Skript 16.04

Werbung
SS 2009
Prof. Dr. Hans-Werner Hahn
Grundkurs Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.
1. Einführung/ Industrielle Revolution in England/ Französische Revolution
Wichtige Einführungsliteratur zum 19. Jahrhundert
-
-
-
-
KOCKA, Jürgen, Das lange 19. Jahrhundert. Arbeit, Nation und bürgerliche
Gesellschaft (= Handbuch der Deutschen Geschichte, Bd. 13), 10. völlig neu
bearbeitete Auflage, Stuttgart 2002.
NONN, Christoph, Das 19. und 20. Jahrhundert. Orientierung Geschichte, Paderborn
2007.
OSTERHAMMEL, Jürgen, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19.
Jahrhunderts, München 2009.
WIRSCHING, Andreas (Hg.), Neueste Zeit (Oldenbourg Geschichte Lehrbuch),
München 2006.
Einführungen in die Geschichte der Westeuropäischen Doppelrevolution:
-
-
-
FEHRENBACH, Elisabeth, Vom Ancien Regime zum Wiener Kongress (= Oldenbourg
Grundriss der Geschichte, 12), 4. überarb. Aufl., München 2001.
BUCHHEIM, Christoph, Industrielle Revolution. Langfristige Wirtschaftsentwicklung in
Großbritannien, Europa und in Übersee, München 1994.
KUHN, Axel, Die Französische Revolution, Stuttgart 1999.
REICHHARDT, Rolf E., Das Blut der Freiheit. Französische Revolution und
demokratische Kultur, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1999.
I. EINFÜHRUNG
Historiker haben in den letzten Jahrzehnten oft vom „langen 19. Jahrhundert“ gesprochen
und darunter die Zeit zwischen der sogenannten "Westeuropäischen Doppelrevolution"
(Industrielle Rev./Frz. Rev.) und dem 1. Weltkrieg verstanden. Inzwischen ist es aber
umstritten, inwieweit diese Periodisierung überhaupt für das gesamte Europa gelten kann. Die
einzelnen Teile Europas wurden auf sehr unterschiedliche Weise von den großen
Veränderungen erfaßt, die Industrialisierung, gesellschaftlicher Wandel, Nationalstaat und
Fundamentalpolitisierung mit sich brachten. Wenn man Geschichte des 19. Jahrhunderts im
globalen Rahmen betreibt, was zunehmend eingefordert und getan wird, ist die Bezeichnung
„langes 19. Jahrhundert“ noch weniger plausibel. Dies hebt Osterhammel in seiner wichtigen
neuen Weltgeschichte des 19. Jahrhunderts hervor. Er teilt das 19. Jahrhundert in drei Phasen:
der sogenannten Sattelzeit zwischen 1770 und 1830, der „viktorianischen Epoche“ zwischen
1830 und 1880 mit der überragenden Bedeutung Großbritanniens und in eine danach
einsetzende Übergangsphase in den Hochimperialismus.
Das 19. Jahrhundert war ein Jahrhundert der Modernisierung, der „Verwandlung der Welt“
(Osterhammel). Durch Industrialisierung, die mit ihr einhergehenden wirtschaftlichen
Disparitäten, die Kommunikationsrevolution durch Bahnen, Dampfschiffe und Telegraphie,
die wissenschaftliche Revolutionen, sozialen Wandel, Migrationströme, Urbanisierung, die
europäische Expansion und erste Wellen der Globalisierung, durch Verfassungsstaat,
Demokratisierung und politischen Massenmarkt, das Streben nach dem Nationalstaat (der sich
1
aber auch in Europa keineswegs überall durchsetzte, die wichtigen Großreiche gingen erst
nach 1914 zugrunde!) sowie die Anfänge des Sozialstaats hat das 19. Jahrhundert
weitreichende Auswirkungen auf die Entwicklung der Welt gehabt. Es war das Jahrhundert
der Europäisierung der Welt, d. h. die europäischen Staaten dehnten ihre Macht und ihren
Einfluss stärker als zuvor auf die übrige Welt aus, die auch wirtschaftlich und kulturell den
europäischen Mustern unterworfen werden sollte. Die transnationalen Aspekte dieses
europäischen Ausgreifens werden innerhalb der Geschichtswissenschaft im Zuge der heutigen
Globalisierungsprozesse immer stärker untersucht, wobei der Frage nach den Kosten und
Opfern dieser Prozesse besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. Letzteres gilt auch für den
Blick auf die innereuropäischen Modernisierungsprozesse. Die moderne
Geschichtswissenschaft thematisiert hier nicht mehr nur die großen Fortschrittstendenzen des
19. Jahrhunderts. Sie betont vielmehr auch den Misch-, Übergangs- und
Durchgangscharakter, die Doppelgesichtigkeit dieses Jahrhunderts. Es war nicht nur ein
Jahrhundert des Fortschritts, vielmehr prallten Moderne und Tradition, Wandel und
Beharrung in Europa wie außerhalb immer wieder hart aufeinander.
II. DIE INDUSTRIELLE REVOLUTION IN ENGLAND
Hauptcharakteristika von Industrieller Revolution (umstrittener Begriff) oder
Industrialisierung sind: Durchsetzung neuer Techniken; massenhafte Nutzung von
Rohstoffen, besonders zunächst Kohle und Eisen; Einrichtung des Fabriksystems und seinen
arbeitsteiligen, zentralisierten und mechanisierten Produktionsprozessen; die Durchsetzung
der freien Lohnarbeit; Kommunikationsrevolution; neue Form des Wirtschaftswachstums.
Ursachen der Industriellen Revolution: man vermeidet heute monokausale Erklärungen
und sieht die Ursache in einem ganzen Bündel von wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und
politischen Faktoren: Bevölkerungswachstum, Ausweitung der landwirtschaftlichen
Produktion und bessere Ernährung, günstige Verkehrsverhältnisse, technische Neuerungen,
überseeische Expansion, Humankapital; Schaffung günstiger Rahmenbedingungen durch den
Staat (Wirtschaftsliberalismus, kalkulierbare Rechtsordnung, machtpolitische Sicherung von
Märkten). Das Pionierland der Industriellen Revolution war England, wo im letzten Viertel
des 18. Jahrhunderts aufgrund günstiger Rahmenbedingungen der Industrialisierungsprozess
begann.
Wichtigste Erfinder und Erfindungen: James WATT (1736-1819): Erfinder der
Dampfmaschine mit Drehbewegung 1782; John KAY: 1733 fliegendes Weberschiffchen zur
Beschleunigung des Webens; James HARGREAVES Spinning Jenny in den 1760er Jahren;
Richard ARKWRIGHT Spinnmaschine mit Wasser- oder Dampfkraft; Abraham DARBY
(Verhüttung von Eisenerz mit Koks statt Holzkohle), Henry CORT 1783: Vereinfachung der
Stahlproduktion durch das Puddel-Verfahren.
Der wichtigste Bereich der frühen Industrialisierung war die Baumwollspinnerei, deren
Wachstum sich in England (Manchester vor allem seit 1780) beschleunigte. Auch wenn
gesamtwirtschaftliche Berechnungen das quantitative Ausmaß des zwischen 1780 und 1800
erreichten Wachstums erheblich niedriger einstufen als frühere Forschungen (Kritik am
Mythos "Industrielle Revolution") und England um 1800 in vielerlei Hinsicht noch
vorindustrielle Strukturen besaß, so darf man die Bedeutung des eingetretenen Wandels nicht
unterschätzen. Die industrielle Revolution war zunächst einmal ein regionales Phänomen. Die
"revolutionären" Veränderungen dieser Führungsregionen werden in einer gesamtnationalen
Wachstumsstatistik daher zu schnell eingeebnet. Um 1800 wurden die Fortschritte der
englischen Industrie auf dem Kontinent einerseits bewundert (Industriespionage).
Andererseits war man angesichts der mit ihnen verbundenen sozialen Probleme noch
keineswegs generell davon überzeugt, langfristig denselben Weg einschlagen zu müssen.
2
Selbst in England war man, wie die Schriften von Robert Thomas MALTHUS zeigen, um
1800 nicht voll davon überzeugt, durch die Beschleunigung der Industrialisierung der
wachsenden Bevölkerung ausreichende Existenzbedingungen schaffen zu können. Der
Lebensstandard der Massen ist in den frühen Jahrzehnten der Industriellen Revolution im
übrigen nur wenig gestiegen. Hinzu kamen die von vielen Betroffenen als Verschlechterung
empfundenen Bedingungen der neuen Fabrikarbeit: Monotonie, Lärm, Schmutz, Zeitdruck,
Disziplinierung, Kinderarbeit, Trucksystem usw. Die sozialen Krisen führten vor allem seit
1800 zu Protestbewegungen der Arbeiter (Ludditen-Aufstand) und harten
Repressionsmaßnahmen der englischen Regierung.
Trotz außenpolitischer Rückschläge unter König Georg III. (1760-1820) und wachsenden
Reformforderungen kam es aber in Großbritannien mit seinen vergleichsweise weit
entwickelten Freiheitsrechten und einem flexibel reagierenden politischen System zu keiner
politischen Revolution. Im Vergleich mit Frankreich war das von William Pitt d. Jüngeren
(1783-1801, 1804-06) regierte wirtschaftliche Pionierland England um 1800 eher ein Hort
von Tradition und Konservativismus.
III. DIE FRANZÖSISCHE REVOLUTION
1. Revolutionsbegriff und Revolutionsforschung:
Revolutionen sind besondere Verlaufsformen des historischen Prozesses. Ursprünglich
meinte der Begriff Revolution eine Umwälzung im Sinne der Wiederherstellung früherer
Zustände. Noch die englische Glorious Revolution von 1688, die den Machtanspruch des
Königtums begrenzte und die Freiheitsrechte des Individuums sicherte, wurde von vielen so
verstanden. Revolution im modernen Sinne meint eine "politisch-soziale Totalumwälzung".
Seine entscheidende politische Aufladung erhielt dieser Begriff am Ende des 18.
Jahrhunderts. Mit der amerikanischen Revolution von 1776, in der 13 Staaten ihre
Unabhängigkeit vom Mutterland England vollzogen und erstmals allgemeine Menschenrechte
proklamiert wurden, und mit der Französischen Revolution von 1789 setzte sich der neue
Revolutionsbegriff durch. Hier ging es nicht mehr um die Rückkehr zu Altbewährtem,
sondern um den Aufbruch zu einer neuen Ordnung auf der Grundlage der Volkssouveränität.
Die amerikanische Revolution wirkte in vielfacher Weise auf die politischen und sozialen
Konflikte Europas ein und stärkte jene aufklärerischen Kräfte, die seit längerem die
überkommenen gesellschaftlichen und herrschaftspolitischen Verhältnisse im weitgehend
absolutistisch regierten Europa kritisierten. Mit der Französischen Revolution von 1789
begann auch in Europa eine neue Phase der politisch-sozialen Kämpfe.
Der bis heute anhaltende politische Streit um die Französische Revolution hat sich auch in
der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Vorgänge niedergeschlagen. Die umfangreiche
Revolutionshistoriographie war lange geprägt von drei Grundrichtungen: der konservativen,
der liberal-bürgerlichen und der sozialistischen Richtung, einschließlich ihres
sowjetmarxistischen Ablegers.
A. Konservative Deutungen (Burke, Taine, Chaunu): z. T. Revolution als Folge von
Verschwörungen, Antikatholizismus der Revolution, Minderung der Macht
Frankreichs.
B. Liberale Deutungen (Thiers, Michelet): trotz Terrorherrschaft positives Gesamtbild,
Revolution als Durchbruch zu Menschen- und Bürgerrechten, Rechtsgleichheit und
moderner Verfassung.
C. Sozialistische Interpretation (Jaurés, Lefebvre, Soboul): Revolution als Kampf
zwischen Feudalismus und Kapitalismus (Adel-Bourgeoisie), Bedeutung der schon
3
hervortretenden sozialrevolutionären Unterströmungen, wichtige Stufe auf dem Weg
zur sozialistischen Gesellschaft.
D. Moderne strukturanalytische Forschung (Richet): differenzierteres Bild vom Ancien
Régime und der Revolution, unterschiedliche Revolutionsebenen, Nebeneinander
moderner und traditionaler Strukturen und Erwartungen.
E. Revolution als Kulturrevolution (Vovelle): Umbruch der Mentalitäten.
2. Ursachen und Vorgeschichte der Französischen Revolution:
A. Wirtschaftliche und soziale Ursachen
Die Revolution war nicht das Ergebnis quasi gesetzmäßiger ökonomischer und
sozialer Entwicklungen, dennoch spielen wirtschaftliche und soziale Faktoren im
Ursachengeflecht eine wichtige Rolle: wirtschaftlicher Aufschwung Frankreichs im 18.
Jahrhundert, Anstieg der Bevölkerung. Seit den siebziger Jahren häuften sich in der
französischen Wirtschaft die Krisen- und Stagnationserscheinungen. Arbeitsmangel und
hohe Getreidepreise sorgten für wachsenden Unmut. Der Brotpreis erreichte im Sommer
1789 seinen bis dahin höchsten Stand. Langfristige und kurzfristige wirtschaftliche
Krisenfaktoren spielten daher für den Ausbruch der städtischen wie ländlichen Unruhen
eine wichtige Rolle. Der ökonomische Strukturwandel auf dem Lande trug maßgeblich zur
Unzufriedenheit der Bauern bei, deren Lage sich nicht nur durch den Druck des
Feudalsystems, sondern gerade auch durch neue kapitalistische Bewirtschaftungsmethoden
verschlechterte.
Zu den der Revolution vorausgehenden Konflikten gehörte auch der Gegensatz
zwischen Adel und Bürgertum. Man sollte sich angesichts der komplizierten sozialen
Strukturen, welche die französische Gesellschaft aufwies, aber vor einfachen Erklärungen
hüten. Für die Einordnung der Revolution und des Revolutionsgeschehens waren die
Gegensätze innerhalb der einzelnen Stände, zwischen privilegierteren und weniger
privilegierteren, zwischen armen und reichen Teilen, zwischen politisch fortschrittlicheren
und konservativeren Teilen wichtiger als die großen Gegensätze zwischen klar
abgrenzbaren sozialen Gruppen oder Klassen. Die Revolution von 1789 ist nicht auf den
einen großen sozialen und wirtschaftlichen Gegensatz (Adel-Bürgertum) zurückzuführen.
Die komplizierten Konfliktlagen führten gemeinsam mit dem geistigen und politischen
Wandel zur wachsenden Unzufriedenheit in allen Schichten der französischen Gesellschaft,
die dann in eine Revolution mit ganz unterschiedlichen Zielsetzungen mündete.
B. Geistige und kulturelle Ursprünge der Revolution
Die mit der Aufklärung einhergehenden geistesgeschichtlichen Umbrüche spielten im
Ursachengeflecht der Französischen Revolution zweifellos eine wichtige Rolle. Der
Revolution ging ein jahrelanger Kampf um die kulturelle Hegemonie voraus, in dessen
Verlauf die Attraktivität der alten Institutionen - Monarchie und Kirche - sank, während
aufklärerisches Gedankengut an Boden gewann. In diesem Zusammenhang sind nicht nur
die großen Denker der französischen Aufklärung zu beachten, sondern vor allem die in den
letzten Jahren intensiv erforschten sozialen Träger und Verbreitungswege dieser Ideen
(Sozialgeschichte der Aufklärung).
Die Blütezeit der französischen Aufklärung lag zwischen 1750 und 1770: VOLTAIRE
(1694-1778: Ideal des aufgeklärten Monarchen), MONTESQUIEU (1689-1755: Kräftigung
von Zwischengewalten, Gewaltenteilung, Aristokratie als ausgleichendes Moment
zwischen Monarch und aufstrebendem Bürgertum), ROUSSEAU (1712-1788: Lehre vom
4
Gesellschaftsvertrag als Grundlage jeder Herrschaft, Volksherrschaft); Enzyklopädisten
(DIDEROT, d`ALEMBERT: POPULARISIERUNG DER NEUEN IDEEN). Zwischen 1770 und 1789
verstärkte sich die Rezeption aufklärerischer Ideen. Eine wichtige Rolle spielten dabei
zunächst aufgeklärte Assoziationen wie Freimaurerlogen, Lesegesellschaften, Salons,
Akademien und erste politische Klubs. Massenwirksamer waren dann aber die an Zahl
rasch zunehmenden Zeitschriften, Zeitungen und Pamphlete. Die Radikalisierung des
Meinungsstreites trug dazu bei, in breiten Bevölkerungsschichten die Autorität der alten
Mächte zu untergraben. Missstände am Hofe Ludwigs XVI. und im Adel wurden immer
offener angeprangert und vielfach in Form von Skandalchroniken auch bewußt verzerrend
dargestellt. Neben der Monarchie geriet auch die eng mit ihr verbundene Kirche immer
stärker unter Beschuss (Dechristianisierung, Jansenisten). Der Politisierungsprozess in
Frankreich und die Kritik an den alten Institutionen wurde schließlich auch durch die
amerikanische Revolution und die Unruhen in europäischen Nachbargebieten (Niederlande,
österreichische Niederlande, Schweiz) befördert.
C. Die Krise des absolutistischen Herrschaftssystems
Das seit 1774 von Ludwig XVI. regierte Frankreich war noch kein hierarchisch
durchorganisierter moderner Staat. Ständische Zwischengewalten (Parlamente) und
privilegierte Stände wie Adel und Klerus blockierten notwendige Reformen. In der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts geriet Frankreich durch eine kostspielige Außenpolitik, hohe
Ausgaben des Hofes und ein ineffizientes Steuersystem immer tiefer in die Finanzkrise.
1788 mussten etwa 50% der Staatseinnahmen für die Schuldentilgung ausgegeben werden.
Verschiedene Reformer (Maupeau, Turgot, Necker, Calonne, Loménie de Brienne)
unternahmen vergebliche Versuche, die Krise durch Aufhebung der Steuerprivilegien von
Adel und Klerus zu bekämpfen. 1787 widersetzten sich die Parlamente (Gerichtshöfe) den
neuen Plänen (Beginn der Vor- oder Adelsrevolution). Der König scheute aber ein
Zusammengehen mit den Reformkräften des sich nun immer stärker formierenden "Dritten
Standes", musste dann aber erstmals seit 1614 die Generalstände zum 1. Mai 1789
einberufen, um die Steuerfrage anzugehen. Inzwischen hatte sich mit der nationalen oder
Patriotenpartei eine neue, vom Bürgertum dominierte politische Kraft bemerkbar gemacht.
Sie führte den Kampf sowohl gegen den König als auch gegen dessen Widersacher aus dem
Lager der privilegierten Stände und stützte sich auf den Bildungsgrad und die ökonomische
Macht des Bürgertums sowie auf die immer wichtiger werdende öffentliche Meinung. Das
neue Selbstbewusstsein des dritten Standes wurde in der berühmten Schrift des Abbé
Emmanuel Sieyès: "Was ist der Dritte Stand" untermauert, die im Januar 1789 erschien.
Gefordert wurde eine verfassungsmäßig abgesicherte Mitsprache des dritten Standes an der
Gestaltung der staatlichen Ordnung. Die Wahl der Generalstände und die dabei verfassten
Beschwerdehefte des Volkes ("Cahiers de doléances") trieben den Politisierungsprozess im
Winter 1788/89 weiter voran. Am 5. Mai 1789 begann mit der Eröffnung der Generalstände
in Versailles ein neuer Abschnitt in der politischen Geschichte Frankreichs.
3. Die drei Revolutionen vom Sommer 1789
A. Die staatsrechtliche Revolution vom Sommer 1789.
Zusammentreten der Generalstände am 5. Mai 1789; am 17. Juni 1789 erklärte sich der
dritte Stand zur Nationalversammlung, Verteidigung der eigenen Ansprüche durch den
Ballhausschwur vom 20. Juni 1789. Der Zickzack-Kurs König Ludwigs XVI. führte am 14.
Juli zum Ausbruch der Revolution.
5
B. Die städtische Revolution und der Sturm auf die Bastille.
Hohe Lebensmittelpreise, allgemeine Unzufriedenheit und Gerüchte über die Auflösung der
Nationalversammlung führten in Paris und anderen Städten zu Tumulten. Am 14. Juli kam
es zur Erstürmung der Bastille (Symbol des Despotismus). Die städtische Revolution
brachte das besitzende Bürgertum an die Macht, das aber von Anfang an unter erheblichen
Druck der städtischen Mittel- und Unterschichten stand.
C. Bauernrevolution und Abschaffung des Feudalsystems.
Im Juli 1789 erhoben sich in vielen Teilen Frankreichs auch die Bauern gegen ihre
Grundherren. Um die Bauernrevolution einzudämmen, entschlossen sich die Abgeordneten
der Nationalversammlung in der Nachtsitzung vom 4. August 1789, das gesamte
Feudalsystem mit einem Schlage aufzuheben.
4. Aufbau und Scheitern der konstitutionellen Monarchie 1789-1792
-
-
-
-
-
-
Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789, Absage an die alte
Gesellschaftsordnung.
Beginn der Verfassungsberatungen durch die in Versailles tagende Nationalversammlung.
die anhaltende wirtschaftliche Misere führte zu neuen Unruhen. Am 5. Oktober 1789
zogen politisierte Massen, darunter viele Frauen, von Paris nach Versailles, um die
königliche Familie nach Paris zu holen (die Monarchie als Gefangene der Revolution).
Oktober 1790: Ersetzung des Lilienbanners durch die Trikolore.
Reformwerk der Nationalversammlung: Verfassung vom 3. September 1791
(Einkammersystem, Zensuswahlrecht, König ernennt Minister, Offiziere und Diplomaten,
hat aber nur noch ein aufschiebendes Veto gegen Beschlüsse des Parlaments);
Verwaltungsreformen (neue Einteilung in Departements, Distrikte, Kantone und
Kommunen); neue Gerichtsverfassung, die Abschaffung des Erbadels (Juli 1790), die
Gleichstellung der jüdischen Minderheit (September 1791), die Aufhebung von Zünften
und anderen Korporationen (März 1791) sowie das Verbot von Arbeitervereinigungen und
Streiks (Loi le Chapelier vom Juni 1791).
Die Kirchenpolitik löste neue Konflikte mit dem König aus: Güter der Kirche werden als
Nationalgüter verkauft (Ausgabe der Assignaten); neue vom Staat gesetzte
Kirchenordnung, Zivilkonstitution des Klerus, der einen Eid auf die neue Ordnung leisten
musste. Die ablehnende Haltung des Papstes und großer Teile des Klerus spaltete die
französische Gesellschaft und verschärfte die Gegensätze zwischen der
Nationalversammlung und dem kirchentreuen Ludwig XVI.; der von Mirabeau und La
Fayette unternommene Versuch einer Versöhnung von Monarchie und Revolution hatte
keine Chance mehr, zumal der König mit seinem gescheiterten Fluchtversuch vom Juni
1791 neues Misstrauen entstehen ließ. In der Nationalversammlung spalteten sich die
gemäßigten Anhänger des Jakobinerklubs, die Feuillants, vom bisherigen Klub ab.
20. April 1792 Kriegserklärung der Nationalversammlung an Österreich: Während der
König auf die Niederlage Frankreichs setzte, um die politischen Dinge revidieren zu
können, erhofften sich die Befürworter des Krieges (vor allem die Girondisten) ein
engeres Zusammenrücken der Franzosen und die Festigung der revolutionären
Errungenschaften.
Der ungünstige Kriegsverlauf, der Streit um die Kirchenpolitik, soziale Probleme und die
wachsende Politisierung der Gesellschaft (Klubs, aktive Rolle von Frauen wie Madame
Roland, Olympe de Gouges) führten im August 1792 zum Sturz der Monarchie.
Septembermorde von 1792 in den Pariser Gefängnissen als Höhepunkt neuer
Gewaltwellen.
6
5. Vorgeschichte, Entwicklung und Bedeutung der Jakobinerdiktatur:
-
-
-
-
-
-
-
-
September 1792 Wahlen zum Nationalkonvent, geringe Beteiligung, Erfolg der
Girondisten, die stärker waren als die Montagnards (Bergpartei, radikalerer Teil des
auseinanderbrechenden Jakobinerklubs), die große Mehrheit der Konventsmitglieder war
zunächst auf keine Richtung festgelegt.
Die Position der Girondisten festigte sich durch den militärischen Erfolg von Valmy am
20. September 1792. Der Nationalkonvent setzte die Forderungen des 10. August 1792 in
die Tat um: offizielle Abschaffung der Monarchie und Errichtung einer Republik in Form
eines unteilbaren Einheitsstaates. Es folgten der Prozess gegen den König und die
Hinrichtung Ludwigs XVI. im Januar 1793.
Anfang 1793 erlitt Frankreich schwere Niederlagen gegen die nun unter Führung
Englands agierende Koalition. Hinzu kamen innere Unruhen: Unzufriedenheit über
schlechte Versorgung in Paris, royalistische Bauernerhebungen in der Vendée; Kritik an
regierenden Girondisten.
Im März 1793 erzwangen revolutionäre Kräfte die Einrichtung eines Revolutionstribunals
und die Todesstrafe für Gegenrevolutionäre.
Der Machtkampf zwischen den Girondisten und den von den Pariser Massen
(Sansculotten) unterstützten Montagnards wurde am 2. Juni 1793 zugunsten der letzteren
entschieden.
Mit dem Beginn der Jakobinerherrschaft (Danton, Robespierre) erhielt Frankreich zwar
noch im Juni 1793 eine neue, vom Konvent verabschiedete Verfassung (allgemeines
Wahlrecht, Recht auf Arbeit, Recht auf Bildung, Armenunterstützung). Sie trat jedoch
wegen des Ausnahmezustandes nicht in Kraft. Die Regierungsarbeit lag bei den zwei
Konventsausschüssen, dem für die Verteidigungsfragen zuständigen Sicherheitsausschuss
und dem Wohlfahrtsausschuss. Die regierenden Jakobiner betrieben nun eine rigorose
Zentralisierung des Staatsapparates (gegen föderalistische Ziele der Girondisten) und
versuchten, durch Wirtschaftslenkung und die Schaffung einer schlagkräftigen
Revolutionsarmee die inneren und äußeren Krisen in den Griff zu bekommen.
Hauptkennzeichen des neuen Systems wurde schließlich der Terror, der sich immer
rascher ausbreitete.
Die wichtigste Unterstützung erhielten die Jakobiner von den sogenannten Sansculotten
(klein- und unterbürgerliche Pariser Volksbewegung, aktiver Kern umfasste etwa 10% der
männlichen Bevölkerung). Zu ihren Hauptforderungen gehörten die Festsetzung von
Höchstpreisen und Beschränkungen der Eigentumsrechte. Das sozialökonomische
Wunschziel war eine egalitäre Gesellschaft von selbständigen Kleinproduzenten. Man
bekannte sich zum Eigentum, doch ganz im Sinne einer egalitären
Kleineigentümergesellschaft. In politischer Hinsicht plädierten die Sansculotten für eine
direkte Demokratie.
Krieg und die Gegenrevolution im Inneren festigten zunächst das Bündnis zwischen
Jakobinern und Sansculotten. Die Sansculotten bildeten den Kern der im Frühjahr 1793
ausgehobenen Revolutionstruppen. Der Konvent ließ sich von den Sansculotten zu harten
Maßnahmen gegen Wucherer drängen. Am 27. September 1793 wurde das maximum
générale eingeführt, das die Preise und Löhne generell begrenzte und die Gewinnspannen
im Handel auf 5-10% reduzierte. Dennoch wuchsen bald die Gegensätze zwischen den
sozialradikalen Gruppen und den regierenden Jakobinern. Im Herbst 1793 wurde eine
kleine sozialradikale Gruppe um den ehemaligen Priester Jacques Roux (Enragés)
verhaftet, vor Gericht gestellt und auf die Guillotine geschickt.
Angesichts der inneren und äußeren Bedrohungssituation sicherte sich der
Wohlfahrtsausschuss im Herbst 1793 weitere Vollmachten und etablierte sich nun
endgültig als unumstrittenes Machtzentrum der Regierungstätigkeit. Seit September
7
-
-
-
-
erhielt er das Recht, seine Mitglieder zu kooptieren. Zu den wichtigsten Männern zählten
neben Robespierre dessen engster Mitarbeiter Saint-Just, der für die Armeelieferungen
zuständige Carnot, der für die Rüstungsmanufakturen zuständige Jeanbon Saint-André
und die auf Druck der Sansculottenbewegung aufgenommenen Collot d'Herbois und
Billaud-Varenne. Am 10. Oktober 1793 erklärte der Nationalkonvent die Regierung
Frankreichs für revolutionär bis zum Frieden. Durch das Gesetz vom 4. 12. 1793 erfolgte
eine weitere Zentralisierung des Herrschaftssystems. Am Ende des Jahres 1793 hatte sich
die Revolution gegenüber ihren innerfranzösischen Gegnern (Zerschlagung eines
Aufstandes der Girondisten und der gegenrevolutionären Kräfte in der Vendée, grausame
Racheakte, Politik der verbrannten Erde) behauptet.
Außenpolitische Stabilisierung durch militärische Erfolge nach der "levée en masse" vom
August 1793 (Volkskrieg, Heer von fast 1 Million motivierter Soldaten gegen die
Söldnerheere des alten Europa).
Trotz der Behauptung gegen äußere und innere Feinde häuften sich seit Oktober 1793 die
großen Prozesse gegen die inneren Gegner (Revolutionstribunal unter Ankläger Antoine
Fouquier-Tinville). Zu den wichtigsten Opfern im Herbst 1793 gehörten die Girondisten
Brissot und Vergniaud, die ehemalige Königin Marie Antoinette und der Herzog Philipp
Égalité. Der Großteil der Verhaftungen erfolgte weniger wegen politischer Opposition
gegen die Revolution, sondern wegen Vergehen gegen die strengen wirtschaftspolitischen
Bestimmungen. Die Zahl der pro Monat Hingerichteten lag bis November 1793 in ganz
Frankreich bei etwa 100. Im November stieg sie auf 500, im Dezember waren es über
3000. Trotz der militärischen Erfolge im Inneren und nach außen ging der Terror der
Kriegsdiktatur weiter. Robespierre hielt es für verfrüht, die Zügel wieder zu lockern.
Hierzu trugen auch die inneren Auseinandersetzungen in der Bergpartei bei.
Gegen Robespierre und seine Anhänger standen rechts Danton und seine Anhänger und
links die Anhänger des Journalisten Jacques René Hébert (Hébertisten). Letztere traten
das Erbe des 1793 von einer katholischen Gegnerin der Revolution (Charlotte Corday)
ermordeten Marats und der auf Weisung Robespierres hingerichteten Enragés an und
warfen den Machthabern vor, Feinde der Gleichheit und des Volkes zu sein. Im März
1794 wurde ein Aufstandsversuch der Hébertisten in den Anfängen erstickt, die Führer
des ultralinken Flügels wurden am 13./14. März 1794 verhaftet und wenige Tage später
hingerichtet. Kurz danach erfolgte die Ausschaltung der Danton-Anhänger.
Trotz der Ausschaltung linker und rechter Abweichler und eines günstigen Kriegsverlauf
erreichte der Terror zwischen April und dem 27. Juli 1794, dem Sturz Robespierres, noch
einmal einen neuen Höhepunkt. Am 10. Juni 1794 begann der sogenannte Große
Schrecken. Der Terror war nicht von Anfang an in der Revolution angelegt, sondern die
Folge einer Dynamik aus innerer wie äußerer Bedrohung. Ziel des Terrors war es
zunächst, den ausgebrochenen Bürgerkrieg zu kanalisieren und unkontrollierte
Gewalttaten des Volkes zu stoppen (deshalb auch Schauprozess und öffentliche
Hinrichtung). Krieg, Bürgerkrieg und die inneren Widersprüche der Revolution sorgten
dann dafür, dass sich der Terror verselbständigte. Mit der Verschärfung des Terrors
untergrub Robespierre jedoch immer mehr seine eigene Machposition. Indem er gegen die
Führer der Volksbewegung (Enragés, Hébertisten) und auch immer mehr gegen die
Interessen der Sansculotten handelte (Rückkehr zum Wirtschaftsliberalismus) schwächte
Robespierre den Druck der Straße und stärkte den nach wie vor tagenden
Nationalkonvent. Auf der anderen Seite verstärkte die Ausschaltung der Gemäßigten im
Bürgertum, aber auch unter den Sansculotten die Furcht vor einer weiteren Eskalation des
Terrors. All dies erleichterte es den Abgeordneten des Nationalkonvents, nun die
Rückkehr zu den Normen eines bürgerlichen Liberalismus einzuleiten. Am 27. Juli 1794
wurde Robespierre gestürzt und mit seinen engsten Anhängern hingerichtet.
8
-
Die neue Politik der Thermidorianer um Paul Barras brach die innere Dynamik des
Revolutionsprozesses. Sie war auf Mäßigung und Versöhnung ausgerichtet. Durch
Beendigung des Terrors, Religionsfreiheit und Wirtschaftsliberalismus sollten die
Franzosen wieder frei und sicher leben können, ohne auf die grundlegenden
Errungenschaften der großen Revolution verzichten zu müssen.
6. Bilanz der Revolution:
-
-
-
-
ÖKONOMIE: einerseits bessere rechtliche Rahmenbedingungen zur Entfaltung neuer
Wirtschaftskräfte (Aufhebung von Binnenzöllen, Zünften usw.), andererseits hemmende
Wirkungen durch den zeitweilig sehr dirigistischen Kurs und die agrarpolitischen Folgen.
Der wirtschaftliche Vorsprung Englands wuchs gerade in den neunziger Jahren deutlich
an.
GESELLSCHAFT: Auch in sozialer Hinsicht hielt sich die Zäsurwirkung in Grenzen. Die
Revolution zerstörte die alte Ständegesellschaft, aber diese befand sich schon vor 1789 in
einem Auflösungsprozess. Hauptnutznießer der neuen Verhältnisse war das Bürgertum.
Hierbei handelte es sich aber nicht um ein modernes industriell tätiges Großbürgertum,
sondern um die durch Revolutionsgewinner erweiterte Grundbesitz- und
Rentenbourgeoisie des Ancien Régime. Sie bildete den Kern jener Notabelngesellschaft,
die bis in die vierziger Jahre die Geschicke Frankreichs bestimmte. Stabilisierung des
französischen Kleinbauerntums durch die Revolution.
POLITIK: Hier trat der Zäsurcharakter von 1789 am deutlichsten hervor: Menschen- und
Bürgerrechte, Rechtsgleichheit des Bürgers (nicht der Frauen), Verfassung auf der
Grundlage der Volkssouveränität, moderner Nationalstaat. Der ältere Begriff der Nation
wurde politisch neu aufgeladen und rückte seit 1789 in das Zentrum der revolutionären
Ideologie und Praxis des dritten Standes. Er war untrennbar mit Selbstbestimmung und
Souveränität des Volkes verbunden und wurde zu einem dynamischen und in ganz neuer
Form mobilisierenden Prinzip der inneren wie äußeren Politik (Nation als wichtigste
Richtschnur allen politischen Handelns und zugleich als Religionsersatz).
KULTUR: Mit der Französischen Revolution veränderten sich Wertekanon und Alltag der
Franzosen: Durchsetzung der französischen Hochsprache, neue Formen bei der
Vermittlung politischer Botschaften, Politisierung der Gesellschaft, Bruch mit religiösen
Traditionen (Fest des höchsten Wesens Juni 1794, Dechristianisierungsforderungen der
radikalen Kräfte), neue kulturelle Praktiken (politische Feste), dauerhafte Spaltung der
französischen Gesellschaft in Anhänger der Revolution und Traditionalisten.
9
Herunterladen