an der
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einen Station - hier war der Waldrand, hier drin waren die drei Gruben an dem
Sonntag und hier war noch eine 1 ½ km lange Schlange und die rückte
schrittchenweise - es war ein Anstehen auf den Tod. Wenn sie hier nun näher
kamen, dann sahen sie ,was drin vor sich ging. Ungefähr hier unten mußten sie
ihre Schmucksachen und ihre Koffer abgeben. Das Gute kam in den Koffer und
das andere auf einen Haufen. Das war zur Bekleidung von unserem
notleidenden Volk - und dann, ein Stückchen weiter, mußten sie sich ausziehen
und 500 m vor dem Wald vollkommen ausziehen, durften nur Hemd oder
Schlüpfer anbehalten. Das waren alles nur Frauen und kleine Kinder, so 2jährige. Dann diese zynischen Bemerkungen! Wenn ich noch gesehen hätte, daß
diese Maschinenpistolenschützen, die wegen Überanstrengung alle Stunden
abgelöst wurden, es widerwillig gemacht hätten! Nein, dreckige Bemerkungen:
„Da kommt ja so eine jüdische Schönheit“. Das sehe ich noch vor meinem
geistigen Auge. Ein hübsches Frauenzimmer in so einem feuerroten Hemd. Und
von wegen Rassenreinheit: in RIGA haben sie sie zuerst rumgevögelt und dann
totgeschossen, daß sie nicht mehr reden konnten. Dann habe ich zwei Offiziere
rausgeschickt, von denen einer jetzt noch lebt, weil ich Zeugen haben wollte.
Ich habe ihnen nicht gesagt, was los ist; „Gehen Sie zum Wald von
SKIROTOWA raus, gucken Sie sich an, was da los ist, und machen sie einen
Bericht darüber.“ Dann habe ich zu dem Bericht noch ein Amtsschreiben
dazugemacht, und habe ihn persönlich zu JAKOBS hingebracht. Der sagte:
„Hier liegen schon zwei Beschwerden von Pionierbataillonen aus der
UKRAINE vor.“ Da hatten sie sie am Rande von den großen Erdspalten
totgeschossen und reinfallen lassen und dann hat es beinahe Pest gegeben, also
jedenfalls pestilenzartige Düfte. Sie hatten sich eingebildet, sie könnten mit der
Kreishacke die Ränder dann abpickeln und dann würden die begraben sein.
Dieser Löß war so hart, daß zwei Pionierbataillone nachher die Ränder
absprengen mußten, da hatten sich die Bataillons darüber beschwert. Das lag
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auch bei JAKOBS. Er sagte: „Wir wußten nicht recht, wie wir es dem FÜHRER
zu Gehör bringen sollten. Machen wir auf dem Wege über CANARIS.“ Der
hatte diese scheußliche Aufgabe, immer so die günstige Minute abzupassen und
dem FÜHRER so leise Andeutungen zu machen. Vierzehn Tage später war ich
mit einer anderen Angelegenheit bei dem Oberbürgermeister oder wie damals
die besondere Funktionsbezeichnung war, da zeigte mir der ALTENMEYER
triumphierend: „Hier ist eine Verfügung gekommen, daß derartige
Massenerschießungen in Zukunft nicht mehr stattfinden dürften. Das soll
vorsichtiger gemacht werden.“ Ich weiß aber jetzt aus meinen letzten
Warnungen, daß ich seit der Zeit noch verschärft bespitzelt wurde.“
Kommentator:
„Allerhand, daß Sie überhaupt noch leben.“
Sprecher 2:
Bruns: „Ich habe in GÖTTINGEN jeden Tag auf meine Verhaftung gewartet.“
Einspielband: H.W. Henze, Sinfonie Nr. 9 (Bericht der Verfolger) 1,46 Min.
oder Johann Sebastian Bach, Orchestersuite Nr.3, in D-dur, BMW 1068
(3,16)
Sprecher 1:
Wenige Wochen vor dem Judenmord in Riga belagerte die 18. Armee
Leningrad. Dazu wurden die Generäle von Leeb, Warlimont und von Küchler in
Nürnberg vernommen. Worum ging es?
Nach fünf Wochen langer Belagerung erhielt von Leeb im Oktober 1941 den
Führerbefehl, eine Kapitulation Leningrads weder zu fordern noch anzunehmen.
Das hieß faktisch: Errichtung eines Vernichtungslagers mit 3 Millionen zum
Tode Verurteilter, also mindestens zweimal so viel Opfer wie in Auschwitz.
Erst im Nürnberger Kreuzverhör will von Leeb seine Rolle durchschaut haben nachdem eine bedrückende Last an Beweisstücken seine Schuld dokumentiert
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hatte. Unter anderem hatte ihm ein Stabsoffizier der 18. Armee den Plan zur
Ausrottung dieser Millionen „unnützer Esser“ folgendermaßen begründet:
„Vorteile a): Ein großer Teil der kommunistischen Bevölkerung Rußlands, der
gerade unter der Bevölkerung Leningrads zu suchen ist, wird ausgerottet. b) Wir
brauchen 4 Mio. Menschen nicht zu ernähren. Nachteile: a) Seuchengefahr, b)
die seelische Einwirkung durch die vor unserer Front verhungernden Massen
auf unsere Truppe ist groß. c) Der feindlichen Presse wird ein wirksames
Propagandamittel in die Hand gegeben“.
Sprecher 3:
Leeb kommentierte das Papier in Nürnberg treffend und trocken: „Da scheint
sich also einer der Herren im Armee-Oberkommando 18 Gedanken gemacht zu
haben.“ Es sind Gedanken eines jüngeren Offiziers, die wir acht Wochen später,
am 13.11.1941, im Memorandum der Konferenz der Stabschefs aller
Heeresgruppen und Armeen in Orscha wiederfinden: „Die Frage der Ernährung
der Zivilbevölkerung ist katastrophal. Es ist klar, daß an oberster Stelle die
Truppe und ihre Bedürfnisse stehen. Dabei wird das flache Land immer noch
einigermaßen erträglich dastehen. Unlösbar dagegen ist die Frage der
Ernährung der Großstädte. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß
insbesondere Leningrad verhungern muß, denn es ist unmöglich, diese Stadt zu
ernähren. Aufgabe der Führung kann es nur sein, die Truppe hiervon und von
den damit verbundenen Erscheinungen fernzuhalten.“
Einspielband: Vasks, Musica dolorosa, 1. Teil; oder Beethoven, Menuett in
G-dur, 2,31 Min.
Sprecher 1:
Die Generäle rechtfertigten ihr Tun vor dem Militärtribunal in Nürnberg mit der
allgemeinen Lebensmittelknappheit, die im Winter 1941 auch das deutsche
Heer in Versorgungsschwierigkeiten brachte. Bei der Verteilung der knappen
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Nahrung kam den Generälen wie von selbst die Theorie der „nutzlosen Esser“
in den Sinn. Der dem Widerstand zugerechnete Generalstabschef des Heeres
Franz Halder, in Nürnberg Verteidigungszeuge, notierte damals in sein
Tagebuch:
Kommentator:
„Was tun mit Insassen der Irrenanstalten im besetzten Gebiet? Russen sehen
Geistesschwäche als heilig an. Trotzdem Tötung notwendig.“
Sprecher 1:
Im Befehlsbereich der 18. Armee, die unter dem Kommando des ebenfalls in
Nürnberg angeklagten Generalfeldmarschall von Küchler stand, befand sich im
Gebäude eines ehemaligen Klosters ein Asyl, das 230 unheilbar kranke Frauen
beherbergte: Epileptikerinnen und Syphilitikerinnen. Nahrung und
Medikamente waren fast verbraucht und da keine Zuteilung beabsichtigt war,
rechnete die Abwehrabteilung Küchlers damit, daß die hungrigen Frauen im
Gelände streuen und deutsche Soldaten infizieren könnten:
Kommentator:
„Diesem ausgesprochenen Gefahrenherd zu erlauben, unmittelbar hinter den
vorgeschobenen Linien der Winterstellung zu verbleiben, erscheint untragbar.
Es kommt hinzu, daß die Insassen der Anstalt auch im Sinne deutscher
Auffassung Objekte nicht mehr lebenswerten Lebens darstellen.“
Sprecher 1:
Am 1. Weihnachtstag des Jahres 1941 ordnete Küchler an, die Frauen einem
Erschießungskommando des Sicherheitsdienstes auszuhändigen. Am 3. Januar
meldete der Generalstabschef des 18. Armeekorps: „Die Angelegenheit ist
bereinigt.“
Mit Hilfe einer Notiz des Nachrichtenoffiziers des 28. Armeekorps versuchte
die Verteidigung, Küchler in Nürnberg aus dieser Schlinge zu ziehen. Diese
Notiz betraf ein Telefongespräch mit dem Armeekommando. Und aus der Notiz
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18
wird sichtbar, daß hinter der Vernichtung der 230 kranken Frauen ein sehr
profanes Interesse stand: Das Asyl Makarewskaja war zum Zeitpunkt der
Kontaktierung des 28. Armeekorps mitten in die Frontlinie geraten. Es war
höllisch kalt und das Armeekorps suchte zur Unterbringung von Truppen
dringend Herberge. Darüber konferierten die Nachrichtenoffiziere am Telefon
unverblümt. Beide interessierten sich für das Gebäude des Asyls, nicht für die
Kranken. Sie waren ihnen völlig gleichgültig. Da die Liquidierung von Kranken
zwecks Quartierbeschaffung für Soldaten militärisch illegal ist, bemüht der
Abwehroffizier des 28. Armeekorps für sein elendes Räumungsinteresse eine
ideologisch hochtrabende Floskel, das „lebensunwerte Leben“.
Vermutlich erinnerte Küchler, ein General mit einem privat ganz
antinazistischen Ambiente, den Vorfall in Nürnberg tatsächlich nicht mehr. Im
Dezember 1941, mit Minustemperaturen um 40º, bei verlustreichen Gefechten,
in mangelhafter Bekleidung, denkt ein Armeeführer intensiver an die
Verfassung seiner Soldaten als an einige Dutzend Syphilitikerinnen. Auch wenn
einige hunderttausend Gegner wehrlos zu Grunde gehen, ändert sich nichts an
der berechnenden Attitüde. Halder vermerkt in seinem Tagebuch, daß für
Bewachung und Transport von 20.000 Gefangenen eine Division vonnöten sei.
Bei 3 Mio. Gefangenen und 152 Divisionen der deutschen Rußland-Armee
leuchtet ein, daß die Aufgabe nicht zu bewältigen ist. Die wenigen, zumeist
alten, schwachen Bewachungsmannschaften schossen darum auf den
Gefangenenmärschen alles zusammen, was lahmte. Weil die Schlachtfelder der
Kesselschlachten so riesig seien, notiert Halder, fehlte es an Kräften, die Kessel
rasch zu leeren. Darum fallen die von der Versorgung abgeschnittenen
Eingekesselten der Wehrmacht nach langer Zeit halb verhungert in die Hände
(vgl. dazu Jörg Friedrich, 1993, S. 308/09).
Einspielband: Vasks, Musica dolorosa, Teil 2 ; oder Bach, Andante aus der
Sonate Nr.2 in A-moll (3,34)
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19
Sprecher 1:
Zeitlich parallel zum Prozeß gegen die Generäle des Oberkommandos der
Wehrmacht und der Süd-Ost-Generäle fand in Nürnberg der Prozeß gegen die
SS-Intellektuellen statt. Im Prozeß gegen die Einsatzgruppen der SS stammte
das Hauptbelastungsmaterial von den Tätern selbst. 90 selbstverfaßte
Tätigkeitsberichte der angeklagten 22 Einsatzgruppenführer um den SSIntellektuellen Ohlendorf stellten Anklage und Gericht vor ein menschliches
Rätsel. Die Angeklagten nannten sich unschuldig, weil sie ihr Töten als eine
Notwendigkeit begriffen hätten.
Sprecher 2:
„Wir müssen bedenken“, heißt es im Anklageplädoyer von General Taylor, „daß
die Einsatzgruppen kleine Verbände von 500 bis 800 Leuten waren. Vier dieser
kleinen Verbände, zusammengenommen nicht mehr als 3000 Mann, töteten
mindestens eine Million Menschen innerhalb einer Spanne von 2 Jahren. Diese
Zahlen ermöglichen Schätzungen, die es sehr erleichtern, diesen Fall zu
verstehen. Sie zeigen, daß die vier Einsatzgruppen durchschnittlich 1350 Morde
am Tag über eine zweijährige Periode hinweg vollbrachten. 1350 Menschen an
einem normalen Tag abgeschlachtet, 7 Tage die Woche, durch mehr als hundert
Wochen.“
Nach den Tätigkeitsberichten der Einsatzgruppen wurde „erschossen, ...
beseitigt, ... erfaßt und liquidiert, ... exekutiert, ... hingerichtet, ...entledigt,
erledigt, ...unschädlich gemacht, ... entsprechend behandelt, ...von Juden
gereinigt, ...die jüdische Frage gelöst.“
.
Sprecher 1:
Welche Tötungsdimensionen sich damit verbanden, läßt sich an dem
Lagebericht „UdSSR 133“ verdeutlichen. Dieser verzeichnete in den Zeiten der
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20
Belagerung Leningrads und des Judenmassakers in Riga 133 Operationen,
durchgeführt von der Armeegruppe B, die SS-Brigadeführer Erich Naumann
leitete:
Sprecher 3:
„83 von mehreren hundert Insassen eines Zwangsarbeiterlagers in Mogilew
wurden am 25. Oktober 1941 als rassisch minderwertige Elemente mit
asiatischem Einschlag liquidiert. Die Verantwortung für ihre Beibehaltung im
rückwärtigen Heeresgebiet war nicht länger tragbar. Als Resultat zahlreicher
Beschwerden über ihr aufreizendes Verhalten wurde eine Gesamtzahl von 2200
Juden nordöstlich von Mogilew in Gorki und Umgebung im Zuge einer Razzia
erledigt. Die Operation wurde in enger Zusammenarbeit mit der Militärpolizei
durchgeführt. Am 19. Oktober 1941 wurden in Mogilew Judenaktionen
größeren Ausmaßes mit Unterstützung durch das Polizeiregiment Mitte
gestartet. Hierdurch wurden 3726 Juden beiderlei Geschlechts und jeden Alters
liquidiert. Diese Maßnahmen waren notwendig, weil die Juden seit der
Besetzung von Mogilew durch deutsche Truppen die Autorität der
Besatzungsmacht herausforderten und trotz der bereits gegen sie ergriffenen
Maßnahmen nicht nur versäumten, sich solcher Aktionen zu enthalten, sondern
ihre anti-deutsche Tätigkeit (Sabotage, Unterstützung von Partisanen,
Weigerung zu arbeiten) in solchem Ausmaß und mit solcher Hartnäckigkeit
fortsetzten, daß dies im Interesse der Aufrechterhalten der Ordnung in den
rückwärtigen Gebieten nicht länger geduldet werden konnte.“
Sprecher 2:
Im Berichtzeitraum wird folgende Leistung festgehalten:
Gesamtsumme der von der Einsatzgruppe B liquidierten Personen: 45.467
Sprecher 1:
Als der hochgebildete Wirtschaftswissenschaftler und Rechtsanwalt Otto
Ohlendorf, der zum SS-Gruppenführer aufstieg, im Nürnberger Verhör von
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21
seinem Verteidiger gefragt wurde, wie er sich den Abscheu erkläre, mit dem die
ganze Welt die Judenvernichtung im Osten betrachte, antwortete er, daß diese
Taten in der Öffentlichkeit als isolierte Exzesse beschrieben würden, vollbracht
von der SS.
Sprecher 3:
„Man hat sie aus ihrem Zusammenhang genommen und die SS allein
verantwortlich gemacht. In Wirklichkeit sind diese Exekutionen im Osten eine
Konsequenz des totalen Krieges gewesen.“
Sprecher 1:
Dem ist nicht zu widersprechen. Als Ohlendorf sich am 15. Oktober 1947
hierüber vernehmen ließ, ging es ihm um das Vernichtungskonzept des
Rußlandfeldzugs, das von den Generälen der Wehrmacht mit verfaßt worden
war. Unter ihrer Oberhoheit wurde die alles entscheidende Schwelle der
nazistischen Judenpolitik genommen: „die von der Rassendiskriminierung zur
Rassenausrottung. Die Judenrasse aber war nur die Chiffre für den imaginären
Feind. Indem die Taten der Einsatzgruppen menschenmöglich waren, ist eine
Grenze der Zivilisation niedergelegt worden.“ (Jörg Friedrich).
Kommentator – Autor:
Jörg Friedrich, einer der besten Kenner dieser nach wie vor umstrittenen
Kriegsverbrechen gegen die Menschheit, ein engagierter, höchst kompetenter
Mitarbeiter in meinen achtziger Jahren in Nürnberg, faßt in seinem 1993 bei
Piper vorgelegten Buch - „Das Gesetz des Krieges. Das deutsche Heer in
Rußland 1941 bis 1945. Der Prozeß gegen das Oberkommando der Wehrmacht“
- die Ereignisse folgendermaßen zusammen:
Sprecher 3:
„Das Nürnberger Dokument PS 4064 enthält einen Befehl des
Generalfeldmarschalls Erich von Manstein, der strategische Genius des
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22
deutschen Heeres. Manstein instruiert darin die Soldaten seiner 11. Armee, den
Kampf im Osten nicht „nach europäischen Kriegsregeln zu führen. Das jüdischbolschewistische System muß ein für allemal ausgerottet werden. Nie wieder
darf es in unseren europäischen Lebensraum eingreifen. Für die Notwendigkeit
der harten Sühne am Judentum muß der Soldat Verständnis aufbringen...
Manstein, (von den Briten im Hamburger Curio-Haus-Prozeß) zu 18 Jahren
verurteilt, wirkte nach seiner vorzeitigen Haftentlassung - und ich möchte
einschieben, daß ihm in seiner bitteren Haft der seinerzeitige Bundeskanzler
Adenauer Kondolenzbesuche abstattete - als militärischer Berater der
Bundesregierung. Das Verständnis „für die harte Sühne am Judentum“ wurde
bekanntlich erzielt. Der Durchbruch von der Diskriminierung zur Vernichtung
der Juden erfolgte während des Rußlandfeldzugs und zwar in dem
reibungslosen Zusammenwirken von Generalität und Einsatzgruppen. Die
zivilisatorische Schranke vor dem Massenmord zerbrach im Offizierskorps. Die
grundsätzliche Verantwortung der Militärbefehlshaber für die
Judendeportationen im besetzten Europa möchte ich nur streifen: Frankreich,
Belgien, Holland, Dänemark, Norwegen. Dort überall hatte die Invasionsarmee
die exekutive Gewalt, d.h., sie war verantwortlich für Leib und Leben der
Bevölkerung. Sie darf sie nicht irgendwelchen Eichmanns übertragen. Das ist
die Verantwortung der Generalität.“
Einspielband: Vasks, Musica dolorosa, Teil 3; oder Bach, Komm süßer
Tod, aus „Schemelli Gesangbuch“, (3,34 Min.)
Sprecher 1:
Die Bestrafung der Generäle in Nürnberg wirkte auf die Zeitgenossen hart. Vier
lebenslängliche Haftstrafen wurden verhängt, darunter für Warlimont, Reinecke
und List. Küchler erhielt 20, v. Leeb 3 Jahre Haft.
In den Urteilen sah sich fast die ganze deutsche Wehrmacht gedemütigt.
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23
Ohlendorf und 13 Mitangeklagte wurden im Einsatzgruppen-Prozeß zum
Schafott verurteilt. Weitere 8 erhielten Haftstrafen zwischen 3 Jahren und
Lebenslänglich.
Kein Bedauern, keine Einsicht war von den Generälen zu hören. Im Gegenteil:
Sie rechtfertigten ihre Anweisungen, Kommandos und Greueltaten trotz
zahlloser vorgelegter und von Zeugen bestätigter Beweise.
Sprecher 2
„Wir sind nicht schuldig... Wir taten unsere soldatische Pflicht für unser
Vaterland, für Deutschland, so, wie wir sie Jahrzehnte hindurch getan hatten...
Wir hatten nur das eine Ziel, das Land zu befriedigen. Jeder Gedanke an
Terrorisierung, Dezimierung oder gar Ausrottung lag uns völlig fern...“, erklärte
Feldmarschall List am 19. Februar 1948 vor dem Militärgerichtshof der
Vereinigten Staaten von Amerika in Nürnberg im Namen aller Angeklagten, die
im Fall 7 (Prozeß gegen die Südost-Generale), im Geiselmordprozeß, verurteilt
worden waren. „Um zu einer gerechten Würdigung zu kommen“, heißt es weiter
in seinem Schlußwort vor dem Nürnberger Militärtribunal, „ist weiter
erforderlich, die inneren Verhältnisse zu berücksichtigen, unter denen zu dienen
wir gezwungen waren. Wir waren durch unseren Eid und die Gehorsamspflicht
gebunden; und wir lebten unter dem Zwang einer sich mehr und mehr
dämonisch wie chaotisch gestaltenden Diktatur; in einer Diktatur, in der
trotzdem ein starkes Neben- und Gegeneinander herrschte, in der aber dem
einzelnen nur geringste Handlungsfreiheit gelassen war; in einer Diktatur, von
der sich der Außenstehende keine Vorstellung machen kann, am wenigsten der
freie Bürger einer freien Demokratie. Auch können die ganzen Zusammenhänge
nicht verstanden werden, ohne einen Blick zu tun auf den Hintergrund des
damaligen Geschehens. Gegen uns standen im wesentlichen die g l e i c h e n
Kräfte, die heute auf dem Balkan eine Gewaltherrschaft aufgerichtet haben und
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24
in Europa aufrichten wollen; die Kräfte, die die Welt in Spannung halten, die
Kräfte, gegen die sich heute die westliche Welt wendet.
Möge ein gütiges Schicksal solche Kämpfe, wie wir zu führen gezwungen
waren, der Nation ersparen, die heute über u n s zu Gericht sitzt.
Dem Urteil des Gerichtes sehen wir mit Ruhe entgegen.
Sollte es zu einer Verurteilung kommen, so werden wir sie tragen
als Soldaten für die ehemalige deutsche Wehrmacht,
als Generale für unsere braven tapferen Soldaten,
als Deutsche für unser Volk.“
Einspielband: Vasks, Musica dolorosa, Teil 4; oder Robert Schumann,
Träumerei aus den „Kinderszenen“ op.15 (3,16)
Sprecher 1:
Eine solche Vorwärtsverteidigung beeindruckte offensichtlich die alliierten
Militärs ebenso wie die Plädoyers der Verteidiger-Gruppe um Dr. Hans
Laternser mit seinen Mitarbeitern Dr. Friedrich Frohwein, Dr. Harald Lucht, Dr.
Albrecht Schütze und Professor Dr. Erich Schwinge. Die teilweise selbst schwer
belasteten Juristen bereiteten auch das Schlußwort von Feldmarschall von Leeb
vor, das dieser im Namen der Angeklagten im Prozeß gegen das
Oberkommando der Wehrmacht (Fall 12) am 27. Oktober 1948 in Nürnberg
hielt:
Sprecher 3:
Hohes Gericht!
Ich bin beauftragt, im Namen der Angeklagten das Schlußwort zu sprechen.
Es kann wohl nicht als Überheblichkeit gewertet werden, wenn wir der
Meinung sind, daß der deutsche Offizier über die Grenzen seines Vaterlandes
hinaus ein Ansehen genossen hat, das sich nicht nur auf sein fachliches Können,
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25
sondern im wesentlichen auf die soldatischen Eigenschaften stützte, die das
wahre Wesen des Soldatentums ausmachen. Als diese Eigenschaften sehen wir
an die Treue, die innere Verbundenheit zwischen Offizier und Mann, den
Gehorsam, das Pflichtbewußtsein, die Selbstlosigkeit, den persönlichen Einsatz.
Die außergewöhnlich hohen Offiziersverluste in beiden Weltkriegen, auch unter
den Generalen, sind ein Beweis für unsere Opferbereitschaft.
Wir Angeklagten gehörten diesem Offizierskorps seit Jahrzehnten an. Wir sind
in diesem Wesen des Soldatentums erzogen und groß geworden. Wir erfüllten
unsere soldatischen Pflichten mit gleichbleibender Hingabe unter dem
deutschen Kaiser während des ganzen ersten Weltkrieges, in der Weimarer
Republik und im Dritten Reich.
Im Dritten Reich unter der Diktatur Hitlers sahen wir uns aber Entwicklungen
gegenüber, die unseren Grundsätzen und unserem Wesen widersprachen. Nicht
wir Offiziere haben uns geändert, sondern die Forderungen, die an uns gestellt
worden sind, haben sich geändert.
Gegen diese Entwicklung im Dritten Reich haben wir uns gestemmt. Aber die
Mittel, die in einer Diktatur wirksam sein konnten, waren beschränkt...
Im Osten ging die Härte der Kriegsführung von Rußland aus. Der Aufruf
Stalins, alle Deutschen niederzumachen, führte die Partisanen zu einer
entarteten Kriegführung.
Wir deutschen Soldaten hatten eine solche Kriegführung bisher nicht
angewandt, wir haben sie auch in Rußland und auf anderen Kriegsschauplätzen
nicht gewollt und nicht gesucht. Wir mußten uns gegen diese entartete
Kriegführung wirksam schützen. Wir waren in Notwehr.
Gegenüber den Anordnungen Hitlers, die unser menschliches und soldatisches
Empfinden verletzten, waren wir nicht dessen willenlose Werkzeuge. Wir haben
solche Anordnungen im Rahmen des Möglichen und des Zweckmäßigen
bekämpft, im Wortlaut gemildert und in der Ausführung unwirksam gemacht
D:\75884672.doc
26
oder abgeschwächt. Der Gegenbefehl des Oberbefehlshabers des Heeres über
die Aufrechterhaltung der Mannszucht und viele andere Gegenmaßnahmen sind
Beweise unserer Notwehr und unseres Kampfes.
Was über den rein kriegerischen Zweck des Krieges hinaus auf russischem
Boden geschehen ist, fällt der Wehrmacht nicht zur Last. Es ist ohne unser
Wissen und Zutun geschehen. Keiner der Angeklagten hat etwas von dem
Geheimen Führerbefehl und dem organisierten Massenmord durch die
Einsatzgruppen, die uns nicht unterstellt waren, gewußt.
Wir stehen dem Anklagepunkt IV ohne Begreifen gegenüber, an einem
gewissen Plan und an einer Verschwörung zur Begehung von Verbrechen nach
dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 beteiligt gewesen zu sein.
Ich fasse zusammen:
Wir Angeklagten haben unsere Pflichten als Soldaten zu erfüllen gehabt und
unter Diktatur schärfster Form mit uneingeschränkter Gesetzesgewalt, mit ihren
schweren Auswüchsen und mit ihrem Mißtrauen gegenüber uns, das sich bis
zum Haß gesteigert hat und das seine Gegenwirkung in den Ereignissen vom
20. Juli 1944 fand.
Wir standen im Kampfe nach außen gegen die äußeren Feinde, wir standen
gleichzeitig im Kampfe nach innen gegen die Partei, ihre Einflüsse, ihre
Forderungen, ihre fast uneingeschränkte Macht, besonders auch auf dem
Gebiete der Wehrmachtspflege, und wir standen im Kampfe gegen unseren
eigenen obersten Vorgesetzten. Es liegt wohl eine tiefe Tragik darin, daß wir als
die berufenen Hüter der soldatischen Gehorsamspflicht gezwungen waren,
gegen diesen Grundpfeiler jeden Soldatentums unserem obersten Vorgesetzten
gegenüber zu handeln.
Bisher hat wohl noch kein Soldat dieser Welt unter solchen Erschwernissen und
in solcher Tragik zu kämpfen gehabt.
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27
Wir haben im ersten Weltkrieg gegen kein Recht verstoßen und wir sind im
zweiten Weltkrieg dieselben geblieben. Wir sind nicht von verbrecherischen
Instinkten geleitet gewesen, wie die Anklage glauben machen will, sondern wir
haben ein Leben entsagungsvollen Dienstes und selbstloser Pflichterfüllung
unserem Vaterland und unseren Soldaten gegenüber hinter uns.
Es ist nicht notwendig und auch gar nicht möglich, uns die Maske vom Gesicht
zu reißen, wie die Anklage der deutschen Öffentlichkeit durch den Rundfunk
verkündet hat, weil wir keine Maske getragen haben.
Wir sind Soldaten, die ihr Soldatentum auch in diesem zweiten Weltkrieg unter
den Wirrnissen einer diktatorischen Gewalt hochgehalten haben. Wir rufen zu
unseren Zeugen die Hunderttausende von Frontsoldaten auf, die unter unseren
Befehlen gestanden haben.“
Einspielband: Pete Seeger, Last train to Nurnberg, 2,41 Min.
Kommentator – Autor:
Postscriptum: Von der Solidarität der Deutschen mit den NS-Tätern.
Die in Nürnberg verurteilten Offiziere wurden bald wieder gebraucht und in die
gewandelte bundesdeutsche Gesellschaft integriert. Der Aufbau der
Bundeswehr – aber auch der Nationalen Volksarmee der DDR – verlangte nach
ihrer Kompetenz. Die Integration der Nazitäter in die bundesdeutsche
Gesellschaft begann bald nach 1945. Der Protest gegen die Farce der
Entnazifizierung, gegen die Rehabilitationskampagne, blieb vergeblich, auch in
Bielefeld – trotz der Massenstreiks von 1947/48 gegen die allzu milden Urteile
des Bielefelder Schwurgerichts, das den Nazi Bankier von Schröder, Mitglied
des „Freundeskreis Himmler“ (wie Oetker-Chef Richard Kaselowsky) ebenso
wie den Bielefelder Gestapochef Kaufmann mit geringen Strafen davonkommen
ließ. Einige der Nazi Täter wurden Minister, Staatssekretäre, Ministerialbeamte,
blieben Professoren und Richter und erhielten hohe Auszeichnungen.
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28
Im März 1964 verlieh z.B. der damalige Bundespräsident Heinrich Lübke dem
Obersturmbannführer der SS und nunmehrigen stellvertretenden
Aufsichtsratsvorsitzenden der Ruhrchemie in Oberhausen, Dr. Heinrich
Bütefisch, das Große Bundesverdienstkreuz. Bütefisch war ein Pionier
chemischer Großprojekte. Sein bedeutendstes Projekt war ein Werk zur
synthetischen Herstellung von Treibstoff, das er im Auftrage des Konzerns IGFarben leitete – ein Bauprojekt, an dem sich 250 deutsche Firmen beteiligten.
Der Standort war von der IG-Farben mit Sorgfalt ausgesucht worden. Man
entschied sich für ein Gelände nicht weit weg von Auschwitz. Von dort aus
ließe sich nach Beendigung des soeben begonnenen Rußlandfeldzuges der
riesige östliche Raum bis in die Tiefen Asiens mit Treibstoff und Kunstgummi
versorgen. Daneben zählten Gummi und Treibstoff zu den strategisch
entscheidenden Rüstungsgütern, ohne die ein Krieg nicht zu führen war.
Im Nürnberger IG-Farben-Prozess von 1947/48 mußte sich Bütefisch
zusammen mit 23 anderen Direktoren und Aufsichtsratsmitgliedern für die
sogenannte IG-Auschwitz verantworten, die 25.000 Personen das Leben
gekostet hatte; 25.000 Personen von 300.000 Auschwitzinsassen, die die
Fabrikation der IG-Farben durchlaufen hatten. Wer nicht arbeitsfähig war,
wurde nach Auschwitz-Birkenau zur Vergasung abtransportiert. SSObersturmbannführer Bütefisch war in der IG-Farben die geeignete Person
gewesen, um mit der SS zu verhandeln, die das Konzentrationslager führte. Mit
Himmlers Stabschef Wolf wurde vereinbart, daß die SS (pro Auschwitzhäftling)
für einen gelernten Arbeiter 4,00 RM, einen ungelernten Arbeiter 3,00 RM und
für ein Kind 1,50 RM pro Tag erhielt und daß zur Bewachung auf dem
Firmengelände der IG-Farben tüchtige Berufskriminelle ausgesucht wurden, in
einem Verhältnis von 20:1. Die Vereinbarung ist enthalten in dem Nürnberger
Dokument NI 15 148 (Fall 6).
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29
Als Bütefisch 1964 das Bundesverdienstkreuz erhielt, erinnerte man sich
schlimmstenfalls noch an die sechs Jahre Haft, aber auf gar keinen Fall an
Dokument 15 148, auch nicht an die anderen 15.000 Dokumente der
Industrieprozesse gegen Flick, Krupp und IG-Farben. Sie waren nicht in das
gesellschaftliche Bewußtsein gedrungen. Des Bundesverband der Deutschen
Industrie hatte den Auschwitzfabrikanten für diese Ehrung vorgeschlagen. Nach
Auskunft des Verfassungsschutzes war Bütefisch absolut unverdächtig. Man
hatte auch im Strafregister nachgeschlagen, doch da waren die Nürnberger
Strafen nicht aufgeführt. Bütefisch galt also nicht als vorbestraft.
Unglücklicherweise fand in Frankfurt zur gleichen Zeit der Auschwitzprozeß
statt. Es wurden die Namen dreier ehemaliger Vertreter der IG-Farben genannt,
die vor dem Frankfurter Gericht aussagen sollten: Otto Ambros, Walter
Dürrfeld und eben jener Heinrich Bütefisch. Schnell legten sie Atteste vor, um
aus gesundheitlichen Gründen nicht vor Gericht erscheinen zu müssen. Aber
Bütefisch wurde erkannt, zumindest als unwürdig angesehen, das
Bundesverdienstkreuz zu tragen; es wurde ihm innerhalb von zwei Tagen
aberkannt. Seine Mandate in führenden Wirtschaftsunternehmen behielt er.
Die Unkenntnis über solche Zusammenhänge mag auch auf der
Unzugänglichkeit des Materials des IG-Farben-Prozesses beruhen. Er ist – wie
alle Nürnberger NS-Nachfolgeprozesse – nicht veröffentlicht, nur in Auszügen
dokumentiert. Und das ist den Verurteilten natürlich sehr recht. Was bedeuten
schon die immer wieder als „Siegerjustiz“ diffamierten Nürnberger Prozesse in
der Bundesrepublik! Die von deutschen und internationalen Gerichten am
Massenmord in Auschwitz für schuldig befundenen Täter wie Bütefisch waren
nicht nur nach der Meinung der damaligen deutschen Bundesregierung integre
Leute. Die Wiedereingliederung der Täter in die bundesdeutsche Gesellschaft
machte auch vor den extremsten Fällen nicht halt: Professor Fanz Six, als
Angehöriger der Einsatzgruppe B verurteilt, Ende August 1941 für 17.000
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30
Judenmorde verantwortlich zu sein, kam nach 1945 bei Mannesmann als
Werbedirektor unter und bediente den Bundesnachrichtendienst mit seinen
Kenntnissen, usw., usw.
Die Rehabilitierungen sind vor allem auf die Unkenntnis der zwölf Nürnberger
Nachfolgeprozesse gegen die hochrangigen Täter und Helfer des NS-Systems in
Wirtschaft, Wehrmacht, Justiz, Ärzteschaft, Diplomatie und Staatsverwaltung
zurückzuführen. „Die Tätergesellschaft“, konstatierte Jörg Friedrich, „hat sich
spurlos in die Nachkriegsgesellschaft verflüchtigt, sie ist dort nicht weiter
auffällig geworden und stirbt friedlich aus. Den Aufbau von Demokratie und
Rechtsstaat hat der NS-Täter nicht behindert. Das größte geschichtsbekannte
Verbrechen wurde mit dem größten Resozialisierungswerk abgeschlossen.“
Hier liegen die Wurzeln einer „Vergangenheitspolitik“, die den späten Vorwurf
einer „unbewältigten Vergangenheit“ begründeten und die Norbert Frei noch
einmal überzeugend dargestellt hat.
„Der nette Kerl von nebenan“, „der brave anständige Deutsche“, um ein
Lieblingswort des „Führers“ Adolf Hitler zu gebrauchen, der für zwölf Jahre
sich an der Vorbereitung und Durchführung des Massenmordes beteiligte,
wurde bruchlos in die Nachkriegsgesellschaft integriert. Mit welchen Folgen?
Schon der Schriftsteller und Publizist Maximilian Harden, Opfer eines
Mordanschlags der Femeorganisation „Consul“ vom 3. Juli 1922 hatte in dem
Prozeß gegen die Attentäter den Richtern, die ihn zum Hauptangeklagten zu
machen drohten, entgegengehalten: „Ihr Deutschen geht zugrunde durch eure
Solidarität mit euren Mördern.“
Einspielband: Ina Deter, 40 Jahre danach, 3 Min.
Literaturhinweise:
Hannes Heer/Klaus Naumann (Hg.) Vernichtungskrieg. Verbrechen der
Wehrmacht 1941 - 1944, Hamburg 1995;
D:\75884672.doc
31
Jörg Friedrich: Das Gesetz des Krieges. Das deutsche Heer in Rußland 1941 bis
1945. München 1993(Piper);
Jörg Friedrich/Jörg Wollenberg: Licht in den Schatten der Vergangenheit. Zur
Enttabuisierung der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse, FrankfurtM.
1987(Ullstein-Buch)
Detlef Bald u.a.: Mythos Wehrmacht, Berlin 2001(Aufbau-Taschenbuch)
Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden, Berlin 1982 (FischerTaschenbuch, 1990);
Ulrich Herbert (Hg.): Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1939 - 1945.
Neue Forschungen und Kontroversen, Frankfurt/M. 1998;
Ian Kershaw: Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im
Überblick, Reinbek 1994;
Götz Aly: Endlösung. Völkerverschiebung und Mord an den europäischen
Juden, Frankfurt/M. 1995;
Jörg Friedrich/Jörg Wollenberg (Hg.): Licht in den Schatten der Vergangenheit.
Zur Enttabuisierung der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse, Berlin
1987;
Daniel Jonah Goldhagen: Hitlers willige Vollstrecker, Berlin 1996;
Christopher R. Browning: Ganz normale Männer. Das Polizeibataillon 101 und
die Endlösung in Polen, Reinbek 1993;
Jörg Wollenberg, u.a.: Menetekel. Das Gesicht des Zweiten Weltkrieges.
Nürnberger Gespräch zum 50. Jahrestag der Entfesselung des Zweiten
Weltkrieges, Krakau/Nürnberg 1991.
Meinert/Schäfer: Juden in der Stadt Bielefeld, Bielefeld 1983 ;
Jörg Wollenberg (Hrsg.): Niemand war dabei und keiner hat’s gewußt? Die
deutsche Öffentlichkeit und die Judenverfolgung 1933-1945, München
1989(Piper, USA- Ausgabe New Jersey 1996)
D:\75884672.doc
32
Margers Vestermanis: Die nationalsozialistischen Haftstätten und Todeslager
im okkupierten Lettland 1941-1945, in:Ulrich Herbert u.a. (Hrsg),Die
nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Stuktur,
Bd.I,Göttingen 1998,S.472-492
Hamburger Institut für Sozialforschung(Hg.): Verbrechen der
Wehrmacht.Ausstellungskatalog, Hamburg 2002
D:\75884672.doc
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