SS 2009 Prof. Dr. Hans-Werner Hahn Grundkurs Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. 1. Einführung/ Industrielle Revolution in England/ Französische Revolution Wichtige Einführungsliteratur zum 19. Jahrhundert - - - - KOCKA, Jürgen, Das lange 19. Jahrhundert. Arbeit, Nation und bürgerliche Gesellschaft (= Handbuch der Deutschen Geschichte, Bd. 13), 10. völlig neu bearbeitete Auflage, Stuttgart 2002. NONN, Christoph, Das 19. und 20. Jahrhundert. Orientierung Geschichte, Paderborn 2007. OSTERHAMMEL, Jürgen, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009. WIRSCHING, Andreas (Hg.), Neueste Zeit (Oldenbourg Geschichte Lehrbuch), München 2006. Einführungen in die Geschichte der Westeuropäischen Doppelrevolution: - - - FEHRENBACH, Elisabeth, Vom Ancien Regime zum Wiener Kongress (= Oldenbourg Grundriss der Geschichte, 12), 4. überarb. Aufl., München 2001. BUCHHEIM, Christoph, Industrielle Revolution. Langfristige Wirtschaftsentwicklung in Großbritannien, Europa und in Übersee, München 1994. KUHN, Axel, Die Französische Revolution, Stuttgart 1999. REICHHARDT, Rolf E., Das Blut der Freiheit. Französische Revolution und demokratische Kultur, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1999. I. EINFÜHRUNG Historiker haben in den letzten Jahrzehnten oft vom „langen 19. Jahrhundert“ gesprochen und darunter die Zeit zwischen der sogenannten "Westeuropäischen Doppelrevolution" (Industrielle Rev./Frz. Rev.) und dem 1. Weltkrieg verstanden. Inzwischen ist es aber umstritten, inwieweit diese Periodisierung überhaupt für das gesamte Europa gelten kann. Die einzelnen Teile Europas wurden auf sehr unterschiedliche Weise von den großen Veränderungen erfaßt, die Industrialisierung, gesellschaftlicher Wandel, Nationalstaat und Fundamentalpolitisierung mit sich brachten. Wenn man Geschichte des 19. Jahrhunderts im globalen Rahmen betreibt, was zunehmend eingefordert und getan wird, ist die Bezeichnung „langes 19. Jahrhundert“ noch weniger plausibel. Dies hebt Osterhammel in seiner wichtigen neuen Weltgeschichte des 19. Jahrhunderts hervor. Er teilt das 19. Jahrhundert in drei Phasen: der sogenannten Sattelzeit zwischen 1770 und 1830, der „viktorianischen Epoche“ zwischen 1830 und 1880 mit der überragenden Bedeutung Großbritanniens und in eine danach einsetzende Übergangsphase in den Hochimperialismus. Das 19. Jahrhundert war ein Jahrhundert der Modernisierung, der „Verwandlung der Welt“ (Osterhammel). Durch Industrialisierung, die mit ihr einhergehenden wirtschaftlichen Disparitäten, die Kommunikationsrevolution durch Bahnen, Dampfschiffe und Telegraphie, die wissenschaftliche Revolutionen, sozialen Wandel, Migrationströme, Urbanisierung, die europäische Expansion und erste Wellen der Globalisierung, durch Verfassungsstaat, Demokratisierung und politischen Massenmarkt, das Streben nach dem Nationalstaat (der sich 1 aber auch in Europa keineswegs überall durchsetzte, die wichtigen Großreiche gingen erst nach 1914 zugrunde!) sowie die Anfänge des Sozialstaats hat das 19. Jahrhundert weitreichende Auswirkungen auf die Entwicklung der Welt gehabt. Es war das Jahrhundert der Europäisierung der Welt, d. h. die europäischen Staaten dehnten ihre Macht und ihren Einfluss stärker als zuvor auf die übrige Welt aus, die auch wirtschaftlich und kulturell den europäischen Mustern unterworfen werden sollte. Die transnationalen Aspekte dieses europäischen Ausgreifens werden innerhalb der Geschichtswissenschaft im Zuge der heutigen Globalisierungsprozesse immer stärker untersucht, wobei der Frage nach den Kosten und Opfern dieser Prozesse besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. Letzteres gilt auch für den Blick auf die innereuropäischen Modernisierungsprozesse. Die moderne Geschichtswissenschaft thematisiert hier nicht mehr nur die großen Fortschrittstendenzen des 19. Jahrhunderts. Sie betont vielmehr auch den Misch-, Übergangs- und Durchgangscharakter, die Doppelgesichtigkeit dieses Jahrhunderts. Es war nicht nur ein Jahrhundert des Fortschritts, vielmehr prallten Moderne und Tradition, Wandel und Beharrung in Europa wie außerhalb immer wieder hart aufeinander. II. DIE INDUSTRIELLE REVOLUTION IN ENGLAND Hauptcharakteristika von Industrieller Revolution (umstrittener Begriff) oder Industrialisierung sind: Durchsetzung neuer Techniken; massenhafte Nutzung von Rohstoffen, besonders zunächst Kohle und Eisen; Einrichtung des Fabriksystems und seinen arbeitsteiligen, zentralisierten und mechanisierten Produktionsprozessen; die Durchsetzung der freien Lohnarbeit; Kommunikationsrevolution; neue Form des Wirtschaftswachstums. Ursachen der Industriellen Revolution: man vermeidet heute monokausale Erklärungen und sieht die Ursache in einem ganzen Bündel von wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Faktoren: Bevölkerungswachstum, Ausweitung der landwirtschaftlichen Produktion und bessere Ernährung, günstige Verkehrsverhältnisse, technische Neuerungen, überseeische Expansion, Humankapital; Schaffung günstiger Rahmenbedingungen durch den Staat (Wirtschaftsliberalismus, kalkulierbare Rechtsordnung, machtpolitische Sicherung von Märkten). Das Pionierland der Industriellen Revolution war England, wo im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts aufgrund günstiger Rahmenbedingungen der Industrialisierungsprozess begann. Wichtigste Erfinder und Erfindungen: James WATT (1736-1819): Erfinder der Dampfmaschine mit Drehbewegung 1782; John KAY: 1733 fliegendes Weberschiffchen zur Beschleunigung des Webens; James HARGREAVES Spinning Jenny in den 1760er Jahren; Richard ARKWRIGHT Spinnmaschine mit Wasser- oder Dampfkraft; Abraham DARBY (Verhüttung von Eisenerz mit Koks statt Holzkohle), Henry CORT 1783: Vereinfachung der Stahlproduktion durch das Puddel-Verfahren. Der wichtigste Bereich der frühen Industrialisierung war die Baumwollspinnerei, deren Wachstum sich in England (Manchester vor allem seit 1780) beschleunigte. Auch wenn gesamtwirtschaftliche Berechnungen das quantitative Ausmaß des zwischen 1780 und 1800 erreichten Wachstums erheblich niedriger einstufen als frühere Forschungen (Kritik am Mythos "Industrielle Revolution") und England um 1800 in vielerlei Hinsicht noch vorindustrielle Strukturen besaß, so darf man die Bedeutung des eingetretenen Wandels nicht unterschätzen. Die industrielle Revolution war zunächst einmal ein regionales Phänomen. Die "revolutionären" Veränderungen dieser Führungsregionen werden in einer gesamtnationalen Wachstumsstatistik daher zu schnell eingeebnet. Um 1800 wurden die Fortschritte der englischen Industrie auf dem Kontinent einerseits bewundert (Industriespionage). Andererseits war man angesichts der mit ihnen verbundenen sozialen Probleme noch keineswegs generell davon überzeugt, langfristig denselben Weg einschlagen zu müssen. 2 Selbst in England war man, wie die Schriften von Robert Thomas MALTHUS zeigen, um 1800 nicht voll davon überzeugt, durch die Beschleunigung der Industrialisierung der wachsenden Bevölkerung ausreichende Existenzbedingungen schaffen zu können. Der Lebensstandard der Massen ist in den frühen Jahrzehnten der Industriellen Revolution im übrigen nur wenig gestiegen. Hinzu kamen die von vielen Betroffenen als Verschlechterung empfundenen Bedingungen der neuen Fabrikarbeit: Monotonie, Lärm, Schmutz, Zeitdruck, Disziplinierung, Kinderarbeit, Trucksystem usw. Die sozialen Krisen führten vor allem seit 1800 zu Protestbewegungen der Arbeiter (Ludditen-Aufstand) und harten Repressionsmaßnahmen der englischen Regierung. Trotz außenpolitischer Rückschläge unter König Georg III. (1760-1820) und wachsenden Reformforderungen kam es aber in Großbritannien mit seinen vergleichsweise weit entwickelten Freiheitsrechten und einem flexibel reagierenden politischen System zu keiner politischen Revolution. Im Vergleich mit Frankreich war das von William Pitt d. Jüngeren (1783-1801, 1804-06) regierte wirtschaftliche Pionierland England um 1800 eher ein Hort von Tradition und Konservativismus. III. DIE FRANZÖSISCHE REVOLUTION 1. Revolutionsbegriff und Revolutionsforschung: Revolutionen sind besondere Verlaufsformen des historischen Prozesses. Ursprünglich meinte der Begriff Revolution eine Umwälzung im Sinne der Wiederherstellung früherer Zustände. Noch die englische Glorious Revolution von 1688, die den Machtanspruch des Königtums begrenzte und die Freiheitsrechte des Individuums sicherte, wurde von vielen so verstanden. Revolution im modernen Sinne meint eine "politisch-soziale Totalumwälzung". Seine entscheidende politische Aufladung erhielt dieser Begriff am Ende des 18. Jahrhunderts. Mit der amerikanischen Revolution von 1776, in der 13 Staaten ihre Unabhängigkeit vom Mutterland England vollzogen und erstmals allgemeine Menschenrechte proklamiert wurden, und mit der Französischen Revolution von 1789 setzte sich der neue Revolutionsbegriff durch. Hier ging es nicht mehr um die Rückkehr zu Altbewährtem, sondern um den Aufbruch zu einer neuen Ordnung auf der Grundlage der Volkssouveränität. Die amerikanische Revolution wirkte in vielfacher Weise auf die politischen und sozialen Konflikte Europas ein und stärkte jene aufklärerischen Kräfte, die seit längerem die überkommenen gesellschaftlichen und herrschaftspolitischen Verhältnisse im weitgehend absolutistisch regierten Europa kritisierten. Mit der Französischen Revolution von 1789 begann auch in Europa eine neue Phase der politisch-sozialen Kämpfe. Der bis heute anhaltende politische Streit um die Französische Revolution hat sich auch in der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Vorgänge niedergeschlagen. Die umfangreiche Revolutionshistoriographie war lange geprägt von drei Grundrichtungen: der konservativen, der liberal-bürgerlichen und der sozialistischen Richtung, einschließlich ihres sowjetmarxistischen Ablegers. A. Konservative Deutungen (Burke, Taine, Chaunu): z. T. Revolution als Folge von Verschwörungen, Antikatholizismus der Revolution, Minderung der Macht Frankreichs. B. Liberale Deutungen (Thiers, Michelet): trotz Terrorherrschaft positives Gesamtbild, Revolution als Durchbruch zu Menschen- und Bürgerrechten, Rechtsgleichheit und moderner Verfassung. C. Sozialistische Interpretation (Jaurés, Lefebvre, Soboul): Revolution als Kampf zwischen Feudalismus und Kapitalismus (Adel-Bourgeoisie), Bedeutung der schon 3 hervortretenden sozialrevolutionären Unterströmungen, wichtige Stufe auf dem Weg zur sozialistischen Gesellschaft. D. Moderne strukturanalytische Forschung (Richet): differenzierteres Bild vom Ancien Régime und der Revolution, unterschiedliche Revolutionsebenen, Nebeneinander moderner und traditionaler Strukturen und Erwartungen. E. Revolution als Kulturrevolution (Vovelle): Umbruch der Mentalitäten. 2. Ursachen und Vorgeschichte der Französischen Revolution: A. Wirtschaftliche und soziale Ursachen Die Revolution war nicht das Ergebnis quasi gesetzmäßiger ökonomischer und sozialer Entwicklungen, dennoch spielen wirtschaftliche und soziale Faktoren im Ursachengeflecht eine wichtige Rolle: wirtschaftlicher Aufschwung Frankreichs im 18. Jahrhundert, Anstieg der Bevölkerung. Seit den siebziger Jahren häuften sich in der französischen Wirtschaft die Krisen- und Stagnationserscheinungen. Arbeitsmangel und hohe Getreidepreise sorgten für wachsenden Unmut. Der Brotpreis erreichte im Sommer 1789 seinen bis dahin höchsten Stand. Langfristige und kurzfristige wirtschaftliche Krisenfaktoren spielten daher für den Ausbruch der städtischen wie ländlichen Unruhen eine wichtige Rolle. Der ökonomische Strukturwandel auf dem Lande trug maßgeblich zur Unzufriedenheit der Bauern bei, deren Lage sich nicht nur durch den Druck des Feudalsystems, sondern gerade auch durch neue kapitalistische Bewirtschaftungsmethoden verschlechterte. Zu den der Revolution vorausgehenden Konflikten gehörte auch der Gegensatz zwischen Adel und Bürgertum. Man sollte sich angesichts der komplizierten sozialen Strukturen, welche die französische Gesellschaft aufwies, aber vor einfachen Erklärungen hüten. Für die Einordnung der Revolution und des Revolutionsgeschehens waren die Gegensätze innerhalb der einzelnen Stände, zwischen privilegierteren und weniger privilegierteren, zwischen armen und reichen Teilen, zwischen politisch fortschrittlicheren und konservativeren Teilen wichtiger als die großen Gegensätze zwischen klar abgrenzbaren sozialen Gruppen oder Klassen. Die Revolution von 1789 ist nicht auf den einen großen sozialen und wirtschaftlichen Gegensatz (Adel-Bürgertum) zurückzuführen. Die komplizierten Konfliktlagen führten gemeinsam mit dem geistigen und politischen Wandel zur wachsenden Unzufriedenheit in allen Schichten der französischen Gesellschaft, die dann in eine Revolution mit ganz unterschiedlichen Zielsetzungen mündete. B. Geistige und kulturelle Ursprünge der Revolution Die mit der Aufklärung einhergehenden geistesgeschichtlichen Umbrüche spielten im Ursachengeflecht der Französischen Revolution zweifellos eine wichtige Rolle. Der Revolution ging ein jahrelanger Kampf um die kulturelle Hegemonie voraus, in dessen Verlauf die Attraktivität der alten Institutionen - Monarchie und Kirche - sank, während aufklärerisches Gedankengut an Boden gewann. In diesem Zusammenhang sind nicht nur die großen Denker der französischen Aufklärung zu beachten, sondern vor allem die in den letzten Jahren intensiv erforschten sozialen Träger und Verbreitungswege dieser Ideen (Sozialgeschichte der Aufklärung). Die Blütezeit der französischen Aufklärung lag zwischen 1750 und 1770: VOLTAIRE (1694-1778: Ideal des aufgeklärten Monarchen), MONTESQUIEU (1689-1755: Kräftigung von Zwischengewalten, Gewaltenteilung, Aristokratie als ausgleichendes Moment zwischen Monarch und aufstrebendem Bürgertum), ROUSSEAU (1712-1788: Lehre vom 4 Gesellschaftsvertrag als Grundlage jeder Herrschaft, Volksherrschaft); Enzyklopädisten (DIDEROT, d`ALEMBERT: POPULARISIERUNG DER NEUEN IDEEN). Zwischen 1770 und 1789 verstärkte sich die Rezeption aufklärerischer Ideen. Eine wichtige Rolle spielten dabei zunächst aufgeklärte Assoziationen wie Freimaurerlogen, Lesegesellschaften, Salons, Akademien und erste politische Klubs. Massenwirksamer waren dann aber die an Zahl rasch zunehmenden Zeitschriften, Zeitungen und Pamphlete. Die Radikalisierung des Meinungsstreites trug dazu bei, in breiten Bevölkerungsschichten die Autorität der alten Mächte zu untergraben. Missstände am Hofe Ludwigs XVI. und im Adel wurden immer offener angeprangert und vielfach in Form von Skandalchroniken auch bewußt verzerrend dargestellt. Neben der Monarchie geriet auch die eng mit ihr verbundene Kirche immer stärker unter Beschuss (Dechristianisierung, Jansenisten). Der Politisierungsprozess in Frankreich und die Kritik an den alten Institutionen wurde schließlich auch durch die amerikanische Revolution und die Unruhen in europäischen Nachbargebieten (Niederlande, österreichische Niederlande, Schweiz) befördert. C. Die Krise des absolutistischen Herrschaftssystems Das seit 1774 von Ludwig XVI. regierte Frankreich war noch kein hierarchisch durchorganisierter moderner Staat. Ständische Zwischengewalten (Parlamente) und privilegierte Stände wie Adel und Klerus blockierten notwendige Reformen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geriet Frankreich durch eine kostspielige Außenpolitik, hohe Ausgaben des Hofes und ein ineffizientes Steuersystem immer tiefer in die Finanzkrise. 1788 mussten etwa 50% der Staatseinnahmen für die Schuldentilgung ausgegeben werden. Verschiedene Reformer (Maupeau, Turgot, Necker, Calonne, Loménie de Brienne) unternahmen vergebliche Versuche, die Krise durch Aufhebung der Steuerprivilegien von Adel und Klerus zu bekämpfen. 1787 widersetzten sich die Parlamente (Gerichtshöfe) den neuen Plänen (Beginn der Vor- oder Adelsrevolution). Der König scheute aber ein Zusammengehen mit den Reformkräften des sich nun immer stärker formierenden "Dritten Standes", musste dann aber erstmals seit 1614 die Generalstände zum 1. Mai 1789 einberufen, um die Steuerfrage anzugehen. Inzwischen hatte sich mit der nationalen oder Patriotenpartei eine neue, vom Bürgertum dominierte politische Kraft bemerkbar gemacht. Sie führte den Kampf sowohl gegen den König als auch gegen dessen Widersacher aus dem Lager der privilegierten Stände und stützte sich auf den Bildungsgrad und die ökonomische Macht des Bürgertums sowie auf die immer wichtiger werdende öffentliche Meinung. Das neue Selbstbewusstsein des dritten Standes wurde in der berühmten Schrift des Abbé Emmanuel Sieyès: "Was ist der Dritte Stand" untermauert, die im Januar 1789 erschien. Gefordert wurde eine verfassungsmäßig abgesicherte Mitsprache des dritten Standes an der Gestaltung der staatlichen Ordnung. Die Wahl der Generalstände und die dabei verfassten Beschwerdehefte des Volkes ("Cahiers de doléances") trieben den Politisierungsprozess im Winter 1788/89 weiter voran. Am 5. Mai 1789 begann mit der Eröffnung der Generalstände in Versailles ein neuer Abschnitt in der politischen Geschichte Frankreichs. 3. Die drei Revolutionen vom Sommer 1789 A. Die staatsrechtliche Revolution vom Sommer 1789. Zusammentreten der Generalstände am 5. Mai 1789; am 17. Juni 1789 erklärte sich der dritte Stand zur Nationalversammlung, Verteidigung der eigenen Ansprüche durch den Ballhausschwur vom 20. Juni 1789. Der Zickzack-Kurs König Ludwigs XVI. führte am 14. Juli zum Ausbruch der Revolution. 5 B. Die städtische Revolution und der Sturm auf die Bastille. Hohe Lebensmittelpreise, allgemeine Unzufriedenheit und Gerüchte über die Auflösung der Nationalversammlung führten in Paris und anderen Städten zu Tumulten. Am 14. Juli kam es zur Erstürmung der Bastille (Symbol des Despotismus). Die städtische Revolution brachte das besitzende Bürgertum an die Macht, das aber von Anfang an unter erheblichen Druck der städtischen Mittel- und Unterschichten stand. C. Bauernrevolution und Abschaffung des Feudalsystems. Im Juli 1789 erhoben sich in vielen Teilen Frankreichs auch die Bauern gegen ihre Grundherren. Um die Bauernrevolution einzudämmen, entschlossen sich die Abgeordneten der Nationalversammlung in der Nachtsitzung vom 4. August 1789, das gesamte Feudalsystem mit einem Schlage aufzuheben. 4. Aufbau und Scheitern der konstitutionellen Monarchie 1789-1792 - - - - - - Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789, Absage an die alte Gesellschaftsordnung. Beginn der Verfassungsberatungen durch die in Versailles tagende Nationalversammlung. die anhaltende wirtschaftliche Misere führte zu neuen Unruhen. Am 5. Oktober 1789 zogen politisierte Massen, darunter viele Frauen, von Paris nach Versailles, um die königliche Familie nach Paris zu holen (die Monarchie als Gefangene der Revolution). Oktober 1790: Ersetzung des Lilienbanners durch die Trikolore. Reformwerk der Nationalversammlung: Verfassung vom 3. September 1791 (Einkammersystem, Zensuswahlrecht, König ernennt Minister, Offiziere und Diplomaten, hat aber nur noch ein aufschiebendes Veto gegen Beschlüsse des Parlaments); Verwaltungsreformen (neue Einteilung in Departements, Distrikte, Kantone und Kommunen); neue Gerichtsverfassung, die Abschaffung des Erbadels (Juli 1790), die Gleichstellung der jüdischen Minderheit (September 1791), die Aufhebung von Zünften und anderen Korporationen (März 1791) sowie das Verbot von Arbeitervereinigungen und Streiks (Loi le Chapelier vom Juni 1791). Die Kirchenpolitik löste neue Konflikte mit dem König aus: Güter der Kirche werden als Nationalgüter verkauft (Ausgabe der Assignaten); neue vom Staat gesetzte Kirchenordnung, Zivilkonstitution des Klerus, der einen Eid auf die neue Ordnung leisten musste. Die ablehnende Haltung des Papstes und großer Teile des Klerus spaltete die französische Gesellschaft und verschärfte die Gegensätze zwischen der Nationalversammlung und dem kirchentreuen Ludwig XVI.; der von Mirabeau und La Fayette unternommene Versuch einer Versöhnung von Monarchie und Revolution hatte keine Chance mehr, zumal der König mit seinem gescheiterten Fluchtversuch vom Juni 1791 neues Misstrauen entstehen ließ. In der Nationalversammlung spalteten sich die gemäßigten Anhänger des Jakobinerklubs, die Feuillants, vom bisherigen Klub ab. 20. April 1792 Kriegserklärung der Nationalversammlung an Österreich: Während der König auf die Niederlage Frankreichs setzte, um die politischen Dinge revidieren zu können, erhofften sich die Befürworter des Krieges (vor allem die Girondisten) ein engeres Zusammenrücken der Franzosen und die Festigung der revolutionären Errungenschaften. Der ungünstige Kriegsverlauf, der Streit um die Kirchenpolitik, soziale Probleme und die wachsende Politisierung der Gesellschaft (Klubs, aktive Rolle von Frauen wie Madame Roland, Olympe de Gouges) führten im August 1792 zum Sturz der Monarchie. Septembermorde von 1792 in den Pariser Gefängnissen als Höhepunkt neuer Gewaltwellen. 6 5. Vorgeschichte, Entwicklung und Bedeutung der Jakobinerdiktatur: - - - - - - - - September 1792 Wahlen zum Nationalkonvent, geringe Beteiligung, Erfolg der Girondisten, die stärker waren als die Montagnards (Bergpartei, radikalerer Teil des auseinanderbrechenden Jakobinerklubs), die große Mehrheit der Konventsmitglieder war zunächst auf keine Richtung festgelegt. Die Position der Girondisten festigte sich durch den militärischen Erfolg von Valmy am 20. September 1792. Der Nationalkonvent setzte die Forderungen des 10. August 1792 in die Tat um: offizielle Abschaffung der Monarchie und Errichtung einer Republik in Form eines unteilbaren Einheitsstaates. Es folgten der Prozess gegen den König und die Hinrichtung Ludwigs XVI. im Januar 1793. Anfang 1793 erlitt Frankreich schwere Niederlagen gegen die nun unter Führung Englands agierende Koalition. Hinzu kamen innere Unruhen: Unzufriedenheit über schlechte Versorgung in Paris, royalistische Bauernerhebungen in der Vendée; Kritik an regierenden Girondisten. Im März 1793 erzwangen revolutionäre Kräfte die Einrichtung eines Revolutionstribunals und die Todesstrafe für Gegenrevolutionäre. Der Machtkampf zwischen den Girondisten und den von den Pariser Massen (Sansculotten) unterstützten Montagnards wurde am 2. Juni 1793 zugunsten der letzteren entschieden. Mit dem Beginn der Jakobinerherrschaft (Danton, Robespierre) erhielt Frankreich zwar noch im Juni 1793 eine neue, vom Konvent verabschiedete Verfassung (allgemeines Wahlrecht, Recht auf Arbeit, Recht auf Bildung, Armenunterstützung). Sie trat jedoch wegen des Ausnahmezustandes nicht in Kraft. Die Regierungsarbeit lag bei den zwei Konventsausschüssen, dem für die Verteidigungsfragen zuständigen Sicherheitsausschuss und dem Wohlfahrtsausschuss. Die regierenden Jakobiner betrieben nun eine rigorose Zentralisierung des Staatsapparates (gegen föderalistische Ziele der Girondisten) und versuchten, durch Wirtschaftslenkung und die Schaffung einer schlagkräftigen Revolutionsarmee die inneren und äußeren Krisen in den Griff zu bekommen. Hauptkennzeichen des neuen Systems wurde schließlich der Terror, der sich immer rascher ausbreitete. Die wichtigste Unterstützung erhielten die Jakobiner von den sogenannten Sansculotten (klein- und unterbürgerliche Pariser Volksbewegung, aktiver Kern umfasste etwa 10% der männlichen Bevölkerung). Zu ihren Hauptforderungen gehörten die Festsetzung von Höchstpreisen und Beschränkungen der Eigentumsrechte. Das sozialökonomische Wunschziel war eine egalitäre Gesellschaft von selbständigen Kleinproduzenten. Man bekannte sich zum Eigentum, doch ganz im Sinne einer egalitären Kleineigentümergesellschaft. In politischer Hinsicht plädierten die Sansculotten für eine direkte Demokratie. Krieg und die Gegenrevolution im Inneren festigten zunächst das Bündnis zwischen Jakobinern und Sansculotten. Die Sansculotten bildeten den Kern der im Frühjahr 1793 ausgehobenen Revolutionstruppen. Der Konvent ließ sich von den Sansculotten zu harten Maßnahmen gegen Wucherer drängen. Am 27. September 1793 wurde das maximum générale eingeführt, das die Preise und Löhne generell begrenzte und die Gewinnspannen im Handel auf 5-10% reduzierte. Dennoch wuchsen bald die Gegensätze zwischen den sozialradikalen Gruppen und den regierenden Jakobinern. Im Herbst 1793 wurde eine kleine sozialradikale Gruppe um den ehemaligen Priester Jacques Roux (Enragés) verhaftet, vor Gericht gestellt und auf die Guillotine geschickt. Angesichts der inneren und äußeren Bedrohungssituation sicherte sich der Wohlfahrtsausschuss im Herbst 1793 weitere Vollmachten und etablierte sich nun endgültig als unumstrittenes Machtzentrum der Regierungstätigkeit. Seit September 7 - - - - erhielt er das Recht, seine Mitglieder zu kooptieren. Zu den wichtigsten Männern zählten neben Robespierre dessen engster Mitarbeiter Saint-Just, der für die Armeelieferungen zuständige Carnot, der für die Rüstungsmanufakturen zuständige Jeanbon Saint-André und die auf Druck der Sansculottenbewegung aufgenommenen Collot d'Herbois und Billaud-Varenne. Am 10. Oktober 1793 erklärte der Nationalkonvent die Regierung Frankreichs für revolutionär bis zum Frieden. Durch das Gesetz vom 4. 12. 1793 erfolgte eine weitere Zentralisierung des Herrschaftssystems. Am Ende des Jahres 1793 hatte sich die Revolution gegenüber ihren innerfranzösischen Gegnern (Zerschlagung eines Aufstandes der Girondisten und der gegenrevolutionären Kräfte in der Vendée, grausame Racheakte, Politik der verbrannten Erde) behauptet. Außenpolitische Stabilisierung durch militärische Erfolge nach der "levée en masse" vom August 1793 (Volkskrieg, Heer von fast 1 Million motivierter Soldaten gegen die Söldnerheere des alten Europa). Trotz der Behauptung gegen äußere und innere Feinde häuften sich seit Oktober 1793 die großen Prozesse gegen die inneren Gegner (Revolutionstribunal unter Ankläger Antoine Fouquier-Tinville). Zu den wichtigsten Opfern im Herbst 1793 gehörten die Girondisten Brissot und Vergniaud, die ehemalige Königin Marie Antoinette und der Herzog Philipp Égalité. Der Großteil der Verhaftungen erfolgte weniger wegen politischer Opposition gegen die Revolution, sondern wegen Vergehen gegen die strengen wirtschaftspolitischen Bestimmungen. Die Zahl der pro Monat Hingerichteten lag bis November 1793 in ganz Frankreich bei etwa 100. Im November stieg sie auf 500, im Dezember waren es über 3000. Trotz der militärischen Erfolge im Inneren und nach außen ging der Terror der Kriegsdiktatur weiter. Robespierre hielt es für verfrüht, die Zügel wieder zu lockern. Hierzu trugen auch die inneren Auseinandersetzungen in der Bergpartei bei. Gegen Robespierre und seine Anhänger standen rechts Danton und seine Anhänger und links die Anhänger des Journalisten Jacques René Hébert (Hébertisten). Letztere traten das Erbe des 1793 von einer katholischen Gegnerin der Revolution (Charlotte Corday) ermordeten Marats und der auf Weisung Robespierres hingerichteten Enragés an und warfen den Machthabern vor, Feinde der Gleichheit und des Volkes zu sein. Im März 1794 wurde ein Aufstandsversuch der Hébertisten in den Anfängen erstickt, die Führer des ultralinken Flügels wurden am 13./14. März 1794 verhaftet und wenige Tage später hingerichtet. Kurz danach erfolgte die Ausschaltung der Danton-Anhänger. Trotz der Ausschaltung linker und rechter Abweichler und eines günstigen Kriegsverlauf erreichte der Terror zwischen April und dem 27. Juli 1794, dem Sturz Robespierres, noch einmal einen neuen Höhepunkt. Am 10. Juni 1794 begann der sogenannte Große Schrecken. Der Terror war nicht von Anfang an in der Revolution angelegt, sondern die Folge einer Dynamik aus innerer wie äußerer Bedrohung. Ziel des Terrors war es zunächst, den ausgebrochenen Bürgerkrieg zu kanalisieren und unkontrollierte Gewalttaten des Volkes zu stoppen (deshalb auch Schauprozess und öffentliche Hinrichtung). Krieg, Bürgerkrieg und die inneren Widersprüche der Revolution sorgten dann dafür, dass sich der Terror verselbständigte. Mit der Verschärfung des Terrors untergrub Robespierre jedoch immer mehr seine eigene Machposition. Indem er gegen die Führer der Volksbewegung (Enragés, Hébertisten) und auch immer mehr gegen die Interessen der Sansculotten handelte (Rückkehr zum Wirtschaftsliberalismus) schwächte Robespierre den Druck der Straße und stärkte den nach wie vor tagenden Nationalkonvent. Auf der anderen Seite verstärkte die Ausschaltung der Gemäßigten im Bürgertum, aber auch unter den Sansculotten die Furcht vor einer weiteren Eskalation des Terrors. All dies erleichterte es den Abgeordneten des Nationalkonvents, nun die Rückkehr zu den Normen eines bürgerlichen Liberalismus einzuleiten. Am 27. Juli 1794 wurde Robespierre gestürzt und mit seinen engsten Anhängern hingerichtet. 8 - Die neue Politik der Thermidorianer um Paul Barras brach die innere Dynamik des Revolutionsprozesses. Sie war auf Mäßigung und Versöhnung ausgerichtet. Durch Beendigung des Terrors, Religionsfreiheit und Wirtschaftsliberalismus sollten die Franzosen wieder frei und sicher leben können, ohne auf die grundlegenden Errungenschaften der großen Revolution verzichten zu müssen. 6. Bilanz der Revolution: - - - - ÖKONOMIE: einerseits bessere rechtliche Rahmenbedingungen zur Entfaltung neuer Wirtschaftskräfte (Aufhebung von Binnenzöllen, Zünften usw.), andererseits hemmende Wirkungen durch den zeitweilig sehr dirigistischen Kurs und die agrarpolitischen Folgen. Der wirtschaftliche Vorsprung Englands wuchs gerade in den neunziger Jahren deutlich an. GESELLSCHAFT: Auch in sozialer Hinsicht hielt sich die Zäsurwirkung in Grenzen. Die Revolution zerstörte die alte Ständegesellschaft, aber diese befand sich schon vor 1789 in einem Auflösungsprozess. Hauptnutznießer der neuen Verhältnisse war das Bürgertum. Hierbei handelte es sich aber nicht um ein modernes industriell tätiges Großbürgertum, sondern um die durch Revolutionsgewinner erweiterte Grundbesitz- und Rentenbourgeoisie des Ancien Régime. Sie bildete den Kern jener Notabelngesellschaft, die bis in die vierziger Jahre die Geschicke Frankreichs bestimmte. Stabilisierung des französischen Kleinbauerntums durch die Revolution. POLITIK: Hier trat der Zäsurcharakter von 1789 am deutlichsten hervor: Menschen- und Bürgerrechte, Rechtsgleichheit des Bürgers (nicht der Frauen), Verfassung auf der Grundlage der Volkssouveränität, moderner Nationalstaat. Der ältere Begriff der Nation wurde politisch neu aufgeladen und rückte seit 1789 in das Zentrum der revolutionären Ideologie und Praxis des dritten Standes. Er war untrennbar mit Selbstbestimmung und Souveränität des Volkes verbunden und wurde zu einem dynamischen und in ganz neuer Form mobilisierenden Prinzip der inneren wie äußeren Politik (Nation als wichtigste Richtschnur allen politischen Handelns und zugleich als Religionsersatz). KULTUR: Mit der Französischen Revolution veränderten sich Wertekanon und Alltag der Franzosen: Durchsetzung der französischen Hochsprache, neue Formen bei der Vermittlung politischer Botschaften, Politisierung der Gesellschaft, Bruch mit religiösen Traditionen (Fest des höchsten Wesens Juni 1794, Dechristianisierungsforderungen der radikalen Kräfte), neue kulturelle Praktiken (politische Feste), dauerhafte Spaltung der französischen Gesellschaft in Anhänger der Revolution und Traditionalisten. 9