1. Metapher und Sinnlichkeit - Evangelisch

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Zur Metaphorik göttlicher Medizin
bei Plutarch und im frühen Christentum
Reinhard von Bendemann
1.
Metapher und Sinnlichkeit
Unsere Aufmerksamkeit gilt im Folgenden 1 der Sprachform der Metapher, und zwar
genauer: der Metaphorik des Medizinischen in Hinsicht auf das Handeln Gottes resp. der
Gottheit(en) an Menschen. Die metaphorische Rede von Gott als Arzt, seiner Heilkunst
und seinem heilenden Umgang mit Menschen soll komparatistisch in der Analyse von
Texten eines prominenten spätantiken griechischen Philosophen sowie ausgewählter
frühchristlicher Texte beleuchtet werden – und zwar in Hinsicht auf die Bedeutung ihrer
sinnlichen Gründung und Funktionalität.
Wir gehen dabei von Ansätzen der kognitivistischen Metaphernforschung aus, welche
Metaphern
nicht
nur
in
ihrem
illustrativ-rhetorischen
Wert
innerhalb
von
Kommunikationsvorgängen beschreiben und interpretieren, sondern in ihnen ein
Basisphänomen menschlicher Kognition und Weltaneignung erkennen und metaphorische
Prozesse als körperlich empirisch grundiert betrachten.
Nach GEORGE LAKOFF und MARK JOHNSON als Pionieren der jüngeren kognitivistischen
Metaphernforschung2 sind menschliches Denken und menschliche Weltkonzeptualisierung
originär metaphorisch organisiert. Metaphern beschreiben nicht ein secundum additum im
Bereich des Sprachlichen, sondern führen zurück auf die basalen Möglichkeitsbedingungen
menschlicher Wirklichkeitsaneignung. Nicht nur menschliches Denken und Sprechen,
sondern auch Handeln und Fühlen sind immer schon metaphorisch konzeptualisiert.
1
Der Vortragsstil wurde im Wesentlichen beibehalten. In den materialen Abschnitten zu Plutarch und zu den
frühchristlichen Texten wurde die Zahl der Anmerkungen eng begrenzt und auf umfängliches
Bibliographieren verzichtet.
2
LAKOFF, GEORGE/JOHNSON, MARK, Metaphors We Live by, Chicago 1980; deutsche Übersetzung: Leben in
Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern, Heidelberg 32003. Vgl. ferner: LAKOFF, GEORGE/
TURNER, MARK, More than cool Reason. A Field Guide to Poetic Metaphor, Chicago 1989; TURNER, MARK,
Design for a Theory of Meaning, in: OVERTON, WILLIS F./ PALERMO, DAVID S. (Hrsg.), The Nature and
Ontogenesis of Meaning, Hillsdale 1992, 91-107. Zu Berührungspunkten mit der Konzeption E. CASSIRERs:
SCHRÖTER, JENS, Metaphorische Christologie. Überlegungen zum Beitrag eines metapherntheoretischen
Zugangs zur Christologie anhand einiger christologischer Metaphern bei Paulus, in: FREY, JÖRG/ ROHLS,
JAN/ZIMMERMANN, RUBEN (Hrsg.), Metaphorik und Christologie (Theologische Bibliothek Töpelmann 120),
Berlin/New York 2003, 53-73, hier: 58-61.
1
In den neuen Zugängen zum Phänomen des Metaphorischen
3
wird etwas in der
Metaphernforschung bislang Uneingelöstes herausgearbeitet: der Primat der Sinne im
Zusammenspiel mit empirischer Evidenz, des Physischen, Emotionalen und Mentalen. Die
Basis metaphorischer Übertragungen konstituiert sich aus vertrauten Erfahrungen der
Sinneswahrnehmung wie räumlicher Orientierung, Sehen, Hören, Fühlen, Tasten, Riechen,
Schmecken u.a. Metaphern ermöglichen in ihrer Körperbezogenheit Abstraktionen und
erzeugen Kohärenzen.
Auf unser Thema bezogen, ergibt sich damit eine besondere Relevanz metaphorischer
Sprachformen im Blick auf das religiöse Feld. Dieses wird nicht allein durch die
Wissensdimension, sondern auch durch die Dimensionen von Erfahrung und Handeln,
schließlich aber auch durch eine „materiale“ Dimension bestimmt wird, in der Dinge,
natürliche Gegebenheiten und materiale Grundlagen die Vorstellungen, sozialen
Entwicklungen und Praktiken prägen können. Fragt man, wie Evidenzen im religiösen
Erfahrungsbereich hergestellt werden können, so ermöglichen Metaphern, die in basalen
Strukturen menschlicher Weltaneignung und -erschließung gründen und auf das Sinnliche
3
Es ist an dieser Stelle nicht möglich, einzelne Vertreter der kognitivistischen Metapherntheorie und ihre
Modelle vorzustellen. Auch ist hier nicht der Ort, in eine Methodendiskussion einzutreten. Es stellt sich u.a.
die Frage, ob die fundamentale These von LAKOFF/JOHNSON, nach der metaphorische Rede in empirischer
Evidenz auf eine metaphorische Gesamtstrukturierung von Prozessen der Wirklichkeitsaneignung und repräsentation in der menschlichen Kognition verweise (zu ihren Voraussetzungen in der holistischen
kognitiven Semantik, der kognitiven Grammatik LANGACKERs, der Gestaltpsychologie und der
Prototypentheorie ROSCHs siehe BALDAUF, CHRISTA, Sprachliche Evidenz metaphorischer
Konzeptualisierung. Probleme und Perspektiven der kognitivistischen Metapherntheorie im Anschluss an
George Lakoff und Mark Johnson, in: ZIMMERMANN, RUBEN, Bildersprache verstehen. Zur Hermeneutik der
Metapher und anderer bildlicher Sprachformen [Übergänge 38], München/Paderborn 2000, 117-132, hier:
120-125), zu beweisen ist bzw. als bewiesen gelten kann. So fragt sich, wieweit sich im Ansatz von
LAKOFF/JOHNSON beim entscheidenden Schritt der Rückverankerung sprachlich vorfindlicher
Metaphernkonzepte in prototypischen Kognitionsschemata eine Zirkularität der Begründung vollzieht,
insofern einerseits situiert wird, dass Menschen ihre Realität stets von Metaphern her definieren und auf ihrer
Grundlage handeln, dies andererseits aber mit der anderen (nicht als bewiesen vorauszusetzenden) These
fundiert wird, dass Menschen Erfahrungen immer schon metaphorisch strukturieren (vgl. LAKOFF/JOHNSON,
Leben, 182. Zur Kritik: BALDAUF, Evidenz, 125-132). Damit ist zugleich die Frage impliziert, wie die
Resultate von LAKOFF/JOHNSON sich zu sprachlichen Äußerungen von Kulturen verhalten, die zeitlich
erheblich von neuzeitlichen (nordamerikanischen) Evidenzen differieren. Die Autoren bringen die Frage nach
Faktoren der kulturellen Dependenz metaphorischer Konzeptualisierungen zwar in Rechnung (a.a.O., 28, zur
Rede von „kulturelle[r] Kohärenz), zielen zugleich jedoch auf eine globale, nicht epochal, ethnisch, politisch
o.ä. limitierte Theorie der Mentalitätsvorgänge. In der Selbstverortung der Theorie in der Historie der
Bemühungen um die Metapher sind zudem deutliche Simplifikationen zu verzeichnen. Es muss als
erhebliche Verkürzung gelten, wenn abendländisch-philosophischem Umgang mit der Metapher unterstellt
wird, dieser reduziere das Problem in einem Röhrenmodell rhetorischer Kommunikation (vgl.
LAKOFF/JOHNSON, Leben, 236-240). LAKOFF/JOHNSON arbeiten hier auch mit einem a priori belasteten
negativen Begriff von „Abstraktion“ (vgl. a.a.O., 127-129). Besonders kritisch erscheint die
Leistungsfähigkeit des kognitivistischen Zugangs im Fall nicht-lexikalisierter Metaphern (vgl. TAURECK,
BERNHARD H.F., Metaphern und Gleichnisse in der Philosophie. Versuch einer kritischen Ikonologie der
Philosophie, Frankfurt/Main 2004, 71). Es gilt jedoch: „Metaphorische Texte sowie Kontextverbindungen
sind niemals ausnahmslos innovativ, sondern stellen immer ein ‚corpus permixtum’ aus traditionellen und
innovativen Momenten dar“ (BUNTFUSS, MARKUS, Tradition und Innovation. Die Funktion der Metapher in
der theologischen Theoriesprache [Theologische Bibliothek Töpelmann 84], Berlin/New York 1997, 51).
2
rückbezüglich sind, die Koordination und Formung von Wissen, Traditionen, Gefühlen
und Handlungen.
Nimmt man die von LAKOFF/JOHNSON in ihrer Pionierarbeit vorgeschlagenen
Klassifikationen als heuristischen Ausgangspunkt 4 , so ist festzuhalten: Sogenannte
„Orientierungsmetaphern“ entstehen aus menschlicher Raumorientierung, die unmittelbar
mit körperlichen Erfahrungen zusammenhängt. 5 Weit reichende Bedeutung beansprucht
dabei die metaphorisch-konzeptionelle Differenzierung von „oben“ und „unten“. „Die
meisten unserer basalen Konzepte werden nach einer oder mehreren Metaphern der
räumlichen Orientierung organisiert“. Ferner gilt: „Zwischen den verschiedenen
Raummetaphern besteht eine äußere Gesamtsystematik, die deren Kohärenz definiert“.6
Die orientierende Feststellung eines „oben“ ist mit physischer Präsenz, Aktivität,
Überlegenheit, Macht, gehobenem Status, Einfluss, Tugendhaftigkeit, Intelligenz und
Kontrolle, zugleich aber auch mit dem Unbekannten konnotiert. Das metaphorische
Konzept des „unten“ kann mit den je antonymen Begriffen umschrieben werden7. Ähnlich
ist die Orientierung in den Unterscheidungen von „Nähe“ und „Ferne“ im Sinn von
vorhandenem oder fehlendem Einfluss zu begreifen.
Hiervon abzuheben ist die strukturelle „vorne“/„hinten“-Organisation metaphorischer
Wirklichkeitsaneignung. Orientierungsmetaphern weisen in das Feld des Sozialen. Sie
verbinden sich mit prototypischen Empfindungen und Wahrnehmungen von Nähe und
Ferne, von entsprechender aktiver Einflussmöglichkeit im Blick auf das Nahe oder der
Die Metapher ist nach LAKOFF/JOHNSON eine „auf der Imagination beruhende Rationalität“ (Leben, 220),
sie ist ein kardinales Instrument der Erfahrungs- und Wirklichkeitsverarbeitung. Die Frage, was zuerst da
war, ein sachhaltig-begriffliches und regelgeleitetes Sprachsystem oder die Metapher (siehe hierzu ECO,
UMBERTO, Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen, München 1987, 134f.; MAYER, ANNEMARIE C.,
Sprache der Einheit im Epheserbrief und in der Ökumene [Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen
Testament. 2. Reihe 150], Tübingen 2002, 93), ist also im Sinn von LAKOFF/JOHNSON gar nicht alternativ
entscheidbar. „Metapher“ steht nicht (nur) für einzelne Begriffe oder Syntagmen in einer konkret
vorfindlichen Sprache oder konkreten Texten, sondern kongruiert mit einem kontinuierlichen
„Konzeptsystem“ (LAKOFF/JOHNSON, Leben, 14). Dieses „Konzeptsystem“ ist nach LAKOFF/JOHNSON
infolge kondensierter Erfahrung per se systematisch ausgelegt, wobei „solitäre metaphorische Ausdrücke“
eine gewisse Ausnahme darstellen (a.a.O., 68f.). Basiert alles Verstehen auf metaphorischen Grundvollzügen,
so ist auch jede „Theorie“-Bildung als ein erweitertes metaphorisches Konzeptsystem darstellbar. Nicht
allein Gegenstandsbereiche, sondern vor allem auch Handlungsfelder werden metaphorisch konzeptualisiert.
In der Aktivierung eines metaphorischen Zusammenhangs rücken jeweils nur bestimmte Aspekte in den
Vordergrund, während andere Ableitungen und Aspekte in den Hintergrund treten. Ein metaphorisches
System arbeitet stets so, dass kontext- und kulturgebundene Aspekte fokalisiert („benutzter“ Teil), andere
dagegen „verborgen“ werden („unbenutzter“ Teil). Vgl. a.a.O., 66; vgl. 128 zu „Asymetrien“.
Ausschlaggebend für konkrete Nutzung oder Nichtnutzung der metaphorischen Dimensionen kann ein
„Modifikator“ (hedge) sein (a.a.O., 142-146).
5
Nach LAKOFF/JOHNSON emergieren die „Orientierungsmetaphern“ nicht metaphorisch, sondern vielmehr
direkt (vgl. Leben, 84). D.h., bei ihnen wird ein Konzept „... nicht von einem anderen her strukturiert“.
Vielmehr wird durch Orientierungsmetaphern „... ein ganzes System von Konzepten in ihrer wechselseitigen
Bezogenheit organisiert ...“ (a.a.O., 22).
6
LAKOFF/JOHNSON, Leben, 26.
7
Vgl. LAKOFF/JOHNSON, Leben, 22-30.
4
3
Unmöglichkeit des Einflusses im Blick auf das Ferne. Nach dem Unterscheidungsmuster
„vorne“/ „hinten“ – „nah“/„fern“ wird auch Zeit konzeptualisiert; sei es, dass die Zeit als
ein bewegliches Objekt mit einer linearen Bewegungsrichtung imaginiert ist (wir erfahren
die Zeit als voranschreitend), oder sei es, dass die Zeit als solche statisch gedacht, dagegen
der Mensch in linearer Bewegung („vorne“/„hinten“) durch sie hindurch vorgestellt ist (wir
bewegen uns im Strom der Zeit). Prototypisch tendieren Menschen nach den
kognitivistischen Metapherntheorien zu Konzepten wie „eher HIER als DORT“, „eher
VORNE als HINTEN“, „eher AKTIV als PASSIV“8.
Prototypisch begründet in körperlichen und sinnlichen Primärerfahrungen sind ferner die
sogenannten „ontologischen Metaphern“. Ontologische Metaphern konzeptualisieren
sinnliche Wahrnehmung und Wirklichkeit in Gestalt des Dinglichen und Substanzhaften.9
Abstrakte Erfahrungen werden in sogenannten „Gefäßmetaphern“ erschlossen. Menschen
projizieren ihre „Innen-außen-Orientierung auf andere physische Objekte, die durch
Oberflächen begrenzt sind“10. Derart werden auch Ereignisse, Handlungen und Zustände
wie Liebe oder auch Formen von Erkrankung metaphorisch als Objekte konzeptualisiert11.
Unter die „ontologischen Metaphern“ rechnen LAKOFF/JOHNSON Personifikationen, die
Gegenstandsbereiche im Sinne ontologischer Konzepte unter der Frage von Eigenschaften,
Motivationen und Zielsetzungen erschließen 12 . Die „Metonymie“ fungiert dagegen als
Strukturkonzept, das Beziehung generiert, „so daß wir eine Entität benutzen können, damit
diese für eine andere Entität steht“13.
Distinktionen wie die der „ontologischen Metaphern“, „Orientierungsmetaphern“ und auch
„Strukturmetaphern“ 14 verweisen nicht auf eine übergeordnete konsistente Logik. Wohl
aber sind sie auf „relative“ Kohärenzen und Vernetzung hin zu befragen.15
8
LAKOFF/JOHNSON, Leben, 154.
Vgl. LAKOFF/JOHNSON, Leben, 35-39.
10
LAKOFF/JOHNSON, Leben, 39.
11
LAKOFF/JOHNSON, Leben, 41f.
12
Vgl. LAKOFF/JOHNSON, Leben, 44f.
13
LAKOFF/JOHNSON, Leben, 47.
14
Nach LAKOFF/JOHNSON wird in „Strukturmetaphern“ „... ein Konzept von einem anderen Konzept her
metaphorisch strukturiert ...“ (dies, Leben, 22). Genauer gründen die Strukturmetaphern „... in
systematischen Korrelationen innerhalb unserer Erfahrung“ (a.a.O., 75). Strukturmetaphern sind damit – im
Anschluss an ELEANOR ROSCH – „prototypisch“ beeinflusst (vgl. a.a.O., 86f., 203). Ihnen kommt
„metaphorische Emergenz“ zu, und sie sind auf metaphorische Amplifikation angelegt. Diese Klassifikation
der „Strukturmetapher“ ist in der Konstruktion von LAKOFF/JOHNSON in ihrer Distinktheit problematisch.
BALDAUF, CHRISTA, Metapher und Kognition. Grundlagen einer neuen Theorie der Alltagsmetapher
(Beiträge zur Sprachwissenschaft 24), Frankfurt/Main u.a. 1997, 82, beurteilt die Bezeichnung als
missverständlich, insofern es die generelle Eigenart von Metaphern sei, Strukturen zu übertragen. Sie
favorisiert demgegenüber eine linguistische Gruppierung von Metaphern auf der Grundlage der
Konzeptstruktur des jeweiligen Herkunftsbereiches und möchte Attributmetaphern, ontologische Metaphern,
bildschematische Metaphern und Konstellationsmetaphern unterscheiden (ebd.); vgl. DIES., Evidenz, 117132. Zu Weiterentwicklung und Kritik des Ansatzes von LAKOFF/JOHNSON vgl. auch RANTZOW, SOPHIE,
9
4
In der Untersuchung von Quellen der antik-philosophischen und der frühchristlichen
Literatur sind kognitivistische Metapherntheorien nicht einfach „anwendbar“ – Es besteht
das Risiko, die kulturelle und zeitliche Dependenz von metaphorischen Aussagen zu
nivellieren. Doch ist der Grundansatz attraktiv, da er zunächst nicht von der Metaphorik
des Extravaganten und Irregulären ausgeht (sog. „kühne Metapher“), sondern vom
Regulären, von Grundorganisationsformen menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns.
Jede Kommunikation stellt sich vor dem Hintergrund von Alltagserleben als metaphorisch
dar. Auch religiöse Kommunikation ist nicht einem Sonderreservat zuzuweisen.
Dasjenige metaphorische Konzept, das wir nun im Folgenden genauer untersuchen wollen,
ist das der Gottheit resp. Gottes als Arzt (und Apotheker), der Menschen physisch
erfahrbar
behandelt.
Es
geht
–
je
nach
zugrunde
gelegter
kognitivistischer
Kategorienbildung – um ein „ontologisches“ Metaphernkonzept, in enger Verbindung mit
orientierenden Elementen.
2.
„Schneiden und Brennen schmerzt“ – Zur Metaphorik göttlicher Medizin bei
Plutarch von Chaironeia
Die Schriften Plutarchs von Chaironeia spiegeln, angefangen bei der Berücksichtigung
medizinischer Gesichtspunkte in seinen biographischen Texten über das psychologische
Ausleuchten von Krankheiten und Leiden in seinen philosophischen Traktaten bis hin zu
Christus Victor Temporis. Zeitkonzeptionen im Epheserbrief (Wissenschaftliche Monographien zum Alten
und Neuen Testament 123), Neukirchen/Vluyn 2008, 59-72; GERBER, CHRISTINE, Paulus und seine ‚Kinder’.
Studien zur Beziehungsmetaphorik der paulinischen Briefe (Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche
Wissenschaft 136), Berlin/New York 2005, 81-111.
15
Vgl. LAKOFF/JOHNSON, Leben, 57. Mit der Rede von „Kohärenz“ beziehen sich LAKOFF/JOHNSON auf die
Beobachtung, dass Metaphern, die differente Erfahrungsbereiche und einschlägige Bildsequenzen eröffnen,
eine neue systematische Logik generieren können. Mögliche gemeinsame Ableitungen müssen dabei auf der
Basis der Theorie wiederum auf Kongruenzen im Metaphorischen bzw. im kognitiven Konzeptsystem selbst
zurückverweisen (a.a.O., 114). LAKOFF/JOHNSON verwenden an dieser Stelle auch den Begriff
vieldimensionaler „Gestalten“ (a.a.O., 102; vgl. 103-124, 193). Im Schritt der Übertragung auf die textuelle
Analyse stellt sich mit dem kognitivistischen Modell die Frage, inwieweit konkrete Texte „körperlich“metaphorisch zu betrachten sind. Nach LAKOFF/JOHNSON bestimmen die verschiedenen Klassen und
Konzepte von Metaphern Texte als auskristallisierte Zeugnisse der Kognition grundsätzlich in sämtlichen
Formen der sprachlich-syntaktischen und semantischen Verknüpfung. In Hinsicht auf die Raumorientierung
betrifft dies z.B. die Sequenz der Syntax. „Unser Sprechen ist linear angeordnet, das heißt, daß wir immer
entscheiden müssen, in welcher Reihenfolge wir unsere Wörter sagen ... Die Schriftsprache erlaubt uns, die
formulierten Sätze viel leichter und plastischer als räumliche Objekte mit einer linear angeordneten Abfolge
von Wörtern zu konzeptualisieren“ (a.a.O, 147).
5
den moralischen Therapeutika 16 in einem hohen Maß medizinische Bildung. Plutarch
bringt in seine verschiedenen Schriftgattungen immer wieder Vorstellungen ein, wie sie
bereits in der hippokratischen Medizin entwickelt wurden. Zugleich ist Plutarch über die
medizinischen Schulrichtungen seiner Zeit wohl orientiert. Dabei beschäftigt Plutarch die
Medizin grundsätzlich nicht unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten um ihrer selbst
willen. Vielmehr macht er sich die enge Verwandtschaft von philosophischem und
medizinischem Schuldiskurs zunutze, indem er medizinale Beobachtungen und Einsichten
in der Deskription und Analyse menschlichen Handelns aktiviert. Über die Medizin
können
die
verschiedensten
Felder
der
Philosophie
und
Lebens-
und
Handlungsorientierung miteinander verschränkt werden.17
Plutarch knüpft hiermit an griechische und auch römische Ansätze der Philosophie an, die
im Philosophen funktional den Arzt erkennen, dessen Handeln nicht allein körperliche
Gesundheit, sondern vor allem die Integrität der Seele und damit des Lebens insgesamt
intendiert. Im Rahmen der mittelplatonischen Philosophie zeichnet sich Plutarchs Werk
durch den hohen Umfang aus, in dem medizinale Metaphern und Bilder auch theologisch
gebraucht sind.18
Die folgende Analyse nimmt ihren Ausgang von ausgewählten Textzusammenhängen aus
der dem Avidius Quietus gewidmeten Schrift „De sera numinis vindicta“ (Plutarch,
Moralia 548 A-568 A; PERI TWN UPO TOU QEIOU BRADEWS TIMWROUMENWN).
Diese Schrift erscheint nicht nur deshalb besonders geeignet, da sie unter die
ausgereiftesten Texte aus dem umfassenden Œuvre Plutarchs zu rechnen ist – es ist eine
Schrift, die in die delphische Spätphase gehört und am Ort des delphischen Orakels spielt –
, sondern auch darum, weil in ihrem Zentrum eine dezidiert theologische Fragestellung
Vgl. zu den Schriften der „psychotherapeutischen“ Behandlung einzelner Laster und Begierden: ZIEGLER,
KONRAT, Plutarchos von Chaironeia, Stuttgart 1949.21964 (vgl. DERS., in: Paulys Realenzyklopädie der
klassischen Altertumswissenschaft XI 2, 636-963), 136-168 (im Unterschied zu den philosophischen
Abhandlungen im engeren Sinn); ferner: INGENKAMP, HEINZ GERD, Plutarchs Schriften über die Heilung der
Seele (Hypomnemata 34), Göttingen 1971; VAN HOOF, LIEVE, Plutarch’s Practical Ethics. The Social
Dynamics of Philosophy, Oxford 2010; zu Plutarchs moralischer Psychologie: OPSOMER, JAN, Eros in
Plutarchs moralischer Psychologie, in: GÖRGEMANNS, HERWIG u.a. (Hrsg.), Plutarch. Dialog über die Liebe.
Amatorius (Scripta Antiquitatis Posterioris ad Ethicam Religionemque pertinentia 10), Tübingen 2006, 208235.
17
Zu Medizinischem bei Plutarch: DURLING, RICHARD, Medicine in Plutarch’s Moralia, in: Traditio 50,
1995, 311-314; BOULOGNE, JACQUES, Plutarque et la médicine, in: Aufstieg und Niedergang der Römischen
Welt II.37.3, Berlin/New York 1996, 2762-2792.
18
Eine entsprechende theologische Applikation konnte sich für Plutarch insbesondere mit seiner Funktion als
Priester des Gottes Apollon in Delphi nahelegen, der (vor seinem Sohn Asklepios) als der Heilgott der Antike
zu gelten hat.
16
6
steht. Medizinal-metaphorische Rede kann somit in ihrer besonderen religiösen
Verwendungsweise untersucht werden.
Aufbau, Einzelargumentation und traditionsgeschichtliche Hintergründe von „De sera
numinis vindicta“ sollen uns dabei nur insoweit beschäftigen, als sie die Einordnung der
einzelnen ausgewählten medizinalen Bezugspunkte ermöglichen.19 Die Schrift lehnt sich in
ihrem Rahmen an die Form des sokratischen Dialoges an. Konstitutiv ist die grobe
Zweiteilung in einen argumentativen Part (lo,goj), der sich in drei Gesprächsgänge
untergliedern lässt, sowie ein mythisches Finale (mu/qoj). Der „Mythos“ erlaubt
abschließend die Beleuchtung der im „Logos“ angesprochenen Argumente und
Erwägungen unter einer veränderten Gattungs- und Wahrnehmungsperspektive.
Das Thema der Schrift ist das Problem der von Gott/der Gottheit zurückgehaltenen bzw.
verzögerten Strafe für Fehlverhalten.20 Es geht im Kern um die Relation der Vorstellung
einer
göttlichen
Vorsehung
zum
Schicksalsglauben
bzw.
zu
menschlichen
Schicksalserfahrungen – seien diese individuell oder kollektiv. Wie lässt sich ein
planvolles Handeln Gottes/der Gottheit von kontingenten menschlichen Erfahrungen bzw.
Zufälligem unterscheiden bzw. lassen sich Widerfahrnisse und Ereignisse so aufeinander
beziehen, dass sie auch dann als Folge von Tat und göttlicher Strafe zu interpretieren sind,
wenn sie zeitlich weit auseinanderliegen bzw. Straffolgen scheinbar ausbleiben? Mit der
Frage der Sinnhaftigkeit von Selbstwirksamkeitszusammenhängen und der Erklärung von
Kontingenzen im menschlichen Leben ist zugleich die Frage der Gerechtigkeit der Gottheit
in ihrem Geschichtshandeln aufgeworfen21.
19
Für eine ausführliche Analyse (mit Literatur) vgl. VON BENDEMANN, REINHARD, Konzeptionen
menschlicher Schuld und göttlicher Strafe/Gerechtigkeit bei Plutarch von Chaironeia, in: BEYERLE, STEFAN/
ROTH, MICHAEL/SCHMIDT, JOCHEN (Hrsg.), Schuld. Interdisziplinäre Versuche ein Phänomen zu verstehen
(Theologie – Kultur – Hermeneutik 11), Leipzig 2009, 231-270; vgl. GÖRGEMANNS, HERWIG (unter
Mitarbeit von FELDMEIER, REINHARD/ASSMANN, JAN), Plutarch. Drei Religionsphilosophische Schriften
(Sammlung Tusculum), Düsseldorf/Zürich 2003, 318-339. Zu medizinischen Bildern in „De sera numinis
vindicta“: HIRSCH-LUIPOLD, RAINER, Plutarchs Denken in Bildern. Studien zur literarischen, philosophischen
und religiösen Funktion des Bildhaften (Studien und Texte zu Antike und Christentum 14), Tübingen 2002,
225-281; weitere Literatur zur Medizin bei Plutarch: a.a.O., 228f. Anm. 7; vgl. VAN HOOF, Ethics, 211-254,
besonders zur Schrift Peri. diai,thj u``gieinh/j / „De tuenda sanitate praecepta“.
20
Zum Problemkreis der Theologie und Dämonologie Plutarchs, der im Folgenden nicht weiter diskutiert
werden kann, vgl. HIRSCH-LUIPOLD, RAINER, Der eine Gott bei Philon und Plutarch, in: DERS. (Hrsg.), Gott
und die Götter bei Plutarch. Götterbilder – Gottesbilder – Weltbilder (Religionsgeschichtliche Versuche und
Vorarbeiten 54), Berlin/New York 2005, 141-168.
21
Wie komplex das ist, was Plutarch in dieser Schrift in Angriff nimmt, zeigt sich auch daran, dass schon die
Vorstellung einer „strafenden“ oder „richtenden“ Gottheit metaphorische Rede impliziert – die in der Schrift
durch medizinale Metaphorik expliziert wird. Die Fragestellung von „De sera numinis vindicta“ ist von der
späteren Leibniz’schen „Theodizeeproblematik“ zu unterscheiden. Vgl. hierzu FELDMEIER, REINHARD,
Theodizee? Biblische Überlegungen zu einem unbiblischen Unterfangen, in: Berliner Theologische
Zeitschrift 18, 2001, 24-39; DERS., Wenn die Vorsehung ein Gesicht bekommt. Theologische
Transformationen einer problematischen Kategorie, in: SPIECKERMANN, HERMANN/KRATZ, REINHARD
7
Wir betrachten nun thematische Schnittstellen der Schrift und analysieren, welche
Bedeutung medizinische Metaphern und Bilder im Blick auf die Klärung des Problems
gewinnen.
2.1.
Zum akademisch-methodischen Ausgangspunkt der Metaphorik göttlicher
Medizin
Es ist nicht zuletzt dem fiktionalen Ort des Dialoges – Delphi – geschuldet, wenn sich die
von Plutarch aufgeworfenen Fragen sowie die in verschiedenen Lösungsanläufen
gesuchten Antworten in einem moderaten Rahmen bewegen, innerhalb dessen allzu
kritische Zuspitzungen im religiösen Diskurs abgefangen werden. Der Plutarch des Dialogs
bringt diesen Rahmen in der Einleitung auf den Begriff der „Behutsamkeit“ bzw. des
zurückhaltenden Maßes in Hinsicht auf das Göttliche (pro.j
to.
qei/on
euvla,beia; 549 E). Hierbei handelt es sich zunächst um ein Axiom der akademischen
Skepsis, die Zurückhaltung übt, da der menschlichen Wahrnehmung enge Grenzen gesetzt
sind. Zugleich bedeutet dieser Zugang bei Plutarch jedoch nicht allein ästhetische
Zurückhaltung, sondern impliziert auch einen Respekt vor dem Göttlichen in positiver
Hinsicht („Scheu“ / „Ehrfurcht“). Dieser doppelte Aspekt der euvla,beia verbindet
sich nun gleich im Einleitungsteil mit der Metaphorik der Gottheit als Arzt und wird durch
diese vertieft. Kapitel 4 eröffnet das medizinale Metaphernfeld, welches „De sera numinis
vindicta“ an entscheidenden Stellen der Argumentation immer wieder strukturiert:
Aktiviert wird das Modell des Arztes als Spezialist im Unterschied zum unkundigen
Patienten (549 F).22 Empfindet der Patient Schmerzen, und stellen sich Schmerzen gerade
auch durch die Anwendung von Medikamenten und ärztlichen Therapieformen ein, so
steht hinter solcher Erfahrung doch die Intention des Arztes, Heilung zu erwirken.
Impliziert ist, dass der Patient auf diese heilvolle Wirkabsicht des Arztes zu vertrauen hat,
auch wenn ihm die gegebenenfalls unangenehmen therapeutischen Maßnahmen als solche
uneinsichtig bleiben mögen. Plutarch fasst hier (550 A) die medizinische Behandlung der
Seele als „Recht und Gerechtigkeit“ (di,kh de. kai. dikaiosu,nh).
Damit ist die entscheidende Gleichung benannt, die im Hintergrund der bildhaften
Verbindung von Heilkunst und göttlichem Strafrecht steht, wie sie im weiteren Verlauf der
Schrift gegebenenfalls reaktiviert werden kann: Was der Heilung und Gesundheit dient,
GREGOR (Hrsg.), Vorsehung, Schicksal und göttliche Macht. Antike Stimmen zu einem aktuellen Thema,
Tübingen 2008, 147-170.
22
Zur Anknüpfung der Metaphorik Plutarchs an Platon: HIRSCH-LUIPOLD, Denken, 241f.
8
kann per definitionem nicht ungerecht sein (auch wenn es schmerzt). In der Heilkunst ist
das Nützliche (to. crh,simon) auch „gerecht“ (di,kaio,n evstin). Darum wird
– so argumentiert Plutarch innerhalb der Verteidigung generationenübergreifender Strafe –
niemand therapeutische Praktiken kritisieren, die bei anderen Organen ansetzen als bei den
vordergründig von Krankheit affizierten Körperteilen.23
Die Arztmetaphorik hat damit zunächst die Funktion, etwas Unanschauliches und
Unverständliches im Bereich der Erfahrungen zu thematisieren und zu strukturieren. Das
„Gesundheitssystem“, das Plutarch metaphorisch aufruft, artikuliert sich näherhin in
Orientierungsmetaphern, die auf eine „oben“/„unten“-Differenzierung zurückzuführen
sind: Das hierarchische Gefälle von Arzt und Patient bzw. Fachmann und Laien – eine
Struktur, auf die in „De sera numinis vindicta“ immer wieder zurückgegriffen wird.
Die
struktur-
und
orientierungsmetaphorischen
Differenzierungen
ermöglichen
Kontingenzbewältigung. Auf der Grundlage eines Grundvertrauens in den Beruf des
Arztes und dessen heilvoller Intention eignet ihnen ein affirmativer Aspekt. Der Preis
dieses Metaphernkonzepts zeigt sich darin, dass die Gottheit, die straft und die Strafe
gegebenenfalls verzögert, im Sinne der euvla,beia von kritischen Rückfragen und
Klagen der „Patienten“ resp. Dritter weit gehend ausgenommen wird. Die Metaphorik der
göttlichen Medizin kann einer Immunisierung der Gottheit gegenüber menschlicher Kritik
Vorschub leisten.
2.2.
Handlungsspielräume im Bereich der Metaphorik göttlicher Therapie
Die derart bereits im Einleitungsteil methodisch verankerte medizinische Metaphorik
durchzieht den ersten, argumentierenden und am „Wahrscheinlichen“ (558 D; vgl. 561 B:
to. eivko,j) orientierten Teil von „De sera numinis vindicta“. Stellt sich der „Logos“
als eine Folge unterschiedlicher Lösungsanläufe dar, die auch in Spannung zueinander
treten, so ergibt sich durch die medizinale Metaphorik eine hintergründige Kohärenz.
Dabei werden im medizinischen Metaphernfeld unterschiedliche Funktionen in den
Vordergrund gespielt. Auch hier fragen wir anhand von ausgewählten Beispielen nach der
sinnlichen Gründung der einzelnen Metaphernbereiche und ihrer Bedeutung für die
Argumentation.
23
Im 16. Kapitel (559 F) bezieht er sich auf die Praxis, Hüftkranken den Daumen zu kauterisieren, bei
Leberabszess die Bauchdecke aufzuritzen und Rindern im Fall von Huferweichung die Hörnerspitzen
einzuölen (zum medizinhistorischen Hintergrund: GÖRGEMANNS, Plutarch, 376 Anm. 3).
9
Im 6. Kapitel wird ein erster Komplex der Argumentation geprüft. Inwieweit eröffnet die
Verzögerung von Strafe Möglichkeiten zur Korrektur üblen Verhaltens? Im Blick auf den
Einzelnen und seine Verhaltensänderungsmöglichkeiten scheint hier die Plutarchische
Psychologie durch: Der Mensch qua „Seele“ hat die Möglichkeit, einerseits krank zu
werden, das heißt: triebhaftem Verhalten zu erliegen; andererseits gibt es jedoch – in
begrenztem Umfang – die Möglichkeit eines grundlegenden Richtungswechsels, der einer
Heilung zuträglich sein kann. Plutarchs psychologische Position gewinnt dabei ihr Profil
insbesondere im Unterschied zu stoischen Vorstellungen. Anders als die Stoiker geht
Plutarch grundsätzlich nicht davon aus, dass der Mensch seine Triebe völlig besiegen und
ausmerzen könne. Je nachdem, wie dieser Ansatz akzentuiert wird, bedeutet er, dass
Menschen in einem begrenzten Maß mit Krankheiten leben müssen, bzw. dass sie sich
eben nie ganz selbst zu heilen vermögen, sondern in jedem Fall der ärztlichen Kunst
bedürfen. Im Einzelnen fächert Plutarch hier solche Erwägungen nicht auf; er begnügt sich
mit Hinweisen zur Wandelbarkeit des Charakters von Menschen (551 E/F).
Akzentuiert sind die diagnostischen Fähigkeiten der Gottheit, die Einblick in den
Seelenzustand nehmen kann und gegebenenfalls hinreichend „körpereigene Abwehrkräfte“
in Hinblick auf das Üble/Schädliche/Krankmachende erkennt und deren Mobilisierung
abwartet: „Wenn die Gottheit über eine kranke Seele richtet, so darf man voraussetzen,
dass sie ihre leidenschaftlichen Triebe durch und durch erkennt (diora/n), ob sie
vielleicht nachgiebig werden und Ansätze zur Reue zeigen …“ (551 C). Nur Unheilbares
wird von der Gottheit sogleich ausgelöscht (551 D). Die Differenzierung ergibt sich dabei
– sokratisch – anhand des Kriteriums des Wissens um das Böse bzw. des intentionalen
Wollens.
Vorausgesetzt ist, dass der Patient des Arztes bedarf und diesen im Fall der Krankheit
früher oder später wieder aufsuchen wird. Wer zur Reue nicht fähig ist, der wird an der
Therapie Gottes nicht vorbeikommen. Im Einzelnen gewinnt die medizinische Metaphorik
im
Zusammenhang
der
verschiedenen
Beispiele
und
Erwägungen
im
Argumentationszusammenhang damit zugleich eine bedrohliche Komponente. Im
Vordergrund steht hier nämlich weniger die Zuständigkeit des Arztes für die Gesundheit
und Abwendung von Schaden als vielmehr der Aspekt, dass dem Arzt – früher oder später
– niemand entkommen wird. Ärztliche Kunst und göttliches Strafhandeln, dem keiner
entrinnen wird (vgl. Jesus Sirach 38,15), das vielmehr punktgenau eintreffen wird, werden
einander stark angenähert.
10
2.3.
Sinnstiftung
von
bitteren
Therapieerfahrungen
durch
Orientierungsmetaphorik und ontologische Bildersprache
Im 7. Kapitel (552 D-553 D) spielt Plutarch ein weiteres Argument für die Sinnhaftigkeit
des Aufschubs von Strafe durch die Gottheit durch. Böse Menschen könne die Gottheit
gezielt am Leben erhalten und ihnen einen Aufschub gewähren, um durch sie Übel zu
verhindern bzw. Gutes zu vollbringen, so wie nach ägyptischem Brauch eine zum Tod
verurteilte schwangere Frau nicht getötet wird, bis sie ihr Kind geboren hat (552 D). In
politischer Hinsicht gehört hierher auch die Vorstellung, dass sogar Tyrannen zeitweise
positive Funktionen im Plan der Gottheit übernehmen können. Plutarch vertieft auch dieses
Argument unter Nutzung medizinischer Metaphern, genauer führt er aus der Pharmazeutik
bittere und unliebsame Medikamente vergleichend an. Wie die Verabreichung von
Hyänengalle medizinischen Nutzen haben könne, 24 oder auch das Lab des Seehundes,
welches man gegen Epilepsie verschreibt25, so könne noch ein grausamer Herrscher in der
göttlichen Pädagogik für einzelne und ganze Staaten eine positive Funktion übernehmen
(552 F; 553 A).
Auch hier ermöglicht die metaphorische Rede eine unmittelbare Erfahrungs- und
Sinnesgründung des Arguments: Wer einmal Galle geschmeckt hat und auf ärztlichen Rat
hin bittere Medizin einnehmen musste, dem erschließt sich unmittelbar was gemeint ist. Im
Hintergrund steht auch hier das autoritative Gefälle: Zur Aufgabe des Arztes gehört es, zur
Erreichung von Gesundheit der Patienten gegebenenfalls auch Bitteres zu verordnen.
Damit wird zugleich eine Sinnstiftung des Bitteren, Ekelhaften und Schmerzlichen
erreicht. Die Arztmetaphorik hilft nicht allein dazu, die Gerechtigkeitsproblematik zu
klären, sie beantwortet auch die Frage, wofür es Ekliges und Bitteres überhaupt gibt. Die
Erfahrung wird durch die Verschiebung im Metaphernfeld sinnvoll.
In der Aktivierung der Metaphern ist wiederum ein Primat der Sinne festzustellen: Das
Argument wird von Plutarch nicht allein aus der Perspektive des behandelnden Arztes
entworfen; es wird vielmehr umgekehrt erst plausibel aus der Sinneserfahrung von
Patienten heraus, denen unangenehme Therapien auferlegt werden.
24
Zur Galle als Ursache von Krankheiten und Therapeuticum in der antiken Medizin vgl. LEVEN, KARLHEINZ, Artikel „Galle“, in: DERS. (Hrsg.), Antike Medizin. Ein Lexikon, München 2005, 322f.
25
Zur Verbindung von Hyäne und Seehund: HIRSCH-LUIPOLD, Denken, 248f. Zur Epilepsie und ihrer
Therapie in der Antike vgl. VON BENDEMANN, REINHARD, Heilige Krankheit? Epilepsie im Spannungsfeld
physiologisch-sozialer und religiöser Deutungen im Neuen Testament und im rabbinischen Judentum, in:
ROTH, MICHAEL/SCHMIDT, JOCHEN (Hrsg.), Gesundheit. Humanwissenschaftliche, historische und
theologische Aspekte (Theologie – Kultur – Hermeneutik 10), Leipzig 2008, 11-44.
11
2.4.
Grenzbereiche der Metaphorik göttlicher Medizin
Die Kapitel Kapitel 9-11 (553 F-556 E) beschreiben einen neuen Ansatzpunkt innerhalb
der verschiedenen Argumentationskreise, die Plutarch im ersten Teil des „Logos“ von „De
sera numinis vindicta“ durchläuft. Göttliche Strafe wird hier nicht unter dem Aspekt ihres
Ausstehens, sondern vielmehr unter dem ihres bereits in der Gegenwart Eingetroffen- und
Greifbarseins angesprochen. Die Bosheit bereitet dem Täter selbst Beschwer, ähnlich
einem Verbrecher, der körperlich die Last des Kreuzes spürt, das er zu seiner eigenen
Hinrichtung tragen muss (554 A), oder wie bei einem Fisch, der bereit den Angelhaken im
Maul stecken hat (554 E).
Die Schlechtigkeit führt aus sich heraus (evx auvth/j) zu einer Minimierung des
Lebens des Täters der bösen Tat (554 B). Plutarch argumentiert hier anthropologischphänomenologisch, in dem er auf eintretende Schamgefühle, Ängste und unaufhörliche
Beunruhigungen verweist. Impliziert ist der Gedanke, dass die Gottheit den Täter des
Üblen einem erbarmungswürdigen Zustand anheimstellt und überlässt.
Das Argument, dass die vermeintliche Hinauszögerung der Strafe für Übles tatsächlich nur
Dehnung des Leidens bedeute, wird wiederum mit der Metaphorik göttlicher Medizin
gestützt und erweitert, wenn Plutarch auf die – nach Plato durch den an Schwindsucht
(fqi,sij) erkrankten Herodikos von Selymbria in die Medizin „eingemischte“ und von
Platon gering geachtete (vgl. Plato, Politeia 406a-408b) – Gymnastik verweist, die auf den
Tod zulaufendes Leiden nicht heile, sondern lediglich verlängere (554 D). Wer die Strafe
Gottes verdient, den behandelt Gott im Modus der Gymnastik: Strafe wird nicht für ein
späteres Alter aufgehoben, sondern üble Menschen werden in einer schmerzhaften
Therapie
unter
andauernder
Strafe
alt
(ouvde.
ghra,santej
evkola,sqhsan( avll v evgh,rasan kolazo,menoi).26
Dieser Schritt ist in „De sera numinis vindicta“ überaus bemerkenswert: Das
metaphorische
Grundkonzept
changiert
hier
unvermittelt
und
wird
bis
an
Spannungsgrenzen ausgereizt. In diesem Zusammenhang erscheint die Gottheit als Leiden
verlängernder, ja geradezu als quälender Arzt, der etwas im Sinne der Heilkunst
Widersinniges tut, indem er etwas Schmerzendes und dabei Unwirksames verordnet.27
26
Vgl. zur Bewertung der Gymnastik in Plutarchs diätetischem Werk: VAN HOOF, Ethics, 231-235. Zum
„langen Tod“, den die Gymnastik bedeutet: HIRSCH-LUIPOLD, Denken, 255f.
27
HIRSCH-LUIPOLD, Denken, 250f., bindet diesen Aspekt grundsätzlich an die pädagogische Zielsetzung der
Philosophie Plutarchs zurück.
12
Auch hier zeigt sich im medizinisch-metaphorischen Konzept von „De sera numinis
vindicta“ deutlich der Primat der Sinne.
Die metaphorische Kohärenz, die Plutarch erreicht, erschließt sich in vielen Abschnitten
der Schrift nicht allein aus der Perspektive des Arztes, sondern aus der umgekehrten
Richtung, aus der Perspektive des Patienten: Vom Patienten her betrachtet haben die
verschiedenen
Metaphernfelder
einen
hohen
Kohärenzgrad.
Ausgangspunkt
der
Konzeptualisierung der Metaphern ist bei Plutarch zwar grundsätzlich der gute, auf das
Erwirken von Gesundheit und Wohlsein hin orientierte Arzt28; aus der Sicht des Patienten
– seinen Sinnesempfindungen, sofern sie ärztlichen Maßnahmen ausgesetzt sind – kann
sich diese gute Intention jedoch verdunkeln. Mit diesem von den Sinnen her entworfenen
Perspektivwechsel arbeitet „De sera numinis vindicta“ immer wieder. 29
2.5.
Metaphorische
Koordination
der
Zusammenhänge
von
Zeiten
und
Generationen – Ärztliche Prognostik und Prophylaxe
Die Kapitel 12-21 beschreiben einen eigenen und in sich höchst komplexen
Argumentationsverbund innerhalb von „De sera numinis vindicta“.30 Im zweiten Teil des
argumentierenden „Logos“ geht es um eine Frage, die im Eingang der Schrift bereits aus
dem Mund des Timon anklang und nun durch diesen eröffnet wird (556 D/E), nämlich die,
wie
sich
die
Vorstellung
der
Gerechtigkeit
der
Gottheit
und
die
eines
generationenübergreifenden Strafhandelns zueinander verhalten. Die Vorstellung, dass
Vgl. klassisch zum „Gutsein“ und auch zur „Gerechtigkeit“ des Arztes: Corpus Hippocraticum De medico
I 9: „Im Charakter gut und tüchtig, als solcher gegen alle gemessen und freundlich“ (to. de. h=qoj
ei=nai kalo.n kai. avgaqo.n, toiou/ton d v o;nta pa/si kai. semno.n kai.
fila,nqrwpon). I 16: „In allem Verkehr mit den Menschen muss der Arzt gerecht sein; denn oft muss
Gerechtigkeit ihm aushelfen. Auch stehen die Kranken in einem bedeutsamen Verhältnis zum Arzt, geben sie
sich doch den Ärzten in die Hand; und zu jeder Stunde kommen sie mit Frauen, Mädchen und wertvollsten
Besitztümern zusammen. All dem gegenüber muss er an sich halten“ (Di,kaion de. pro.j pa/san
o``mili,hn ei=nai\ crh. ga.r polla. evpikoure,ein dikaiosu,nhn, pro.j de.
ivhtro.n ouv mikra. sunalla,gmata toi/si nosou/si,n evstin\ kai. ga.r
auvtou.j u``poceiri,ouj poie,ousi toi/j ivhtroi/j, kai. pa/san w[rhn
evntugca,nousi gunaixi,n, parqe,noij, kai. toi/j avxi,oij plei,stou
kth,masin\ evgkrate,wj ou=n dei/ pro.j a[panta e;cein tau/ta). Zum antiken
Ärztebild (mit Literatur): VON BENDEMANN, REINHARD, Christus des Arzt – Krankheitskonzepte in den
Therapieerzählungen des Markusevangeliums, in: Biblische Zeitschrift 54, 2010, 36-53, 162-178, hier: 52f.,
162- 164.
29
Die Auffassung von HIRSCH-LUIPOLD, Denken, 279, wonach die medizinische Metaphorik in „De sera
numinis vindicta“ Gott in seinem Umgang mit dem Menschen „als heilenden, helfenden Arzt ...“
charakterisiere bzw. „das Bild eines auch in seinem Strafhandeln guten, helfenden Gottes, der die Menschen
zu ihrem Heil führen“ wolle, vermittele, wird diesem Befund nur zum Teil gerecht.
30
Zu traditionsgeschichtlichen Voraussetzungen der Vorstellung kollektiver Haftung: GÖRGEMANNS,
Plutarch, 333f.
28
13
nicht die Täter selbst, sondern gegebenenfalls erst ihre Kinder und weiteren Nachfahren
Strafe erfahren, löst die Strafe von den Verursachern des Bösen und verlagert sie in eine
Zukunft, in der gegebenenfalls selbst Unschuldige von den Taten ihrer Vorfahren eingeholt
werden. Im Eingang der Schrift klang an diesem Punkt bereits das Problem an, dass Strafe,
die nicht sogleich erfolgt und den Täter trifft, ihren pädagogischen Effekt zu verlieren
droht (549 C). Dieser lange und hermeneutisch sehr schwierige Abschnitt von „De sera
numinis vindicta“, in dem insbesondere Beispielen der antiken Mythologie eine zentrale
Funktion zukommt, zerfällt in verschiedene argumentative Einzelfiguren. In ihnen spielen
medizinale Metaphern in vielfältiger Weise eine stützende Rolle.
a) Der Plutarch des Dialoges rekurriert auf das eingangs etablierte Prinzip der
respektvollen Behutsamkeit in religiösen Fragen. Im 14. Kapitel (558 D/E) nimmt er „den
Faden wieder auf“ und erinnert an die Gefahr von Verdunkelung und Irrwegen in der Rede
vom Göttlichen, die einen eindeutigen Zugriff auf die Wahrheit verwehrt. Beispiele für in
einem weiteren Sinn laienmedizinische bzw. magische Praktiken belegen, dass mit
„Wirkungen“ auch dort gerechnet wird, wo sich Handlungen in ihrer Sinnhaftigkeit kaum
entschlüsseln lassen. Dies gilt für den Brauch, nach einem Todesfall durch Schwindsucht
oder Wassersucht die Kinder des Toten so lange mit ihren Füßen in ein Wasserbad zu
setzen, bis die Leiche des Verstorbenen verbrannt ist. Derart soll ein magisch vorgestelltes
‚Überspringen’ der Krankheit des Verstorbenen gehemmt werden. Es klingt die Furcht an,
die hinter entsprechenden Praktiken steckt. Vor allem ist ein erster Ansatzpunkt für die
Erwägung gewonnen, dass es „Kräfte“ (duna,meij) gibt, die Fernwirkungen entfalten
und über Distanzen, seien diese zeitlich oder räumlich, auf andere einwirken können (558
E).31 Die Pest von Athen fungiert als ein Beispiel für eine raum- und zeitübergreifende
Krankheitsausbreitung.
b)
In
einem
weiteren
Schritt
betrachtet
Plutarch
den
Stadtstaat
sowie
das
„Geschlecht“ unter dem Aspekt ihrer jeweiligen Einheitlichkeit und Verbundenheit als
„Lebewesen“ (zw|/on). Leben wird in ihnen von den Vorfahren her wesenhaft geprägt
(559 E). Es gibt in ihnen eine Sympathie zwischen den einzelnen Körpern und Gliedern,
und zwar in diachroner wie in synchroner Hinsicht. In einer Reihe unterschiedlich
gelagerter und untereinander nicht spannungsfreier Beispiele und Erwägungen aus den
Bereichen von Medizin und Pädagogik arbeitet Plutarch im 16. Kapitel (559 E-560 A) die
31
Zur Kombination der Bilder in „De sera numinis vindicta“ 558D/E: HIRSCH-LUIPOLD, Denken, 261.
14
verborgene Sympathie von Körpern bzw. Körperteilen bei Mensch und Tier heraus, die im
Fall von Erkrankungen virulent wird und folglich „übergreifende“ Maßnahmen der
Heilkunst zur Erzielung von Gesundheit/Gerechtigkeit erfordert. Zugleich bereitet Plutarch
hier den für „De sera numinis vindicta“ am Ende entscheidenden Übergang von der Rede
von Körpern (vgl. 560 A: sw,mati dia. sw,matoj) zu der von der Seele (ebd.:
yuch|/ dia. yuch/j) vor. Damit ist die Grundlage für den „Mythos“ vom
postmortalen Geschick eines Übeltäters geschaffen.
c) Bevor der Plutarch des Dialogs in die mythische Erzählung wechselt, führt er jedoch
noch ein weiteres diskursives Argument ein (561 B/C). Dieses wird wiederum aus dem
Feld der Heilkunst gewonnen. In der Frage, ob Verfehlungen von Eltern sich auf die
Kinder übertragen können, nimmt Plutarch im 19. Kapitel seinen Ausgang von einem Wort
des Bion von Borysthenes, nach dem die Vorstellung einer göttlichen Strafe an den
Kindern der Bösen noch lächerlicher sei als die eines Arztes, der den Enkel oder den Sohn
des kranken Großvaters oder Vaters behandele (561 C). Plutarch analysiert dieses dictum
in Hinsicht auf seine „Ähnlichkeit“ und seine „Unähnlichkeit“. Im Fall von akuten Leiden
wie Fieber oder Augenentzündungen ist eine Wirkübertragung der Therapie auf andere
nicht möglich.
Dagegen übersieht Bion – so der Plutarch des Dialogs –, dass es Krankheitsfälle gibt, in
denen „Anlage“ oder Gewohnheit von Kranken sich auf die Folgegeneration(en) auswirken.
Der Arzt hat in diesem Fall die Aufgabe, dies diagnostisch zu erkennen und prophylaktisch
den „kleinen Keim eines großen Leidens“ zu bekämpfen (mega,lou pa,qouj
spe,rma
mikro,n;
561
D).
Als
Beispiele
für
generationenübergreifende
Krankheitsprophylaxe, die gegebenenfalls auch die Kinder und Enkel einbeziehen wird,
verweist Plutarch auf Medikamentation und diätetische Anweisungen im Fall von
Epilepsie, Melancholie und Podagra.32
Fragt man nach der Funktionalität und Leistungsfähigkeit der Metaphorik göttlicher
Medizin, so verhilft sie in diesem überaus schwierigen Teil der Schrift zunächst zu
phänomenologischen Unterscheidungen. Mit ihrer Hilfe kann nicht nur festgestellt werden,
dass es Bitteres und Schmerzen gibt, die durch Verordnung sinnvoll werden. Vielmehr
zeigt die metaphorische Klärung, dass sich zuweilen destruktive Dynamiken feststellen
Zur überaus komplexen Argumentation in diesem Teil von „De sera numinis vindicta“: HIRSCH-LUIPOLD,
Denken, 266-175, der mit Recht fragt, inwieweit es Plutarch gelingt, die Anfrage Bions überzeugend zu
entkräften (a.a.O., 269).
32
15
lassen. Nicht alle Krankheiten sind Erbkrankheiten, aber der Arzt hat damit zu rechnen,
dass es sie gibt.
In diesem Abschnitt der Schrift, innerhalb dessen sich die Vorstellung sinnlosen und
unschuldigen – durch die Gottheit hervorgerufenen oder vermehrten – Leidens so nahe
legt, changiert das zugrunde liegende Arztbild/Gottesbild beträchtlich. Einerseits wird auch
hier an der These festgehalten, dass die Heilkunst gegebenenfalls als „Strafe“ zu
interpretieren ist – so bei der ärztlichen Prophylaxe im Fall von Menschen, die zum
Ehebruch oder zur Gewalttätigkeit o.ä. neigen.33
Andererseits sucht Plutarch zugleich, der Vorstellung des guten und qualifizierten Arztes,
der das Richtige erkennt, das Hauptgewicht zu geben. Ausdrücklich wird vermerkt, dass im
Fall eines von einem schlechten/kranken Körper gezeugten Körpers nicht von Strafe
(timwri,a) zu sprechen sei – sondern von Heilkunst und ärztlicher Aufmerksamkeit
(561 E). Mit Notwendigkeit wird der Plutarch des Dialoges in diese Differenzierung
zwischen göttlichem Strafhandeln an Schuldigen einerseits und der heilvollen Zuwendung
zu den Nachkommen andererseits gedrängt.
Zudem wird sichergestellt, dass sich keine festen Gesetzmäßigkeiten des Übergreifens von
Krankheiten/Übeln über die Generationenschranken hinweg ausrechnen lassen. Damit
liegen aber auch die entsprechenden therapeutischen Maßnahmen nicht einfach fest (562
E). Das Prinzip der generationenübergreifenden Schuld- und Strafsolidarität kann zudem
durchbrochen werden. Ein übler Vater kann einen rechtschaffenen Sohn haben wie –
medizinisch betrachtet – ein robuster Mensch von einem Kränklichen abstammen kann
(562 F). Plutarch modifiziert hier das medizinale Modell: Die gute Tat kann krankhafte
Zusammenhänge und Dynamiken suspendieren.
In einer Zwischenbilanz ist festzuhalten: Wir haben bei Plutarch so weit gesehen, dass die
Metaphorik des göttlichen Arztes und seiner Heilkunst die Bedingungen einer
ontologischen Metapher erfüllt, die zugleich Orientierungsfunktionen übernimmt. Gott als
Arzt ist – in den kognitivistischen Kategorien beschrieben – als ein Gefäß konzeptualisiert,
verbunden mit der orientierenden Wertung von richtig und falsch. Die Metapher fungiert
dabei in zwei Richtungen. Einmal wird ausgehend von der Sinneserfahrung des Schmerzes
gefragt, wie dessen Vorhandensein zu erklären ist. Im Verbund der Schrift steht damit das
Gerechtigkeitsproblem zur Disposition. Unter der besonderen Fragestellung der
33
In 562 D verwendet Plutarch einige Mühe darauf, Grenzziehungen im Bild des Göttlichen vorzunehmen,
die dieses von Rachsucht und affektivem Handeln absetzen.
16
Verzögerung – diese soll ja plausibel gemacht werden – wird Schuld als medizinische
Dysfunktion erklärt. Kontingenz kann so bewältigt werden. Zum anderen strukturiert die
Metapher das ätiologische Feld möglicher Schmerzursachen und -folgen. Unterscheidbar
werden z.B. akute von chronischen Krankheiten bzw. der besondere Fall von
generationenübergreifender Krankheitsveranlagung.
Fragt man vom argumentierenden „Logos“ her, warum die Arztmetaphorik überhaupt
solche Funktionen übernehmen kann, so ist festzuhalten:
Möglich wird dies einmal dadurch, dass der Arzt auf der nichtmetaphorischen Ebene per
definitionem ein Helfer in Krisen und Kontingenzsituationen ist. Plutarch baut hier auf dem
etablierten Ärztebild seit der hippokratischen Medizin auf. Zum anderen aber ist ein ganz
wesentlicher Aspekt in der Aktivierung medizinaler Metaphern durch Plutarch, dass das
Aufsuchen des Arztes mit zusätzlichen sinnlichen Schmerzen verbunden sein kann.
Menschen haben Schmerzen, und auch der Arzt verursacht Schmerzen – aber sein Ziel ist
die Heilung.
2.6.
Metaphorik und mythische Erzählung von postmortalem Leiden und Scham
Der „Mythos“, mit dem die Schrift „De sera numinis vindicta“ schließt, eröffnet zuletzt die
Möglichkeit, den fraglichen Zusammenhang von menschlichem Tun und göttlicher Strafe
noch aus einer anderen Perspektive zu beleuchten. Der darstellerische Modus wechselt am
Ende der Schrift von der argumentativen Rede zur eschatologischen resp. mythischen
Erzählung. Eine solche Erzählung vermag eine Zeit und einen Raum zu antizipieren, die
dem diskursiven „Logos“ verschlossen bleiben. Setzt der Plutarchische „Mythos“ als
Gattung am Ende der Schrift das platonische Schrifttum voraus, so gilt dies auch für die
ihm zugrunde liegende Vorstellung der Unsterblichkeit der Seele. Diese wird in einer
wichtigen Gelenkstelle bereits im „Logos“ in Kapitel 17f. verankert.34
Insbesondere kann Plutarch im Modus der mythischen Erzählung das schwierige Postulat
eines generationenübergreifenden Strafhandelns der Gottheit nochmals aufgreifen.
Einzelne
dramatische
Episoden
des
„Mythos“
führen
aus,
wie
der
generationenübergreifende Verbund und die kollektive Dimension göttlicher Strafe
34
Zu Platon als Ausgangspunkt der Plutarchischen Mythen sowie zur Traditionsgeschichte und Funktion des
Mythos in „De sera numinis vindicta“: ALT, KARIN, Weltflucht und Weltbejahung. Zur Frage des Dualismus
bei Plutarch, Numenios, Plotin, Mainz/Stuttgart 1993, 91-94; VON BENDEMANN, Konzeptionen, 260-263 mit
Anm. 81f.; zum Schlussmythos in „De facie in orbe lunae“: WÄLCHLI, PHILIPP, Studien zu den literarischen
Beziehungen zwischen Plutarch und Lukian (Beiträge zur Altertumskunde 203), München/Leipzig 2003,
199-216.
17
vorzustellen sind. Plutarch stellt diese Verbindung schon im „Logos“ (in 561 A/B) sicher,
mit der ausdrücklichen Zielbestimmung einer Pädagogik der Abschreckung bzw.
Ermunterung von schlechten Menschen. Der „Mythos“ illuminiert die Schmerzen und
Krankheitsfolgen, die sich in Folge der Missachtung der Regeln göttlicher Heilkunst
ergeben.
Als ein Modellfall wird der Übeltäter Thespesios aus Soloi eingeführt, der von einer
grundlegenden Wandlung seines verkehrten Lebens in Folge von Widerfahrnissen in einem
todesähnlichen Zustand zu berichten weiß 35 . In der dritten Person wird erzählt, wie
Thespesios in diesem Zustand schon bald die Bewegung der Seelen verfolgt, unter denen
er auch Bekannte erkennt, die sich bald in beklagenswerter Gesellschaft befinden (564 B).
Sodann wird er Zeuge der Instanzen jenseitigen Strafvollzuges an den Seelen. Seelen derer,
die im Diesseits ungestraft davon kamen, werden von der Di,kh den Vorfahren
vorgeführt. Eine erste, gegebenenfalls schmerzvolle, Begegnung der Generationen findet
statt (565 B). Unter Qualen und Schmerzen (565 B: avlghdo,si kai, po,noij)
werden die Leidenschaften/Begierden der Seelen entfernt.36
Am Strafort sieht Thespesios im 30. Kapitel (566 E-567 D) nicht allein Freunde,
Angehörige und Bekannte furchtbare Leiden, Schmerzen und Strafen erdulden, sondern
vielmehr auch seinen eigenen Vater aus einer Kluft aufsteigen, der von Brandmalen und
Narben bedeckt ist (566 E). Der Vater wird von den Strafvollstreckern beschämt, indem er
gezwungen ist, seinem Sohn gegenüber eine schwere Verfehlung zu bekennen. Er hat aus
Habgier Gäste vergiftet und somit die Gastfreundschaft auf schlimmste Weise verletzt. Erst
im Jenseits wurde diese Freveltat aufgedeckt. Unheilvolle Strafe vollzieht sich damit nicht
nur in somatischem Schmerz, sondern in einer sich über die Generationengrenzen hinaus
erstreckenden Scham und Beschämung. In einer weiteren Jenseitsepisode wird im 31.
Kapitel von einer dramatischen Begegnung über die Generationengrenzen hinweg berichtet.
Seelen, die ihre Höllenstrafen bereits abgeleistet zu haben meinen, treffen auf ihre
Nachfahren, denen sie durch ihre Untaten schlimmes Geschick erwirkt haben. Die
Vorfahren werden aufs Neue von den Strafvollstreckern gequält. Die Nachfahren, die sich
wie zornige Bienen- oder Fledermausschwärme an ihre Vorfahren hängen, können hieran
zugleich ablesen, auf welches Geschick sie selbst zusteuern (567 D/E).
35
Zum philosophiegeschichtlichen bzw. psychologischen Hintergrund des Sturzes auf den Hals (563 D) vgl.
GÖRGEMANNS, Plutarch, 377f. Anm. 4.
36
Siehe zu den Vorstellungen im Einzelnen: ALT, Weltflucht, 92-94.
18
Fassen wir zusammen: Wir haben ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige ausgewählte
Stellen der Plutarchischen Schrift „De sera numinis vindicta“ auf die Nutzung medizinaler
Metaphernsprache hin befragt. Unser leitendes Interesse war dabei die Untersuchung der
Gründung der metaphorischen Rede von Gott als Arzt in sinnlichen Körpererfahrungen.
Insgesamt zeigte sich, dass medizinale Metaphern für die Thematik von Schicksal,
Vorsehung und göttlicher Strafe so geeignet sind, da sie an Krankheitserfahrungen
anschließen, für die Spezialisten mit ihrem Repertoire besonderer Behandlungsmaßnahmen
zuständig sind: die Ärzte. In Hinsicht auf das Verständnis des Handelns der Gottheit
entspricht das Axiom des grundsätzlich guten Arztes, der das Wohlsein seiner Patienten
anzielt und der unbedingte Autorität beansprucht, dem gewählten methodischen Vorgehen,
welches unter der Prämisse der euvla,beia in bonam partem fragt und argumentiert.
Aus der Sicht der Patienten kann sich die gute Intention des Arztes freilich verdunkeln und
können entsprechende Axiome an Grenzen stoßen. Vor allem in dieser Hinsicht wird die
Gründung in der Sinneswahrnehmung aktiviert: Nicht nur Krankheitswiderfahrnisse,
sondern auch Erfahrungen mit Ärzten können schmerzhaft und leidvoll sein, Therapien
uneinsichtig, uneffektiv und am Ende leidvermehrend.
Der „Mythos“ zeigt – in Aufnahme und Fortführung platonischer Mythen – die Grenzen
der metaphorischen Rede von Gott als Arzt. Diese versagt im Fall nicht erkennbarer
Schuld, sie wird dunkel im Fall der erblichen Erkrankung. Dies ist ein grundsätzlich
interessanter Vorgang: Um die Grenzen der Metapher als einer sinnbasierten Konzeption
von Leben und Welt zu beschreiben, bedarf es am Ende der Erzählung des „Mythos“, die
Konsistenz schafft.
Auch im „Mythos“ spielen dabei die Sinne eine wichtige Rolle, sie sind angesprochen in
der Gestalt von Narben (ouvlai,), Striemen (mw,lwpej), Schmerzen (pa,scein),
Betrübnis (lupei/n), schlimmem Schicksal (avtu,chma), Schande (aivsci,ein)
resp. Aufhebung von Ehre (timh,) und Scham (vgl. 561 A/B; 565 B). Solche
Jenseitsqualen werden mythisch nicht mehr ausdrücklich über die Arztmetaphorik
eingeholt. Doch sind die entsprechenden Bezüge in der verstärkenden Verklammerung von
„Mythos“ und „Logos“ sichergestellt (vgl. die wichtige Gelenkstelle in Kapitel 18f.).
Krankheit heißt: In der Hölle, am Peinigungsort, nicht zur Ruhe kommen, vielmehr immer
wieder aufs Neue Schmerzen leiden müssen.37
37
Zur Kohärenz von „Logos“ und „Mythos“: HIRSCH-LUIPOLD, Denken, 278f.
19
3.
Christus, der Arzt des Leibes und der Seelen – Zur Metaphorik göttlicher
Heilkunst in altchristlichen Texten
Wenden wir den Blick vom griechischen Apollo-Priester und philosophischen
Schriftsteller Plutarch – einem großen Einzelnen – zum Feld der Literatur der frühen
Christen, so geschieht dies unter der Voraussetzung, dass nach einem weitreichenden
common sense der Forschung das Plutarchische Schrifttum nicht allein eine wichtige
Brücke zwischen griechischem Mittelplatonismus und römischer Kaiserzeit schlägt,
sondern sich in ihm – unter den Vorzeichen zunehmender Hellenisierung – zugleich auch
ein Brückenschlag zur frühchristlichen Literatur erkennen lässt. Es überrascht insgesamt
nicht, dass sich zu nahezu jeder Aktualisierungsform der Metaphorik göttlicher Medizin
enge Parallelen im frühchristlichen Schrifttum benennen lassen. Einschränkend ist dabei
festzuhalten, dass es in den ersten zwei Jahrhunderten keinen christlichen Text gibt, der in
ähnlich umfassender und enzyklopädischer Weise auf die Metaphorik des Medizinischen
zurückgreift.38
Der Betrachtungsmodus ändert sich darum in diesem Schritt. Wir gehen im Folgenden
nicht von einem konkreten frühchristlichen Text aus, sondern benennen verschiedene
metaphorische Aspekte und Konzepte und greifen hierfür auf unterschiedliche Beispiele
zurück. Besonders lohnend ist es dabei, diachrone Entwicklungen metaphorischer
Konzepte mit im Blick zu halten. Das frühe Christentum ist zunächst unterwegs zu einem
metaphorischen Differenzierungsgrad, wie wir ihn im Schrifttum Plutarchs feststellen
können; es geht unter veränderten Rahmenparametern zugleich in der Verwendung ganz
ähnlicher ontologischer und orientierender Metaphern strukturell über ihn hinaus. Hierbei
muss ich im folgenden zahlreiche Forschungsprobleme, die sich im Detail einzelner
Schriften stellen, abschattieren.
3.1.
Differenzen der Sinnstrukturierung, Orientierung und Ontologisierung der
Metaphorik göttlichen Heilens
Der Topos des „Christus medicus“ / Cristo.j ivatro,j findet sich explizit noch nicht in den
neutestamentlichen Schriften. In den synoptischen Evangelien begegnet das Nomen „Arzt“ nur an drei
Stellen: In der metaphorischen Aussage Jesu im Zusammenhang der Sündenvergebung (Mk 2,17 par Mt 9,12
par Lk 5,31), im Erzähleingang der Heilung der „Blutflüssigen“, die umsonst Ärzte konsultiert und ihr
Vermögen an sie verwendet hat (Mk 5,26 par Lk 8,43) sowie in der ironisch-sprichwörtlichen Aufforderung,
die Jesus nach Lk 4,23 entgegengehalten wird: „Arzt, heile dich selbst!“ (siehe antike Vergleichsstellen bei
NOLLAND, JOHN, Classical and Rabbinical Parallels to ‘Physician, Heal Yourself’ [Lk. IV 23], in: Novum
Testamentum 21, 1979, 193-209).
38
20
Zunächst ist festzuhalten: Sowohl Plutarch als auch die frühchristlichen Schriftsteller
rechnen mit der Möglichkeit sinnlicher Erfahrung, dass Gott resp. die Gottheit kranke
Menschen tatsächlich in medizinischem Sinn gesund zu machen vermag.
39
Im
frühchristlichen Schrifttum wird solche Überzeugung allerdings unter differenten
Vorzeichen zum Ausdruck gebracht.
Zwei entscheidende Differenzpunkte seien herausgehoben:
1. Im Hintergrund steht im frühen Christentum die Überzeugung, dass Krankheit und
Leiden Zeichen einer vergehenden und verlorenen Welt sind, die Gott zu überwinden im
Begriff ist. Im weiteren Sinn wäre hier über den frühjüdisch-apokalyptischen Rahmen
frühchristlicher
Interpretation
von
Krankheit
und
Leid
zu
sprechen.
–
Ein
Überzeugungsrahmen, der dem griechisch-römischen Denkens Plutarchs im Grundansatz
fremd ist. Metaphorologisch betrachtet ändern sich die Vorzeichen – vergleicht man sie
mit
hellenistisch-römischen
Zeugnissen
–
vor
allem
im
Bereich
der
Orientierungsmetaphorik, d.h. der Strukturen von „nah“/„fern“, „vorne“/„hinten“ und auch
„oben“/„unten“.
Eine
veränderte
Sinnstrukturierung,
die
ihre
Voraussetzungen
traditionsgeschichtlich dem Judentum verdankt, macht im ältesten Christentum ganz
andere Wahrnehmungen möglich und führt zu differenten Ontologisierungen von
Krankheit und Heilung. Plutarchs Zeitvorstellung ist eine andere als die der frühjüdischen
und frühchristlichen Eschatologie(n).
Einschränkend ist dabei nochmals festzuhalten, dass sich eine summarische Position des
ältesten Christentums (und auch des frühen Judentums) nicht bestimmen lässt, sondern
Entwicklungen im Metaphorischen in Rechnung zu bringen sind. Die Nutzung
medizinischer Vorstellungen erfolgt im Christentum bis zum Ende des 2. Jahrhunderts
deutlich zurückhaltender und undifferenzierter als in der zeitgenössischen hellenistischen
Philosophie festzustellen. Eine dem Plutarchischen Schrifttum vergleichbare Aneignung
medizinischer
Paideia
stößt
im
frühen
Christentum
unter
frühjüdischen
Denkvoraussetzungen, wie wir sie beispielsweise im Sirach-Buch im 2. Jahrhundert v. Chr.
(Jesus Sirach 38,1-15 [Septuaginta]) greifen können, auf beträchtliche Widerstände. Erst
ab der Mitte des 2. Jahrhunderts kommt es – allmählich und nicht gleichmäßig – zu einer
positiven Annäherung an die Einsichten der wissenschaftlichen Schulmedizin der Zeit und
werden theologische bzw. christologische Reserven zurückgestellt. Der niedrigere
Mit Recht HIRSCH-LUIPOLD, Denken, 233: „Eine Dichotomie zwischen der Behandlung des Leibes und der
Seele, die bei einem metaphorischen Gebrauch vorausgesetzt sein müßte, besteht bei Plutarch gerade nicht.
Die beiden Bereiche rücken so nahe aneinander und werden ineinander verschränkt, daß sie zum Teil kaum
unterschieden werden können.“
39
21
Differenzierungsgrad hängt dabei u.a. auch mit den differenten Bildungsvoraussetzungen
der frühen Christen zusammen. Er ist in Hinsicht auf die sinnliche Basierung zugleich
darin begründet, dass Christinnen und Christen in der Frühzeit überwiegend als
Unterschichtsangehörige auf Grund ihrer begrenzten materiellen Ressourcen weniger
Erfahrungen mit der heilenden Fähigkeit von Ärzten hatten.
2. Im Zentrum der Sinn- und Überzeugungswelt der frühen Christen steht eine
Rettergestalt, der Heilungspotenzen in singulärer Weise zuzuschreiben sind. Der sinnliche
Bezug ist dabei in nicht-metaphorischer Weise vorgegeben: Christus ist nach Überzeugung
der ältesten Christen Arzt. Eine solche singuläre Gestalt mit Heilfähigkeiten, die an der
räumlichen und zeitlichen Schaltstelle einer Weltenwende zu verorten wäre, ist dem
religionsphilosophischen Denken Plutarchs inkommensurabel.40
Zusammengefasst finden wir im Schrifttum Plutarchs einen hohen Differenzierungs- und
Elaborationsgrad
der
Metaphorik
göttlicher
Medizin.
Entsprechende
traditionsgeschichtliche Konzepte des zeitgenössischen Christentums sind dagegen noch in
statu nascendi. Es ergeben sich aus dem Alten Testament und frühjüdischen
Traditionspunkten erste Ansatzpunkte für die Vorstellung Gottes als Arzt; von hier aus ist
dann eine längere Entwicklung in den ersten Jahrhunderten nachzuzeichnen. D.h. es ergibt
sich auf dem religiösen Feld des frühen Christentums die spannende Möglichkeit, die
Entstehung der ontologischen Metaphorik göttlicher Medizin in einem neuen Rahmen
beobachten und sie in ihrer Entwicklung weiter verfolgen zu können.
Vergleicht man schematisch, so ließe sich feststellen: Bei Plutarch ergänzt der „Mythos“
den „Logos“; das eigentliche Gewicht aber trägt in „De sera numinis vindicta“ der
„Logos“, nicht der „Mythos“. Den „Mythos“ stellt Plutarch nur auf Nachfrage, zögerlich
und mit einigen distanzierenden Bemerkungen ans Ende (vgl. De sera numinis vindicta
561 B; 563 B). Im frühen Christentum dominiert dagegen zunächst der „Mythos“ den
„Logos“: Der „Mythos“ von Christus als sinnlich erfahrbarem Retter. Solche fundamentale
40
Wenn Plutarch das frühe Christentum gekannt hätte, hätte er es wahrscheinlich ähnlich verstehendmissverstehend mit religionsgeschichtlichem Interesse wie das Judentum wahrgenommen; es wäre ihm im
Übrigen als Gestalt der deisidaimoni,a resp. superstitio erschienen (vgl. Plutarch, Quaestiones
convivales IV [669 E-672 C] zu Plutarchs Sicht des Judentums). Vgl. STERN, MENAHEM, Greek and Latin
Authors on Jews and Judaism, Bd. I: From Herodotus to Plutarch, Jerusalem 21976; FELDMAN, LOUIS H., The
Jews as Viewed by Plutarch, in: DERS., Studies in Hellenistic Judaism, Leiden 1996, 529-552. Zum Problem
des superstitio-Vorwurfs: GUTTENBERGER, GUDRUN, Superstitio. Facetten eines antik-religionstheoretischen
Diskurses und die Genese des frühen Christentums als religio, in: KRAUS, WOLFGANG (Hrsg.), Beiträge zur
urchristlichen Theologiegeschichte (Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft 163),
Berlin/New York 2009, 183-227.
22
Differenz schließt nun allerdings nicht aus, dass im Darstellerischen gleichwohl zahlreiche
Parallelen zwischen frühchristlichen Erzählungen des Heiltäters Jesu bzw. zwischen der
diskursiven Soteriologie der frühchristlichen Briefliteratur und der Plutarchischen Rede
von der Gottheit als Arzt und seinen therapeutischen Bemühungen zu verzeichnen sind.
3.2.
Ansatzpunkte und Entwicklungsstadien der Metaphorik göttlicher Medizin im
ältesten Christentum
Medizinische Metaphorik, die der Explikation der heilvollen Intention Gottes und der
Möglichkeitsbedingungen realer Transformation des Lebens dient, findet sich bereits im
christlichen Schrifttum des 1. Jahrhunderts. Aus dem Neuen Testament seien zwei
Beispiele herausgegriffen. Diese Beispiele sollen dann noch genauer auf Ansatzpunkte
einer Entwicklung hin befragt werden.
1. Im Epheserbrief spielt das Bild des „Leibes Christi“ eine zentrale Rolle. Es wird
gegenüber der Leib Christi-Metaphorik des Paulus entscheidend weiterentwickelt. Schon
Paulus setzt im 12. Kapitel seines ersten Briefes nach Korinth ein Körpermodell voraus,
das sich auch antik-medizinischen Vorstellungen vergleichen lässt und in dem bestimmte
Körperzonen und -funktionen besonders hervorgehoben erscheinen. 41
Der Verfasser des Epheserbriefes hat dieses auf die Vorstellung kirchlicher Einheit hin
konzeptualisierte Körpermodell des Paulus weiterentwickelt. Besonders betont sind dabei
im Epheserbrief im 4. Kapitel die Sehnen und Bänder, die die Kirche als Einheit
umgreifen. Eph 4,16 ist dabei nicht, wie in der früheren Forschung vielfach postuliert
wurde, vom Modell des Skelettbaus des Körpers her zu verstehen. Vielmehr steht die
Vorstellung der „nervlichen“ Steuerung und Versorgung des Körpers vom Kopf her im
Hintergrund, wie sie sich verschieden im Corpus Hippocraticum und auch bei Erasistratos
findet. Zugleich wird die Einheit des vom Kopf her bestimmten Körpers betont. In
kephalozentrischer Sicht erscheint der Leib von Christus als Kopf her organisiert, versorgt,
aufgebaut und organologisch geeint. In der Konzeption des Epheserbriefes wird dabei den
41
Vgl. zur Nutzung der Leib-Metaphorik in 1. Korinther 12: ZELLER, DIETER, Der erste Brief an die
Korinther (Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament 5), Göttingen 2010, 394-404. „Paulus
hat absichtlich gleichgestaltete (die Extremitäten) bzw. funktionsverwandte (zwei Sinnesorgane) Glieder
gewählt, um zu zeigen, dass dennoch keines von ihnen überflüssig ist, sondern jedes seine eigene Aufgabe im
Leib hat“ (a.a.O., 399). Diskutiert wird auch, ob es einen konkreten Bezug zu den Organdarstellungen als
Votivgaben im Asklepieion von Korinth gibt (hierzu: FITZMYER, JOSEPH A., First Corinthians. A New
Translation with Introduction and Commentary [The Anchor Yale Bible], New Haven/London 2008, 475f.).
23
kirchlichen Funktionsträgern eine besondere verbindungsstiftende und näherend-steuernde
Funktion zugeschrieben. 42 Die entscheidende Differenzierungsmöglichkeit eröffnet sich
über die kefalh,-Metaphorik, die sich wiederum durch antik-medizinische Konzepte
erschließt: Im einen Fall wird die Funktionalität eines menschlichen Körpers von der
kefalh, her erschlossen; nach anderen Konzepten ist eher ein Gegenüber von Kopf und
Seele bzw. Geist und Leib zu konstatieren.
2. Ein zweites Beispiel: Die Bezeichnung „gesund machende Lehre“ (1Tim 1,10:
u``giai,nousa didaskali,a; 2Tim 4,3; Tit 2,1) bzw. „gesund machende Worte“
(vgl. 1Tim 6,3: u`giai,nousin lo,goij toi/j tou/ kuri,ou h`mw/n
VIhsou/ Cristou/; 2Tim 1,13; vgl. Tit 2,8) bzw. die Rede vom Gesundsein resp. werden „im Glauben“ (Tit 1,13: i[na u`giai,nwsin evn th/| pi,stei; 2,2:
u`giai,nontaj th/| pi,stei) markiert eine Besonderheit der in der dritten
frühchristlichen Generation entstandenen Pastoralbriefe. Die Pastoralbriefe führen dabei
eine Linie fort, die wir anders auch bei Plutarch feststellen konnten: Die wahre Philosophie
ist eine Medizin, die richtige do,xa, die richtige Lehrmeinung, heilt von Trugschluss und
Irrtum. Der Philosoph ist der Doktor nicht allein des Körpers, sondern auch zugleich der
der Seelen.
Das von Plutarch vorausgesetzte autoritative Gefälle zwischen Arzt und Klienten findet in
den Pastoralbriefen eine enge funktionale Entsprechung im hierarchischen Gefälle
zwischen dem idealen kirchlichen Amtsträger – in Gestalt von Episkopen und Ältesten –
und kirchlichen Laien bzw. einfachen Gläubigen. Es handelt sich um ein metaphorisches
Konzept, das nicht auf einen zeitgenössischen Ist-Zustand kirchlicher Ordnung zu befragen
ist, sondern für einen begrenzten Raum ein ideales, anzustrebendes Modell
(„oben“/„unten“; „vorne“/„hinten“; siehe oben Punkt 1.) konzeptualisiert. Im Hinblick auf
die Verwendung medizinischer Ausdrücke und Metaphern ist dabei die Applikation auf
den Bereich christliche Lehre, des Lehrens und Lernens, besonders auffällig und
signifikant. Antonym zu den Ältesten-Bischöfen als Garanten des Heils und der „gesunden
Lehre“ ist das Verhalten der Gegner bzw. der von ihnen hervorgerufene Abfall vom
rechten Glauben als „krankhaft“ einzustufen.43
42
Siehe zum Hintergrund der medizinischen Metaphern und ihrer Auslegung im Epheserbrief: LINCOLN,
ANDREW T., Ephesians (Word Biblical Commentary 42), Nashville 1990, 262f.; SELLIN, GERHARD, Der Brief
an die Epheser (Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament 8), Göttingen 2008, 349-351.
43
Zu den Irrlehrern in den Pastoralbriefen vgl. ROLOFF, JÜRGEN, Der erste Brief an Timotheus (EvangelischKatholischer Kommentar zum Neuen Testament 15), Zürich u.a. 1988, 230-239. Vgl. a.a.O., 331, zu 1Tim
24
Der bildhafte Sprachgebrauch, der hier in den Pastoralbriefen aktiviert wird, ist sowohl in
der griechisch-hellenistischen, der römischen als auch in der hellenistisch-jüdischen Antike
gut vorbereitet. Insbesondere in der hellenistisch-römischen Philosophie kann das
Vernünftige, Richtige, Ausgewogene, Maßvolle und der Ordnung Entsprechende als
„gesund“ qualifiziert werden. Ähnlich den Distinktionen der Pastoralbriefe können in der
kynisch-stoischen
Popularphilosophie
„gesunde“
von
„kranken“
Lehrmeinungen
unterschieden werden. Vorausgesetzt ist, dass die „Seele“ des Menschen durch die richtige
Philosophie kräftig und gesund sein kann, durch verfehlte Meinungen dagegen physischen
Schaden nimmt. Der Philosoph hat dementsprechend wie ein heilender Arzt zu agieren, der
menschenfreundlich und empathisch die richtigen Lehren vertritt und so Gesundung der
Seelen erwirkt. Hier stoßen wir auf dasjenige Selbstverständnis antiker Philosophie, das
grundsätzlich den Schriften Plutarchs zugrunde liegt, darüber hinaus bei römischen
Popularphilosophen wie Seneca oder auch bei Griechen wie Lukian und Dio Chrysostomus
weit verbreitet war.
Der besondere Akzent der Pastoralbriefe ist dabei in der grenzziehenden und teilweise
polemischen Akzentgebung der Metaphorik gegen die Irrlehrer zu greifen. Diese betrifft
einerseits die Lehre als solche und andererseits die unmittelbar mit ihr verknüpfte Praxis,
d.h. das ethische Verhalten. Ihnen steht der ideale Gemeindeleiter gegenüber, dessen Bild
die Briefe ausarbeiten. In seiner Lehre wird das apostolische Erbe gewahrt; auf seine
„gesunde Lehre“ sollen die Christen achten und sich nach ihr ausrichten und sich von
krankmachenden Lehren fernhalten.44
Fassen wir diese Textbeobachtungen noch einmal im Hinblick auf die metaphorischen
Prozesse zusammen:
1. Überaus aufschlussreich ist nicht nur die Bedeutung, die die Leib-Metaphorik im frühen
Christentum gewinnt, sondern vielmehr ihre besondere Verbindung mit der Frage nach der
Funktion der kefalh, – des Kopfes. Es handelt sich um ein weiteres Beispiel für eine
ontologische metaphorische „oben“/„unten“-Strukturierung von Wirklichkeit, für die in
1,10: „Die beiden beigelegten Prädikate ‚gesund’ und ‚der Frömmigkeit entsprechend’ umschreiben die
Auswirkungen beider Traditionskomplexe und sind nahezu synonym gebraucht: ‚gesund’ ist das, was sich im
Lebensvollzug der Kirche bewährt … und zu einem sinnvollen Miteinander gestalteten Lebens, d. h. zur
‚Frömmigkeit’ (euvse,beia) führt“. Dagegen gelten die Irrlehrer in 1Tim 6,4 als „krank“ (nosei/n).
44
Siehe zu den „gesunden Worten“ bzw. der „gesunden Lehre“ in den Pastoralbriefen und ihrem
traditionsgeschichtlichen Hintergrund: ROLOFF, 1. Timotheus, 76-79; WEISER, ALFONS, Der zweite Brief an
Timotheus (Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament 16/1), Düsseldorf u.a. 2003, 130132.
25
den kognitivistischen Metaphernmodellen primäre Sinngrundierung beansprucht wird
(siehe oben Punkt 1).
Im Vergleich mit Plutarch muss dabei als besonders auffällig gelten, dass mit der
gewählten Metaphorik im frühchristlichen Schrifttum die kollektive Identität thematisiert
wird, kaum dagegen die individuelle Identität. Im Fall von „De sera numinis vindicta“
verhält sich dies anders, wie wir sahen: Mit Ausnahme des längeren Abschnittes in Kapitel
12-21, der um die Frage generationenübergreifender Schuld kreist und in dem auch soziale
Vorstellungen der Mikrokosmos-Makrokosmos-Entsprechung genutzt werden, ist bei
Plutarch die Frage der Bestrafung individueller Schuld bzw. der Ansatz beim individuellen
Leiden konstitutiv.
Dort wo sich im ältesten christlichen Schrifttum ähnliche metaphorische Figuren wie bei
Plutarch finden, changiert ihre Anwendung. Übergänge lassen sich besonders gut im
Verhältnis der anerkannt echten Paulusbriefe und derjenigen Briefe studieren, die im
weiteren Sinn von Schülern des Paulus stammen.
2. Bei Paulus selbst, in Texten wie 1Kor 12 und Röm 12, geht es dabei in der
metaphorischen Konzeptualisierung nicht um die Arztsorge für den kranken Leib, sondern
vielmehr um die Selbstsorge des Leibes. Das metaphorische Konzept von Krankheit und
Heilung bzw. das zugrunde liegende Gesundheitssystem konzeptualisiert hier die
Lebenssituation einer Gruppe, die sich noch überwiegend – im engen Verbund zum
antiken Judentum – als arztlose Gesellschaft weiß. Die Frage, die Paulus beschäftigt, ist
darum, auch wenn er in 1Kor 12 mit charismatischen Wunderheilungen rechnet (vgl. 1Kor
12,9.23.30: iva,mata), nicht die, wer herzukommen wird, um den gestörten Organismus
zu heilen, bzw. die, was der Arzt tun wird, sondern die den Text bewegende Fragestellung
ist die, wie der Körper selbst so zu leben vermag, dass er als organische Einheit
Erkrankung vermeidet oder überwindet. Strukturell kann man die Überordnung der Liebe
über das Heilungswunder in 1Kor 13 oder auch die Metaphorik vom Fortschaffen des alten
Sauerteiges in 1Kor 5,6 vergleichen.
3. Im Epheserbrief finden wir eine gegenüber Paulus veränderte Konzeption vor. Nicht
mehr nur die Selbstorganisation des Leibes wird metaphorisch ausgearbeitet. Vielmehr
wird mit der stärker betonten Orientierungsmetaphorik von „oben“ und „unten“ – Christus
als Haupt in den Himmeln und sein Leib auf der Erde (vgl. Eph 1,22f.; 2,19; 4,10-13.15f.;
5,23f.; vgl. Kol 1,18) – Raum geschaffen für die Möglichkeit, dass Gott resp. Christus an
26
seinem Leib auch als Arzt handelt. Im Epheserbrief selbst ist dies allerdings nicht
konsequent mit der Metaphorik göttlicher Medizin durchgeführt.
4. In gewisser Weise kann man die Pastoralbriefe als eine konsequente Fortführung der
Metaphorik in der deuteropaulinischen Literatur begreifen, wobei im Hintergrund Paulus
selbst steht. Die Gemeindeleiter fungieren als „Ärzte“, indem sie mit „gesunder Lehre“
bzw. „gesunden Worten“ behandeln, die sich bis hinein in konkrete diätetische
Vorschriften ausdifferenzieren (vgl. 1Tim 5,23). Allerdings tritt in den Pastoralbriefen im
Vergleich zum Kolosser- und Epheserbrief die Leibmetaphorik zurück. Und auch der oben
angesprochene
apokalyptische
Orientierungsrahmen
wird
konzeptionell
stark
zurückgenommen. Zu fragen wäre auch, wie sich die Vorstellung der „gesunden Worte“
und der „gesunden Lehre“ zum etwa zeitgleichen nicht-metaphorischen Zugriff auf Jesus
als konkreten Wundertäter in der Evangelienliteratur verhalten. Die Pastoralbriefe spiegeln
so eine Konzeption, die sich nur bedingt in eine übergreifende Entwicklung medizinischer
Metaphorik im frühen Christentum integrieren lässt. Ihr besonderer Beitrag lässt sich so
beschreiben: Das frühe Christentum betritt mit seinen besonderen heilkundlichen
Metaphern die philosophische Arena. Der ideale Amtsträger übernimmt dabei Funktionen
des den Leib und die Seele therapierenden Philosophen. Dabei spielt das Konkurrenzmotiv
gegenüber den Irrlehrern eine herausragende Rolle.
Zugleich bleibt – anders als bei Plutarch – die Dominanz des „Mythos“ über den „Logos“
gewahrt. Die Wahrheit der „gesunden Lehre“ wird über den „Mythos“, die apostolische
Tradition, begründet; sie wird demgegenüber – anders als bei Plutarch – weniger
argumentativ-metaphorisch erschlossen.
Hiermit hängt auch zusammen, dass die Basis eigener Erfahrungen der Leserschaft mit
konkreter körperlicher Dysfunktionalität und leiblicher Heilung nicht so deutlich
angesprochen ist, wie im Fall der untersuchten Plutarchstellen.
4.
Das Christologumenon des Arztes – Zur weiteren Entwicklung der
Metaphorik göttlicher Heilkunst im frühchristlichen Schrifttum
Die religiöse Verwertung medizinischer Metaphern ist im ältesten christlichen Schrifttum
nur ansatzweise und zurückhaltend durchgeführt. Dies entspricht insgesamt den Befunden
für das alttestamentliche und frühjüdische Schrifttum. – Die Gründe, die sich hierfür
anführen lassen, sind mehrgestaltig; die immer wieder bemühte These vom sogenannten
27
Heilungsmonopol des Gottes Israels ist für sich genommen nicht suffizient. Unter anderem
sind auch die oben bereits angesprochenen Bildungsvoraussetzungen der frühen Christen
mit in Rechnung zu bringen. Jedenfalls ist auffällig, dass erst im Laufe des 2. Jahrhunderts
eine Entwicklung einsetzt, die dann durch die Alte Kirche hindurch weiter zu verfolgen ist:
In immer stärkerem und differenzierterem Ausmaß gewinnt die Metaphorik der göttlichen
Medizin zur Explikation des Heils an Konjunktur.45
1. Die Entwicklung zentriert sich dabei weniger in der Vorstellung vom deus medicus, die
sich in der folgenden Väterliteratur auch immer wieder findet, als vielmehr in dem
Christologumenon: Christus als Arzt. Die metaphorische Rede von Christus als Arzt
begegnet erstmals in einem frühchristlichen Brieftext, nämlich bei Ignatius von Antiochien
in seinem Brief an die Gemeinde von Ephesos. Im Epheserbrief des Ignatius (IgnEph 7,2)
ist eine im Judentum theologisch gefasste Vorstellung christologisiert worden46, wenn es
heißt: „einer ist Arzt, fleischlich und zugleich geistlich, gezeugt und ungezeugt, in Fleisch
gewordener/erschienener Gott, im Tod wahrhaftiges Leben …“ / ei-j ivatro,j
evstin(
sarkiko,j
te
kai.
pneumatiko,j(
gennhto.j
kai.
avge,nnhtoj( evn sarki. geno,menoj qeo.j( evn qana,tw| zwh.
avlhqinh, …).
Funktional ist das Arzt-Attribut hier der Rede von der „gesunden Lehre“ in den
Pastoralbriefen vergleichbar: Es hat eine antihaereseologische Spitze. Der Kontext von
IgnEph 7,1f. gibt zu erkennen, dass sich das Bekenntnis – metaphorisch – gegen
„tollwütige“ und bissige Hunde richtet: ou]j dei/ u``ma/j fula,ssesqai
o;ntaj dusqerapeu,touj. Tollwut gilt in der antiken Medizin als „elendste Form
der Krankheit“ (Celsus, De Medicina V 27,2: „miserrimum genus morbi“).47 Der Arzt ist
somit eher ein „bodyguard“, ein „Wächter“, als ein medizinischer Fachmann. Die Intention
des Ignatius ist dabei darin zu erkennen, die Gleichgewichtigkeit und -bedeutsamkeit von
45
Vgl. den allgemeinen Überblick über die Entwicklung von Heilungskonzepten in der Alten Kirche:
NIELSEN, HELGE K., Heilung und Verkündigung. Das Verständnis der Heilung und ihres Verhältnisses zur
Verkündigung bei Jesus und in der ältesten Kirche (Acta Theologica Danica 22), Leiden u.a. 1987, 216-252.
46
Vgl. schon die christologische Deutung von Jes 53,5.7LXX in Barnabasbrief 5,2; vgl. Philo, De sacrificiis
Abelis et Caini 70 von Gott: evpi. to.n mo,non ivatro.n yuch/j; vgl. Theophilus, Autolyc 1,7;
dagegen Acta Thomae 10,6 (im Kontext): o` ivatro,j tw/n evn no,sw| katakeime,nwn
yucw/n kai. swth,r pa,shj kti,sewj; 143,3: pisteu,sate tw|/ pa,ntwn ivatrw/|
o``ratw/n te kai. avora,twn swthri,an tw/n yucw/n.
47
Vgl. STAMATU, MARION, Artikel „Tollwut“, in: LEVEN, KARL-HEINZ (Hrsg.), Antike Medizin. Ein
Lexikon, München 2005, 870f.
28
fleischlicher und pneumatischer Realität Christi unter soteriologischem Vorzeichen
festzuhalten.48
2. Als zweites sei ein Beispiel aus der altchristlichen erzählenden Literatur
49
herausgegriffen, in dem das Christologumenon des Arztes im Zusammenhang der Praxis
Dabei kann hier das Problem offen gehalten werden, inwieweit die „kranke Lehre“, gegen die Ignatius den
Arzt Christus bemüht, als „Doketismus“ bezeichnet werden darf. Überhaupt müssen hier weitere
Vergleichsschritte zurückgestellt werden, die die religiösen „Kontakttypen“ betreffen. In
religionsgeschichtlicher Hinsicht wäre sonst das Konkurrenzproblem zwischen Asklepios und Christus zu
thematisieren – eine Frage, die angefangen beim vierten Evangelium über die apokryphen Johannesakten bis
hin zu Justin sehr umstritten ist (zur Entwicklung der gegenseitigen Wahrnehmung und des Verhältnisses von
Asklepioskult und werdendem Christentum in der Zeit des Prinzipats: STEGER, FLORIAN, Asklepiosmedizin.
Medizinischer Alltag in der römischen Kaiserzeit [Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beiheft 22],
Stuttgart 2004, 95-104; mit weiterer Literatur). Anders als RENGSTORF, KARL HEINRICH, Die Anfänge der
Auseinandersetzung zwischen Christusglaube und Asklepiosfrömmigkeit (Schriften der Gesellschaft zur
Förderung der Westfälischen Wilhelmsuniversität zu Münster 30), Münster 1953, meinte, ist für die Quellen
des 1. Jahrhunderts noch kein vitaler Streit um den Vorrang Christi oder des Asklepios als
„Heiland“ vorauszusetzen (vgl. zum vierten Evangelium und hier besonders zu Joh 4: a.a.O., 7, 11-13, 16,
20-25, 30-32). Die These einer kritischen Grenzziehung im Johannesevangelium gegenüber
Asklepiosvorstellungen begegnet seitdem immer wieder (vgl. z.B. WOHLERS, MICHAEL, Heilige Krankheit.
Epilepsie in antiker Medizin, Astrologie und Religion [Marburger Theologische Studien 57], Marburg 1999,
81, zu Joh 5,2-9b), bleibt aber mit vielen Unsicherheiten verbunden und beschreibt entsprechend bis heute
keinen Konsens (kritisch im Blick auf Joh 5: THEOBALD, MICHAEL, Das Evangelium nach Johannes. Kapitel
1-12 [Regensburger Neues Testament], Regensburg 2009, 372-375; zur Kritik auch DÖRNEMANN, MICHAEL,
Krankheit und Heilung in der Theologie der frühen Kirchenväter [Studien und Texte zu Antike und
Christentum 20], Tübingen 2003, 283f., der den jüdischen Hintergrund stark gewichtet und z.B. die 38 Jahre
Krankheit in Joh 5,5 von Dtn 2,14 her erklären möchte). ARBESMANN, RUDOLPH, The concept of ‚Christus
Medicus’ in St. Augustine, in: Traditio 10, 1954, 1-28, vertrat die These, dass das Christologumenon vom
Arzt im 2. und 3. Jahrhundert aus dem Kampf mit dem Asklepioskult resultierte (besondere Bedeutung haben
Origenes, Arnobius und Lactantius), nach dieser Auseinandersetzung jedoch an Bedeutung verloren habe.
Augustin habe die Vorstellung dann im Sinn des medicus humilis revitalisiert. Zur produktiven Funktion des
Konkurrenzverhältnisses zum Asklepioskult sowie des Hintergrundes des kynisch-stoischen Philosophie bei
der Entstehung des Christus medicus-Motivs vgl. klassisch: FICHTNER, GERHARD, Christus als Arzt.
Ursprünge und Wirkungen eines Motivs, in: Frühmittelalterliche Studien 16, 1982, 1-18; KNIPP, DAVID,
‚Christus Medicus’ in der frühchristlichen Sarkophagskulptur. Ikonographische Studien zur Sepulkralkunst
des späten vierten Jahrhunderts (Supplements to Vigiliae Christianae 37), Leiden u.a. 1998, 3f. Als eine
„pagane“ Reaktion auf christliche Vorstellungen interpretiert Justin Aussagen über Asklepios (Apologie I
22,6; 30f.; 54,10; Dialogus 69,3 u.a.; siehe DÖRNEMANN, a.a.O., 89-91). Origenes integriert in „Contra
Celsum“ seine Stellungnahme zu Asklepios in die weitere Kontroverse mit der paganen Götterwelt, in der er
die Überlegenheit Christi aufzuzeigen versucht (Herakles, Dionysos, Apollon u.a.; vgl. Origenes, Contra
Celsum III 22-26; 42; DÖRNEMANN, a.a.O., 122-124). Insgesamt zeigt ein Durchgang durch die Belege für
Gott resp. Christus als Arzt bei den christlichen Kirchenvätern, dass das Syntagma „Christus als Arzt“ seinen
Ort nicht primär in der Auseinandersetzung mit „paganen“ Kulten hat. DÖRNEMANN erwägt, ob diese nicht
gerade zu einer Verminderung des Topos geführt haben könnte: „denn es sollte nicht der Eindruck erweckt
werden, dass Jesus und die anderen Heilgötter qualitativ vergleichbar seien“ (a.a.O., 287).
49
Wiederholt wird die Vorstellung von Christus als Arzt in den apokryphen Apostelakten aktiviert (vgl.
DÖRNEMANN, Krankheit, 69-79). In den ans Ende des zweiten Jahrhunderts oder in die erste Hälfte des
dritten Jahrhunderts zu datierenden Johannesakten gilt Christus als von Gott gesandter Arzt (Acta Johannis
56). Hierbei wird die Exklusivität stark betont (vgl. das mo,noj in Acta Johannis 108). Ein weiterer
zentraler Gesichtspunkt ist die Auskunft, dass Christus und seine Apostel – anders als in anderen Heilkulten
üblich –ohne Zahlungsforderungen heilen (Acta Johannis 108: dwrea,n; so auch im Gebet Acta Johannis
22 im Zusammenhang einer Totenerweckung). In Acta Johannis 56 bietet Antipatros dem Johannes in
Smyrna zehntausend Goldstücke für die Heilung seiner beiden Söhne, wogegen dieser kontert, dass sein Arzt
keinen Geldlohn nimmt, vielmehr als Ernte die Seelen der Geheilten empfängt. Beide Aspekte lassen sich im
Sinne einer Profilierung der eigenen Heiltätigkeit im Vergleich mit antiken Konkurrenten, allen voran
Asklepios (zu seiner Geldgier: Clemens Alexandrinus, Protreptikos II 30,1f.: e;ceij kai. ivatro,n,
48
29
der Apostel zentrale Bedeutung hat. Obwohl es sich um einen in den weiteren Umkreis der
werdenden Gnosis führenden Text handelt, eignet sich dieser, Merkmale, die wir so weit
festgestellt haben, noch einmal zusammenfassend zu benennen.
In den (auf einer nicht erhaltenen griechischen Vorlage basierenden und möglicher Weise
schon im 2., wahrscheinlicher erst im 3. Jahrhundert entstandenen) koptischen (erst später
so benannten) „Taten des Petrus und der zwölf Apostel“ (Nag Hammadi Codex VI) 50
machen sich die Apostel am Ende auf den Weg zur Stadt des Lithargoël (eingeführt in
5,16-18 als Perlenhändler).51 Dieser kommt – von den Aposteln unerkannt – aus der Stadt
in der Gestalt eines Arztes, mit einer Salbbüchse unter dem Arm sowie einem Schüler im
Gefolge, der einen Arzneimittelbehälter trägt. In einem folgenden Zwiegespräch mit Petrus
entpuppt sich Lithargoël als der auferstandene Christus (9,14-21). Die elf Jünger werfen
sich vor ihrem Herrn nieder und befragen ihn nach seinem Auftrag. Lithargoël übergibt
ihnen daraufhin die Salbbüchse sowie den Arzneikasten und sendet sie in die „Inselstadt“,
womit die Welt gemeint ist, u.a. mit dem Auftrag, sich der Armen anzunehmen. Sodann
sollen die Jünger den Arzneimittelkasten dafür gebrauchen, die an den Namen Jesu
Glaubenden zu heilen (10,31-34). Es erfolgt dann ein Einwand im Blick auf die mangelnde
ouvci. calke,a mo,non evn qeoi/j. o`` de. ivatro.j fila,rguroj h=n,
vAsklhpio.j o;noma auvtw|/), interpretieren. Die Aussage der unentgeldlichen Heilung findet sich
in Verbindung mit der doppelten Arztfunktion für Körper und Seelen auch in einem Gebet des Judas in den
wahrscheinlich zu Beginn des dritten Jahrhunderts in Ostsyrien entstandenen Thomasakten (Acta Thomae
156; zu weiteren Belegen: DÖRNEMANN, a.a.O., 73-75). Das Christologumenon des Arztes steht hier in
semantischer Nachbarschaft zu Christus als „Herberge“ und „Hafen“ sowie zur Vorstellung der Katabasis
und ist eng mit der Soteriologie der Thomasakten verwoben (hierzu DRIJVERS, HAN J.W., Thomasakten, in:
HENNECKE, EDGAR/SCHNEEMELCHER, WILHELM, Neutestamentliche Apokryphen. Bd. II: Apostolisches.
Apokalypsen und Verwandtes, Tübingen 51989, 289-303, hier: 294f.).
50
Vgl. Einleitung und Übersetzung in: PARROTT, DOUGLAS M. (Hrsg.), Nag Hammadi Codices V, 2-5 and VI
with Papyrus Berolinensis 8502, 1 and 4 (Nag Hammadi Studies 11. The Coptic Gnostic Library), Leiden
1979, 197-229; SCHENKE, HANS-MARTIN, Die Taten des Petrus und der zwölf Apostel, in: HENNECKE
/SCHNEEMELCHER, Neutestamentliche Apokryphen II, 368-380; deutsche Übersetzung auch: DERS., in: Nag
Hammadi Deutsch 2. Band: NHC V,2-XIII,1, BG 1 und 4. Eingeleitet und übersetzt von Mitgliedern des
Berliner Arbeitskreises für Koptisch-Gnostische Schriften, hrsg. von SCHENKE HANS-MARTIN/BETHGE,
HANS-GEBHARD/KAISER, URSULA ULRIKE (GCS NF 12; Koptisch-Gnostische Schriften III), Berlin/New
York 2003, 443-453. Vgl. zu den einleitungswissenschaftlichen Fragen: RÖWEKAMP, GEORG, Artikel:
„Petrus-Literatur“, in: Lexikon der antiken christlichen Literatur, 496f.; KLAUCK, HANS-JOSEF, Apokryphe
Apostelakten. Eine Einführung, Stuttgart 2005, 191-201. Vgl. SELL, JESSE, Simon Peter’s ‚Confession’ and
The Acts of Peter and the Twelve Apostles, in: Novum Testamentum 21, 1979, 344-356. Die Frage der
Zuordnung des Textes zur werdenden Gnosis ist umstritten. Vgl. auch LÜDEMANN, GERD, Bibel der
Häretiker. Die gnostischen Schriften aus Nag Hammadi. Eingeleitet, übersetzt und kommentiert von
LÜDEMANN, GERD/JANSSEN, MARTINA, Stuttgart 1997, 318 (möglicherweise „Produkt asketischenkratitischer Kreise“).
51
Zu den Spannungen zu den beiden vorausgegangenen Teilen und zum Namen Lithargoël siehe SCHENKE,
Taten, in: HENNECKE/SCHNEEMELCHER II, 368-374, hier: 373. Zur Nähe zum Heilungsauftrag des Erzengels
Raphael im Tobitbuch: DÖRNEMANN, Krankheit, 78.
30
medizinische Ausbildung der Jünger. 52 Hieran schließt eine Differenzierung zwischen
leiblicher Heilung und Heilung der Herzen als Aufgabe der Seelenärzte an (11,14-26).
Die relevanten Passagen lauten in der Übersetzung von H.-M. SCHENKE:
„Siehe, da kam Lithargoël heraus, in einer anderen Gestalt als der, die wir kannten, (nämlich) in der Gestalt
eines Arztes, der ein Arzneikästchen unter der Achsel trug und dem ein Schüler mit einem Koffer voller
Arznei folgte …“ (8,14-16).
„Er überreichte ihnen das Medizi<n>kästchen und den Koffer, den der Schüler hatte …“ (9,30-32).
„Da antwortete Johannes und sprach: ‚Herr, wir scheuen uns vor dir zu sehr, um viele Worte zu machen.
Aber du verlangst von uns, daß wir diese Kunst ausüben. Wir sind nicht in ihr ausgebildet worden, um als
Arzt wirken zu können. Wie also sollen wir die Fertigkeit haben, an Körpern Heilungen zu vollziehen, wie du
es uns aufgetragen hast?’ Er antwortete ihnen: ‚Vortrefflich hast du, Johannes, (einmal) gesagt: „Ich weiß,
daß die Ärzte der Welt (nur) die weltlichen (Krankheiten) heilen, die Ärzte der Seelen aber das Herz heilen.
Heilt also zuerst die Körper, damit auf Grund dieser aufweisbaren Wunder der Heilung ihres Leibes, (die)
ohne Arznei aus diesem Äon (erfolgt), sie euch glauben, daß ihr die Vollmacht habt, auch die Krankheiten
der Herzen zu heilen’“ (11,6-26).
In diesem Text sind drei Aspekte ineinander geflossen, die wir so weit bereits beobachten
konnten: Erstens begegnet hier die für christliche Texte als typisch erachtete epochale
metaphorische „jetzt“/„dann“- bzw. „hier“/„dort“- und „vorne“/„hinten“-Unterscheidung:
Die Weltgeschichte zerfällt in zwei Epochen: Eine vor der christlichen Mission und eine
unter ihrem Einfluss in Folge der Auferstehung Jesu. Der eigentliche Akzent liegt in der
christlichen Sicht auf der neuen Epoche. Zweitens kann man bestätigt finden, dass
Erfahrungen von Heilung mit dem Wundertäter Jesu den Ausgangspunkt der
frühchristlichen Überzeugungen beschreiben: Lithargoël-Christus ist der Arzt, der physisch
Kranke physisch gesund macht. Das Christentum geht also nicht nur metaphorisch mit
Heilung um, sie „bedeutet“ nicht nur etwas, sie ist – auch in der Heiltätigkeit der Apostel
nach Ostern – körperlich konkret erfahrbar. Drittens aber ist hier die Linie der
metaphorischen Konzeptualisierung des christlichen Aposteldienstes in der Gestalt der
Heilung der Herzen zu greifen, die auf die Ebene der christlichen Lehre, des christlichen
Glaubens verweist, der auch die Seele gesund zu machen vermag.
3. Im Blick auf die weitere altchristliche Entwicklung müsste nach Zeiten, Orten,
individuellen Autoren sowie vor allem auch nach Textgattungen dezidiert differenziert
Ob man aus dieser Stelle schließen darf, dass es in der „Gemeinde“ der „Taten“ einen eigenen Ärzte- (und
Apotheker-)stand gegeben hat (so WOHLERS, Krankheit, 85; vgl. a.a.O., 235), muss unsicher bleiben.
52
31
werden. Die Annahme kontinuierlicher und übergreifender traditionsgeschichtlicher
Entwicklungen ist in vielen Fällen nicht zu erhärten. Um wenigstens einige wenige
Stichworte zu geben: Neben vielen anderen
53
hat vor allem Origenes von dem
Christologumenon des Arztes Gebrauch gemacht. Christus wird bei ihm zum Engel und
Propheten überragenden „Oberarzt“ (avrciatro,j), der allein auch von der
evpiqumi,a zu heilen vermag, da er selbst ohne Krankheit/Sünde war.54 Bei Euseb von
Caesarea erschließt sich die Weltgeschichte als eine therapeutische Geschichte Gottes mit
den Menschen. Der beste und alle überragende Arzt aber war Christus (Eusebios,
Praeparatio Evangelica I 5,5: kai. o`` me.n tw/n ivatrw/n a;ristoj eivj
me,son parelqw.n a[ te crh. profula,ttesqai kai. a] prosh,kei
dra/n
w[sper
tij
a;rcwn
kai.
ku,rioj
met
v
evpisth,mhj
prosta,ttei [….]; vgl. Eusebios, Historia Ecclesiastica X 4,11: ivatrw/n
a;ristoj).
Erst allmählich wird so auch in der Wahrnehmung medizinaler Phänomene und in ihrem
metaphorisch-deutenden Gebrauch ein ähnlicher Differenzierungsgrad erreicht, wie er für
das Schrifttum Plutarchs festzustellen war. 55 Sehr nahe kommt Plutarch mit seiner
53
Wie viele christliche Väter kennt auch Clemens Alexandrinus die Rede vom deus medicus vor und neben
dem Christus medicus. Vgl. vom väterlichen lo,goj: Paidagogos I 2,6; vgl. I 9,88 u.a. Bei Justin heißt
Christus in der Verteidigung gegen Anschuldigungen der „paganen“ Welt zwar nie ivatro,j, aber
vergleichbar qerapeuth,j (Justin Apologie I 33). Siehe DÖRNEMANN, Krankheit, 89-91.
54
Vgl. Origenes, Homilien zu Samuel V 6, von der „Katabasis“ des „Oberarztes“ zu den Kranken; vgl.
Homilien zu Jeremia 18,5. Zur Sündlosigkeit/Krankheitslosigkeit Christi: Contra Celsum IV 15: „Freilich
entgeht der Arzt, wenn er die schrecklichen Dinge sieht und sich mit den widrigen Sachen befassen muß,
keineswegs der Gefahr, in dieselben (Krankheiten) verfallen zu können. Derjenige aber, der ‚die Wunden’
unserer Seelen durch den in ihm wohnenden Logos Gottes heilt, war selbst unempfänglich für jede Sünde“.
Origenes verbindet Jes 53,3f. mit der christologischen Arztmetapher (Homilien zu Leviticus VII 2; siehe
DÖRNEMANN, Krankheit, 154). Vgl. bei Origenes die Aufnahme von Mk 2,17 in Contra Celsum II 67: wvj
ivatro.j avgaqo,j (vgl. Irenaeus, Adversus Haereses III 5,2). Nach Origenes, Contra Celsum III 54
u.a.m. heilen die Christen mit der Arznei der Glaubenslehre. Origenes akzentuiert so vor allem die göttliche
Medizin. Hierbei spielt der Gedanke der göttlichen Pädagogik eine wesentliche Rolle (siehe DÖRNEMANN,
a.a.O., 131-141; DERS., Medizinale Inhalte in der Theologie des Origenes, in: SCHULZE, CHRISTIAN/IHM,
SIBYLLE [Hrsg.], Ärztekunst und Gottvertrauen. Antike und mittelalterliche Schnittpunkte von Christentum
und Medizin [Spudasmata 86], Hildesheim u.a. 2002, 9-39). Im Vergleich mit dem menschlichen Arzt ist
Gott kein Leiden unüberwindlich – was Origenes von Mk 2,17 her vorrangig auf die Sünde bezieht (Contra
Celsum VIII 72). Christologisch ist die Arzttitulatur in die Epinoiai-Lehre des Origenes einzuzeichnen. Siehe
den Überblick bei DUMEIGE, GERVAIS, Le Christ médecin dans la littérature chrétienne des premiers siècles,
in: Rivista di Archeologia Cristiana 48, 1972, 115-141; DÖRNEMANN, Krankheit, 141-157; nach FERNÁNDEZ,
SAMUEL, Cristo Médico según Orígenes. La Actividad Médica como Metáfora de la Acción Divina (Studia
Ephemeridis Augustinianum 64), Rom 1999, 280, überwiege bei theologischer Anwendung im Werk des
Origenes der Vergleich, bei christologischer Applikation dagegen die Metapher. Im Licht der jüngeren
kognitivistischen Metapherntheorien ist derart kaum mehr zu differenzieren (siehe oben Punkt 1.; vgl. GERBER,
Paulus, 103-105).
55
Es geht zu weit, wenn MATOUŠEK meint, das Christentum habe grundsätzlich die gesamte
wissenschaftliche Medizin abgelehnt (MATOUŠEK, MILOSLAV, Zur Frage des Verhältnisses des
Urchristentums zur Medizin, in: Zeitschrift für Geschichte der Naturwissenschaften, Technik und Medizin 1,
1960, 74-79, hier: 76). Doch ist festzustellen, dass erst allmählich einzelne Kirchenväter die positive
32
metaphorischen Entgegensetzung von medizinischem Spezialisten und Laien, von
schmerzhaften Therapieformen und der Sehnsucht der Klienten nach Wohlsein und
Heilung auch Irenaeus in „Adversus haereses“ III 5,2: „Welcher Arzt, der einen Kranken
heilen will, richtet sich aber nach dem, was der Kranke sich wünscht, und nicht nach dem,
was die Heilkunde verlangt?“56.
Insgesamt gewinnt der Christus medicus im christlichen Schrifttum bald den Charakter
eines fundamentalen metaphorischen Netzwerkes, das sich in verschiedene Subkonzepte
ausdifferenzieren lässt. Dieses Netzwerk eröffnet Wege für eine immer differenziertere
Entfaltung, die sich auf alle Aspekte der christlichen Lehre in ihrer Applikabilität richtet.
Medizinische Metaphern finden sukzessive Eingang in die Beschreibung verschiedenster
theologischer,
anthropologischer,
ethischer,
besonders
aber
soteriologischer
Lehranschauungen. Breite Bedeutung erhält das metaphorische Konzept des Cristo.j
ivatro,j z.B. in der altchristlichen Sakramentologie. Taufe und Herrenmahl werden zu
ontologischen Metaphern. Die Taufe kann so als „aqua medicinalis“ gelten (Tertullian)57
oder das Herrenmahl als „Arznei der Unsterblichkeit“ (fa,rmakon avqanasi,aj;
Ignatius, Epheserbrief 20,2). Als Hintergrund für solche Aussagen stellt sich dabei auch
Funktion der Medizin hervorheben und sich selbst auch auf medizinische Fachtexte berufen. Gegenüber dem
Gros der neutestamentlichen Schriften beschreibt es einen innovativen Schritt, wenn Clemens Alexandrinus
ohne jede Kritik die Heilkunst auf einen Ureinwohner Ägyptens zurückführen (Stromata I 75,2) und
ausführen kann: „So kommt z.B. die Gesundheit durch die Heilkunst und das körperliche Wohlbefinden
durch Übung in den Ringschulen und der Reichtum durch die Kunst, sich ein Vermögen zu erwerben,
zustande und tritt so in Erscheinung zwar entsprechend der göttlichen Vorsehung, aber doch unter
Mitwirkung von Menschen … “ (Stromata VI 157,2). Tertullian beruft sich nicht allein auf die frühe
hippokratische Medizin, sondern auch auf den großen alexandrinischen Arzt Herophilos, ferner auf Galen,
Soran u.a. Nach SCHIPPERGES bezog er eine Mittlerrolle zwischen der dogmatischen und empirischen
Schulrichtung der Medizin (SCHIPPERGES, HEINRICH, Artikel: „Krankheit IV. Alte Kirche“, in: Theologische
Realenzyklopädie 19, 686-689, hier: 688). Auch Origenes kann in der „scientia sanitatis“ eine „sapientia a
Deo“ erkennen (Origenes, Homilien zu Numeri XVIII 3 [GCS Or. VII/2 171; vgl. DÖRNEMANN, Krankheit,
124 mit Anm. 113]: „Omnis sapientia a Deo est. Iam vero de medicinae scientia nec dubitari puto. Si enim
est ulla scientia a Deo, quae magis ab eo erit quam scientia sanitatis, in qua etiam herbarum vires, et
succorum qualitates, ac differentiae dignoscuntur?“ Vgl. Sir 1,1: „Alle sofi,a ist vom Herrn …“. Das
Argument, dass die Medizin von Gott geschaffen ist, wird von den Vätern häufiger genutzt [auch Clemens]).
Solches „intellektuelle“ Urteil über Beruf und Wissenschaft ist dabei natürlich nicht eo ipso für literarisch
ungebildete Zeitgenossen vorauszusetzen. Es wurde in Fällen begünstigt, wo einzelne Väter selbst in
Berührung mit medizinischer Fachausbildung kamen. Insgesamt hat jedenfalls der Vorbehalt, den das frühe
Christentum mit dem Judentum teilte, noch längere Zeit mit nachgewirkt, nach dem für Heilung allein der
eine Gott Israels zuständig sein könne, auf den allein auch die Frage nach den Ursachen von Erkrankungen
zu beziehen sei. Der Vorwurf des Celsus, die Christen würden die Menschen von „kundigen
Ärzten“ fernhalten, bezieht sich zwar metaphorisch auf die Philosophie (Origenes, Contra Celsum III 75),
inkludiert aber den generellen Vorwurf der Wissenschaftsfeindlichkeit.
56
Siehe zur Stelle DÖRNEMANN, Krankheit, 96f.
57
Siehe zu Tertullians Entwicklung im Blick auf Taufe und zweite Buße: DÖRNEMANN, Krankheit, 169f.
33
die Frage, inwieweit sich ein eigener christlicher Arztstand und ein christliches Arztethos
auszuentwickeln beginnen.58
5. Schluss und Ausblick
Wir waren ausgegangen von jüngsten Ansätzen kognitivistischer Interpretationen der
Sprachform der Metapher. Diese erkennen in der Metapher nicht allein ein rhetorisches
Mittel der Illumination und Überzeugung, sondern ein unmittelbar in sinnlicher Erfahrung
gegründetes Instrument der Wirklichkeitserschließung, das als solches nicht suspendierbar,
nicht vermeidbar ist – besonders auch dort, wo es um religiöse Erfahrungen geht.
Unsere Untersuchung setzte an bei der Metaphorik der göttlichen Heilkunst, also bei der
religiösen bzw. theologischen (d.h. auf Gott resp. die Gottheit bezogenen) Nutzung
medizinalen Wissens in der Gestalt metaphorischer Konzepte. Wir begannen unsere
Analyse bei Plutarch von Chaironeia als einem philosophisch gebildeten griechischen
Schriftsteller, in dessen Schrifttum wir wesentliche literarische Voraussetzungen für die
Konzeptualisierung von Heil durch die ältesten Christen finden können.
Plutarch nutzt in breitem Umfang ontologische Metaphern göttlicher Medizin, die mit
Orientierungsmetaphern einhergehen und insgesamt eine metaphorische Substruktur
erzeugen. Diese ist dabei nicht nur aus der Sicht des Arztes entworfen, sondern gerade
auch aus der Sicht der Schmerz leidenden Patienten mit ihren Sinneserfahrungen im
Umgang mit Krankheiten und ärztlicher Kunst.
Die metaphorisch-medizinale Sprache, wie Plutarch sie im Zusammenhang der Thematik
von Geschick, Vorsehung und Strafe in seiner Schrift „De sera numinis vindicta“ einsetzt,
bezieht sich dabei immer wieder nicht so sehr auf positiv-heilvolles Ergehen als vielmehr
auf Erfahrungen von Schmerz und Bitterkeit. Heil, Heilung hat es mit „Medikamenten“
wie Hyänengalle und Seehundlab zu tun. Die Menschen haben Schmerzen; der Arzt heilt,
indem er schneidet, brennt, schröpft und bittere Substanzen verschreibt und indem er damit
58
SCHULZE untersucht die Rolle des Christentums beim Transfer medizinischen Wissens von der
hellenistisch-römischen Antike ins frühe Mittelalter. Nach ihm ist eine Verbindung von Medizin und
christlicher Theologie in der Zeit vom 2./3. Jahrhundert „erstmalig historisch sicher … greifbar“ (SCHULZE,
CHRISTIAN, Medizin und Christentum in Spätantike und frühem Mittelalter [Studien und Texte zu Antike und
Christentum 27], Tübingen 2005, 19). Seine Untersuchung der Prosopographie medizinisch tätiger Christen
bis zum 7. Jahrhundert führt zum Ergebnis, dass der Arztberuf auf christlicher Seite regional weit gestreut
und nicht unterdurchschnittlich häufig ausgeübt gewesen sei. Die Medizinrezeption der Alten Kirche erklärt
sich SCHULZE mit dem Hintergrund eines bereits etablierten positiven Arztbildes in der Antike sowie einer
christlichen Öffnung gegenüber den artes liberales.
34
seinerseits den Menschen ekelerregende und schmerzende Erfahrungen nicht ersparen
kann.
Hier gibt es über die untersuchten traditionsgeschichtlichen Berührungsflächen und
Schnittpunkte
der
medizinischen
Metaphorik
hinaus
einen
letzten
möglichen
Vergleichspunkt mit der christlichen Sichtweise – der allerdings den Abstand der
Konzeptionen nicht nivellieren kann und darf59: „Religion für die Sinne“ erschließt sich
nicht in „Wellness-Erfahrungen“; solche wären nach Plutarch illusionär, nach
alttestamentlichem
und
frühjüdischem
Verständnis
auch
in
religiöser
Hinsicht
problematisch. Anders ist und bleibt auf die medizinische Metaphorik gesehen der
auferstandene und erhöhte Arzt Christus für die frühen Christen der Gekreuzigte. Hier hat
„Religion für die Sinne“ in frühchristlicher Sicht ihren ureigenen Ort. Origenes formuliert
es in Hinsicht auf die Aufgabe des medizinischen Personals so: „Ärzte müssen zu den
Orten gehen, wo die Soldaten leiden, und sie müssen dort eintreten, wo der schlimme
Geruch von ihren Wunden herrscht. Das verlangt die menschenfreundliche Heilkunde
[…]“ (Origenes, Homilien zu Samuel V 8 [SC 328, 200 NAUTIN])60.
59
Für den Griechen und delphischen Priester Plutarch hat Religion keineswegs nur oder auch vorrangig mit
bitterem und quälendem Erleben zu tun. Die Annäherung unter dem Aspekt der Sinnesbasierung kann die
gravierenden Differenzen nicht übersehen.
60
Der ersten Aussage ist Corpus Hippocraticum Prognostikon 25 zu vergleichen – als Basis für die richtige
ärztliche Prognose; DÖRNEMANN, Krankheit, 141 Anm. 184.
35
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