Das Wunder an der Oder Gelebte europäische Nachbarschaft in

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Das Wunder an der Oder
Gelebte europäische Nachbarschaft
in Geschichte und Gegenwart
Eine Dokumentation von der Fachkonferenz der bpb
im Willy-Brandt-Zentrum der Universität Breslau
Andrzej Stach
11. - 12.06.2010
Universität Breslau / Willy Brandt Zentrum (WBZ)
EINLEITUNG
Lothar G. Kopp und Andrzej Stach
Nach der zweiten Runde der EU-Osterweiterung sowie der Ausweitung des Schengener
Raumes auf Polen werden in der deutsch-polnischen Grenzregion bedeutende
Wanderungsbewegungen in beide Richtungen beobachtet. Einerseits entdecken zahlreiche
polnische Bürger die günstigen Wohnmöglichkeiten in den östlichen Grenzgebieten der
Bundesrepublik. Auf der anderen Seite lassen sich auch immer mehr deutsche Bürger in Polen
oft unweit der gemeinsamen Grenze nieder. Dabei gab es bis vor kurzem große
Befürchtungen, die ehemaligen Bewohner der heutigen Westgebiete Polens würden in
Scharen ihre ehemaligen Immobilien aufkaufen und die heutigen polnischen Bewohner
vertreiben. Dies führte zu einigen Einschränkungen bei dem Erwerb von Immobilien in Polen
durch Ausländer, die während der EU-Beitrittsverhandlungen durch Polen ausgehandelt
wurden. Nichtsdestoweniger haben sich gar nicht wenige Deutsche noch in den 90er und vor
allem seit Anfang des 21. Jahrhunderts in dem Nachbarland niedergelassen.
Diese beiden Prozesse bleiben nicht ohne Einfluss auf die politische und gesellschaftliche
Entwicklung in den deutsch-polnischen Grenzregionen. Neben kleineren Ortschaften und
Städten in der Nähe der deutsch-polnischen Grenze spielen in diesem Zusammnhang auch
größere Städte wie Berlin, Stettin oder Breslau eine zunehmend bedeutende Rolle.
Mit dem polnischen EU-Beitritt entwickelt sich die deutsch-polnische Zusammenarbeit auch
im wirtschaftlichen Bereich immer besser. Besonders zu spüren ist sie in den deutschpolnischen Grenzregionen. Ein Beispiel dafür ist Niederschlesien. Immer mehr deutsche
Institutionen, Organisationen und Behörden kooperieren dort mit ihren polnischen Partnern.
Auch sind immer mehr deutsche Firmen samt Mitarbeitern und Maschinen im Auftrag
polnischer und ausländischer Investoren bereits seit Jahren in Niederschlesien tätig und
profitieren von der boomenden Wirtschaft.
Die aktuellen Tendenzen und Entwicklungen beiderseits der Oder und Neisse vor dem
Hintergrund der gemeinsamen oftmals schwierigen deutsch-polnischen Geschichte
vorzustellen, stand im Mittelpunkt der Fachkonferenz der bpb und des Willy-BrandtZentrums der Universität Breslau.
Marek Zybura
DIE ODER IN DER DEUTSCHEN UND POLNISCHEN KULTURGESCHICHTE
Die Oder ist nach der Weichsel der zweitgrößte Fluss in Polen. Wo aber an der verkehrsregen
Weichsel die Landeshauptstadt und mondäne Städte (etwa Krakau und Danzig) samt reichen
historischen Landschaften liegen – was seine Entsprechung in Deutschland an den Ufern von
Elbe, Rhein und Donau findet – scheinen sie (Breslau einmal ausgenommen) an der wenig
befahrenen, stillen und etwas verschlafenen Oder zu fehlen. Es war aber der Zweite
Weltkrieg, der in seinem Endergebnis den Fluss wirtschaftlich und kulturell marginalisierte,
indem dieser zur deutsch-polnischen Grenze erklärt wurde – und als Grenze hat die Oder,
streng genommen, nie fungiert. Die zwielichtige politische Publicity, die diese Grenze als die
sog. „Oder-Neiße-Linie“ zugleich genoss, half der Oder eben sowenig nach 1945 aus dem
Schatten des Interesses auf ihren beiden Seiten herauszutreten wie der Status der sog.
„Friedensgrenze“, der ihr auch oktroyiert wurde.
Die Geschichte der Flüsse lässt sich indes nie ausschließlich auf deren wirtschaftlichen
Aspekt, geschweige denn (grenz)politische Brisanz reduzieren. Die Geschichte eines Flusses
– wie die Oder nun mal einer ist – ist die Geschichte des Geistes (histoire de l’esprite – so
seinerzeit Lucien Febvre über den Rhein1), der jahrhundertelang sein Einzugsgebiet (in
unserem Fall die sog. Terra Oderana) mit Leben und Sinn, also mit Zivilisation und Kultur
befruchtet.
Selbstverständlich, organisiert ein Fluss mit den Zuflüssen sein Einzugsgebiet wirtschaftlich.
Dabei spielt der Faktor Kommunikation/Verkehr (und Flüsse sind ja seit eh und je
Verkehrswege) unter Umständen keine überragende Rolle. Die Wirtschaftsgeschichte der
Oder liefert Beispiele dafür, dass Zollgebühren, Stapelrecht, Konkurrenz der
Binnenhafenstädte Breslau, Frankfurt, Stettin ein Klima schufen, in dem es vorkommen
konnte, dass die Kaufleute den Landwegen den Vorzug gaben. Ende des XV. Jahrhunderts ist
z.B. Breslau in diesem Zusammenhang aus dem Kaufmannsverbund der Hanse ausgetreten.
Weil Flüsse aber natürliche Wege sind, waren ihre Ufer seit Urzeiten bevorzugte
Siedlungsräume. Die ersten kleinen Siedlungen expandierten mit der Zeit zu Städten,
Verwaltungszentren, die wiederum das umliegende benachbarte Land organisierten, regierten
– man denke an Oppeln, Breslau, Glogau bis hin zu Stettin. Im Hinblick auf dieses Phänomen
ist das migrationsspezifische Bild der Terra Oderana von höchstem Interesse. Denn gerade in
jener Epoche war das Odereinzugsgebiet im spektakulären Wandel begriffen. Es war vor
allem Schauplatz reger und lange anhaltender Migrationsprozesse: große Menschenströme
ergossen sich damals über dieses Gebiet – hauptsächlich über Niederschlesien – aus dem
westlichen ins östliche Europa.
Schon die frühen polnischen Herrscher hatten mannigfaltige Verbindungen zum
kaiserlichen Deutschland geknüpft. Es ist sogar recht wahrscheinlich, dass der polnische
Herrscher Mieszko I. von dem deutschen Bischof Michael von Regensburg getauft wurde.
Über die Heirat (1013) von Mieszko II. Lambert, dem Sohn und königlichen Thronfolger von
Bolesław dem Tapferen mit Richezza, der Enkelin von Kaiser Otto II. und Kaiserin
Theophano stieg die polnische Dynastie zur aristokratischen Elite des damaligen christlichen
Europas auf.
Diese Beziehung potenzierte die Zuwanderung der deutschen Geistlichkeit nach Polen, vor
allem aus den rheinisch-lothringischen Gebieten. Die Kontakte, die man geknüpft hatte,
erwiesen sich als überaus nützlich, als der Sohn der beiden, Kasimir I. der Erneuerer, und ihr
Enkel Boleslaw der Mutige (pol. Śmiały) den polnischen Staats- und Kirchenapparat nach der
Zeit der sogenannten destructio Poloniae (der heidnische Reaktion im 11. Jh.) wieder
herstellten. Der Kölner Erzbischof Hermann II., Onkel von Kasimir dem Erneuerer,
unterstützte das Werk, indem er Mönche und Priester, vor allem Benediktiner, nach Polen
schickte. Der aus dem Rheinland stammende Benediktinermönch Aaron, die rechte Hand
Kasimirs in kirchlichen Angelegenheiten, symbolisiert die lebhaften Kontakte zwischen Polen
und dem lothringischen Gebiet in dieser Epoche, denn von dort kamen mit den Benediktinern
auch die Kirchenarchitektur, die lothringische Klosterreform sowie die dortigen kulturellen
Traditionen.
Die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert leitete eine auch in qualitativer Hinsicht neue
Periode der deutschen Immigration im Odereinzugsgebiet ein, der nicht mehr politische Eliten
1
S. 216.
Lucien Febvre: Der Rhein und Seine Geschichte, Frankfurt/M. 1994 (Neudruck der Ausgabe von 1935),
und Geistlichkeit das Antlitz gaben. Es war der Beginn einer umfangreichen Ansiedlung von
deutschen Bergleuten, Handwerkern, Bauern, Kaufleuten auf dem Lande und in den Städten.
Die Ankömmlinge gründeten Siedlungen rund um die Handelsplätze, die sich häufig zu
Städten entwickelten. Sie brachten ihre eigene Rechtskultur mit, die von den Privilegien, die
sie von den Herrschern und Grundherren erhielten, überlagert wurde. Da die Mehrheit der
neuen Siedler in Schlesien Deutsche waren, wurde gerade dort das Ansiedlungsrecht zum
ersten Mal in Polen als das „Deutsche Recht“ bezeichnet.
Diese Maßnahmen mit dem Etikett der deutschen politischen Expansion oder der
Wegbereitung für die deutsche militärische Aggression zu versehen, ist eine Verfälschung der
historischen Verhältnisse dieser Zeit im Namen nationalistischer Ideologien des 19.
Jahrhunderts. Die Zugezogenen lebten sich schnell in ihrer neuen Heimat ein und wurden
loyale Mitglieder des dortigen Gemeinwesens.
Prozesse, für die hier stichwortartig piastisch-ottonische Freundschaft, rheinisch-lothringische
Architektur- und Kircheneinflüsse, städtische Rechtskultur stehen, gehören zum
gemeinsamen, sehr vielfältigen Erbe des polnisch-deutschen Wunders an der Oder im
Mittelalter, das Kooperation ohne nationale Scheuklappen hieß. An dieses Erbe wird erst in
unseren Tagen wieder angeknüpft.
Dazwischen liegen sechs Jahrhunderte, eine Zeit, in der die Terra Oderana außerhalb der
Grenzen des polnischen Staatsverbands lag. Diese Zeit bereicherte die deutsche Kultur in
diesem Raum etwa um die sog. Schlesische Dichterschule oder um den sog. Kaiserlich
(habsburgisch)-katholischen Barock. Auf der anderen Seite expandierte Polen territorial,
politisch und kulturell immer ostwärts. Diese jahrhundertelange Entwicklung schwächte
naturgemäß das Andenken an die mittelalterliche Wiege des Staates im Westen und band die
nachfolgenden Generationen von Polen auch emotional immer stärker an die sich gen Osten
verschiebenden polnischen Macht- und Kulturzentren.
Die Oder ist damals in Deutschland noch ein Fluss ohne besonderen symbolischen Gehalt, der
Name ist noch nicht politisch geladen.
Anders ist es darum in Polen bestellt. Infolge der Teilungen Polens, an denen Preußen
maßgeblich beteiligt waren, regen sich in Polen antideutschen Stimmungen, es keimt der
polnische Westgedanke, d.h. die Reflexion darüber, wie man wieder in dem neu zu
erstehenden Polen in den Besitz der Gebiete kommen könnte, die früher Bestandteile des
polnischen Staates im Westen gewesen waren.
Hugo Kollataj – Politiker, Geschichtsschreiber – postuliert 1808 die polnische Rückkehr an
die Oder mit dem Argument, dass es ein Fluss ist, der eine natürliche Grenze zwischen dem
deutschen und polnischen Element bildet. Daran knüpften später im 19. Jahrhundert General
Ignacy Pradzynski und Historiker Joachim Lelewel an. Um die Wende des 19./20.
Jahrhunderts wird dieser Gedanke der polnischen Rückkehr an die Oder in der Ideologie der
Nationalen Demokratie Teil eines umfassenden politischen Konzepts, der sog. Piastischen
Idee.
Den Historikern, Politikern eilen Schriftsteller nach. Die Oder hat sich zwar in der polnischen
literarischen Hydrographie keinen vergleichbaren Rang erworben wie etwa die Weichsel, aber
sie hat eindeutig in die polnische Literatur des 19. Jahrhunderts als polnischer „Hausfluss“
gefunden. Obwohl die Oder heute – wie es in einem Gedicht von Bogusz Steczynski aus dem
Jahre 1851 heißt – „uns entrissene Lande durchstreift, obwohl sie heute der germanisierte
Preuße bewirtschaftet, nichtsdestotrotz bleibt sie unsere slawische Tochter. Sie kommt doch
bei uns, bei unseren slawischen Brüdern, den Mähren zur Welt“.2
Steczynski spricht vom „germanisierten Preußen“, Wincenty Pol dagegen (direkter Nachfahre
einer deutschen Familie) bedauert in derselben Zeit die Oder, dass sie nach dem Abfall
Schlesiens vom katholischen Polen nun „den sündigen Glauben“ (Protestantismus – M.Z.)
bespülen muss.3
Die polnische romantische Literatur identifiziert das Vaterland durch den Hinweis auf
„Hausflüsse, wie sie dort genannt werden, darunter auf die Oder. Wincenty Pol betonte in
seinem berühmten Poem „Lied von unserer Erde“, dass die Kenntnis der heimatlichen Flüsse
genauso wichtig ist, wie die Kenntnis der heimatlichen Erde:
Und kennst du mein junger Bruder
Deine Lande, deine Flüsse?
Wodurch sie berühmt sind,
Wohin sie fließen? 4
Aber – um es noch einmal zu betonen – die polnische Oder-Literatur war im 19. Jahrhundert
eher karg als blühend, auch wenn die vorhandenen Zeugnisse manchmal sehr expressiv und
hurrapatriotisch sind, was aus dem politischem Kalkül resultierte.
Die Politik machte vor der Oder auch in Deutschland nicht halt. Im Laufe der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts wurde der „deutsche Osten“ zum ideologischen Kampfbegriff, die Oder
zu seinem Symbol. Der Fluss avancierte nun zum „deutschen Strom“ bzw. zum „Strom des
deutschen Ostens“, zur Bastion des Deutschtums gegenüber der „polnischen Bedrohung“. Es
geschah dies im Rahmen der sog. „deutschen Ostforschung“, dessen wissenschaftliches und
politisches Profil 1925 der Geograph Albrecht Penck auf den Punkt brachte: „Wo deutsches
Volk siedelt, ist deutscher Volksboden, da hört man deutsche Sprache und sieht man deutsche
Arbeit. (…) Der deutsche Volksboden wird von einem eigenartigen deutschen Kulturbogen
begleitet, der sich von dem benachbarter Kulturgebiete unterscheidet. (…) Dieser deutsche
Kulturboden greift im Osten fast allenthalben über den deutschen Volksboden hinaus und
bildet außerhalb desselben den Gürtel eines Landes, in dem die deutsche Bevölkerung
gegenüber der deutschsprachigen zurücktritt, wo sie aber dem Lande den Kulturcharakter
aufdrückt oder aufgedrückt hat“.5
Nach 1945 hörte der Fluss der deutschen auf die Oder bezogenen Publikationen auf – und just
zu diesem Zeitpunkt, als das deutsche Interesse für die Oder notgedrungenermassen zu
versiegen begann , fing ihre Polonisierung an: bereits 1948 erschien die erste bedeutende
polnische Monographie des Flusses, „Monografia Odry. Studium zbiorów“ (Posen). Heute
erleben wir, dass die ‚deutsche‘ und die ‚polnische‘ Oder zusammenwachsen und – was
schwerer wiegt – aus der nationalen (sei es der deutschen oder polnischen) in die gemeinsame
große europäische Strömung einmünden. Von dieser Perspektive aus wird zunehmend
deutlicher, dass die Terra Oderana kein spezifisch deutscher oder polnischer nationaler Raum
2
Zit. nach der Ausgabe: Slask. Podroz malownicza w 21 piesniach, Wrocław 1949, S. 157.
3
Zit. nach der Ausgabe: Wybor poezji, Wroclaw 1963, S. 91.
4
Ebda, S. 168.
5
Zit. nach Uwe Rada: Die Oder. Lebenslauf eines Flusses, Berlin 2005, S. 128.
war und ist, sondern eine multinationale Kulturlandschaft6, die sich unter dem vielfältigen
Einfluss verschiedener ‚kapitaler‘ Kulturzentren von Wien über Prag, Berlin bis Stockholm
formierte und jetzt wieder formiert. Uwe Rada, der verdienstvolle Oder-Monograph, nennt
dieses Phänomen „die andere, die kollektive Seite dieses europäischen Flusses“: „die Oder als
Erinnerungsort für Deutsche, Polen und Tschechen. Auch hier haben sich Netzwerke gebildet,
arbeiten deutsche und polnische Historiker und Bürgerinitiativen zusammen an einer
Odergeschichte, die nicht mehr ideologisch determiniert ist, sondern konkrete Spurensuche,
die nicht mehr trennt, sondern die verschiedenen Stimmen zusammenfügt zu einer kollektiven
Erzählung des >wachsenden und immer wieder zerstörten Zusammenhangs< (K. Schlögel)“.7
Die Normalisierung der deutsch-polnischen Beziehungen im Nachbarschaftsvertrag von 1991,
der polnische Beitritt zur NATO und zur EU sowie schließlich die darauffolgende Einbindung
Polens ins Schengen-System hatten zur Folge, dass die Oder das ihr anhaftende Odium einer
hindernden Grenze zwischen Deutschland und Polen endlich verloren hat.
Krzysztof Ruchniewicz
DIE ODER ALS „FRIEDENSGRENZE“ ZWISCHEN DER VRP UND
DER DDR UND ALS EU-BINNENFLUSS ZWISCHEN DER REPUBLIK
POLEN UND DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND
Während eines meiner letzten Aufenthalte in Zgorzelec hatte ich Gelegenheit gehabt, einen
Vortrag für die Schüler in einem der Prestigebäude der Stadt, dem Städtischen Kulturhaus zu
halten. Ich beschloss, etwas früher nach Zgorzelec zu kommen und meinen Vortragsort näher
zu erkunden. Das Gebäude macht, sogar nach Jahren, immer noch einen großen Eindruck. In
der Vergangenheit war es Zeuge von unterschiedlichen wichtigen Ereignissen. Darin haben
am 6. Juli 1950 die Premierminister Polens und der DDR, Josef Cyrankiewicz und Otto
Grotewohl das Abkommen über die Markierung der deutsch-polnischen Staatsgrenze an Oder
und Neiße, auch Görlitzer Abkommen genannt, feierlich unterzeichnet. Über dieses Ereignis
informierte eine große Gedenktafel, die an zentraler Stelle des Städtischen Kulturhauses, an
der Frontfassade, angebracht worden war. Leider konnte ich diese Gedenktafel nicht mehr
ausfindig machen. An dieser Stelle war nur ein schwarzer Viereck an der Wand zu sehen.
Anfänglich dachte ich, dass die Stadtväter diese Tafel renovieren lassen. Dann kam mir in den
Sinn, dass sie sich von diesem Relikt der vergangenen Epoche lösen wollten. Allerdings war,
wie sich später herausstellte, der Grund des Verschwindens ganz simpel. Die Gedenktafel
wurde zusammen mit anderen Kunstgegenständen vor einiger Zeit aus dem Städtischen
Kulturhaus gestohlen und jede Spur von ihnen verschwand. Während eines Gesprächs darüber
hatte ich nicht den Eindruck, dass meine Gesprächspartner aus diesem Grund trauriger und
diesen Vorfall bedauern würden. Diese Gedenktafel, die einen der wichtigsten juristischen
Akte nach 1945 symbolisiert, ist nicht nur ein wichtiger Erinnerungsort in der
Stadtgeschichte, sondern auch in den deutsch-polnischen Beziehungen. Womit kann man den
Mangel des Interesses an dem Verbleib dieser Tafel und ihrer Rückkehr an die ursprüngliche
Stelle erklären? Warum hat man an ihrer Stelle weder ein Duplikat erstellen noch eine kurze
6
Vgl. Bernhard Müller u. Stanislaw Horoszko (Hgg.): Die Oder als Kulturlandschaft. Über Geschichte und
Alltag in der deutsch-polnischen Grenzregion / Odra jako krajobraz kulturowy. Historia i codzienność na polskoniemieckim pograniczu. Berlin – Szczecin 2005.
7
Ebda, S. 213.
Information anbringen lassen? Hat man den Ort der Unterzeichnung des Görlitzer
Abkommens in die Rumpelkammer der Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen
geschafft und er spielt keine Rolle mehr?
Es fällt schon auf, dass 20 Jahre nach der Unterzeichnung des Grenzvertrages zwischen Polen
und dem vereinigten Deutschland, der ein konfliktreiches Problem in den bilateralen deutschpolnischen Beziehungen nach 1945 endgültig abgeschlossen hatte, sich keiner für die Frage
der Grenze interessiert, sie keine großen Emotionen hervorruft. Vielleicht zeigten nicht nur
ein größerer Zeitabstand, sondern auch die Ereignisse der letzten 20 Jahre, dass die Frage des
Verlaufs der deutsch-polnischen Grenze an Oder und Neiße ein typisch politisches Thema
war, ein Instrument zur Durchsetzung nationaler Interessen der beteiligten Konfliktpartner:
Polens, der DDR, der Bundesrepublik und der UdSSR. Zweifelsohne verlor die deutschpolnische Grenze entlang dieser Flüsse jegliche Bedeutung, die sie noch vor Jahren hatte. Der
Fall der DDR, die Vereinigung Deutschlands, die Aufnahme der gutnachbarschaftlichen
Beziehungen zwischen Polen und der Bundesrepublik, der Beitritt Polens zur EU und das
Inkrafttreten des Schengener Abkommens beseitigten alle Erschwernisse an der deutschpolnischen Grenze. Aus einer faktischen deutsch-polnischen Grenze wurden beide Flüsse zu
Binnenflüssen von Polen und Deutschland, deren intensive Grenzzusammenarbeit und
gemeinsame Mitgliedschaft in der EU verbindet. Das heißt längst nicht, dass alle Probleme
des deutsch-polnischen Grenzraumes dadurch gelöst worden sind. Die Aufhebung der
Grenzen schuf neue Probleme, mit denen die Polen und die Deutschen kämpfen müssen
(Mangel an Arbeitskräften, Bevölkerungsrückgang in den deutschen Grenzgemeinden,
grenzüberschreitende Kriminalität udgl.). In den politischen deutsch-polnischen Beziehungen
spielt die Grenze an Oder und Neiße keine Rolle mehr.
Im weiteren Teil meines Textes konzentriere ich mich auf der Frage der deutsch-polnischen
Grenze vor 1990. Wie kam es zur Festlegung der deutsch-polnischen Grenze an Oder und
Neiße? Welche Bedeutung hatte die Unterzeichung des Görlitzer Abkommens über die
Markierung der deutsch-polnischen Staatsgrenze als einer Friedengrenze? Trug sie zur
Annäherung zwischen den beiden Staaten bei? Welches Verhältnis zur Grenzziehung hatte
der zweite deutsche Staat, die Bundesrepublik? Welche Maßnahmen wurde unternommen, um
diesen deutsch-polnischen Grenzkonflikt zu lösen?
Die Festlegung der Außengrenzen für das besiegte Deutschland nach der Unterzeichnung der
bedingungslosen Kapitulation am 8. Mai 1945 lag im Kompetenzbereich der Siegermächte.
Eine Veränderung der deutschen Ostgrenze wurde in den Beschlüssen der Großen Drei in
Jalta angekündigt, ohne jedoch den polnischen Territorialgewinn genau zu definieren. Noch
im Juni 1945 wurde in den Dokumenten zur Besetzung Deutschlands die Wendung
„Deutschland in den Grenzen vom 31.12.1937“ benutzt. Diese Sprachregelung sollte den
Anschluss Österreichs sowie von Teilen der Tschechoslowakei an das Deutsche Reich in den
Jahren 1938/39 als rechtswidrig zum Ausdruck bringen. Nach der Gründung der
Bundesrepublik im Jahre 1949 verkündete Bonn, dass diese Formel auch den Willen zur
territorialen Integrität Deutschlands nach 1945 wiedergebe. Sie wurde als ein Argument für
die Ablehnung der neuen deutsch-polnischen Grenze angeführt.
Die territorialen Erwerbungen Polens legte das Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945
fest, in dem Iosif Stalin eine für Warschau äußerst vorteilhafte Lösung durchgesetzt hatte.
Denn alle Gebiete östlich der Flüsse Oder und Lausitzer Neiße sowie die ehemalige Freie
Stadt Danzig und der südliche Teil Ostpreußens sollten „unter die Verwaltung des polnischen
Staates kommen und nicht als Teil der sowjetischen Besatzungszone in Deutschland
betrachtet werden“. Diese Gebiete wurden aufgrund sowjetisch-polnischer Vereinbarungen
von den dort errichteten polnischen Organen verwaltet.
Die Alliierten bekräftigten „ihre Auffassung, dass die endgültige Festlegung der Westgrenze
Polens bis zur Friedenskonferenz zurückgestellt werden soll.“ Gleichzeitig erkannten die
Siegermächte in Potsdam jedoch an, dass „die Umsiedlung deutscher Bevölkerung oder von
Bestandteilen derselben aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn, nach Deutschland
durchgeführt werden muss“. Dieser Beschluss zeigte, dass diese Gebiete dauerhaft in die
Kontrolle Warschaus übergehen sollten. Trotzdem hat die Formel „unter Verwaltung des
polnischen Staates“ Anlass für einen künftigen Streit um die internationale Anerkennung der
deutsch-polnischen Grenze gegeben.
Der Zerfall der Kriegskoalition und der sich verschärfende Konflikt zwischen der UdSSR und
ihren ehemaligen westlichen Alliierten führten letztlich zu einer dauerhaften Teilung des
Besatzungsgebietes in zwei deutsche Staaten und zu ihrer Anbindung an zwei
entgegengesetzte politisch-militärische Blöcke. Der Koalitionsbruch verursachte zugleich,
dass die Frage der deutschen Grenzen, die endgültig in einem Friedensvertrag bestätigt
werden sollten, aufgrund des Ausbleibens desselben im Sinne einer durch die internationale
Meinung allgemein anerkannten Form ungeregelt blieb. Die Grenzfrage wurde zum
Gegenstand internationaler Kontroversen und zu einem Faktor, der Nachkriegspolen von der
UdSSR abhängig machte. Die Unterstützung der östlichen Weltmacht garantierte nämlich den
Bestand der neuen territorialen Ausformung Polens im Westen. Angesichts des Verlustes
seiner ehemaligen Ostgebiete, das heißt fast der Hälfte seines Vorkriegsterritoriums,
zugunsten der Sowjetrepubliken Litauen, Weißrussland und Ukraine hatte der Erhalt der
neuen westlichen und nördlichen Gebiete grundsätzliche Bedeutung für das Funktionieren des
Nachkriegspolens als einer lebensfähigen gesellschaftlichen und staatlichen Einheit.
Die Übernahme der ehemaligen deutschen Ostprovinzen durch Polen und die Entfernung der
deutschen Bevölkerung von dort, die in Deutschland als widerrechtlich oder willkürlich
wahrgenommen wurden, schufen ein Konfliktpotential, das die deutsch-polnischen
Beziehungen über Jahrzehnte schwer belastete. In den Augen der Polen handelte es sich um
eine Tat der historischen Gerechtigkeit, als eine Form der Kompensation für die enormen
materiellen und menschlichen Verluste, die das Land während der Besatzung durch das Dritte
Reich erlitten hatte. Die Inbesitznahme der Gebiete bis zu Oder und Lausitzer Neiße wurde –
was besonders betonenswert scheint – nicht nur von den Kommunisten, sondern auch der
politischen Opposition und der katholischen Kirche unterstützt, die eine große Rolle im
gesellschaftlichen Leben im Polen der Nachkriegszeit spielte.
Die Bemühungen um eine internationale Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als Polens
Westgrenze bildete eine wesentliche Aufgabe der polnischen Außenpolitik in der
Nachkriegszeit. Die ideologische Gemeinschaft und die Zugehörigkeit zum kommunistischen
Lager bewirkten, dass es die sozialistischen Staaten waren, die als erste die polnischen
territorialen Erwerbungen anerkannten. Die 1949 gegründete DDR erkannte ihre Grenze mit
Polen ebenfalls als deutsch-polnische Grenze an (Görlitzer Abkommen vom 6. Juli 1950). Die
Unterzeichnung dieses Abkommens ging nicht ohne Moskauer Druck auf die DDR
vonstatten. Dabei muss daran erinnert werden, dass trotz der nach außen hin deklarierten
allgemeinen Unterstützung des Görlitzer Abkommens sowohl die Regierungsspitze der DDR
als auch die SED und die gesamte Gesellschaft die polnisch-deutsche Grenze an Oder und
Neiße lange Zeit nicht akzeptieren konnten. Zwar hatte man ihr aus taktischen Gründen
zugestimmt, wollte jedoch angesichts der fehlenden Zustimmung der Westmächte und der
Bundesrepublik zu diesem Grenzverlauf noch einen Trumpf im Ärmel behalten, dessen man
sich unter günstigen Bedingungen bedienen konnte (die Ereignisse in den Jahren 1956/57 und
1969/70 sollten das zeigen). Der Verlust ihres Grund und Bodens östlich von Oder und Neiße,
den das Görlitzer Abkommen bestätigte, rief bei Millionen DDR-Bürgern Widerspruch und
Unzufriedenheit hervor. Jahre später brachte Peter Florin, ein hoher Beamter im
Außenministerium der DDR und einer der Urheber des Görlitzer Abkommens, dies
folgendermaßen auf den Punkt: „Nicht alle DDR-Bürger begrüßten das Görlitzer Abkommen
mit Freude. Doch die in der DDR herrschenden politischen Kräfte trafen die Entscheidung,
dieses Abkommen zu unterzeichnen. Seine Unterzeichnung zu diesem Zeitpunkt erforderte
Mut.“ In der Folgezeit wurden öffentliche Bekundungen von Unzufriedenheit über die
Unterzeichnung des Görlitzer Abkommens unter Strafe gestellt, wobei auch in diesem Fall
Ausnahmen existierten, insbesondere in Krisensituationen in der DDR oder den polnischdeutschen Beziehungen. Beispielsweise verlangten während des Volksaufstandes am 17. Juni
1953 Demonstranten in Görlitz eine Revision der Oder-Neiße-Grenze. Ähnliche Losungen
tauchten auch in anderen Städten auf.
Im Zusammenhang mit den Feierlichkeiten zur Unterzeichnung des Abkommens wurde
erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges den aus Zgorzelec – dem nun zu Polen
gehörenden, östlich der Neiße gelegenen Teil von Görlitz – ausgesiedelten Deutschen
Gelegenheit gegeben, die Stadt zu besuchen. „Mein Onkel“, erinnerte sich Wolfhard Besser,
1950 ein Junge von 12 Jahren, „durfte die Straßen und Plätze sehen, wo ich geboren worden
war und die ersten Jahre meiner Kindheit verbracht hatte. Alle Teilnehmer des Festaktes –
viele Polen und Tausende ausgewählter Deutscher aus der jungen DDR, meist Einwohner von
Görlitz, aber auch von anderen Städten in Sachsen und Brandenburg, durften auf die andere
Seite der geteilten Stadt fahren.“ Als Dank für ihr zahlreiches Erscheinen erhielten die
ältesten deutschen Teilnehmer nach Beendigung des Festaktes je zwei große
Lebensmittelpakete. Trotz dieser pompösen Feierlichkeiten war die Oder-Neiße-Grenze
während der folgenden Jahre eine der bestgesicherten Grenzen, die nur wenige Personen
überschreiten durften. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass diese Grenze, die nun im
Frieden zwei seit langer Zeit verfeindete Völker verbinden sollte, sie stattdessen noch mehr
voneinander trennte. Und dies geschah trotz einer breit angelegten Propagandaaktion. An ihr
beteiligte sich auch die Deutsch-Polnische Gesellschaft für Frieden und gute Nachbarschaft,
deren Mitglieder massenweise an dem Görlitzer Festakt teilnahmen. Neben der Gesellschaft
für Deutsch-Sowjetische Freundschaft war dies die einzige nationale Gesellschaft, die in der
Sowjetischen Besatzungszone und später in der DDR (sie wurde bereits 1948 unter dem
Namen „Helmut-von-Gerlach-Gesellschaft für kulturelle, wirtschaftliche und politische
Beziehungen mit dem Neuen Polen“ gegründet) existierte. Das zeigt, welches Gewicht die
SED-Führung in dieser Phase auf die deutsch-polnischen Beziehungen legte. Die Gesellschaft
erfüllte auch die Funktion eines Sicherheitsventils für die DDR-Behörden, engagierten sich
doch in ihr unter anderem auch Vertriebene aus dem Osten, die zu dieser Zeit für die
Innenpolitik der DDR ein ernsthaftes Problem darstellten. Sie waren meistens von dem
Wunsch getrieben zu erfahren, wie die Situation „auf der anderen Seite“ aussah und wie mit
den an Polen angeschlossenen Gebieten umgegangen wurde. Ihre Teilnahme an den
Aktivitäten der Gesellschaft erlaubte es den Behörden, ihre Interessen und Aktivitäten zu
kontrollieren. Die Gesellschaft selbst konnte sich vieler Leistungen auf dem Gebiet der
Propaganda rühmen. Ihre Sektionen entstanden in Fabriken und Arbeitsbetrieben. Es wurden
Kulturveranstaltungen organisiert und Publikationen herausgegeben. In dem Monatsblatt
„Blick nach Polen“ wurden nicht nur Artikel über Polen, seinen Wiederaufbau und sonstige
Errungenschaften gedruckt, sondern auch Einblicke in die polnische Literatur gegeben. Die
Gesellschaft bemühte sich, Informationen über das neue kommunistische Polen und seine
Kultur zu verbreiten, welche im Bewusstsein des durchschnittlichen DDR-Bürgers nur in
geringem Maße präsent waren. Obwohl diese Organisation von den Behörden stark
unterstützt worden war, wurde sie schließlich zur Jahreswende 1952/53 trotz zahlreicher
Protestschreiben des polnischen diplomatischen Vertreters in Ost-Berlin kurzerhand aufgelöst.
Der Grund für die Auflösung dieser Gesellschaft war zweifellos der „beschleunigte Aufbau
des Sozialismus“, der in der DDR 1952 proklamiert wurde.
Der zweite deutsche Staat, die Bundesrepublik, sprach Ost-Berlin das Recht ab,
Entscheidungen über den Grenzverlauf Deutschlands zu treffen. Bonn beanspruchte,
alleiniger Vertreter des deutschen Volkes zu sein und lehnte politische Verträge mit der DDR
und mit anderen die DDR anerkennenden Staaten ab (außer mit der UdSSR ab 1955). So
bedeutete auch für die polnische kommunistische Regierung das Görlitzer Abkommen nicht
die endgültige Grenzanerkennung, und dies um so mehr, als die Frage nach der Akzeptanz der
polnischen Westgrenze mit der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen mit der
Bundesrepublik verknüpft war. Trotz einiger inoffizieller Verhandlungsversuche in den
1950er und 1960er Jahren blieb diese Angelegenheit bis Ende der 1960er Jahre ungelöst. Erst
die gesellschaftlich-politischen Veränderungen in der Bundesrepublik sowie die Übernahme
der Regierung durch die von Willy Brandt geführte sozialliberale Koalition verliehen den
Gesprächen mit Polen neue Impulse und brachten den Durchbruch.
Für Warschau war eine der wichtigsten Fragen die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze
durch die Bundesrepublik. Gomułka war in dieser Zeit beunruhigt durch Gespräche zwischen
der DDR und der Bundesrepublik, in deren Verlauf sogar der Gedanke auftauchte, einen
neuen Vertrag über die deutsch-polnische Grenze abzuschließen. Dieses Problem ist in der
Forschung eher wenig bekannt. In den letzten Jahren hat Mieczysław Tomala jedoch einiges
darüber veröffentlicht. Der bei einem Treffen zwischen Gomułka und dem DDR-Botschafter
in Warschau Rudolf Rossmeisl anwesende Tomala erinnert sich: „Der damals von Ulbricht
angekündigte Entwurf des Vertrages über die gleichberechtigten Beziehungen zwischen der
DDR und der Bundesrepublik wurde Polen (...) am 18. Dezember 1969 vorgestellt. [Nachdem
der Botschafter das erwähnte Dokument Gomułka übergeben hatte, entwickelte sich ein
kurzes Gespräch. Dann wurde der Gast zum Ausgang geleitet.] Gomułka begann das
Dokument zu studieren und geriet an einer bestimmten Stelle in Wut. Im Text des Entwurfs
dieses Dokumentes war ein Passus enthalten, nach dem beide Seiten die Grenze an Oder und
Lausitzer Neiße anerkennen würden, und weiter hieß es, dass dieser Vertrag für eine Dauer
von [nur!] zehn Jahren geschlossen werde. Das heißt, dass nach zehn Jahren möglicherweise
auch die Zustimmung zu dieser Grenze nicht mehr gelten werde. Aber wie man weiß, sind
Verträge über die Anerkennung von Grenzen im Allgemeinen unbefristet.“ Einen solchen
Wortlaut des Vertrages lehnte die polnische Seite kategorisch ab. Anscheinend war dies einer
der letzten Versuche der DDR, die Frage der polnischen Westgrenze im Zusammenhang mit
den Beziehungen zur Bundesrepublik und zu Polen für ihre eigenen politischen Ziele zu
benutzen. Gomułka ließ eine diplomatische Note vorbereiten, in der dem eindeutigen
Standpunkt der polnischen Seite in der Frage der Oder-Neiße-Grenze Ausdruck verliehen
wurde. „Gegenstand der besonderen Sorge der polnischen Regierung“, so kann man in dem
erwähnten Entwurf der Note vom 13. März 1970 lesen, „ist die zehnjährige Geltungsdauer des
Vertrages (Artikel IX) im Zusammenhang mit dem Artikel II des Entwurfs, der feststellt, dass
die Vertragspartner die Grenzen anerkennen, die im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges
entstanden sind und dabei unter anderem die Oder-Neiße-Grenze aufführt. Die Anerkennung
von Staatsgrenzen hat von ihrem Wesen her sowie im Einklang mit internationalem Recht und
internationaler Praxis immer dauerhaften Charakter und kann daher von keiner Frist begrenzt
werden. Bekanntermaßen wurde im Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 die
Westgrenze Polens an Oder und Neiße endgültig festgelegt. Auf der Grundlage des Potsdamer
Abkommens wurde dann zwischen der Republik Polen und der Deutschen Demokratischen
Republik am 6. Juli 1950 das Görlitzer Abkommen ‘über die Markierung der festgelegten und
bestehenden Staatsgrenze’ geschlossen. Aus denselben Beschlüssen des Potsdamer
Abkommens geht auch hervor, dass der zweite deutsche Staat, der aus den Trümmern des
besiegten Deutschen Reiches entstanden ist, die Deutsche Bundesrepublik, verpflichtet ist, die
Oder-Neiße-Grenze als endgültige und unverletzliche westliche Staatsgrenze Polens
anzuerkennen.“ „Angesichts dessen“, wurde in der Note festgestellt, „stünde die
vorgeschlagene Formulierung des Artikels II, die sich auf die polnische Grenze an Oder und
Neiße bezieht und die im Entwurf eines Vertrages enthalten ist, der zehn Jahre gültig sein soll,
im Widerspruch zu dem endgültigen Charakter der Regelung der Westgrenze Polens nach
dem Zweiten Weltkrieg auf der Grundlage des Potsdamer Abkommens und des Görlitzer
Abkommens. Die Regierung Polens ersucht die Regierung der Deutschen Demokratischen
Republik darum, die Oder-Neiße-Grenze zwischen der Volksrepublik Polen und der DDR in
dem Vertragsentwurf in keinem Zusammenhang zu erwähnen.“
Die Unterzeichung des Vertrages zwischen der Volksrepublik Polen und der Bundesrepublik
Deutschland in Warschau am 7. Dezember 1970 beendete diese Spekulationen, gleichzeitig
öffnete sie den Weg zur Aufnahme der diplomatischen Beziehungen mit dem zweiten
deutschen Staat, der Bundesrepublik. In diesem Vertrag akzeptierte Bonn die Grenze an Oder
und Neiße als „die westliche Staatsgrenze der Volksrepublik Polen“ (ihre endgültige
Festlegung sollte – in Übereinstimmung mit der westdeutschen Rechtsdoktrin – nach der
Unterzeichnung des Friedensvertrages folgen). Die Aufnahme der diplomatischen
Beziehungen erfolgte jedoch erst 1972, und zwar, da sich die Ratifikation des Vertrages durch
den deutschen Bundestag verzögert hatte. Ursache hierfür waren gerade Einwände die Grenze
betreffend, die im Beschluss des Bundestages vom 17. Mai 1972 zum Ausdruck kamen.
Die Unterzeichnung des Normalisierungsvertrages zwischen Polen und der Bundesrepublik
Deutschland sowie die Intensivierung der Beziehungen mit diesem Land zwangen der DDR
bestimmte Konzessionen ab. In Polen und der DDR änderte sich auch das politische Klima.
Anfang der siebziger Jahre wurden die beiden antagonistisch zueinander eingestellten
Politiker, Gomulka und Ulbricht, entmachtet. Sie wurden durch die viel jüngeren und nicht
von der stalinistischen Vergangenheit belasteten Edward Gierek und Erich Honecker ersetzt.
Ein deutliches Anzeichen der neuen Zeit war die Öffnung der Grenze zwischen Polen und der
DDR im Januar 1972. In den folgenden Jahren kam es zu einem massenweisen Austausch, bei
dem insgesamt 100 Mio. Grenzübertritte regiestriert wurden.
Zum ersten Mal seit 1945 konnten die aus dem ehemaligen Ostdeutschland Vertriebenen
uneingeschränkt nach Polen einreisen, um ihre Heimat zu sehen und die Gräber ihrer
Verwandten zu besuchen. Die Zerstörung einer großen Anzahl von Denkmälern deutscher
Vergangenheit, darunter insbesondere der Friedhöfe, rief bei dieser Gruppe unverhohlenen
Groll hervor und bestätigte ihre antipolnische Haltung. Zur selben Zeit kamen immer öfter
kirchliche Gruppen nach Polen, es wurden erste Kontakte und Freundschaften geknüpft. Ein
Ideen- und Anstoßgeber dieser Reisen war der eifrige, aus Magdeburg stammende Katholik
Günter Särchen, einer der Mitbegründer der Aktion Sühnezeichen, später des AnnaMorawska-Seminars. Die von ihm alljährlich organisierten Aufenthalte junger Deutscher aus
der DDR an Orten der Vernichtung von Millionen von Juden und Polen überzeugten die
polnischen Partner von der Notwendigkeit des Dialogs über staatliche Strukturen hinaus.
Diese Aktivitäten blieben von den DDR-Machthabern nicht unbemerkt, sie wurden nun
genauestens observiert; später erschwerte man Särchens Reisen nach Polen.
Das Polen der „Gierek-Epoche“ kam vielen Ankömmlingen aus der DDR als ein zwar
ärmeres, aber liberaleres Land vor, in dem eine relativ große Freiheit des Wortes herrschte. In
dieser Zeit kam es in Polen auch zu Begegnungen der DDR-Opposition mit Bürgern der
Bundesrepublik. Polen wurde also zu einer Art Vermittler in diesen deutsch-deutschen
Kontakten.
Die anfänglich unbegrenzte Möglichkeit von Reisen in das Nachbarland wurde in der zweiten
Hälfte der siebziger Jahre deutlich eingeschränkt. Auf beiden Seiten der Grenze verschärften
sich, obwohl in unterschiedlichem Ausmaß, die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die für die
sozialistische Wirtschaft charakteristisch waren. In den Geschäften in der DDR mangelte es
bereits an manchen Waren, wofür man den Besuchern aus Polen die Schuld gab. Zu den
wirtschaftlichen Schwierigkeiten kamen in den letzten Jahren auch politische hinzu. Streiks
an der Küste und die Entstehung der Unabhängigen Gewerkschaft „Solidarnosc“ riefen große
Besorgnis bei den DDR-Machthabern hervor. Ähnlich wie im Jahre 1956 befürchteten sie,
dass die oppositionelle Stimmung aus Polen auf ihr Land überschwappen könnte. Man
begann, der polnischen Regierung Unfähigkeit vorzuhalten. In den DDR-Zeitungen wurden
zahlreiche Artikel publiziert, die den Polen Unwirtschaftlichkeit, Arbeitsunwillen, die
Aufgabe sozialistischer Ideen usw. vorwarfen. Das war der Anfang einer bewussten
Desinformation der DDR-Bevölkerung über die Situation an der Weichsel. Die DDRBehörden beließen es aber nicht bei einer Schließung der Grenze (Ende Oktober 1980) und
dem Abzug aller Studenten aus Polen. Sie verlangten von der UdSSR eine sofortige
Intervention der Armeen des Warschauer Paktes, mit dem Ziel, in Polen wieder „Ordnung“ zu
schaffen. Die SED sparte auch nicht an Belehrungen der polnischen „Bruderpartei“. Es wurde
die Existenz privater Bauernhöfe sowie Giereks „falsche“ Lohn- und Preispolitik kritisiert.
Man tadelte die zu tolerante Einstellung der Behörden gegenüber den Aktivitäten der
„Solidarnosc“. Die Haltung der DDR, voller Unwillen und Überlegenheitsgefühl, führte zu
einer erheblichen Abkühlung der Kontakte mit Warschau. Die Einführung des Kriegszustands
im Dezember 1980 in Polen wurde in Ostberlin mit Zufriedenheit aufgenommen. Andererseits
inspirierten die Entstehung und die Tätigkeit der unabhängigen Gewerkschaft „Solidarnosc“
manche Oppositionskreise in der DDR, und die Einführung des Kriegszustands wurde auch
von den dortigen Dissidenten kritisiert. Es kam auch zu Solidaritätsbekundungen mit dem
gedemütigten Polen, die für die Demonstranten mit Gefängnisstrafen oder einer Abschiebung
in die Bundesrepublik endeten. Doch die Kontakte zwischen der polnischen und der DDROpposition waren aufgrund der Abdichtung der Grenze nur sporadisch, sie belebten sich erst
in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre wieder.
Der erste Besuch einer DDR-Delegation in Polen nach der Unterdrückung der „Solidarnosc“
fand erst 1983 statt. Er wurde u. a. dazu benutzt, die Frage der Seegrenze in der Pommerschen
Bucht zu regeln. Das war der Beginn eines Konflikts zwischen Polen und der DDR, der die
bilateralen Beziehungen bis Ende der achtziger Jahre dominierte. Zum letzten Besuch des
Ersten Sekretärs der PVAP, Mieczyslaw Rakowski, in der DDR kam es 1989 bereits nach den
Juniwahlen in Polen und der Übernahme der Regierung durch den nichtkommunistischen
Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki. Der Besuch hatte einzig Höflichkeitscharakter,
denn in der neuen politischen Realität war es nicht anders denkbar. Dieser Besuch zeigte die
völlige Realitätsferne der DDR-Regierung und die Unterschätzung der Bedeutsamkeit der
Ereignisse in Polen und den anderen Ostblockländern. Der polnische Gast hörte nämlich
Forderungen nach einer beharrlichen Festigung des Sozialismus. Der letzte Schritt der DDR
waren Restriktionen ihrer Behörden gegenüber Reisenden aus Polen, die deren
Einkaufsmöglichkeiten einschränkten. Die in vielen Ost-Berliner Geschäften aufgehängten
Schilder „Nur für Deutsche“ erinnerten die Polen schmerzhaft an die Zeit der deutschen
Besatzung. Zwar trat der DDR-Botschafter in Warschau mit einer Entschuldigung vor die
Kameras des Polnischen Fernsehens, doch das änderte nichts am schlechten Eindruck. Nach
anfänglichem Zögern nahmen dann die polnischen Behörden die ersten Flüchtlinge aus der
DDR auf. Die Agonie dieses Staates, die mit den friedlichen Demonstrationen in Berlin,
Leipzig und anderen Städten im Herbst 1989 angefangen hatte, dauerte bis zum 3. Oktober
1990.
Mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten ging die DDR in die Rumpelkammer der
Geschichte ein.
Der Zusammenbruch des Ostblocks, die Wiedererlangung der vollen Souveränität durch
Polen und die Perspektive einer raschen Vereinigung der beiden deutschen Staaten schufen
einen völlig neuen Rahmen für die deutsch-polnische Nachbarschaft. Im Verlauf der 2+4Gespräche (die beiden deutschen Staaten plus Siegermächte des Zweiten Weltkriegs), die zur
deutschen Einheit führten, wurde die Unantastbarkeit der deutschen Grenze mit Polen
bestätigt. Noch im selben Jahr (1990) wurde der deutsch-polnische Grenzvertrag
unterzeichnet, der den Abschluss eines langen Weges zur völligen Anerkennung der 1945
geschaffenen deutsch-polnischen Grenze markiert. Im Jahre 1991 unterzeichneten beide
Staaten einen Vertrag über gute Nachbarschaft, der ein neues Kapitel in den deutschpolnischen Beziehungen eröffnete.
Ein wichtiges Element der deutsch-polnischen Beziehungen bleibt zweifelsohne die
historische Erinnerung, die auf unterschiedliche Weise zur Sprache kommen kann. Ihre
Träger könnten beispielsweise die Gedenktafeln sein. Es scheint, dass die Anbringung der
Zgorzelecer Gedenktafel an ihrem alten Platz noch einmal auf den Weg hinweisen wird, die
die Polen und Deutsche nach 1945 zurückgelegt haben, um das zu überwinden, was
„Fatalismus der Feindschaft“ genannt wurde. Ein Element dieser Feindschaft war der
Jahrzehnte dauernde Streit um die Dauerhaftigkeit und internationale Anerkennung der
Grenze an Oder und Neiße.
Dagmara Jajeśniak-Quast
DIE ODERLANDSCHAFT ALS DEUTSCH-POLNISCHER WIRTSCHAFTSRAUM
Einführung
„Eine gute Kooperationsbeziehung kann man nicht kaufen. Wenn man sie hat, muss man sie
so gut wie möglich gestalten“. Dieser Satz aus dem Handbuch Kooperationskompetenz der
Bertelsmann-Stiftung trifft auch auf das deutsch-polnische Spannungsfeld der
grenzüberschreitenden Kooperation zu. Mein Referat trägt den Titel „Die Oderlandschaft als
deutsch-polnischer Wirtschaftsraum“. Eine schöne, aber nicht gerade einfache Fragestellung,
auf die ich mich hier eingelassen habe. Unter dem Eindruck einer globalen
Weltuntergangsstimmung und Rezession der Weltwirtschaft ergeben sich selbstverständlich
auch aktuelle Stimmungen, die einen Einfluss auf das Verhalten und die Strategien der
mittelständischen Unternehmen im grenzüberschreitenden Geschäft ausüben.
Sitzverlegungen, Investitionsentscheidungen oder der Ausbau bestehender
Kooperationsbeziehungen lassen sich in einem derartigen Umfeld nicht mehr so einfach
darstellen.
Abbildung 1: Deutsch-polnischer Handel 2009 (nach den Bundesländern - Anteil am
Gesamtumsatz)
Quelle: eigene Berechnungen der Botschaft Polens in Deutschland, anhand der DESTATISDaten, März 2010.
Die ostdeutschen Bundesländer sind dank der eingeschränkten Exportorientierung und
Wirtschaftsstruktur erst einmal nicht so stark von der aktuellen Wirtschaftslage betroffen. Die
Wirtschaft in Polen ist die einzige Volkswirtschaft in der Europäischen Union, die über ein
Wirtschaftswachstum im Jahr 2009 von 1,8% verfügte. Polen ist demnach zu einem
europäischen Musterbeispiel geworden. Die gegenwärtige Wirtschaftskrise geht auch in
Ostmitteleuropa zu Ende. Das heißt konkret, der enorme Nachholbedarf im Privatkonsum, die
Modernisierungswelle von Industrie und Infrastruktur treten in eine neue Wachstumsphase
ein, die kommunalen und regionalen Investitionen in allen Bereichen werden einen
unerhörten Schub auslösen. Was heißt das aber für die regionale Wirtschaft, den
Wirtschaftsraum links und rechts der Oder?
Das deutsch-polnische Wirtschaftsleben lässt sich leider nicht besonders gut in feingliedrigen
Zahlen messen. Schon gar nicht lassen sich verlässliche Datensammlungen für die Oderregion
finden. Deutsch-polnische Unternehmenskooperationen bestehen aber nicht nur aus Zahlen,
Daten- und Faktensammlungen. Sie haben gerade im grenzüberschreitenden Sinne vielmehr
mit der menschlichen Komponente, der Kommunikation zwischen Unternehmern, mit
Vertrauen in die Rahmenbedingungen und in Strukturen zu tun. Drei Handlungsfelder hat S.
Rathje für den Erfolg einer grenzüberschreitenden Kooperation ausgemacht:
 Umgang mit Differenzen als erste Herausforderung (Sprache, Kultur,
Unternehmenskultur, Rahmenbedingungen, Finanzierungsinstrumente)
 Herstellung einer Unternehmensbeziehung als zweite Herausforderung (Vertrauen)
 Gestaltung des Kooperationsprozesses als dritte Herausforderung (Erfolg und Mut,
Entscheidungen zu treffen, auch im Fall des Scheiterns)8
8
Christians, Uwe, Zschiedrich, Harald (Hrsg.): Grenzüberschreitende Kooperationen, Erfahrungen
deutscher und polnischer mittelständischer Unternehmen und Banken, Rainer Hampp Verlag, München,
Mering, 2009.
Betrachten wir den „Oderraum“, also den Raum, der nach dem Beispiel der deutschpolnischen Oderpartnerschaft aus acht Regionen besteht, dann fällt die regionale
Unterschiedlichkeit auf. Dem Wirtschaftsraum Oder fehlt auf beiden Seiten der Grenze ein
entscheidender Punkt, ein starkes Hinterland. Wir haben es auf beiden Seiten mit
prosperierenden Agglomerationsräumen und dann wieder mit sehr schwach entwickelten –
häufig ländlich geprägten – Räumen zu tun. Die Bedingungen für eine auf beiden Seiten stark
ausgeprägten Wirtschaftsorientierung auf die Region sind daher nur unterdurchschnittlich
entwickelt.
Ich möchte folgende Fragen in diesem Beitrag behandeln:
1.) Welche historischen Besonderheiten, Voraussetzungen und Problemfelder ergaben
sich für die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Polen seit dem Jahr 1989/90?
2.) Welche Initiativen und Entwicklungsetappen können wir am Beispiel des
Bundeslandes Brandenburg und der Woiwodschaft Lubuskie für die
grenzüberschreitende Kooperation aufzeigen?
3.) Welche Bedeutung haben die Herausbildung regionaler und auf die Wirtschaft
orientierte Netzwerke als eine Voraussetzung für die grenzüberschreitende
Unternehmenskooperation.
4.) Gibt es eine deutsch-polnische Identität für die Oderlandschaft als Wirtschaftsraum?
Ein schwieriger Beginn – Die Aufbauphase
Der deutsch-polnische Wirtschaftsraum rechts und links der Oder erlebt seit den 1990er
Jahren einen stetigen Wandel im öffentlichen Bewusstsein. Die Oder markierte zusammen mit
der südlich gelegenen Neiße eine Grenze, die seit 1945 nicht nur einen einstmals
funktionierenden Wirtschaftsraum abrupt teilte, sondern für Jahrzehnte eine hermetisch
abgeriegelte Grenzziehung darstellte. Bis auf eine kurze Tauwetterphase in den 1970er
Jahren, wo es eine „offene Grenze“ zwischen der DDR und der VR Polen gab, verharrte die
grenzüberschreitende Kooperation auf einem zentralistisch verordneten Niveau. Die
Zusammenarbeit zwischen den Grenzstädten ordnete sich oftmals den historischen
Besonderheiten unter. Zu erwähnen ist hier eine grenzüberschreitende Nutzung der
notwendigen Infrastruktur von Wasser-, Gas- oder Stromnetzen für die geteilten Städte an
Oder und Neiße.9 Das Arbeitskräftepotential Polens – hier vor allem sind die weiblichen
Pendlerinen gemeint – wurde darüber hinaus sehr intensiv für die vorhandenen
Kombinatsstandorte westlich der Oder genutzt. Als Beispiele können hier das
Halbleiterkombinat Frankfurt (Oder), Eisenhüttenkombinat Ost Eisenhüttenstadt oder das
Chemiefaserwerk in der damaligen Wilhelm-Pieck-Stadt Guben genannt werden. Der
wirtschaftliche Zusammenbruch der DDR im Jahr 1989 und der Transformationsprozess
führten zu einer kompletten Umstrukturierung der Wirtschaft im Osten Deutschlands – um
nicht zu sagen Deindustrialisierung. Die ersten Betroffenen dieser Transformation waren die
einstmals dringend benötigten „Vertragsarbeiter“ aus Polen, die unter Nichtbeachtung der
9
Vgl. dazu: Schultz, Helga, Nothnagle, Alan: Grenze der Hoffnung, Geschichte und Perspektiven der
Grenzregion an der Oder, Verlag für Berlin-Brandenburg, Potsdam, 1996;
Jajeśniak-Quast, Dagmara / Stoklosa, Katarzyna: Geteilte Städte an Oder und Neiße. Frankfurt (Oder) –
Słubice, Guben – Gubin und Görlitz – Zgorzelec 1945 – 1995, Berlin Verlag Arno Spitz GmbH, Berlin, 2000;
Jajeśniak-Quast, Dagmara, Lorenz, Torsten, Müller, Uwe, Stokłosa, Katarzyna (Hrsg.): Soziale Konflike
und nationale Grenzen in Ostmitteleuropa, Berliner Wissenschafts-Verlag GmbH, Berlin, 2006.
vertraglichen Vereinbarungen im jetzt vereinigten Deutschland (als Rechtsnachfolger für
internationale Verträge der DDR hätte die Bundesrepublik Deutschland auftreten müssen)
keine Berücksichtigung fanden und von heute auf morgen gekündigt wurden.
Das politische Klima an der deutsch-polnischen Grenze war seit dem Jahr 1989/90 auf beiden
Seiten von einem starken Misstrauen begleitet. Die Aktivitäten der deutschen Wirtschaft in
Polen oder die Neuordnung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit über die Installation
von Euroregionen wurden sehr argwöhnisch begleitet. Zusätzlich wurden die Befindlichkeiten
der polnischen Öffentlichkeit durch Bilder von Rechtsradikalen in den Neuen Bundesländern
bestärkt. Allein die kriminellen Aktionen von Deutschen an den Grenzübergängen in
Frankfurt (Oder) bzw. Guben im Zusammenhang mit der Öffnung der Grenze und der damit
verbundenen Einführung des visafreien Grenzverkehrs zwischen Polen und der
Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1991 bestätigte das Bild der deutschen Ewiggestrigen im
gesamten Europa. Der deutsch-polnische Leuchtturm, die Europa-Universität Viadrina in
Frankfurt (Oder), eröffnete im Jahr 1992 in einem ungemein feindlichen Klima den
Lehrbetrieb. Gerade die ersten Jahrgänge von Studierenden aus Polen oder anderen Ländern
können von zahlreichen Übergriffen durch deutsche Rechtsradikale berichten. Selbst breite
Teile der regionalen Bevölkerung standen dieser einmaligen Bildungseinrichtung mit Skepsis
und Ablehnung gegenüber. Der progressive Ansatz einer europäisch angelegten Universität
bildete einen konträren Gegenentwurf zur Antistimmung breiter Bevölkerungsschichten, die
sich mehrheitlich gegen den Euro („Endlich haben wir die D-Mark!“, O-Ton vieler
Ostdeutscher), die Integration weiterer Länder in die Europäische Union oder einfach gegen
alles „Fremde“ aussprachen. In Polen hingegen wurde die Zuverlässigkeit der deutschen
Außenpolitik kontinuierlich hinterfragt. Die Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze und
damit die Unverletzlichkeit des Staatsterritoriums wurden durch die damalige Kohl/GenscherRegierung zwar nie in Frage gestellt, aber sehr wohl durch einflussreiche politische Kreise
wie z.B. die Vertreter der Vertriebenenverbände. Einen Schockzustand für die Polen im
Grenzgebiet muss die Öffnung der Grenze im Jahr 1991 ausgelöst haben, denn auf einmal
strömten Tausende Deutsche in das Nachbarland, um dank der starken deutschen Währung
die günstigeren polnischen Produkte einzukaufen oder aber zum einstigen Grundstück zu
pilgern. Der Einkaufs- und Vertriebenentourismus überforderte anfänglich die polnische
Öffentlichkeit. Wer hatte schon damit gerechnet, dass pro Jahr mit einer Ein- und Ausreise in
einer Größenordnung von 40 bis 50 Millionen Menschen zu kalkulieren sei, mehrheitlich auch
noch Tagestouristen.
Während sich auf der polnischen Seite eine dynamische Basarlandschaft und Handelsaktivität
entwickelte, Einzelhändler und Unternehmer ihre Aktivitäten eindeutig auf den deutschen
Markt verlegten, beschäftigen sich die (Ost-)Deutschen mehr mit sich selbst. Diese
Abschottungspolitik behinderte für Jahre eine sachlich-nüchterne Sicht, um ein
Zukunftsszenario zu entwickeln. Offiziell wurde die politische Linie eines freundschaftlichen
Miteinanders ausgegeben, Probleme wurden leider nie richtig ausdiskutiert und wichtige
Sachentscheidungen nahmen immens viel Zeit in Anspruch. Als Beispiele kann man den
mühsamen Prozess der Einrichtung von Euroregionen oder die grenzüberschreitende
Zusammenarbeit in den Doppelstädten an Oder und Neiße nennen. Erinnert sei hier an ein
besonders makabres Beispiel, nämlich an den Frankfurter Brötchenkrieg aus dem Jahr 1995.
Eine polnische Bäckerin eröffnete ein Verkaufsgeschäft in Frankfurt (Oder). Was danach
folgte, erinnerte an düstere Kapitel der deutschen Geschichte. Jürgen Watzlaff,
Geschäftsführer der Handwerkskammer Frankfurt (Oder), dazu: „Das Handwerk ist eine
tragende Säule unserer deutschen Nation. Es ist Teil unserer Gesellschaft, es ist Teil unserer
Nationalkultur. Und wenn das Handwerk wegrationalisiert würde, würde uns dieser Teil
fehlen.“10 Ein Höhepunkt im „Brötchenkrieg“ war ein anonymer Boykottaufruf
„Schmuggelbrote nein danke!“ Die polnische Bäckerin schloss aufgrund der massiven
Proteste ihr Geschäft in Frankfurt (Oder) und verkauft seither ihre Waren an vorwiegend
Deutsche auf dem Basar in Słubice.
Kein Wunder, dass sich bei derartigen Nachrichten Vorbehalte gegen den deutschen
Nachbarn aufbauen würden. Diese Ausgangslage muss noch einmal geschildert werden, um
den schwierigen Start im Zusammenleben in der Oderlandschaft noch einmal in Erinnerung
zu rufen.
Die vertraglichen Grundlagen für die Ausgestaltung der grenzüberschreitenden
Kooperation
Die Grundlagen wurden im „Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der
Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze (auch
Grenzvertrag genannt) vom 14.11.1990 gelegt.
Dieser Vertrag entsprach den vorherigen Absprachen des „Zwei-plus-vier“-Vertrages. Der
„Grenzvertrag“ regelte die nationale Interessenlage der beiden Seiten und löste den
Konfliktpunkt „Grenze“ in Form einer völkerrechtlich verbindlichen Vereinbarung. Damit
wurde nach innen und außen dokumentiert, die Grenzfrage ist verbindlich geklärt. Der
Austausch der Ratifikationsurkunden des Grenz- und Nachbarschaftsvertrages erfolgte nach
der Ratifizierung der Parlamente (der Bundestag stimmte am 17.10.1991 und der Sejm am
18.10.1991 zu).
Der „Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute
Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vom 17.06.1991 ist bis heute die
Grundlage für die funktionierende Nachbarschaft und Kooperation.
Dieser Vertrag bildet nach dem Vorbild des Elysee-Vertrages aus dem Jahr 1963 die
Arbeitsgrundlage für die politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit. Das aus 38 Kapiteln
bestehende Vertragswerk bildet das „umfangreichste Vertragswerk mit konkretesten
Beschreibungen von Kooperationsfeldern, das Deutschland seit dem Ende des Kalten Krieges
mit mittel- und osteuropäischen Ländern abgeschlossen hat.“11
Dieser Nachbarschaftsvertrag regelt das Zusammenwirken auf allen relevanten Feldern und
bildet damit den Kompass. Dieser Vertrag hat auch den Wunsch der Polen aufgenommen,
mittelfristiges Mitglied der Europäischen Union zu werden. Ferner ist ein entscheidender
Fokus auf die grenzüberschreitende Kooperation gelegt worden.
Der Wirtschaftsraum Oderlandschaft
Die Oderlandschaft als Wirtschaftsraum zu definieren ist auf den ersten Blick eine lösbare
Aufgabe. Der Wirtschaftsraum Oderlandschaft vereinigt zunächst erst einmal auf der
deutschen Seite die Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Berlin und den
Freistaat Sachsen. Auf der polnischen Seite sind die Wojewodschaften Zachodnio-Pomorskie,
Lubuskie und Dolnosląskie zu diesem Wirtschaftsraum zu zählen. Damit haben wir schon
eine starke regionale Eingrenzung und stoßen schnell auf eine regionale Differenzierung. In
10
http://www.rbbonline.de/kowalskitrifftschmidt/archiv/kowalski_trifft_schmidt3/mit_polnischen_broetchen.html, 09.06.2010,
07:30 Uhr.
11
Morhard, Bettina: Das deutsch-polnische Grenzgebiet als Sonderfall europäischer Regionalpolitik,
Berlin, u.a.: Springer, 2001, S. 90.
diesem inhomogenen Wirtschaftsraum prallen vielfältige Gegensätze aufeinander. Auf der
einen Seite die Metropolenregion Berlin-Brandenburg (mit einem starken regionalen
Entwicklungsgefälle) und schwach entwickelten Wirtschaftsregionen in MecklenburgVorpommern, Brandenburg oder Sachsen. In den genannten Bundesländern gibt es mit den
Städten Leipzig, Dresden, Potsdam, dem Berliner Speckgürtel einige Regionen mit einer
guten Marktposition (trotz vieler Defizite). Auf der polnischen Seite gibt es ebenfalls eine
starke regionale Differenzierung mit dem prosperierenden Großraum Wrocław und Poznan
oder regionalen Leuchttürmen wie Zielona Góra, Szczecin oder Jelenia Góra, andererseits
aber auch Regionen, die zu den am schwächsten entwickelten Regionen in Polen und damit
der Europäischen Union gehören. Daraus resultiert eine unterschiedliche Interessenlage
zwischen den deutschen und polnischen Oderanrainern, die ich am Beispiel der Firma
Transodra / Deutsche Binnenreederei erörtern möchte.
Der polnische Spediteur Transodra mit Sitz in Wrocław übernahm das deutsche Unternehmen
Deutsche Binnenreederei, um die Konzernaktivitäten noch stärker auf den deutschen und
europäischen Markt auszurichten. Das Unternehmen ist darauf spezialisiert, Massen- und
Stückgüter auf den Binnenwasserstraßen zu transportieren. Hier stehen die polnischen und
deutschen Großräume Berlin und Wrocław eindeutig im Zentrum der Aktivitäten. Im
Brandenburgischen Königswusterhausen liegt ein bedeutsamer Binnenhafen, der für die
Versorgung der deutschen Hauptstadt mit Kohle, Baustoffen und Sanden zuständig ist. Für
Transodra / Deutsche Binnenreederei sind die Häfen in Berlin, Königswusterhausen oder
Wrocław wichtige Umschlagplätze. Gleichwohl profitiert dieses Unternehmen von der großen
Nachfrage nach Getreide, Düngemitteln und Baustoffen (für den polnischen Markt),
umgekehrt sind für den Absatzmarkt Berlin Kohle, Zement und Sande die wichtigsten
Transportgüter. Nicht zuletzt die größte Baustelle Europas, der Flughafen BerlinBrandenburg-International, sorgt für entsprechende Aufträge dieses Unternehmens.
Gleichwohl steht dieses Unternehmen für die unterschiedlichen Erwartungshaltungen der
deutschen und polnischen Seite. Die Deutschen favorisieren den Ausbau des Flughafens und
einer entsprechenden Infrastruktur, während die Polen mehr auf den Ausbau der
Wasserstraßen und deren Anbindung orientieren.
Die aktuelle Hochwassergefährdung offenbart die unterschiedlichen Interessenlagen. „Nach
1997 hatte das Landesumweltamt (des Landes Brandenburg, Anm. Autorin) eine Aufstellung
erarbeitet mit rund 6.000 Hektar potentieller Überflutungsflächen, die auf brandenburgischer
Seite in Frage kommen und für notwendig erachtet wurden. Davon sind weniger als 100
Hektar in Angriff genommen.“, so Wolfgang Mädlow, Landesgeschäftsführer des
Naturschutzbundes Brandenburg. Hier erkenne man, so Mädlow weiter, die riesige
Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit.
Jetzt wieder erst ein Blick zurück. Das Land Brandenburg verfolgte in den Jahren 1991/92
über das Projekt einer „Deutsch-Polnischen Entwicklungsbank“. Dieses Projekt wurde auch
„Stolpe-Plan“ genannt. In dieses Konzept war auch eine deutsch-polnische
Sonderwirtschaftszone eingebettet. Innerhalb dieser Zone sollten die deutsche Währung und
rechtlichen Rahmenbedingungen Deutschlands gelten. Allerdings war dieser Plan mit der
polnischen Seite nur ungenügend abgestimmt bzw. vorbereitet und damit die politische
Stimmungslage unterschätzt worden. Nach heftigen Protesten in Polen wurde der Plan
verworfen.
Stattdessen konzentrierte sich die Brandenburger Landesregierung auf die Gründung und
Einrichtung der „Deutsch-Polnischen Wirtschaftsförderungsgesellschaft AG“ (WFG). Im
März 1994 wurde die Aktiengesellschaft in Gorzów Wielkopolski gegründet. Die WFG
bestand zu je 50% aus polnischen und deutschen Aktionären. Auf deutscher Seite waren dies
die Bundesländer Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und der Freistaat Sachsen.
Die polnische Seite bestand aus den drei grenznahen Wojewodschaften Lubuskie,
Dolnosląskie und Zachodnio-Pomorskie, später übernahm der polnische Staat noch Anteile.
Die WFG unterstützte im grenzüberschreitenden Unternehmensgeschäft polnische und
deutsche Unternehmen bei Ansiedlungsvorhaben, erstellte Marktstudien, vermittelte
Gewerbeflächen oder half bei der Anbahnung von Kontakten. Die Erfolge waren nicht von
der Hand zu weisen, denn die meisten deutschen Investitionen wurden von der WFG
vollständig oder in Teilbereichen begleitet. Markus Meckel referierte noch im Jahr 1999 über
die „hilfreiche Existenz der WFG, die sich vor Arbeit kaum retten kann.“12
Dass gerade Brandenburg als der Spiritus rector und ein Anteilseigner im Jahr 2004, dem Jahr
der EU-Osterweiterung, der WFG durch das Streichen der jährlichen Mittel die
Existenzberechtigung entzog, wurde in beiden Ländern mit Enttäuschung zu Kenntnis
genommen. Ein Grund könnte darin gelegen haben, dass sich im unmittelbaren Grenzraum
nur sehr wenige „Großprojekte“ realisieren ließen und stattdessen in Polen zunächst der
Großraum Poznań und der wirtschaftlich starke Süden profitierten. Hier führten
unterschiedliche Auffassungen und Erwartungshaltungen vornehmlich der Brandenburger
Landesregierung zum Scheitern. Die Wojewodschaft Lubuskie war die erste Wojewodschaft,
die mit Brandenburg partnerschaftliche Beziehungen aufnahm. Am 12. Januar 2000
unterzeichneten der damalige Ministerpräsident Manfred Stolpe (SPD) und der damalige
Marschall Andrzej Bochenski eine „Gemeinsame Erklärung über die Zusammenarbeit“.13
Brandenburger Akteure und Initiativen für eine grenzüberschreitende Kooperation
Die Euroregionen Pro Europa Viadrina und Spree-Neiße-Bober sind heute ein
wesentlicher Aspekt der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Anfangs gab es gegen die
Einrichtung dieser grenzüberschreitenden Euroregionen erhebliche Bedenken in Polen, weil
diese einen „Angriff auf die polnische Integrität und Identität“ darstellten. Beide
Euroregionen wurden im Jahr 1993 gegründet (erst zwei Jahre später gründeten sich die
Euroregionen Pomerania und Neiße). Im Einzugsgebiet der Euroregion Pro Europa Viadrina
leben ca. 900.000 Einwohner, in der Euroregion Spree-Neiße-Bober sind es ca. 700.000. Die
Projekte, allein auf deutscher Seite sind Projekte in einer Größenordnung von 30 Mio. EUR
geplant, werden durch EU-Mittel und nationale Förderprogramme finanziert und innerhalb
der Euroregion für vielfältige Bereiche eingesetzt. Allerdings gab es mit dem Beginn des
neuen Förderzeitraums 2008 erhebliche Anlaufschwierigkeiten, weil sich das Land
Brandenburg mit der polnischen Wojewodschaft Lubuskie über eine neue Bewilligungsstelle
für eingehende Anträge entschied, die ihren Sitz in Zielona Góra konzentrierte. Mit
erheblicher Zeitverzögerung konnte erst eine arbeitsfähige Struktur in Polen aufgebaut
werden. Das ist sicherlich ein Sonderfall und belastete die Beziehungen zwischen den
Partnern unnötig. Die Schuldzuweisungen gingen und gehen in beide Richtungen. Auslöser
waren wieder einmal nicht abgestimmte Kommunikationswege und eine Harmonisierung der
organisatorischen Abläufe. Die Krise spitzte sich durch den spektakulären Besuch des
12
Meckel, Markus: Der deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag – Bilanz nach fünf Jahren, Zitat aus
dem gleichnamigen Vortrag einer Tagung an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), 01.-04.09.1997.
13
www.moz.de/artikel-ansicht/dg/0/1/225321; 10.06.2010, 10:42 Uhr.
Gubener Bürgermeisters Klaus-Dieter Hübner in Warschau zu, der im Ministerium
unangemeldet vorstellig wurde, um eine Lösung zu erwirken.14
Die Industrie- und Handelskammer Frankfurt (Oder), heute IHK Ostbrandenburg, und
die Handwerkskammer Frankfurt (Oder), Region Ostbrandenburg, übernehmen für ihre
Kammermitglieder im Bereich der Außenwirtschaftsförderung ein Vielzahl von Aufgaben
und Aktivitäten. Die Kammern zwischen Deutschland und Polen unterscheiden sich nicht nur
durch die Satzungen und rechtlichen Rahmenbedingungen – in Deutschland besteht eine
Zwangsmitgliedschaft, in Polen gilt das Prinzip der Freiwilligkeit. In Deutschland kommt
darüber hinaus auch die Wahrnehmung von staatlichen Aufgaben (z.B. Ausbildung und
Prüfungsverfahren, Gesellen- und Meisterprüfungen, Zulassungen) hinzu. Die Kammern in
beiden Ländern können auf Grund dieser unterschiedlichen Größenverhältnisse und
organisatorischen Kraft objektiv nicht als „gleichberechtigte Partner“ gesehen werden.
Dennoch spielen die Kammern eine wichtige Rolle im Rahmen der grenzüberschreitenden
Kooperation.
Das Deutsch-Polnische Kooperationsbüro der Sparkassen, wurde auf Initiative von neun
grenzansässigen Sparkassen und der Sparkassenstiftung für internationale Kooperation im
Jahr 2000 gegründet. Das Ziel besteht darin, den Firmenkunden der Sparkassen die
Erschließung des deutschen oder polnischen Marktes zu ermöglichen. Die Sparkassen pflegen
mit der polnischen Finanzgruppe PKO BP S.A. eine langjährige Zusammenarbeit. Eine der
Hauptaufgaben des Kooperationsbüros ist die Entwicklung und Umsetzung komplexer
Lösungen bei der Begleitung von grenzüberschreitenden Unternehmensvorhaben. Für die
Sparkassen-Finanzgruppe ist dieses Kooperationsmodell ein großer Erfolg. Die regionale
Ausrichtung des Finanzinstitutes verhindert eine Auslandsstrategie mit der Errichtung einer
eigenen Filialstruktur in Polen. Die Einbindung verschiedener Partner in ein deutschpolnisches Netzwerk, die eine umfassende Beratung innerhalb dieser Gemeinschaft
ermöglicht, vermindert den Nachteil einer fehlenden Filialstruktur. Damit ist die SparkassenFinanzgruppe zumindest für den Marktbereich Polen mit den Privatbanken strategisch auf
Augenhöhe und verfügt über ein Alleinstellungsmerkmal innerhalb der Kreditwirtschaft.
Dieses Alleinstellungsmerkmal besteht in einer umfassenden Unternehmensbetreuung in den
Marktbereichen. Auf der Grundlage der partnerschaftlichen und vertraglich abgesicherten
Kooperation können die Unternehmer unmittelbar auf das gesamte Netzwerk in Polen und
Deutschland zurückgreifen. Mit diesem Dienstleistungsprofil kann das Kooperationsbüro
einen der Problembereiche, hier ist die Finanzierung von Cross-Border-Aktivitäten gemeint,
aktiv angehen und Lösungsschritte anbieten. Je Geschäftsjahr werden ca. 1.500
Geschäftsvorfälle von deutschen und polnischen Unternehmen bearbeitet. In den letzten drei
Jahren ist ein neuer Trend erkennbar: Polnische Unternehmer sind an Übernahmen deutscher
Unternehmen interessiert.15
Sonderfall „Oder-Partnerschaft“
Das interregional ausgerichtete Netzwerk „Oder-Partnerschaft“ wurde im Jahr 2006 mit dem
Ziel gegründet, eine „leistungsfähige Plattform für den grenzüberschreitenden Austausch
aufzubauen und diese zu einem kooperationsfähigen dynamischen Wirtschaftsraum zu
14
http://www.moz.de/artikel-ansicht/dg/0/1/50734, 10.06.2010, 11:05 Uhr.
15
Vgl. Informationen auf der Homepage www.spk-koop.de
entwickeln.“16 Der Brandenburger Ministerpräsident Matthias Platzeck stellte unlängst
unmissverständlich im Rahmen der Beratungen der deutsch-polnischen Oder-Partnerschaft
fest: „Wirtschaftlich haben wir immer noch einen großen Aufholbedarf, und die
Verkehrsverbindungen lassen immer noch zu wünschen übrig.“17 Die Oder-Partnerschaft „soll
eine Plattform zur Meinungsbildung durch freien, gleichberechtigten Gedankenaustausch über
gemeinsame Interessen in der Grenzregion, vor allem in den Bereichen Verkehr, Wirtschaft
und Tourismus“ darstellen.18 Auf einen Großraum zwischen Szczecin, Wrocław und Dresden,
Berlin und Poznań hat sich diese politische Gemeinschaft erst einmal festgelegt. Die
bisherigen bilateralen Gespräche haben erst einmal die Unterschiede deutlich gemacht, die
zwischen allen Partner bestehen. Wenn die Berliner und Brandenburger von den
gemeinsamen Potentialen des größten europäischen Bauprojekts, dem Flughafen BerlinBrandenburg-International (BBI), sprechen und die Nutzen-Effekte für den Oderraum
darstellen, löst dies auf der polnischen Seite nicht unbedingt Begeisterung aus. In Wrocław
und Sczczecin wird mehr über den Ausbau der Oderwasserstraße nachgedacht und mehr
Aktivitäten (Verbreiterung und Vertiefung der Wasserstraße) in dieser Hinsicht von der
deutschen Seite eingefordert. Das Treffen der Oder-Partnerschaft in diesem Jahr brachte für
beide Seiten eine große Ernüchterung. Die acht beteiligten Regionen konnten noch nicht den
gemeinsamen Nenner und eine politische Zielsetzung definieren. Verabredet ist ein
Nachfolgetreffen mit einer klaren Aufgabenstellung. Für den strategischen wichtigen Punkt
Verkehr soll ein Handlungskonzept bis 2015 erarbeitet und verabschiedet werden. Ein großes
Ziel, einhergehend mit einer hohen Erwartungshaltung der regionalen Wirtschaft, das
Matthias Platzeck in eine Zukunftsvision einbettete: „Mein Wunsch auf lange Sicht. Eine
europäische Region, die der zwischen Deutschland, Frankreich und Benelux in keinem Maße
nachsteht, wirtschaftlich prosperierend, mit exzellent ausgebauter Infrastruktur und hohem
Lebenswert. Diese Form des Brückenbaus kann – und ich bin optimistisch: wird – in Europa
nicht nur an Rhein und Donau gelingen, sondern auch bei uns an Neiße und Oder.“19
Fazit
Die deutsch-polnische Identität für die Oderlandschaft als Wirtschaftsraum ist also noch ein
Zukunftsszenario. Es gibt aber schon gute Beispiele auf diesem Weg. Zum Schluss eines
davon:
Der Stahlstandort Eisenhüttenstadt und die überregionale Vernetzung
Der regionale Wachstumskern Frankfurt (Oder) – Eisenhüttenstadt ist als „Kompetenzregion
für die Metallerzeugung, Metallbe- und verarbeitung, sowie Industriedienstleistungen“
aufgestellt. In Eisenhüttenstadt hat sich auf der Betriebsfläche des einstigen
Eisenhüttenstädter Kombinates Ost, EKO, durch die Aus- und Neugründungen eine
Branchenkonzentration ergeben. Der regionale Leuchtturm und Nachfolger des „EKO“, die
ArcelorMittal Eisenhüttenstadt GmbH, bildet im weltweiten Konzernverbund „die
geschäftliche und firmenpolitische Nahtstelle zu den sich entwickelnden Märkten in
16
Abgeordnetenhaus Berlin, Kleine Anfrage der Abgeordneten Sylvia Maria von Stieglitz (FDP),
Drucksache 16/14 297 vom 23.03.2010.
17
18
19
http://www.moz.de/artikel-ansicht/dg/0/1/125629, 10.09.2010, 11:45 Uhr.
Ebenda.
Ebenda.
Ostmitteleuropa“ (Darstellung des Konzerns). Bleche und Stahlprodukte werden nach
Ostmitteleuropa exportiert, insbesondere die Automobil-, Haushaltsgeräte- und Bauindustrie
sind Abnehmer. Für einen Konzernverbund sind der Aufbau und die Umsetzung einer
internationalen Strategie wesentlich einfacher; es gibt aber auch ähnliche Beispiel aus dem
Mittelstand.
Ein Beispiel aus dem Bereich Mittelstand ist das Unternehmen Heckmann. Das Unternehmen
verfügt im deutsch-polnischen Wirtschaftsraum über drei Standorte: Hoppegarten (bei
Berlin), Eisenhüttenstadt und Krzeszyce (Wojewodschaft Lubuskie). Das Unternehmen wurde
im Jahr 1993 gegründet und hat heute ca. 100 Mitarbeiter in Deutschland und Polen. Die
internationale Aufstellung ist ein Ergebnis der Nachfrage aus dem In- und Ausland. Das
polnische Unternehmen ist hauptsächlich auf den Marktbereich Polen (Stahlbau) ausgerichtet.
Das ist ein Beispiel für die sehr „geräuschlose und unsichtbare Arbeit des regionalen
Mittelstandes“, die man vielfach übersieht, wenn es sich nicht um große Namen handelt.
Andrzej Stach
GELEBTE EUROPÄISCHE NACHBARSCHAFT
MIGRATIONEN ÜBER DIE ODER UND NEIßE
Seit Beginn des 19. Jahrhunderts zählt Polen zu den Nationen mit den größten
Exilbewegungen in Europa. Infolge dieser Entwicklung leben gegenwärtig in der ganzen Welt
verstreut zwischen 15 und 18 Millionen polnischer Emigranten, deren Nachkommen mit
eingerechnet, bei einer Gesamtbevölkerung Polens von etwa 38 Millionen Menschen.
Zahlenmäßig sehr verstärkt wurde die polnische Emigration während der kommunistischen
Diktatur zwischen 1945 und 1989. Allein nach dem blutig niedergeschlagenen Posener
Aufstand von 1956 verließen viele polnische Bürger das Land Richtung Westen. Einige große
Ausreisewellen wurden durch die politischen Unruhen der Jahre 1970, 1976 und 1980
ausgelöst. Begünstigt wurde die Auswanderung zusätzlich durch die Anfang der 70er Jahre
stattgefundene deutliche Liberalisierung der Passvorschriften. Kurz vor der Verhängung des
Kriegsrechts Ende 1981 verließen etwa 170.000 Polinnen und Polen ihre Heimat und blieben
im Ausland. Insgesamt emigrierten in den Jahren 1981 - 1988 etwa 830.000 Personen aus
Polen – die über eine Million deutscher Spätaussiedler nicht eingerechnet.
Wegen ihrer geographischen Nähe gehörte die Bundesrepublik Deutschland inklusive WestBerlins schon in den 70er und 80er Jahren, d.h. noch vor dem Fall des „Eisernen Vorhangs“
zu den wichtigsten Ländern, in denen viele polnische Bürger zeitweise lebten oder aber sich
ganz niederließen. Allen voran war es West-Berlin, das sehr viele Polen anzog. Hauptgründe
hierfür waren vor allem die geringe Entfernung, kein Visumszwang sowie die relativ guten
Chancen, eine Arbeit zu finden. Nicht einmal die über Jahrzehnte andauernde antideutsche
Propaganda der polnischen Kommunisten und die schlimmen Erfahrungen des älteren Teils
der Bevölkerung unter der Naziokkupation konnten der großen Anziehungskraft der
westdeutschen Wohlstandsgesellschaft standhalten. Im Gegenteil: bei ihren Aufenthalten in
der Bundesrepublik in West-Berlin konnten die polnischen Bürger viele antideutsche
Vorurteile revidieren und sich selbst ein Bild der „Deutschen von heute“ machen. Zudem
trafen sie vor allem in den frühen 70er Jahren auf Offenheit, Neugier und Sympathie seitens
der deutschen Politik und Bevölkerung.
Für die deutschen Bürger aus der Bundesrepublik Deutschland, geschweige denn für die aus
der DDR, war Polen vor 1989 hingegen kein Migrationsland. Zwar ließen sich einzelne
Bürger aus den beiden deutschen Staaten in Polen nieder, es handelte sich bei ihnen aber
vornehmlich um einige wenige Menschen, die eine Polin oder einen Polen geheiratet oder
aber sich in Polen aus beruflichen Gründen niedergelassen haben.
1. DEUTSCHLAND ALS EXILLAND FÜR POLEN
Die polnische Auswanderung nach Deutschland stellt das wohl schwierigste und
kontroverseste Kapitel in der Geschichte des polnischen Exils dar. Denn trotz der großen Zahl
von Menschen aus Polen, die sich in den letzten zwei Jahrhunderten in dem Land
niedergelassen haben, betrachtete man sie und betrachtet sie teilweise bis heute
ausgesprochen reserviert und mit kritischer Distanz, aber auch nicht selten mit
unverhohlenem Unverständnis oder gar Ablehnung. Dies erfuhren vor allem diejenigen Polen,
die nach 1945, meist in den 70er und 80er Jahren, nach Deutschland emigrierten, und zwar
nicht nur seitens der kommunistischen Machthaber und eines Teils der älteren Generation, die
den Zweiten Weltkrieg und die deutsche Besatzung erlebt hatte, sondern auch nach der
politischen Wende 1989 seitens der polnischen Nationalkonservativen. Die Antwort auf die
Frage nach den Ursachen der besonderen Reserviertheit gegenüber den polnischen
Emigranten in Deutschland im Vergleich zu den Emigrantengruppen in anderen Ländern liegt
jedoch nicht nur in den tragischen Kapiteln der deutsch-polnischen Geschichte des 20.
Jahrhunderts.
Nach den polnischen Teilungen und dem Verschwinden des polnischen Staates von der
politischen Landkarte Europas kam es in Polen immer wieder zu nationalen Aufständen, wie
denen von 1830/ 31, 1846/ 48 und 1863, die von den Besatzern blutig niedergeschlagen
wurden. Infolge der Repressionswellen und Racheakte seitens der Okkupanten und deren
antipolnischer Politik verließen Zehntausende polnische Bürger ihre Heimat Richtung
Westen, darunter ein Großteil der geistigen und künstlerischen Elite des geteilten Landes, wie
z. B. Frédéric Chopin, der polnische Nationaldichter Adam Mickiewicz oder Cyprian Kamil
Norwid. Die allermeisten Exilanten ließen sich damals in Frankreich nieder, wo neben Italien
die ersten wichtigen Zentren der polnischen Migration im Ausland entstanden. Durch den
hohen Anteil an Intellektuellen, Politikern, Denkern und Soldatenführern unter den
polnischen Emigranten wurde Paris zum Inbegriff des „edleren“, des „politischen“ Exils.
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts war Deutschland für die polnischen Auswanderer dagegen
lediglich ein Durchgangsland auf ihrem Weg ins westliche Exil. Allerdings trafen sie damals
auch mitunter auf Bewunderung und Hilfe seitens vieler deutscher Bürger. Neben Hambach,
wo sich eine regelrechte deutsch-polnischen Verbrüderung abgespielt hatte („das Hambacher
Fest“), kam es in Berlin gleich zu Beginn der Revolution vom 18.03.1848 zur ungeplanten
Befreiung der im Moabiter Gefängnis einsitzenden politischen Häftlinge, die sich dann an die
Spitze eines spontan entstandenen Straßenzuges stellten: „In allen Fenstern zeigten sich
Fahnen, Blumen wurden herab geworfen.“20 Auch einige deutsche Philosophen,
Revolutionäre und Dichter bekundeten öffentlich ihre Unterstützung für die Befreiung Polens
(s. „Polenlieder“). „Als Zeichen seiner aufrichtigsten Achtung und Dankbarkeit für die
brüderliche Aufnahme“ schrieb der damals ebenfalls über Deutschland nach Frankreich
reisende Dichter Adam Mickiewicz in der deutschen Ausgabe seiner „Bücher des polnischen
Volkes“ „dem deutschen Volke“ eine Widmung.
20
„Polen – ein Schauermärchen oder Gehirnwäsche für Generationen. Geschichtsschreibung und
Schulbücher. Beiträge zum Polenbild der Deutschen.“, HERAUSGEBER: GÜNTER BERNDT, REINHARD STRECKER,
Reinbek: Rowolt Taschenbuchverlag, 1971.
Die kurzweilige „Polenbegeisterung“ für die Freiheitskämpfer vermochte es nicht, polnische
Dichter, Politiker oder Generäle zum dauerhaften Verbleib auf deutschem Boden zu bewegen.
Zu den wenigen Ausnahmen gehörte Mitte des 19. Jahrhunderts der polnische Schriftsteller
Józef Ignacy Kraszewski, der nach dem sog. „Januaraufstand“ von 1863, zwanzig Jahre lang
in Dresden wohnte. An seinem Beispiel kann man aber zugleich feststellen, in welchem
Spannungsverhältnis und unter welchen Gefahren ein politischer Emigrant und Patriot im
deutschen Machtbereich zu leben und zu wirken hatte. Trotz seiner schon damals großen
internationalen Bekanntheit als Schriftsteller wurde er aus politischen Gründen von diversen
deutschen Geheimdienstleuten stets beobachtet. Wegen seiner vermeintlichen
Agententätigkeit zugunsten Frankreichs wurde er im Juni 1883 verhaftet und im Mai 1884 zu
dreieinhalb Jahren Festungshaft verurteilt. Seine zeitweilige Haftaussetzung nutzte er zur
Flucht ins Ausland, wo er dann auch blieb.
An der unterschiedlichen Stellung von Deutschland und Frankreich als Zielländer polnischer
Auswanderer änderte sich auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts relativ wenig. Aus
dem von Preußen besetzten Teil des Landes gingen mehrheitlich einfache Arbeiter und
Bauern nach Deutschland. Zwar lebten auf dem deutschen Gebiet auch nicht wenige
polnische Aristokraten wie die Familien von Radziwiłł oder von Raczyński, Industrielle wie
Hipolit Cegielski oder Künstler wie Stanisław Przybyszewski. In ihrer alten Heimat erlangten
sie jedoch nicht die Anerkennung, geschweige denn als „politische Emigranten“, die den
Exilpolen in Frankreich zuteil wurde. Mitunter beschuldigte man sie daheim sogar der
Zusammenarbeit mit dem preußischen Okkupanten, wie z. B. den Hofmaler von Wilhelm II.,
Wojciech Kossak, der in dessen Auftrag zahlreiche Gemälde schuf, unter ihnen auch große
Bilder mit Szenen aus bekannten Kriegen und Schlachten, die in Polen auf keine Begeisterung
stoßen konnten.
Ganz anders war es um Frankreich bestellt: „Die Polen wussten, dass Frankreich nicht nur
durch seine Art der Regierung, sondern durch seine Gesellschaft und die zivilisatorischen
Errungenschaften bestimmt wird. Deshalb fuhr die Generation von Maria Skłodowska (Curie
– A.S.) dorthin, um sich zu bilden. Dort weilte sogar in den für die Polen schlimmsten Zeiten
eine ganze Schar von Schriftstellern und Malern […] Frankreich war für die fortschrittliche
polnische Intelligenz und viele Arbeiter das Musterbeispiel der Demokratie und der
Toleranz.“21 So blieben die polnischen Emigranten in Deutschland ihren Landsleuten vor
allem als Arbeitsimmigranten und Deutschland selbst im besten Fall als ein Land im
Bewusstsein, in dem man die moderne Wirtschaft kennen lernen und die neuesten Maschinen
kaufen konnte.
Ein neues Kapitel in der Geschichte der polnischen Emigration begann 1939 mit dem Überfall
Deutschlands auf Polen. Zehntausende polnische Offiziere und Soldaten, die an der Seite der
westlichen Alliierten weiter gegen Nazi-Deutschland kämpfen wollten, begaben sich auf
verschiedenen Wegen nach Westen. Gleichfalls verließen Zigtausende polnische Zivilisten
das Land. Viele von ihnen konnten oder wollten nicht in das kommunistisch regierte Polen
zurückkehren und blieben in Westeuropa, in den USA und anderen westlichen Ländern,
darunter auch in der Bundesrepublik Deutschland.
Nach der Liberalisierung der Passvorschriften im Polen der 70er und 80er Jahre wurde die
Bundesrepublik Deutschland, inklusive West-Berlins, ein bevorzugtes Reiseziel für Millionen
polnischer Bürger. Hauptgründe waren vor allem die geringe Entfernung sowie die relativ
21
JERZY W. BOREJSZA, S.18 und S.22-23.
guten Chancen, eine Arbeit zu finden. Nicht einmal die über Jahrzehnte andauernde
antideutsche Propaganda der polnischen Kommunisten und die schlimmen Erfahrungen des
älteren Teils der Bevölkerung unter der Naziokkupation konnten der großen Anziehungskraft
der westdeutschen Wohlstandsgesellschaft standhalten. Im Gegenteil, bei ihren Aufenthalten
in der Bundesrepublik konnten die polnischen Bürger viele antideutsche Vorurteile revidieren
und sich selbst ein Bild der „Deutschen von heute“ machen. Zudem trafen sie vor allem in den
frühen 70er Jahren auf Offenheit, Neugier und Sympathie seitens der deutschen Politik und
Bevölkerung. Durch die politischen Proteste und die Gründung der unabhängigen
Gewerkschaft Solidarność sowie die damit verbundenen politischen Ereignisse in Polen, die
das kommunistische System ins Wanken brachten, richteten noch mehr Deutsche ihren Blick
auf die östlichen Nachbarn: „Millionen Deutsche schauten auf die Polen nicht von oben
herab, sondern mit Anerkennung […]. Ich glaube, ein großer Teil der Deutschen hat die Polen
zum ersten Mal wirklich bewundert. Und das ist niemandem mehr, sondern nur der
Solidarność zu verdanken.“ meinte der CDU-Politiker und frühere Verteidigungsminister
Volker Rühe. Auch diese Haltung trug dazu bei, dass polnische Bürger am liebsten nach
Deutschland reisten, wo immer mehr von ihnen mit verschiedenem Aufenthaltsstatus kurzoder längerfristig blieben.
Durch die zunehmende Anzahl der polnischen Bürger, die Anfang der 1980er Jahre neben
tausenden Einwanderern aus der Türkei und anderen Ländern nach Westdeutschland
strömten, sowie durch die sich abzeichnenden Engpässe auf dem Arbeits- und
Wohnungsmarkt wurden sie zunehmend als eine zu große Belastung für das deutsche
Sozialsystem angesehen und man diskutierte öffentlich, wie man dem Ansturm mit diversen
Gegenmaßnahmen begegnen könnte: „Polnische Emigranten etwa, die seit den Jahren des
Kalten Krieges im Westen als lebende Beweisstücke einer systemkritischen 'Abstimmung mit
den Füßen' gefeiert wurden und denen eine Bund-Länder-Vereinbarung noch immer pauschal
politisches Asyl oder unbefristetes Aufenthaltsrecht garantiert, sind nun auf einmal […] 'auf
Dauer nicht zu verkraften'“, hieß es 1981 im Magazin „Der Spiegel“.
Die wachsende Popularität Deutschlands als Ort für einen längeren oder dauerhaften
Aufenthalt fand ihren Ausdruck auch in der Zahl der bereits im Zeitraum von 1980 bis Ende
1981 von polnischen Bürgern gestellten Asylanträge, die einen sichereren Aufenthaltsstatus
garantierten. Während es 1980 in Deutschland über 2.000 waren, gab es in England nur 90
Anträge. Insgesamt beantragten im Zeitraum von 1980 bis 1990 fast 122.000 Polen Asyl in
der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin, darunter auch viele Spätaussiedler, die
durch ihren Sonderstatus während des Asylverfahrens in Deutschland bleiben und auf die
endgültige Klärung ihrer Deutschstämmigkeit warten konnten.
Durch Verhängung des Kriegsrechts in Polen überrascht, beschlossen viele in
Westdeutschland und West-Berlin befindlichen polnischen Bürger, in der Bundesrepublik
Deutschland zu bleiben. Die außergewöhnliche Situation in Polen rief zugleich eine große
Welle der Solidarität seitens der deutschen Politik und der Bevölkerung mit den größtenteils
nolens volens zu Emigranten Gewordenen hervor. Positive Schlagzeilen in den Zeitungen
sowie verständnisvolle Berichte und Kommentare im Fernsehen begleiteten dabei praktische
Hilfsmaßnahmen der Behörden. Das wohl sichtbarste Beispiel bildete damals West-Berlin.
Der Senat gewährte den dort verweilenden polnischen Bürgern umgehend eine großzügige
Unterstützung in Sachen Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis, Sozialhilfe und
Wohnberechtigung.
Wegen der in West-Deutschland und West-Berlin weiterhin rasant steigenden Zahl der
Zuwanderer, darunter viele aus Polen, und der damit verbundenen Probleme wurde die den
polnischen Zwangsemigranten vom West-Berliner Senat gewährte aufenthaltsrechtliche und
soziale Unterstützung nach einer relativ kurzen Zeit wieder entzogen. An ihre Stelle traten
zum Teil drastische Einschränkungen in allen Lebensbereichen ein, die für den weiteren
Verbleib relevant waren. Mit einem verschlechterten Aufenthaltsstatus konnten sie keine
Arbeitserlaubnis und dadurch auch keine angemessene Wohnung mehr bekommen. Um nicht
nach Polen zurückkehren zu müssen und einen geregelten Aufenthaltstitel zu erlangen,
stellten immer mehr polnische Bürger Antrag auf politisches Asyl. In den allermeisten Fällen
wurden die Anträge abgelehnt, die Antragsteller aber in der Bundesrepublik „geduldet“.
Allein 1986 wiesen die Statistiken 270.000 Zuwanderer auf, die trotz rechtmäßig abgelehnter
Asylanträge als „De-facto-Flüchtlinge“ in der Bundesrepublik Deutschland bleiben durften,
darunter 100.000 aus Polen. In Hamburg machten die polnischen Asylanten sogar 29,4
Prozent der Gesamtzahl und somit die größte Gruppe aus: „Meistens trieben und treiben Not
und Armut und eine verhangene Zukunft sie aus dem Land […]. In West-Berlin sind rund
11.700 Polen registriert, andere leben illegal, meist bei Verwandten.“
Trotz der schwierigen aufenthaltsrechtlichen Umstände haben es die meisten Zuwanderer aus
Polen fertig gebracht, sich in der deutschen Gesellschaft sowohl ökonomisch als auch sozial
und kulturell relativ schnell zu integrieren. Um nicht auf staatliche Hilfe angewiesen zu sein,
nahmen sie jede mögliche Arbeit an. Vielen Akademikern, die keine Arbeit finden konnten,
blieb nichts anderes übrig, als ganz unten anzufangen, wie es die West-Berliner
Ausländerbeauftragte Barbara John nicht ohne Anerkennung feststellte.
Ende der 90er Jahre und Anfang 2000 besaßen die allermeisten polnischen Emigranten, die in
den 70er und 80er Jahren nach Deutschland kamen, auch ohne deutschen Pass einen
geregelten aufenthaltsrechtlichen Status und wurden im Allgemeinen zum anerkannten
Bestandteil der deutschen Gesellschaft. Als EU-Bürger erhielten sie mit dem EU-Beitritt
Polens 2004 einige weitere Rechte. Das hat ihre Position sowohl gegenüber dem deutschen
aber auch gegenüber dem polnischen Staat gestärkt. Die politische Wende in Mittelosteuropa
eröffnete zugleich neue Perspektiven für viele polnische Emigranten, die sich im Exil nicht
erfüllt oder nicht glücklich fühlten. Jeder, der bessere Chancen im Privat- oder Berufsleben in
der alten Heimat erblickte, konnte und kann auch heute dorthin zurückkehren, ohne
irgendwelche Nachteile befürchten zu müssen. Viele polnische Geschäftsleute in Deutschland
haben einen Teil ihrer Aktivitäten nach Polen verlegt und agieren in beiden Ländern.
Zahlreiche polnische Emigranten ohne deutsche Abstammung aber auch Spätaussiedler mit
beiden Pässen haben inzwischen eine Wohnung oder ein Haus in ihrer alten Heimat. Durch
die neuen politischen und ökonomischen Umstände verlor auch der Status des Emigranten
seine ursprüngliche Bedeutung, glaubt Ewa-Maria Slaska: „Jetzt kann jeder dort leben, wo er
will. Man kann jetzt aus freien Stücken in Deutschland, Frankreich, Amerika oder in Nepal
leben. Das betrifft nicht nur uns Emigranten, sondern auch die Menschen, die in Polen
sind.“22
2. DEUTSCH-POLNISCHE ANNÄHERUNG NACH 1989 ÜBER DIE ODER UND
NEIßE HINWEG
2.1. STETTINS LANGSAMER WEG NACH DEM „NEUEN EUROPA“
22
Ebenda.
Ähnlich wie in Breslau, wurden in Stettin nach 1945 hauptsächlich viele aus den ehemals
polnischen Gebieten stammende Einwohner angesiedelt. Außerdem kamen in die Stadt
mehrere Tausend Ukrainer aus Südostpolen. Im Unterschied zu Danzig oder Breslau, erlebte
die Hafenstadt Stettin in den ersten Jahren nach 1989 keine tief greifende Umwandlung. Das
betraf sowohl die wirtschaftliche Struktur als auch das Stadtbild. Einer der Gründe dafür war
die Politik des ehemaligen Stadtpräsidenten Marian Jurczyk. Der angesehene Held der
Solidarnosc-Bewegung entpuppte sich auf seinem Posten vor allem als innovationsscheu und
misstrauisch gegenüber ausländischen Investitionen, allen voran denen aus Deutschland.
Genauso argwöhnisch schielten die polnischen Rechten auf ein vorsichtiges deutsches
Engagement.
In den letzten Jahren macht sich in Stettin ein langsamer aber stetiger Aufschwung
bemerkbar. Eines der Anzeichen dafür sind die steigenden ausländischen Investitionen sowie
die neu entstandenen Häuser im alten Stadtkern, die man angelehnt an die alten Pläne und
Fotos erbaut hat. Auch wird Deutschland von den neuen Stettiner Regierenden immer mehr
als Partner angesehen und man hofft auf die Zusammenarbeit. Zum wohl wichtigsten
politischen Symbol der neuen Entwicklung zwischen Deutschland und Polen wurde das
Multinationale Korps Nord-Ost (MNK NO; Multinational Corps North-East, MNC NE). Der
aufgrund des Beschlusses von 1998 zwischen Dänemark, Polen und Deutschland aufgestellte
gemeinsame militärische Großverband, wurde am 18. September 1999 in Stettin in Dienst
gestellt. Gegenwärtig gehören deutsche bzw. dänische Soldaten zum Straßenbild der Stadt.
Für die Stettiner Bürger ist das gutnachbarliche polnisch-deutsche Miteinander heutzutage
Normalität. Im Rahmen einer groß angelegten Initiative wurde vor kurzem auf dem Stettiner
Zentralfriedhof ein Lapidarium, d.h. eine zentrale Grabstätte für die dort begrabenen
deutschen Stettiner eingeweiht. Man renoviert auch viele deutsche Baudenkmäler und Tafeln
und hält die deutsche Vergangenheit der Stadt als gemeinsames Gut. Dies meinen viele
Stettiner. Bei einem Volksentscheid über die Ernennung des Stettiner des Jahrhunderts
gewann zwar der erste polnische Bürgermeister von Stettin nach 1945, Piotr Zaremba. Die
nächsten Plätze hinter ihm belegten aber zur Überraschung von vielen zwei Deutsche, und
zwar noch von mehreren polnischen Kandidaten. Mit dem Platz zwei bedachten die Polen den
ehemaligen deutschen Oberbürgermeister in den Jahren 1878-1907 und Ehernbürger von
Stettin, Doktor Hermann Haken. Mehr noch. Trotz starker Widerstände seitens der polnischen
rechts-nationalen von der Liga der Polnischen Familien wurde vor kurzem auch ein Platz in
Stettin nach Hermann Haken benannt, und zwar „rondo Hakena“. Die Bürger haben vor allem
seine Verdienste um den Ausbau und die Entwicklung der Stadt anerkannt, sagt der Stettiner
Journalist Zbigniew Plessner.
2.2. BRESLAUS DRANG NACH WESTEN
Mit 75 % der kriegsbedingten Vernichtung der Bausubstanz und Infrastruktur gehörte Breslau
nach 1945 zu den am meisten zerstörten Städten Europas. Die nach der Flucht, Aussiedlung
und Vertreibung der deutschen Bevölkerung angesiedelten polnischen Einwohner, meist
polnische Umsiedler und Vertriebene aus den ehemals polnischen Ostgebieten, bauten die
Stadt wieder auf. Der mit der politischen und wirtschaftlichen Umgestaltung nach dem Ende
des Kommunismus eingesetzte Boom in Polen erfasste auch die schlesische Metropole an der
Oder. Viele namhafte Firmen und Konzerne eröffnen in Breslau ihre Filialen oder bauen ganz
neue Unternehmen auf. In der Stadt wachsen wie Pilze moderne Technologiezentren,
Produktions- und Dienstleitungsunternehmen mit Kapital aus Europa, Asien und Amerika.
Darunter befinden sich immer mehr deutsche Investoren, sagt der neu gewählte alte
Stadtpräsident Rafał Dutkiewicz. Und das war nicht immer so, meint er: „Ziemlich lange galt
es in Deutschland als politisch unkorrekt, in Breslau zu investieren. Also lieber in Posen oder
Warschau oder Krakau, um die Frage zu vermeiden, wieso gerade in Breslau.
Glücklicherweise ist die Zeit vorbei. Jetzt investiert man einfach . Ich würde sagen, die
deutschen Investitionen sollten noch weiter wachsen, dass wir eine deutliche Beschleunigung
bekommen, weil das Wirtschaftliche das Wichtigste ist.“ Die pragmatische Einstellung und
der Verzicht auf die große Politik erlauben es Rafał Dutkiewicz, so zu handeln, wie er es für
richtig für die Stadt hält. Auch dadurch kann er weiterhin auf die Zusammenarbeit mit
Deutschland bauen. Dabei hat die Stadt sehr viel anzubieten, meint er: „Also gute Arbeitskraft
für einen guten Preis. Das ist etwas, was wir anbieten können. Und gleichzeitig wenn Sie dazu
die geographische Lage nehmen, dann ist es schon interessant, weil es wirklich nah ist. Also
aus Nürnberg das sind 600 Kilometer. Also wenn die Autobahn fertig ist, das sind 4-5
Stunden. Aus München 800 Kilometer. Aus Berlin 300. Und der Zugang des
Autobahnsystems wird bald wirklich gut sein.“
Der deutsche Hauptgeschäftsführer und Vorstandsmitglied der Deutsch-Polnischen Industrieund Handelskammer, Lars Bosse beurteilte in einem Interview die wirtschaftliche
Entwicklung in Niederschlesien sehr gut. Zu den Gründen zählt er neben der geografischen
Lage auch die qualifizierten Arbeitskräfte und die gute Atmosphäre bei den Behörden vor Ort:
„Die Grenznähe der Region Niederschlesien ist sehr positiv für die Entwicklung. Die
Infrastruktur, die Autobahnanbindung, der Flughafen, die Bahnverbindung – all das führt
dazu, verbunden mit der Universität, den vielen Studenten hier, dass die Region sich sehr gut
entwickelt. Das Investitionsklima hier in Niederschlesien ist sehr gut. Viele Unternehmer,
viele Mitarbeiter auch der Stadtverwaltung sprechen Deutsch. Das erleichtert die Arbeit. Die
Chancen auch für kleine und mittelgroße Firmen aus Deutschland sind deshalb recht gut“,
meint Lars Bosse.
Das Familienunternehmen Stieblich Hallenbau aus Güstrow bei Rostock hat schon vor über
15 Jahren die Chancen auf dem polnischen Markt erkannt und gründete eine polnische
Tochtergesellschaft in Niederschlesien, sagte ihr Leiter, der Diplom-Ingenieur Uwe Stieblich,
in einem Interview. Seine Firma baut Produktionshallen, moderne Logistikzentren und
Lagerhallen mit Bürogebäuden. Die ersten sieben Jahre des Engagements in Polen waren für
seine Firma alles andere als positiv. Es gab Schwierigkeiten mit der Bürokratie und den
damaligen alten Vorschriften. Auch gab es anfangs wenige Aufträge. In den letzten Jahren hat
sich das sehr umgeschlagen. Die Auftragsbücher sind voll und die Firma sieht äußerst positiv
in die Zukunft, und zwar was Personal, die Aufträge und den Gewinn angeht.
Mehr Chancen als Risiken in der direkten Nachbarschaft zwischen Niederschlesien einerseits
und Sachsen, Brandenburg und Berlin andererseits sieht auch der Leiter der Abteilung
Stadtentwicklung in Breslau, Grzegorz Roman. Die bisherigen Erfahrungen bestätigen, dass
die grenzüberschreitende Kooperation die mit den polnischen Nachbarregionen übertrifft,
sagte er in einem Zeitungsinterview: „Natürlich konkurrieren alle miteinander. Wir auch, und
zwar nicht nur mit Sachsen, Brandenburg, sondern auch mit den polnischen
Nachbarwojewodschaften und etwas mit Tschechien. Das Interessante dabei ist, dass wir die
stärksten partnerschaftlichen Beziehungen nicht mit den polnischen Wojwodschaften, sondern
mit den deutschen Regionen haben. Und im Rahmen der EU-Programme wie z.B. Via Regia
arbeiten wir eben mit Sachsen, Brandenburg und interessanterweise auch mit Berlin am
engsten zusammen. Es ist erstaunlich, aber angeblich ist eine gute Zusammenarbeit eben dann
möglich, wenn man ähnliche Produkte und Dienstleitungen anbietet und miteinander
konkurriert. Und bei uns wird das bestätigt.”
2.3. GEMEINSAM STUDIEREN –
SŁUBICE UND FRANKFURT/ODER
In dem beschaulichen Städtchen Slubice mit seinen 17.000 Einwohnern sind die Studenten
und Studentinnen auf den ersten Blick zu erkennen. Sei es, dass sie am Collegium Polonicum
studieren – was alleine schon 1.500 von ihnen tun. Sei es, dass sie an der Viadrina, mithin auf
der deutschen Seite, studieren, aber in den Studentenheimen in Slubice wohnen. Andere
wiederum kommen einfach mal zum Bummeln oder zum Einkaufen auf die andere Oderseite.
Das auf der anderen Oderseite von Frankfurt / Oder am 12.10.1998 feierlich eröffnete
Collegium Polonicum bildet - wie es offiziell heißt - „eine neue Form grenzüberschreitender
Zusammenarbeit auf dem Gebiet von Forschung und Lehre. Es wird in gemeinsamer
Verantwortung von der Republik Polen und dem Land Brandenburg getragen. Es ist eine
gemeinsame wissenschaftliche Einrichtung der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)
und der Adam-Mickiewicz-Universität Poznań (Posen).“ Darüber hinaus übernimmt das
Collegium Polonicum die Rolle eines Begegnungszentrums für den Bereich Wissenschaft und
Kultur, Konferenzen, Seminare, Ausstellungen und populärwissenschaftliche Veranstaltungen
mit dem Ziel, die deutsch-polnischen Beziehungen zu stärken und zu verbessern, heißt es auf
der Internetinfoseite.
2.4. GEMEINSAM GEGEN VORURTEILE –
DEUTSCH-POLNISCHER JOURNALISTENCLUB „UNTER DEN STEREO-TYPEN“
Die Gründungsidee des Deutsch-Polnischen Journalistenclubs mit Sitz in Potsdam
entwickelten die Teilnehmer der Konferenz „Zum Bild des Nachbarn in der Presse des
Grenzgebiets“ im Herbst 1993. Er existierte zunächst als informeller Kreis bei der DPG
Brandenburg. Ansprechpartner waren von Anfang an Ruth U. Henning auf deutscher und
Andrzej Kotula auf polnischer Seite. Ende 1997 beschlossen die Clubmitglieder, einen
eigenständigen Verein zu gründen. Seine Aktivitäten beinhalten u.a. eine jährliche dreitägige
Konferenz zu jeweils aktuellen, kontroversen Themen, die in der Regel in der Zeitschrift
TRANSODRA zweisprachig dokumentiert werden; die Organisierung von Studienreisen (z.B.
mecklenburgisch-polnisches Grenzgebiet, Europäische Kommission in Brüssel; polnische
Ostgrenze u.a.), die Herausgabe der Zeitschrift TRANSODRA (seit 1993) und des deutschpolnischen Pressedienstes „TRANSODRA-SPEZIAL – Kreuz und quer über die Grenze“ (seit
1996). Darüber hinaus bietet er Hilfe für Journalisten/innen, die Kontakte suchen oder bei
eventuellen Recherchen im jeweils anderen Land Hilfe benötigen. Der Journalistenclub wurde
im Jahre 1997 mit dem jährlich vergebenen Deutsch-Polnischen Preis ausgezeichnet.
3. MENSCHLICHE DIMENSIONEN DER POLITISCHEN ANNÄHERUNG POLEN LASSEN SICH IN DEUTSCHLAND UND DEUTSCHE LASSEN SICH IN
POLEN NIEDER
Die Entwicklung der politischen und wirtschaftlichen Situation in Europa nach dem Fall des
Eisernen Vorhangs ließ neue Perspektiven und Möglichkeiten entstehen, die den Begriff
deutsch-polnische „Migration“ teilweise neu definieren lassen. Ein Beispiel dafür lieferten
u. a. tausende polnische Familien aus der Wojewodschaft Westpommern, die 2004 und später
in Mecklenburg-Vorpommern Wohnungen oder Häuser gemietet bzw. gekauft haben, dorthin
umgezogen sind und jetzt unter Deutschen wohnen. Immer mehr Deutsche lassen sich
andererseits in Polen nieder, arbeiten oder leben dort als Rentner.
3.1. Beispiel Mecklenburg-Vorpommern
Trotz der vielen Bauinvestitionen im Wohnungsbereich herrscht in den polnischen
Ballungsräumen immer noch ein großer Mangel an bezahlbarem Wohnraum. Auch die hohen
Mieten und Preise für Wohnungseigentum, die bereits die in manchen deutschen Städten
übersteigen, machen es vielen vor allen kinderreichen Familien unmöglich, eine geeignete
Wohnung zu finden. Einen Ausweg sehen immer mehr meist junge Leute aus Stettin und
Umgebung in Deutschland, zumal an der deutsch-polnischen Grenze. In manchen Dörfern
und Ortschaften in Mecklenburg-Vorpommern helfen sie dadurch, die großen
Wohnungsleerstände zu beseitigen und viele Häuser vor dem Abriss zu bewahren. Diese sind
durch den Wegzug von bis zu 30 % der ehemaligen Einwohner entstanden, die dort keine
wirtschaftliche Perspektive mehr für sich sahen. Auch die schwach strukturierte Region
beginnt von der Entwicklung zu profitieren, zumal sich dort immer mehr polnische
Unternehmer niederlassen und investieren.
In vielen Ortschaften, Dörfern bzw. Städten im Kreis Uecker-Randow Mecklenburg
Vorpommern gehören die bereits über Hundert polnischen Familien zum Straßenbild. Meist
sind es junge Leute mit Kindern, die in Penkun, Grambow, Bismark oder Löcknitz ein
Zuhause gefunden haben. Fast alle arbeiten weiterhin in Stettin oder Umgebung, kehren nach
der Arbeit aber nach Hause nach Deutschland zurück. Ihre Kinder gehen fast ausnahmslos auf
deutsche Schulen. Lothar Meistring, der Bürgermeister von Löcknitz, einer Ortschaft mit
3000 Einwohnern, gehört zu den größten Befürwortern der Ansiedlung von polnischen
Familien. Ansonsten würde die Gegend noch mehr unter der Abwanderung von Menschen
und Wirtschaftskraft leiden, ist er überzeugt.
3.2. Beispiel Görlitz / Zgorzelec
Laut Einwohnermeldeamt in Görlitz wohnen zurzeit insgesamt 1773 ausländische Personen in
der Stadt, die meisten davon Polen. Beliebte Wohnorte der ausländischen Mieter sind vor
allem die Innenstadt, die Historische Altstadt und die Südstadt. Entscheidend für den Umzug
waren für die polnischen Bürger vor allem die bezahlbaren Mieten und das große Angebot an
Wohnungen. Neben Polen leben auch noch andere Nationalitäten wie Griechen, Bulgaren,
Vietnamesen, Türken oder Italiener in der Stadt.
3.3. Beispiel Muhrau / Morawa
Die Frage der Rückkehr von Deutschen in die verlorene Heimat weckte in Polen nach 1945
Ängste wegen des befürchteten erneuten Verlustes der Häuser oder Bauernhöfe. Das Beispiel
der 76-jährigen Melitta Salai, geborene von Wietersheim-Kramsta, bezeugt eine ganz andere
unerwartete Entwicklung. Nach 50 Jahren und nach weiten und schwierigen Umwegen über
einige Länder ist sie in ihr Geburtshaus in Niederschlesien zurückgekehrt. Glücklicherweise
überstand das prächtige Herrenhaus den Krieg und wurde nicht durch die sowjetischen
Soldaten niedergebrannt. Nach 1945 wurde das ehemalige Gut der Familie von WietersheimKramsta in eine LPG umgewandelt und in dem riesigen Haus befanden sich die Büroräume.
Mit Beginn der sich verstärkenden deutsch-polnischen Kontakte in den 70er und den 80er
Jahren besuchten einige Mitglieder der Familie von Wietersheim-Kramsta mehrmals ihr
ehemaliges Gut. Das Angebot des polnischen LPG-Direktors, in dem Haus etwas aufzubauen,
nahmen sie ernst und beschlossen, einen Kindergarten für Kinder aus armen Familien zu
gründen. Um die Sache vor Ort zu betreuen, kam die damals 62jährige Melitta Salai in ihr
Geburtshaus zurück und ist bis heute geblieben.
In den Räumen des inzwischen renovierten Gebäudes befindet sich neben der
”Kindertagesstätte St. Hedwig” auch eine deutsch-polnische Jugendbegegnungsstätte. Nach
dem anfänglichen Misstrauen der Dorfbevölkerung und der Kreisbehörden ist Melitta Salai
heute eine anerkannte und sehr geschätzte Person. In der polnischen Presse sind mehrere
Artikel über sie erschienen und im Fernsehen liefen einige Berichte über ihr Schicksal. Seit
einigen Jahren besitzt Melitta Salai die polnische Staatsbürgerschaft.
3.4. Beispiel Neuwarp / Nowe Warpno
Vor 1945 gehörte Neuwarp, wie der auf einer Halbinsel zwischen dem Neuwarper See in
Mecklenburg-Vorpommern und dem Stettiner Haff liegende Badeort auf Deutsch heißt, zu
Deutschland. Die letzten dort noch verbliebenen von den ursprünglich 2000 deutschen
Einwohnern mussten 1947 ihn verlassen. Bis zur politischen Wende 1989 trauten sich nur
wenige ehemalige Neuwarper, ihre alte Heimat zu besuchen. Seit einigen Jahren – immer
Ende April und Anfang Mai - besuchen ein paar Dutzend von ihnen zusammen mit einigen
auf dem Gebiet der ehemaligen DDR lebenden Neuwarpern jetzt regelmäßig ihre
Heimatstadt. In Nowe Warpno, wie der Ort auf Polnisch heißt, werden sie nicht nur von
einigen Behördenvertretern offiziell begrüßt. Unter den Einheimischen befinden sich auch der
gebürtige Neuwarper Uwe Conrad und seine in Stettin geborene Frau Margit, die dort seit 7
Jahren leben.
Nachdem Uwe Conrad mit seiner Familie 1947 Neuwarp verließ, lebte er im nahen Rieth auf
der anderen, der deutschen Seite des Haffs. Von dort aus konnten sie die Glocken der
Neuwarper Kirche hören. Auch wussten sie, dass ihr ehemaliges Haus immer noch steht und
in Ordnung gehalten wird. Kurz vor der politischen Wende in der DDR bekamen Uwe Conrad
und seine Familie die Erlaubnis zur Ausreise in die Bundesrepublik. Als er Rentner wurde,
beschloss er zusammen mit seiner körperlich schwer behinderten Frau, in die alte Heimat
zurückzukehren. Da sie in Altwarp kein geeignetes Grundstück finden konnten, haben sie sich
vor fünf Jahren eins in ihrer Heimatstadt Neuwarp gekauft und dort ein Haus gebaut: „Und
jetzt sind wir ´w Nowym Warpnie´ (in Nowe Warpno) und haben keinen Tag bereut.
Inzwischen sind wir halbe Polen schon von unserer Gefühlsmäßigkeit. Die Polen sind, es ist
ein ganz warmherziges, stolzes, bescheidenes Volk mit einer alten reichen Kultur und
Tradition. Also was wir hier für phantastische Menschen kennen gelernt haben! Wir fühlen
uns absolut wohl. Wir wollen nichts zurück haben von dem, was wir hatten. Da muss mal
Schluss sein. Die müssen in Frieden leben und auch zur Ruhe kommen, die Polen. Und
niemand ist schuld daran. Niemand kann was dafür von den Polen, dass er hier ist“, betont
Uwe Conrad.
3.5. Beispiel Küstrin / Kostrzyn
Auf der polnischen Seite der Oder befindet sich heute der größere Teil des Stadtgebietes von
Küstrin, und auf der deutschen Seite die ehemalige Vorstadt Küstrin-Kietz sowie das
Küstriner Vorland. Vor dem Krieg zählte die Stadt 24 000 Einwohner. Heute wohnen in
Kostrzyn, ehemals Küstrin-Neustadt, etwa 18.000 Menschen, meist Nachkommen der aus
dem ehemals polnischen Osten Vertriebenen Polen. Während Küstrin-Neustadt von den
polnischen Einwohnern nach dem Krieg wieder aufgebaut wurde, zeugen von der Altstadt nur
noch gespenstisch anmutende Ruinen. Auch deshalb nennt man die Altstadt auch das
Küstriner Pompeji. Immer mehr deutsche Touristen besuchen die Reste der Festungsanlagen.
Inmitten der Ruinenstadt befindet sich ein Imbisswagen von Klaus Ahrendt (45). Nach
Küstrin hat ihn im Sommer 2000 die Abenteuerlust verschlagen. Da es ihm dort so gefallen
hat, beschloss er, etwas länger in Polen zu bleiben und zu arbeiten. Anfangs versuchte Klaus
Ahrendt, sich in seinem Beruf als Versicherungskaufmann zu betätigen. Da es ihm an
Sprachkenntnissen vor allem am Fachjargon fehlte, beschloss er, sich beruflich
umzuorientieren und einen Imbiss zu betreiben. Er hat in Küstrin geheiratet und sich auch
wirtschaftlich etabliert. In der Nachsaison schließt Klaus Ahrendt seine Minigastronomie und
führt Besuchergruppen aus Deutschland durch die zum Teil freigelegten Strassen der Altstadt
und die umliegenden Forts und Bunkeranlagen. Dank seinen inzwischen sehr guten
Polnischkenntnissen führt er auch polnische Reisegruppen nach Berlin und Potsdam. 2011
Jahr soll Klaus Ahrendt die polnische Staatsbürgerschaft bekommen.
3.6. Beispiel Misdroy / Miedzyzdroje
Vor dem EU-Beitritt Polens im Mai 2004 warnten national gesinnte Politiker an der Weichsel
vor einer möglichen Invasion ausländischer Immobilienhändler und Spekulanten. Um dem
befürchteten massiven Ausverkauf billiger Ländereien und Grundstücke zuvorzukommen,
wurden zeitlich begrenzte Einschränkungen beschlossen und auch für den Erwerb von
Häusern und Wohnungen mit Anteil am Grund und Boden wurde eine Genehmigungspflicht
seitens des Innenministeriums eingeführt. Mit der polnischen EU-Mitgliedschaft wurde diese
teilweise aufgehoben. So können Ausländer jetzt Eigentumswohnungen in ganz Polen völlig
frei kaufen. Unter den Interessenten gibt es immer mehr Deutsche, die 2006 den dritten Platz
belegt haben. Im Unterschied zu den Briten, Iren oder Spaniern, die Wohnungen in
polnischen Großstädten wie Warschau, Krakau oder Breslau meist als Geldanlage kaufen,
suchen sich viele Deutsche ihre Wohnungen auch in kleineren Städten und Ortschaften als
Urlaubsdomizile aus. Dies übrigens nicht erst seit dem polnischen EU-Beitritt, sondern bereits
seit Mitte der 1990 Jahre. Ein Beispiel dafür ist Misdroy an der Ostsee.
Wie vor 1945 die Deutschen, leben auch die meisten heutigen Einwohner Misdroys vom
Tourismus. Die zahlenmäßig größte Gruppe bilden Touristen aus Deutschland. Den
34jährigen Immobilienhändler aus Misdroy, Piotr Kwiecien, wundert es nicht: „Sie fühlen
sich hier sehr gut. Die Angestellten in den Hotels, Pensionen und Restaurants sprechen fast
alle mehr oder weniger Deutsch oder Englisch, so dass es keine Sprachschwierigkeiten gibt.
Es gibt auch Sentimentaltouristen zwischen 60 und 70 Jahren, die oftmals von hier oder der
Umgebung stammen und gerne diese Gegend besuchen.“ Seit 10 Jahren ist Piotr Kwiecien
Mitbesitzer des wohl bekanntesten Immobilienbüros in Misdroy, „Avril Immobilien“. Das
Geschäft läuft gut, denn immer mehr Besucher auch aus Deutschland und anderen Ländern
verfallen dem Charme von Misdroy und kaufen sich dort Eigentumswohnungen, meint der
Immobilienfachmann: „Sicherlich hängt es mit dem polnischen EU-Beitritt und der
Liberalisierung der Vorschriften über den Immobilienerwerb durch Ausländer zusammen. Bei
den Wohnungen gibt es jetzt nämlich keine Beschränkungen. Schade nur, dass diese
Information in Deutschland nicht genug verbreitet ist. Und sie dürfen es doch seit dem
polnischen EU-Beitritt und vor allem nach der Ostverschiebung der Schengener Grenze“.
Elżbieta Opiłowska
GEGENWART UND ERINNERUNG – DAS DEUTSCHE UND POLNISCHE
KULTURERBE AN DER ODER
Der Fluss „als stabiles Element einer natürlichen Landschaft nahm und nimmt nach wie vor
[...] unmittelbar Einfluss auf die urbanistisch-architektonischen Lösungen der an den Flüssen
gelegenen Städte, Dörfer und Siedlungen, auf ihre Berufsstruktur, ihre Transport- und
Verkehrsysteme und schließlich auf die Rhythmen und Zyklen des Alltags, und damit auf die
einzelnen und gemeinsamen Schicksale“ – schreibt der Soziologe Marek S. Szczepański.23
Im Jahre 1945, infolge der Grenzverschiebung wurde der Fluss zur hermetischen Grenze
zwischen zwei Staaten. Der Raum am Fluss musste neu definiert werden, man versuchte neue
Identifikationsmuster zu schaffen. Die englische Sprache unterscheidet zwischen dem
abstrakten Konzept von „Raum“ (space) und der konkreten Verwirklichung in Form von
Landschaft (place). Susanne Kühling weist darauf hin, dass diese Dichotomie die
Unterscheidung zwischen objektivem, geometrischem Raum und subjektiv erlebter, im
ständigen Wandel befindlicher Landschaft impliziert. In der Ethnologie bedeutet Landschaft
eine Beziehung zwischen Mensch und Umwelt. Elemente des Raumes können Symbole oder
Gedächtnisstützen darstellen. Landschaft wird subjektiv erlebt. Landschaft wird von
individuellen Assoziationen und kulturellen Zuschreibungen geprägt.24
1945 sollte die subjektiv erlebte deutsche Landschaft polnisch werden: Das gesamte Erbe,
nicht nur Kunstdenkmäler, bekannte Erinnerungsstätte, sondern auch das, was den Alltag der
Menschen bestimmte, von den Straßen- und Ortsnamen bis hin zu Bibliotheken und Schulen.
Das Abbild dieser Wirklichkeit, bemerkte Gerhard Labuda, im Empfinden der Ausgesiedelten
„seit alters her“ deutsch, setzte sich in deren Gedächtnis fest wie das Bild eines plötzlich
angehaltenen Films.25
Was diese Zeit prägte, waren Chaos, Willkür, Ausfuhr und Diebstahl von Kulturgütern und
der sog. „Szaber“ – Plünderungen. Es ist kaum möglich festzustellen, was und wie viel in
dieser Periode aus den deutschen Museen, Herrenhäusern, Schlössern, Kirchen und
Privathäusern zuerst von den sowjetischen Armee und dann von den Plünderern geraubt und
abtransportiert wurde.
Die Einstellung der neuen Ansiedler zum deutschen Kulturgut war nach den Kriegs- und
Okkupationserfahrungen eindeutig negativ. Deswegen wurden die Entfernung der deutschen
23
Szczepanski, Marek S: Socjologia przestrzeni i przestrzeń kulturowa rzeki. Impresje socjologiczne
(Raumsoyiologie und Kulturraum eines Flusses. Soyiologische Impressionen), in: Karta Kulturowa Rzeki 1993, S.
27f.
24
Vgl. Kühling, Susanne: Landschaft, in: Pethes, Nicolas/Ruchatz, Jens (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung
als interdisziplinäres Lexikon, Reinbek bei Hamburg 2001, S. 339f.
25
Labuda, Adam S.: Das deutsche Kunsterbe in Polen. Ansichten, Stereotypen und Meinungen nach dem
Zweiten Weltkrieg, in: Tomaszewski, Andrzej/ Winterfeld von, Dethard (Hg): Das gemeinsame Kulturerbe. Die
deutsch-polnische Zusammenarbeit in der Denmalpflege 1970 – 2000, Deutsch-polnische Edition, Warszawa
2001 , S. 31-47, hier S. 32.
Inschriften oder Zerstörung der deutschen Denkmäler als Akt des Patriotismus
wahrgenommen.
Die Aneignung des fremden Terrains: Entdeutschung und Repolonisierung
Die Angliederung der deutschen Gebiete wurde mit dem Piasten-Mythos legitimiert.26 Es
wurde die Lebendigkeit und Dauerhaftigkeit der piastischen Traditionen in den neuen
Westgebieten betont. Man sprach von der „Rückkehr der Piasten-Länder“ an das Mutterland.
Die „Wiedergewonnenen Gebiete“ wurden von der kommunistischen Macht als
Integrationsfaktor betrachtet, der die Gesellschaft an die neue Macht binden sollte.27 Die
kommunistische Macht in Zusammenarbeit mit der Sowjetunion sollte als Garant der
Westgrenze fungieren. Die Besiedlung und Bewirtschaftung der Westgebiete war die Priorität
der neuen Macht, weil sie zur Stärkung der Position Polens auf der internationalen Ebene
beitragen sollten.28 Bereits im Jahre 1944 rief man im Manifest des Polnischen Komitees für
Nationale Befreiung (PKWN) vom 22. Juli alle Polen zum Kampf um Rückkehr der
polnischen Gebiete wie Pommern, Oppelner Schlesien, Ostpreußen, um breiten Zugang zum
Meer und um polnische Grenzsäulen an der Oder auf.29
Doch der Terminus „wiedergewonnene Gebiete“ war keine polnische Nachkriegserfindung,
worauf Beate Störtkuhl hinweist. Vor 1945 war Breslau ein Zentrum der Schlesienforschung.
In der NS-Zeit bildete sich um Dagobert Frey, den Inhaber des Kunstgeschichtslehrstuhls und
Günther Grundmann, den Provinzialkonservator, eine Gruppe kunstgeschichtlicher
„Ostforscher“, die die Einflusssphären deutscher Kunst und Kultur im östlichen Europa
forschten und damit der nationalsozialistischen Expansionspolitik eine wissenschaftliche
Legitimierung lieferten. Nach 1939 entwarf Frey u.a. Propagandaausstellungen wie „Deutsche
Kunst im ehemaligen Polen“. Grundmanns Band “Deutsche Kunst im befreiten Schlesien“30
gehörte zu den NS-Publikationen, die der Öffentlichkeit „Wiedergewonnenes deutsches
Land“ nahe zu bringen suchten.31
26
Zur Entstehungsgeschichte des Piasten-Mythos vgl.: Strzelczyk, Jerzy: Die Piasten – Tradition und
Mythos in Polen, in: Saldern von, Adelheid (Hg.): Mythen in Geschichte und Geschichtsschreibung aus
polnischer und deutscher Sicht, Münster 1996, S. 113-131.
27
Vgl. Kersten. Krystyna: Narodziny systemu władzy (Die Geburt des Machtsystems), Poznań 1990, S.
147
28
Vgl. Tyszkiewicz, Jakub: Propaganda Ziem Odzyskanych w prasie Polskiej Partii Robotniczej w latach
1945-1948 (Propaganda der Wiedergewonennen Gebiete in der Presse der Polnischen Arbeiterpartei 19451948), in: Przegląd Zachodni 4 (1995), S. 115-122.
29
Vgl. Sudziński, Ryszard: Taktyka i propaganda władz komunistycznych w stosunku do ziem
odzyskanych w latach 1944-1949 (Strategie und Propaganda der kommunistischen Macht in Bezug auf die
Wiedergewonnenen Gebiete in den Jahren 1944-1949), in: Łach, Stanisław (Hg.): Władze komunistyczne wobec
ziem odzyskanych po II wojnie światowej. Materiały z konferencji (Das Verhältnis der kommunistischen
Machthaber zu den Wiedergewonnenen Gebieten nach dem Zweiten Weltkrieg. Konferenzmaterialien), Słupsk
1997, S. 7-27, hier. S. 8.
Grundmann, Günther: Deutsche Kunst im befreiten Schlesien. Breslau 1940; Wiedergewonnenes
deutsches Land, 1941.
30
31
Vgl. Störtkuhl, Beate: Das Bild Schlesiens in Darstellungen zur Kunst- und Kulturgeschichte nach 1945
– vom „wiedergewonnen Land“ zum „gemeinsamen Kulturerbe“, in: Bingen, Dieter, Loew, Peter Oliver. Popp,
Nach 1945 sollten nun polnische Wissenschaftler den Nachweis liefern, dass die
„Wiedergewonnenen Gebiete“ als Kernländer des mittelalterlichen polnischen Piastenreichs
stets dem „Mutterland“ verbunden geblieben waren, zu dem sie nun jetzt „zurückkehren“.
Eine wichtige Rolle dabei spielte das 1944 gegründete Westinstitut. Zygmunt Wojciechowski,
der Direktor des Westinstituts, hat als die wichtigste Aufgabe für sich selbst und die polnische
Gesellschaft Folgendes gesehen: „den Deutschen die polnischen Gebiete auf Dauer
wegzunehmen und zu einer Bastion des Slawentums auszubauen, gestützt auf unseren
östlichen Nachbarn, mit dessen Hilfe wir im Bedarfsfall rechnen können“32. 1948
veröffentlichte er die Monographie der Oder, in der er die Bedeutung des Flusses für
polnische Geschichte in den Vordergrund stellte.
Zu den Zentren des „Westgedankens“ zählten aber auch Schlesisches Institut in Oppeln und
Ostseeinstitut in Danzig. Es entstanden solche Publikationen wie z. B. 1947 von Władysław
Grabski „200 miast wraca do Polski“33 (200 Städte kehren zu Polen zurück), oder ein
Sammelband „Niederschlesien“ von Kiryl Sosnowski und Mieczysław Suchocki34 und die
Monographie von Tadeusz Dobrowolski „Sztuka na Śląsku“35. In den Texten wurden die
Piasten hervorgehoben, deutsche Einflüsse vermindert und statt deren französische und
italienische betont.
Stanisław Lorentz, der Kunsthistoriker und Direktor des Nationalmuseums in Warschau
(1936-1982) forderte nach Genugtuung: Die von den Deutschen bewusst zerstörten
polnischen Kulturgüter sollten nun aus deutschen Beständen ausgeglichen werden.36 Auch
Edmund Osmańczyk, der in den Nachkriegsjahren als einer der ersten die Notwendigkeit der
Zusammenarbeit mit Deutschland sah und den Blick nicht in die Vergangenheit, sondern in
die Zukunft forderte, schrieb 1945 wie folgt:
Vor sechshundert Jahren ging das ermorderte kaschubische Danzig verloren. Nach der
Weichselkehle griffen die Hände des Deutschen Ordens. All diese herrlichen,
polnischen Königsadler, Privilegienurkunden und Streitakten haben heute den Sinn,
sagen wir es endlich, uns die historische Schwäche Polens vor Augen zu führen. [...]
Drei Tage vor der Ankunft in Danzig war ich in Warschau. Dort wurde in mir ein
Aufruhr geboren, der Wahnsinn angesichts der Unwiederbringlichkeit des alten
Warschau. [...] In Danzig registrierte ich kühl die Zerstörung. Vielleicht bin ich ein
Barbar, doch wenn Prof. Jan. Kilarski, der verdiente Historiker des Polentums Danzigs,
über die Unmöglichkeit spricht, die Marienkirche wiederaufzubauen, finde ich in mir
eine unziemliche Freude. Wenn schon alle Gassen des alten Danzig, das Stadtzentrum,
abgebrannt und in Schutt und Asche gelegt sind, wenn die Danziger Kräne und Speicher
Dietmar (Hg.): Visuelle Erinnerungskulturen und Geschichtskonstruktionen in Deutschland und Polen seit
1939/Wizualne konstrukcje historii i pamieci historycznej w Niemczech i w Polsce po 1939 roku, Warszawa
2009, S. 49-68.
32
Wojciechowski, Zygmunt: Grunwald, in: Przegląd Zachodni 1 (1945), S. 1-8, hier. S. 7.
33
Grabski, Władysław, Jan: 200 miast wraca do Polski (200 Städte kehren nach Polen zurück) , Poznań
1947.
34
Sosnowski, Kiryl/ Suchocki, Mieczysław Suchocki (Hg): Dolny Śląsk (Niederschlesien), Poznań 1948.
35
Dobrowolski, Tadeusz: Sztuka na Śląsku (Die Kunst in Schlesien), Katowice 1948.
36
Vgl. Lorentz, Stanisław: O zadośćuczynienie (Um Genugtuung), in: Nowa epoka 2 (1945).
unter Bombenschlägen versunken sind, wenn all das verlorenging, was vom Charakter
der Deutschordenherrschaft in der Weichselmündung übersättigt war, werden wir es
nicht wiederaufbauen, noch den Trümmern Tränen nachweinen... Von Danzig blieb nur
das, was jeder internationale Hafen besitzt, nämlich Hafeneinrichtungen, Werften,
Fabriken, Arbeitervorstädte. Mehr ist für uns nicht nötig. Danzig bauen wir endlich auf
polnische Art allein auf, nicht für den Deutschordenshochmut.“37
Das Ziel der nationalen Politik der polnischen Kommunisten nach dem Zweiten Weltkrieg
war die kulturelle „Zwangshomogenisierung“38 der Gesellschaft. Das „fremde Element“ sollte
aus Polen und insbesondere aus den neuen West- und Nordgebieten entfernt werden. Dabei
handelte sich um den Zwangsanschluss der „Autochthonen“39 an das polnische Volk40 und im
weiteren um symbolischen Charakter der Polonisierung. Der Hass auf die Deutschen und die
Angst vor ihrer Rückkehr sollten die polnische Gesellschaft integrieren und sie mit der neuen
Staatsgewalt verbinden.
Im Jahr 1948 wurde in Breslau eine „Ausstellung der Wiedergewonnenen Gebiete“41
organisiert. Die Ausstellung stellte den historischen Konflikt zwischen Deutschen und Polen
dar, argumentierte die Oder-Neiße-Grenze mit historischen, politischen und wirtschaftlichen
Begründungen und betonte die Erfolge bei dem Aufbau des Polentums in diesen Gebieten.
Die Ausstellung besuchten ca. 1,5 Millionen Menschen, davon den größten Teil die
organisierten Reisen von Schulkindern und Arbeitern bildeten.42
37
Edmund Osmańczyk, Gdański finał (Danziger Finalle), in: Odrodzenie, Nr 23, vom 6.05.1945, S. 7.
38
Vgl. Stokłosa, Katarzyna: Grenzstädte in Ostmitteleuropa. Guben und Gubin 1945 bis 1995, Berlin
2003, S. 43-49.
39
Die Bezeichnung “Autochthone” ist mit dem Mythos von Wiedergewonnenen Gebieten verbunden.
Polen hatte nämlich seinen Anspruch auf Angliederung der Nord- und Westgebieten u.a. mit der Existenz einer
großen Zahl der dort lebenden, ethnisch polnischen Bevölkerung begründet. Wegen der Herkunft wurden die
Autochthonen, die bisher deutsche Staatsbürger waren, als repolonisierungsfähig angesehen und der
Verifizierungsprozedur unterstellt.
40
Vgl. Nitschke, Bernadetta: Wysiedlenie ludności niemieckiej z Polski w latach 1945-1949 (Die
Aussiedlung der deutschen Bevölkerung aus Polen in den Jahren 1945-1949), Zielona Góra 1999, S. 120;
Strauchold, Grzegorz: Polska ludność rodzima ziem zachodnich i północnych. Opinie nie tylko publiczne lat
1944-1948 (Die polnische autochthone Bevölkerung der West- und Nordgebiete. Nicht nur öffentliche
Meinungen aus den Jahren 1944-1948), Olsztyn 1995, S. 95; Wrzesiński, Wojciech: Problematyka polskiej
ludności rodzimej na ziemiach postulowanych w latach II wojny światowej (Die Frage der polnischen
Autochthonen in den geforderten Gebieten während des Zweiten Weltkriegs), in: Przegląd Zachodni 5-6 (1989),
S. 153-167.
41
Vgl. Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Filia w Lubaniu Śląskim (Staatsarchiv Wrocław, Filiale in
Lauban), Starostwo Powiatowe w Zgorzelcu: Okólniniki władz zwierzchnich 1945-1948, Sign. 29/6: Verordnung
des Chefs des Ministerrates vom 5. April 1948.
42
Vgl. Tyszkiewicz, Jakub: Sto wielkich dni Wrocławia. Wystawa Ziem Odzyskanych we Wrocławiu a
propaganda polityczna ziem zachodnich i północnych w latach 1945-1948 (Hundert große Tage Breslaus. Die
Ausstellung der Wiedergewonnenen Gebieten in Breslau und die politische Propaganda der West- und
Nordgebiete in den Jahren 1945-1948), Wrocław 1997, S. 138; ders. Tereny wystawowe we Wrocławiu i
Die Polonisierung des übernommenen Landes hatte jedoch nicht nur einen propagandistischen
Charakter und kann nicht nur als eine Revanche gegen die verhassten Okkupanten
interpretiert werden. Die Polonisierung sollte die Ängste der Neusiedler abbauen und zu ihrer
besseren Integration beitragen. Sie war eine Bedingung des Lebens der neuen Gesellschaft.
Jacek Kolbuszewski (Polonist an der Universität Wroclaw) schreibt Folgendes dazu:
[...] ein Mensch kann nicht unter Fremden, mit dem Bewusstsein der Vorläufigkeit und
ohne Unterstützung der Vergangenheit und Zukunft leben. Ein Leben nimmt erst dann
die Züge der Dauerhaftigkeit, wenn man ein eigenes Haus hat und wenn man zu Hause
ist. Und ‚zu Hause sein’ bedeutet nicht, dass man eigene materielle Sachen, sondern
dass man seine eigene geistige Atmosphäre hat.43
Der Mythos von wiedergewonnenen Gebieten sollte auch den Verlust der Heimat in den
polnischen Ostgebieten rekompensieren.
Der Begriff Polonisierung bezieht sich auf zwei Aspekte. Einerseits bedeutet er die
Einpflanzung des Polentums in den West- und Nordgebieten, andererseits die
„Entdeutschung/odniemczanie“44 dieser Gebiete, die als Voraussetzung der Polonisierung
galt. Die „Entdeutschung“ beruhte auf der Aussiedlung der deutschen Bevölkerung, der
Entfernung von allen deutschen Spuren und der Bekämpfung jeder Erscheinung der deutschen
Tradition und Kultur bei den Autochthonen.
Alle materiellen deutschen Elemente sollten aus der Öffentlichkeit und später auch aus dem
Privatleben getilgt werden. Es handelte sich hier um Kulturgüter, wie Denkmäler, Bücher,
Andachtstafel etc.45, aber auch um die Entfernung der deutschen Inschriften von Geschirr, aus
den Kleidern und anderen Sachen des täglichen Bedarfs. Die „Denkmäler des deutschen
Hochmuts“, wie sie benannt wurden, hat man nicht als besonders wertvoll angesehen. Die
Polonisierungsaktion sollte auch die Kirchen, Kapellen, Friedhöfe und die Straßenkreuze
umfassen. In den Vergnügungslokalen war das Singen oder Abspielen von deutschen Liedern
streng verboten.46 Die Demontage des Denkmals zur Ehre Wilhelm I. in Świdnicka Str. in
koncepcje ich zagospodarowania w latach 1945-1950 (Die Ausstellungsgälende in Breslau und die Entwürfe
ihrer Benutzung in den Jahren 1945-1950), in: Rocznik Wrocławski 1 (1993), S. 251-264.
43
Vgl. Kolbuszewski, Jacek.: Oswajanie krajobrazu a problematyka integracji kulturowej na Ziemiach
Odzyskanych (Die Aneignung der Umwelt und die Frage der kulturellen Integration in den Wiedergewonnenen
Gebieten), in: Symonides, Dorota (Hg.): Symbolika regionów. Studia etnograficzno-folklorystyczne (Die
Symbolik der Regionen. Ethnographisch-folkloristische Studien), Opole 1988, S. 67.
44
Vgl. Linek, Berndard: “Odniemczanie” województwa śląskiego w latach 1945-1950 (w świetle
materiałów wojewódzkich) (“Entdeutschung” der schlesischen Woiwodschaft in den Jahren 1945-1950 (im
Lichte der Woiwodschaftsmaterialien), Opole 1997.
45
Vgl. Mazur, Zbigniew: Die Einleitung, in: ders. (Hg.): Wokół niemieckiego dziedzictwa kulturowego na
Ziemiach Zachodnich i Północnych (Vom deutschen Kulturerbe in den West- und Nordgebieten), Poznań 1997,
S. I-XXVI.
46
Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Urząd Wojewódzki Wrocławski (Staatsarchiv Wrocław,
Woiwodschaftsamt), Wydział Społeczno-Polityczny, Sprawy repolonizacji, interwencja 1949, Sign. VI/750:
Rundschreiben Nr. 18 des Ministeriums für Wiedergewonnene Gebiete betr. Verstärkung der
Repolonisierungsaktion in den Wiedergewonnenen Gebieten, 26.4.1948.
Wrocław im September 1945 wurde von einer Straßenmanifestation mit Fahnen und
Transparenten begleitet.
Jedoch nicht nur die gezielte Entfernung von deutschen Spuren, sondern einfach auch der
Mangel an Baumaterialien, die zum Aufbau der zerstörten Städte nötig waren, verursachte die
Abtragung von vielen deutschen Baudenkmälern. So wurden oft neben ausgebrannten,
baufälligen Gebäuden, historische Objekte im guten Zustand in den West- und Nordgebieten
„chaotisch“ und planlos, ohne Genehmigung der zuständigen Behörde abgetragen.47 Es
konnten nur die Gebäude erhalten werden, wenn bewiesen wurde, dass sie polnischer
Herkunft waren. Man betrieb also die „Archäologie des Polentums“, wie es Adam Labuda
nach Edmund Kaliski48 nannte.49 1945 wurden aus Schlesien ins Warschauer
Nationalmuseum 28 Waggons und 118 Laster Kunstgut ausgeführt.50
Manche Kunsthistoriker und Konservatoren protestierten erfolglos gegen sinnlose Zerstörung
von deutschen Spuren. 1969 forderte Zdzisław Bieniecki, der Denkmalschützer, den Abschied
von den „nationalistischen Stereotypen“ gegenüber dem übernommenen deutschen Kulturgut.
„Hervorragende Kunstwerke gehören, unabhängig wann und von wem geschaffen, zum
gemeinsamen Schatz der allgemeinmenschlichen Kultur“.51
Anlässlich des 20. Jubiläums des Bestehens der polnischen Kirche in den wiedergewonnenen
Gebieten im Jahre 1965 bezog sich der Erzbischof Bolesław Kominek in seiner Rede auf das
deutsche Kulturerbe:
Wir bemühen uns, alles, was sich an Gutem und Schönem aus der Vorkriegszeit erhalten
hat, zu ehren [...]. Wir wenden nicht den Grundsatz an: Nur für Polen. [...] Wir
wünschen ehrlich, dass die polnische Wirklichkeit der Westgebiete nicht nur alle
Glieder unseres Volkes eint, sondern den Weg zur Verständigung und Frieden mit
unseren Nachbarn bahnt – vor allem mit jenen, denen der nicht von uns
heraufbeschworene Lauf der Kriegsereignisse diese Gebiete weggenommen hat.52
Eine wichtige Rolle bei der Integration der neuen Gesellschaft in den West- und Nordgebieten
und der Polonisierung spielte die Kirche. Sie bildete oft ein erstes Kollektiv und weckte bei
47
Pruszyński, Jan: Ochrona zabytków w Polsce (Der Denkmalschutz in Polen), Warszawa 1989, S. 174 f.,
169f.
48
Kaliski, Edmund: Wrocław wrócił do Polski (Breslau kehrte nach Polen zurück), in: Skarpa Warszawska
1946, Nr. 9. S. 4.
49
Labuda, Adam S.: Das deutsche Kunsterbe in Polen. Ansichten, Stereotypen und Meinungen nach dem
Zweiten Weltkrieg, in: Tomaszewski, Andrzej/ Winterfeld von, Dethard (Hg): Das gemeinsame Kulturerbe. Die
deutsch-polnische Zusammenarbeit in der Denmalpflege 1970 – 2000, Deutsch-polnische Edition, Warszawa
2001 , S. 31-47, hier S. 37.
50
Vgl. Zybura, Marek: Der Umgang mit dem deutschen Kulturerbe in Schlesien nach 1945, Görlitz 2005,
S. 24.
51
Bieniecki, Zdzisław: Potrzeba i drogi ochrony obiektów architektury najnowszej (Die Notwendigkeit
und die Wege zum Schutz der neuesten Architekturobjekte), in: Ochrona Zabytków 1969, Bd. 22, S. 93.
52
Zit. n. Stehle, Hanjakob: Seit 1960: Der mühsame katholische Dialog über die Grenze, in: Plum, Werner
(Hg.): Ungewöhnliche Normalisierung. Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu Polen, Bonn 1984, S.
155-178, hier S. 159.
der so bunt gemischten Gesellschaft Zugehörigkeitsgefühle. Die Ansiedler blieben lieber in
einem Ort, wo die Kirche schon funktionierte und der Pfarrer da war. Die Pfarrer kamen oft
zusammen mit der umgesiedelten Bevölkerung aus den Ostgebieten. Die Kirchenoberhäupter,
Kardinal August Hlond und sein Nachfolger Stefan Wyszyński engagierten sich für die
Eingliederung der deutschen Ostgebiete in den polnischen Staat und derer Polonisierung. Der
Katholizismus wurde auch im Prozess der symbolischen Aneignung des übernommenen
Raumes sichtbar, indem in den Westgebieten zahlreiche Kreuze und Kappellen aufgestellt
wurden. Die protestantischen Kirchen wurden in katholische umgewandelt, indem die
deutschen Inschriften und Aufschriften abgetragen oder übermalt wurden.53 Manchmal
wurden sie auch zur Gewinnung des Baumaterials für katholische Pfarrhäuser abgetragen, wie
es im Falle der evangelischen St. Anna-Kirche in den 60er Jahren in Broniszów
(Brunzelwaldau) war.54 Doch manchmal gerade dank der Übernahme der Kirchengebäude
durch die polnische katholische Kirche wurden sie im Gegensatz zu vielen nicht sakralen
Kulturgütern erhalten. Zahlreiche ehemalige deutsche Kulturobjekte wurden zu
Wirtschaftsgebäuden umgenutzt, wie beispielsweise die Schlösser in Słupsk und Świdwina als
Getreidespeichern verwendet wurden.55
Doch kann man den Raum polonisieren, indem man die Menschen und die Gegenstände
austauscht? Hugo Steinhaus, der Lemberger Mathematiker, der nach dem II Weltkrieg in
Wroclaw lebte, beschrieb seine Eindrücke aus dem Aufenthalt in Breslau am 16. Oktober
1945 mit folgenden Worten:
Die deutsche Frage wird nicht dadurch gelöst, dass 10 000 Polen über 200 000 Deutsche
kolonial und ohne sichtbare Stärke regieren. Denn diese Polen können nicht das
Deutschtum beherrschen, das in jenen Gegenständen steckt wie, Villen, „Gärten“,
Bänden des Inselverlags, die auf dem Fußboden liegen und in Werken von Hölderlin,
Goethe, Schopenhauer, in den Wohnungen, wo die „szabrownicy“ (Plünderer) die
Bezüge abrissen, aber den Genius Loci übrig ließen.56
Die Beziehung zu den Ostgebieten im geteilten Deutschland
In der DDR war das Thema der verlorenen Ostgebiete tabu57 und mit dem westdeutschen
Revisionismus identifiziert. Die Grenze wurde zur deutsch-polnischen Friedens- und
Freundschaftsgrenze stilisiert. Deswegen war auch die Pflege der schlesischen Traditionen
verboten. Schlesien war ein “Unwort”. In Restaurants gab es kein “Schlesisches
53
Vgl. Rutowska, Maria: Elementy polityki wobec niemieckiej spuścizny kulturowej na Ziemiach
Zachodnich (1945-1950) (Die Politik gegenüber dem deutschen Kulturerbe in den Westgebieten (1945-1950)),
in: Mazur, Zbigniew (Hg.): Wspólne dziedzictwo? Ze studiów nad stosunkiem do spuścizny kulturowej na
Ziemiach Zachodnich i Północnych (Gemeinsames Erbe? Aus den Studien über die Einstellung zum Kulturerbe in
den West- und Nordgebieten), Poznań 2000, S. 167-200, hier S. 176.
54
Vgl. Kraszewski, Piotr/Rutowska, Maria: Funkcjonowanie niemieckiego zabytku w świadomości
mieszkańców Ziem Zachodnich i Północnych na przykładzie wsi Broniszów w woj. zielonogórskim, Poznań 1998,
S. 8.
55
Rutowska, Elementy polityki..., op. cit., S. 176f.
56
Steinhaus, Hugo: Wspomnienia i zapiski (Erinnerungen und Notizen), Londyn 1992, S. 332.
57
Vgl. Schulze, Ingrid: Der Mißbrauch der Kunstgeschichte durch die imperialistische deutsche
Ostpolitik, Leipzig 1970.
Himmelreich”58. Die Evangelische Kirche musste im Jahre 1968 in “Kirche des Görlitzer
Kirchengebiets” umbenannt werden, weil „der Name der Evangelischen Kirche von Schlesien
aus staatspolitischen Gründen im Interesse der Beziehung der DDR zur VR Polen nicht mehr
tragbar gewesen sei.“59 Seit 1993 wird der alte Name wieder für den westlich der Lausitzer
Neiße gelegenen Teil der ehemaligen Kirchenprovinz Schlesien benutzt.
In der Bundesrepublik wurde mit dem 1953 verabschiedeten „Gesetz über die
Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge“ die Frage der Pflege des Kulturgutes der
Vertriebeneren und Flüchtlinge und Förderung der wissenschaftlichen Forschung geregelt:
Bund und Länder haben entsprechend ihrer durch das Grundgesetz gegebenen
Zuständigkeit das Kulturgut der Vertreibungsgebiete in dem Bewusstsein der
Vertriebenen und Flüchtlinge, des gesamten deutschen Volkes und des Auslandes zu
erhalten, Archive, Museen und Bibliotheken zu sichern, zu ergänzen und auszuwerten
sowie Einrichtungen des Kunstschaffens und der Ausbildung sicherzustellen und zu
fördern. Sie haben Wissenschaft und Forschung bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich
aus der Vertreibung und der Eingliederung der Vertriebenen und Flüchtlinge ergeben,
sowie die Weiterentwicklung der Kulturleistungen der Vertriebenen und Flüchtlinge zu
fördern. [...]60
Im Jahr 1950 entstand das Herder-Institut in Marburg, in dem Wissenschaftler aus den
ehemaligen deutschen Ostprovinzen ihre Arbeit fortsetzen konnten. Günther Grundmann
leitete ab 1955 bis 1976 die Fachgruppe Kunstgeschichte im Herder-Forschungsrat. Es
wurden vorwiegend nostalgische Erinnerungsbücher herausgegeben.61 Eine Ausnahme bildet
das 1949 erschienene Buch von Franz Otto Jerrig „Aus Breslau wurde Wrocław“ (Hannover
1949), in dem deutsche Schuld am Untergang Breslaus thematisiert wurde. Die Geschichte
der Gebiete nach 1945 wurde nicht angesprochen. Als in dem 1963 gedrehten Film
„Deutschlands Osten – Polens Westen“ von Hansjakob Stehle das Leben der polnischen
Ansiedler in den Westgebieten dargestellt wurde, protestierte der Bund der Vertriebenen
gegen den Hessischen Rundfunk wegen des „Verrat[s] vitaler deutscher Interessen“.62
In der gesamten Bundesrepublik entstanden in folgenden Jahren Museen, die den einst von
den Deutschen bewohnten Gebieten gewidmet wurden: Museum Stiftung Pommern in Kiel
(1966), Oberschlesisches Museum in Ratingen (1988), das Schlesische Museum in
Königswinter (1978) und das Westpreußische Museum in Münster (1975). Die
Vertriebenenorganisationen sammelten Volkslieder, bildeten Chöre und Tanzgruppen und
pflegten alte Sitten und Bräuche.
Die Fortsetzung der Propaganda der Wiedergewonnenen Gebiete in Polen
58
Vgl. Nöldechen, Peter: Schlesien ist wieder gelitten. Görlitz: Museum mahnt an gemeinsame deutschpolnischen Geschichte, in: Westfälische Rundschau, 28.12.2001.
59
Vgl. Kühne, Hans-Jochen: Die Evangelische Kirche der Schlesischen Oberlausitz, in: Jahrbuch für
Schlesische Kirchengeschichte N.F. 70 (1991), S. 199-207, hier S. 204.
60
http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/bvfg/gesamt.pdf, Zugriff am 8.6.2010.
61
Grundmann, Günther: Schlesien, Berlin, 1952.
62
Zit. n. Störtkuhl..., op. cit.
Die Propaganda der Wiedergewonnenen Gebiete wurde in Polen bis in die 70er oder auch
später fortgesetzt. In den polnischen Publikation wurden der fortschreitende Wideraufbau und
Neubau in den Westgebieten hervorgehoben.63
Im Jahre 1977 erschien in Warschau ein Bild- und Textbuch über die Oder, das in deutscher
Sprache gedruckt und somit vor allem an die Besucher aus der DDR gerichtet war. Sie
konnten nämlich seit dem 1. Januar 1972 ohne Visum nach Polen reisen. In dem Buch wurden
der technische Fortschritt, die sozialen Errungenschaften und auch das experimentelle Theater
von Jerzy Grotowski in Breslau dargestellt. Das Ziel des Buches war die Festigung des
Polentums an der Oder-Neiße-Grenze:
Die Geschichte hat hier einen weiten Bogen gespannt. Polen liegt wieder – wie einst –
an der Oder. Seine gegenwärtigen Grenzen kann man als Kopie der Grenzen vor zehn
Jahrhunderten ansehen, als der polnische Staat gerade erst am Entstehen war.64
Die von der kommunistischen Propaganda verbreitete Angst vor den Deutschen führte bei
vielen Ansiedlern der Nord- und Westgebiete zum Leben in Vorläufigkeit. Diese Unsicherheit
und zum Teil auch eine andere Lebenskultur verursachten, dass viele Häuser und Güter
vernachlässigt wurden. Dies können oft die ehemaligen deutschen Bewohner nicht verstehen:
Ich denke, ihr habt ein schönes Land übernommen, es ist zwar manches durch den Krieg
kaputt gegangen, aber es gibt doch Gegenden, die vom Krieg heil geblieben sind [...]
und habt in Besitz genommen und habt gewohnt bis heute, aber ihr habt nicht genug für
die Errettung getan. Ich finde es ärgerlich, dass die Leute so viel kaputt gehen ließen
[...]. Die schönen Gründerzeithäuser in Liegnitz sind im beklagenswerten Zustand. So
arm seid ihr alle nicht mehr.65
Herr K.J. meint, dass es an polnischer Mentalität liege, dass man die Häuserfassaden und die
Umgebung nicht pflege. Es müsse eine „Umerziehung“ der Polen erfolgen, damit sie
gründlicher und sauberer wären. So könnten sie, wie in der Piastenzeit von den deutschen
Siedlern, heutzutage von den deutschen Investoren profitieren.66
Das gemeinsame Kulturerbe als Teil des europäischen Kulturguts
Mit der neuen Ostpolitik Brandts und der allmählichen Normalisierung der deutschpolnischen Beziehungen, sowie mit der nächsten Generation, die in den Nord- und
Westgebieten aufgewachsen ist und diese als Heimat betrachtete, setzte auch ein Umdenken
in der Einstellung zur deutschen Vergangenheit und deutschem Erbe ein.
63
Małeczynski, Karol/ Morelowski, Marian/Ptasycka, Anna (Hg): Wrocław. Rozwój urbanistyczny
(Breslau. Die städtebauliche Entwicklung), Warszawa 1956; Stary i nowy Wrocław (Das alte und neue Breslau),
Poznań 1960, Komaszynski, Michal: Wrocław – nowy i najnowszy (Breslau – neu und das neueste), Wrocław
1965.
64
Vgl. Rada, Uwe: Die Oder. Lebenslauf eines Flusses, Berlin 2005, S. 116.
65
Interview mit Herrn K.J. aus Görlitz, 29.5.2003.
66
Vgl. auch Opiłowska, Elżbieta: Kontinuitäten und Brüche deutsch-polnischer Erinnerungskulturen.
Görlitz/Zgorzelec 1945-2006, Dresden 2009.
In der Solidarność-Zeit wurde die Vernachlässigung des deutschen Kulturerbes in Polen
artikuliert. 1986 verfasste die Breslauer Abteilung des polnischen Kunsthistorikerverbandes
und veröffentlichte in Untergrundzeitschriften ein „Memorandum über den Zustand der
Kunstdenkmäler in Niederschlesien (Memoriał o stanie zabytków na Dolnym Śląsku)
[...] die Kulturpolitik richtete in den wiedergewonnenen Gebieten riesige Verluste an.
[...] Die berühmten Dekrete über feudales und deutsches Eigentum verursachten sowohl
im gesellschaftlichen Bewusstsein als auch im Bereich administrativer Handlungen ein
schnelles Akzeptieren von Plünderungsaktionen [...] Ohne Rücksicht auf die Herkunft
[der Künstler] gehört ihr Werk der allgemeineuropäischen Kultur an. Wir sind zur
Achtung dieses Erbes verpflichtet [...].67
Jan Józef Lipski, der Publizist und Literaturhistoriker schrieb, dass die Polen durch die
Übernahme von Pommern, Danzig, Ermland und Masuren, das Land Lebus, Niederschlesien
und das Gebiet Oppeln zu
Depositären riesiger deutscher materieller Kulturgüter in diesen Gebieten: von Kirchen,
Schlössern, Palais, Rathäusern, berühmten Patrizierhäusern“ geworden sind. Das, was
zur Kultur einer Nation gehört, bleibt für immer ihr Werk und ihr Ruhm. Das Depositär
übernimmt aber auch die Pflichten, der Zerstörung bzw. materieller Degradierung der
Denkmäler entgegenzuwirken. Sie sollen in Ehren gehalten werden. Die
Zusammenarbeit mit den Deutschen in dieser Frage könnte „der polnisch-deutschen
Aussöhnung und dem Bau des gemeinsamen europäischen Hauses dienen.68
Die Idee des Depositums rief eine heftige Debatte und Kritik hervor. Das Wort „Depositum“
in bezug auf das deutsche Kulturerbe in Polen würde bedeuten, dass die Kulturgüter nur in
Verwahrung gegeben worden sind und letztendlich dem Besitzer zurückgegeben werden
sollten. Kann man jedoch Kirchen, Schlösser oder Museen zurückgeben? Gehören sie nicht
dem Gebiet an, wo sie entstanden sind?
Das gemeinsame europäische Kulturerbe scheint als Begriff hier besser geeignet und fern von
jeder Nationalisierung und damit ideologischen Vereinnahmung zu sein. Wegen Sorge um das
europäische Kulturerbe traf sich auch 1988 eine Gruppe von deutscher und polnischer
Kunsthistoriker in Mainz, aus der sich 1995 der „Arbeitskreis deutscher und polnischer
Kunsthistoriker und Denkmalpfleger“ entwickelte. Als ihre Aufgabe sehen sie Kooperation,
Vorstellung neuester Forschungsergebnisse sowie Nachwuchsförderung im Themenbereich
des gemeinsamen Kulturerbes von Deutschen und Polen.69
Heutzutage ist der Denkmalschutz in den West- und Nordgebieten Polens sowie deutschpolnische Zusammenarbeit in diesem Bereich offensichtlich. Durch die Tätigkeit solcher
Vereine wie „Borussia“, Europäische Akademie in Külz (Kulice), Stiftung Kreisau für
67
Biuletyn Dolnośląski 2 (1986), S. 2-5, Szkice 4 (1986), S. 137-147, vgl. auch Kowalczyk, Jerzy (Hg):
Ochrona dziedzictwa kulturowego zachodnich i północnych ziem Polski (Der Schutz des Kulturerbes der West/
und Nordgebiete Polens) , Warszawa 1995, S. 266.
68
Vgl. Lipski, Jan Józef: Depositum. Deutsches kulturelles Erbe in Polen, in, ders. Wir müssen uns alles
sagen... Essays zur deutsch-polnischen Nachbarschaft, Gliwice/Warszawa: Wyd. Polsko-Niemieckie 1998, S.
264-266.
69
http://www.bkge.de/arbeitskreis/5967.html, Zugriff am 8.6.2010.
Europäische Verständigung, Haus der Deutsch-Polnischen Zusammenarbeit in Gleiwitz
(Gliwice) oder Schlesisches Museum in Görlitz wächst das Interesse an der
Regionalgeschichte, das regionale Kulturerbe – als Teil des europäischen, transnationalen
Erbes wird gepflegt. Wichtig ist aber, dass sich auch die künftigen Generationen mit den
Orten und deren wechselseitigen Geschichte identifizieren und emotional verbunden fühlen,
auch dann, wenn die Zeitzeugen nicht mehr da sind. Um das zu erreichen, darf man sie dann
nicht mehr als Deposit behandeln, so Robert Traba, sondern im Gegenteil – als etwas
dauerhaft mit der Geschichte der Stadt und der Region Verbundenes, etwas Nahes und in
einem gewissen Sinne Eigenes. So stellt Robert Traba die These auf, dass die Polen nicht
mehr nur Depositäre, sondern „geistige Mitnachfolger“ in den Nord- und Westgebieten sind.
Dies ergibt sich aus dem natürlichen Bedürfnis heraus, sich emotionell mit der zu rettenden
Kulturlandschaft zu identifizieren.70
Mirosława Zielińska
DIE ODER/ODRA/ODERA – DER FLUSS DES DEUTSCHEN, POLNISCHEN UND
DEUTSCH-POLNISCHEN GEDÄCHTNISSES.
1. Einführung. Die Flüsse und ihre Symbolik
Die Bedeutung der Flüsse wird meistens mit Hilfe von einem Blutkreislauf angedeutet:
„Ader“, „Schlagader“, „Verkehrsader“, „Arterie“. Władysław Syrokomla nannte etwa
Niemen (Memel) eine „der mächtigsten Herkulesadern unseres Litauens“, womit die
Vorstellung der Macht, Verweis auf Mythologie und die Schlüsselrolle des Niemen-Flusses
für die polnischen „Kresy“ („Kresy“ ist die Bezeichnung für die die ehemaligen multikulturell
geprägten »polnischen Ostgebiete«, heute: Ukraine, Litauen, Weißrussland) zum Ausdruck
gebracht werden konnte. Diese Anthropologisierung, die die Vergleiche mit menschlichem
Organismus zulässt, suggeriert die zentrale, das Leben einer Gemeinschaft organisierende
Rolle der Flüsse; Mythologisierung der Flüsse, ihre Personifizierung war allen Kulturen und
Gemeinschaften gemeinsam; die dank der romantischen Literatur bekannteste Legende, die
zugleich den Rhein literarisierte und mythologisierte, gilt der männermordenden Sirene
Loreley.
Hans Gottfried Herder hat als erster so überzeugend von der Gestaltung der Landschaft, von
der Spezifik des Klimas auf die Menschen und die kulturellen Differenzen zu schließen
versucht. Die Bildhaftigkeit von Himmelsrichtungen wurde zur Hilfe herangezogen und die
miteinander kontrastierenden Temperamente und der divergierende Tagesrhythmus der
Menschen des Mittelmeerraums dem ‚warmen‘ Süden zugewiesen, die des Ost- und
Nordseeraumes, mit dem ‚kalten‘ Norden assoziiert. Das Menschengeschlecht wurde von
Herder vor dem Horizont des Ideals der Humanität gedeutet und als Ganzes gedacht; die
Heterogenität des Kulturerbes als Potenzial erkannt, von dem die Anderen profitieren können
- wollen sie nur von den anderen Kulturen lernen. Der nation-building-process und die
Nationalisierung der Diskurse um „Sprache – Kultur – Nation“ wirkten sich auch auf die
Wahrnehmung der „kulturellen Räume“ aus: die Zugehörigkeit einer Region/Provinz zur
jeweiligen Nation machte die Flüsse zu Sinnbildern der jeweiligen national verstandenen
Kultur; die multiethnischen Regionen, transnational geprägten Provinzen und ihre
Landschaften samt ihren Bewohnern sollten mit Hilfe der nationalen, nationalistischen
70
Vgl. Traba, Robert: Przeszłość w teraźniejszości. Polskie spory o historię na początku XXI wieku (Die
Vergangenheit in der Gegenwart. Polnische Geschichtsdebatten am Beginn des 21. Jahrhunderts), Poznań
2009, S. 106ff.
Symbolik einer Nation zugeführt werden; die Vereinnahmung von Landschaften sollte die
Oberhoheit der jeweiligen Kulturnation, die mit Hilfe von symbolischer Vereinnahmung
erzielte Homogenisierung von Raum-Volk-Sprache sollte die Macht des Staates beweisen.
Die Übertragung der Konzepte von „Nation“ und „Nationalstaat“ auf die multikulturell,
multiethnisch, multikonfessionell geprägten Gemeinschaften des mitteleuropäischen Raumes
(mit unterschiedlichen Sprachen, Dialekten, Konfessionen, eher ‚regionalen‘ als ‚nationalen‘
Identitäten) im Zuge des 19. Jahrhunderts machte die Flüsse mehr und mehr zu natürlichen
Demarkationslinien und Instrumenten in dem nationalistischen Wettbewerb der nationalen
Projekte.
Zwei Gedichte Henryk Bereskas, eines der bedeutendsten Übersetzer und Vermittler der
polnischen Kultur in den deutschsprachigen Raum, zeigen exemplarisch die Symbolik der
Flüsse im 20. Jahrhundert: Flüsse und Kanäle haben die Rolle von Grenzen und
Demarkationslinien übernommen. Sie ersetzten oft Schranken, Mauern, Stacheldrahtverhaue.
Der Titel des ersten der gewählten Gedichte, Fährmann, erlaubt die Arbeit des Übersetzers,
im Falle Henryk Bereskas, mit einer geistigen Entgrenzungsstrategie gleichzusetzen und die
Perspektive des lyrischen Ich dagegen, als die eines Grenzgängers zu nennen.
Henryk Bereska, Fährmann
Aus dem oberschlesischen Dreiländereck –
Russland, Österreich, Preußen –
kam ich nach dem Ende
des Zweiten Weltkrieges
in das Berliner Vielländereck –
amerikanischer, englischer,
französischer, sowjetischer Sektor –
und es verschlug mich in den sowjetischen.
Flüsse und Kanäle zergrenzten
die geschundene Stadt des Unheils.
Und bald die Mauer.
Östlich davon der blutende Grenzfluß
die Oder – Völker trennend.
In der Mitte die scharf bewachte
Trennlinie.
Dichter, polnische, deutsche,
zogen am Fluße entlang,
davon träumend, Fährmann zu sein –
Lange Zeit ein vergeblicher Traum.
Ich wurde Fährmann,
übertrug kostbare Fracht –
polnische Dichtung –
ins Deutsche,
in die Buchstabenwelt.
Sperrig bleib für die Menschen
der Fluß lange Zeit.
Lange neidete ich Vögeln und Fischen
Das lockere Hin und Her.
Nun aber fahre ich selber
Locker hinüber und herüber –
Fährmann grenzenlos.71
Das Gedicht von Bereska, das individuelle, höchst persönliche Erfahrungen thematisiert, wird
in seiner Aussage zur Anklage des 20. Jahrhunderts als eines Jahrhunderts der Multiplizierung
von »Zergrenzung(en)« und »Ausgrenzung(en)«. Die Zusammenstellung von dem
„Dreiländereck“ Oberschlesien und dem „Vierländereck“ Berlin (das auf geteiltes
Deutschland erweitert werden kann) zeigt lediglich unterschiedliche Varianten des
vorherrschenden »Zer- und Ausgrenzungsprinzips«: Menschen, die in der Isolation
voneinander leben, zementierten ihre Feindbilder und gewöhnten sich daran, gegeneinander
zu leben. Demaskiert wird in dem oben zitierten Gedicht die ritualisierte Funktion der
Grenzziehung(en), die den Ideologien des 20. Jahrhunderts gemeinsam war. Allen für das
lyrische Ich wichtigen Flüssen: dem oberschlesischen Fluss Brynica (Brinitz), der durch
Berlin fließenden und in die Havel mündenden Spree, samt ihren breiten Kanälen, und der
Oder und Neiße fiel im Zuge des 20. Jahrhunderts die Rolle der stigmatisierenden Grenzen
zu.
Bereits in den Zeiten der Republik Polen-Litauen (Rzeczpospolita Obojga Narodów) und des
Heiligen Römischen Reiches erfüllte die oberschlesische Brynica (Brinitz) die Rolle des
Grenzflusses. Das im Gedicht angesprochene russisch-österreichisch-preußische
„Dreiländereck“ geht auf die Zeit der Teilung Polens zurück, das mit der Restitution des
polnischen Staates – der Zweiten Republik – nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zu Ende
ging. Erst das 20. Jahrhundert machte den Fluss zum Sinnbild der Grenze zwischen zwei
konkurrierenden nationalen Projekten – dem des polnischen und dem des deutschen
Nationalstaates, was die Oberschlesier nicht daran hinderte, sich primär mit der Provinz, erst
sekundär mit jeweiligem Nationalstaat zu identifizieren. Terror und Massenmord, die der
Grenzfluss seit 1939 zu verkörpern begann, wirkten sich nachhaltig auf die Wahrnehmung
von Brynica (Brinitz) aus. Bis in den heutigen Tag wird der Grenzfluss als eine – nun mentale
– Grenze imaginiert und bleibt Sinnbild der Ausgrenzung.72 Die Berliner Flüsse und Kanäle
übten im geteilten Berlin eine identische Rolle wie die 1961 erbaute Mauer aus. Die Teilung
in die »Ost-« und »Westdeutschen« hinterließ tiefe und dauerhafte Spuren, die bis in den
heutigen Tag hinreichen. „Oder und Neiße“, wiederum, stehen für die verheerenden Folgen
des Zweiten Weltkrieges und des bis in das Jahr 1989 dominierenden bipolaren Weltbildes:
das Nachkriegseuropa wurde über vier Jahrzehnte lang in zwei voneinander isolierte und
feindliche Lager geteilt. Die Stigmatisierung des »Ostens« als eines »rechtslosen«,
»barbarischen« und »gefährlichen« Teils des europäischen Kontinents, paarte sich mit dem
permanenten deutsch-polnischen Streit um die sog. „Oder-Neiße-Grenze“ vs. „Oder-NeißeLinie“, der erst 1990 beigelegt werden konnte.
Das zweite Gedicht ist der traumatisierten Stadt – Warschau – gewidmet. Die Sensibilität für
das besondere Gedächtnisort »Warschau« verdankte Bereska seinen langjährigen und engen
Freundschaften mit oppositionellen Kreisen in Polen, wie auch guten Kenntnissen der
polnischen Geschichte und Kultur.
Henryk Bereska, Warschau
71
Henryk Bereska, Fährmann/Przewoźnik. In: Familoki. Księgarnia Akademicka
Kraków 2001, S. 6-9. In dem zwei Jahre früher herausgegebenen Band Wiersze [Gedichte]
trägt dieses Gedicht den Titel Oderfahrt.
72
Vgl. das Projekt: „Brynica to nie granica“ [„Brinitz ist keine Grenze“] unter der
Adresse: http://lgd-brynica.eu/.
Nach langer Zeit wieder in Warschau
suche ich die Gefährten früher Jahre
vergebens
Stachura
Grochowiak
Iredyński
Nowak
tot
An der Weichsel wandernd
wo ich öfter mit Jan Józef
Bier trank in einer Schenke
wo ich mit Dichtern
entlang ging
zum östlichen Ufer Praga blickend
wo einst die Sowjetarmee zusah
wie die Hauptstadt gemordet wurde
von meinen Landsleuten
An dem siechen Fluß wandernd
sein Sterben beklagend
beklage ich die toten Gefährten
und die verheerende
Wirkung der Zeit.73
Ein Spaziergang an der Weichsel entlang evoziert die Erinnerung an den von den NS-Truppen
niedergeschlagenen Warschauer Aufstand 1944, dem die Rote Armee untätig zusah. Diese
Erinnerung gilt sowohl dem im Gedicht erwähnten und drei Jahre vor der Entstehung des
Gedichts verstorbenen Jan Józef Lipski (1926 Warszawa – 1991 Kraków)74, der als Soldat der
polnischen Untergrundarmee an dem Aufstand teilgenommen hat, als auch der – sehr
persönlich – empfundenen Schuld. Die zwei letzten Zeilen der zweiten Strophe bringen auf
erschütternde Weise – durch die Identifizierung des lyrischen Ich mit den Tätern –, die
verinnerlichte (Mit)Schuld an den NS-Verbrechen. Die Beobachtung des Flusses – der
Weichsel – konfrontiert das lyrische Ich sowohl mit der dramatischen Vergangenheit des
Krieges, als auch der – nun auch zur Vergangenheit gehörenden Zeit der deutsch-polnischen
Freundschaften – die sich aus ihrer »verordneten« Variante nicht machten –, die ihre
Aufarbeitung lange vor 1989 möglich machten. Ähnlich wie sich das lyrische Ich mit dem
Bild des sterbenden „siechen“ Flusses nicht einverstanden erklären kann, erhebt es Einspruch
gegen die Unausweichlichkeit und Unabwendbarkeit des Todes, die verrinnende Zeit und
nichts schonende Vergänglichkeit. Die das Gedicht abschließenden Zeilen überlassen zwei
wichtige Fragen: Wer und was bleibt im Gedächtnis der nachfolgenden Generationen? Was
wird sich für sie von Bedeutung zeigen?
73
Henryk Bereska, Warschau/Warszawa, in: Familoki. Księgarnia Akademicka Kraków
2001, S. 40-41.
74
Jan Józef Lipski – Schriftsteller, Wissenschaftler, Dissident; gehörte zu den
wichtigsten Organisatoren der Opposition in Polen, war einer der Mitbegründer von KOR
(Komitee zur Verteidigung der Arbeiter). Vgl. http://www.deutsche-undpolen.de/personen/person_jsp/key=jan+jozef_lipski.html.
2. Die Oder oder Odra? Fremdheit – Trauma – Entwurzelung
Die Frage, auf die eigegangen werden soll, hängt zusammen mit den unterschiedlichen
Reaktionen auf die Konfrontation mit der Oderregion, ihrer Fremde im Schatten des Krieges
und seiner Folgen und dem langen Prozess ihrer Überwindung und Erklärung zur eigenen
Heimat, trotz ihrer verwickelten, oft belastenden Geschichte.
Für Robert Gawłowski (geb. 1957 Wrocław), den Lyriker und Literaturkritiker, der die Oder
zu „einer stummen Zeugin“, zum „Fluss des Gedächtnisses“ erklärt hat, beginnt die
Geschichte der Stadt Breslau/Wrocław mit den Erinnerungen seines Vaters an die ersten
Nachkriegsjahre und ihre Atmosphäre:
„Über die Oder und brennendes Breslau und genau genommen über die in den letzten
Zügen liegende Festung Breslau hörte ich vom Vater, der als siebenjähriger mit einem
Transport der Umsiedler durch meine Stadt und die Stadt meiner Kinder fuhr. Seine
Oder ist ein sich träge durch die Schuttlandschaft bewegender Fluss, der in der ersten
Linie den Krieg in Erinnerung behalten hat. (…) Oder – die stumme Zeugin, der Fluss
der Erinnerung. In ihren Fluten spiegeln sich auch die zahlreichen, vom Vater
erzählten Geschichten: (…) Besuch der technischen Hochschule, schwierige
Aufbaujahre der Nachkriegszeit, die Zeit der Armut, sogar Not. Das ist schon
Wrocław, aber doch unaufhörlich immer noch Breslau; ein Geiger erfriert nachts
an der Grunwaldzki-Brücke75, jemand wirft sich in die Oder und nimmt sich das
Leben”.76
Die Stadt, die noch lange nach dem Kriegsende als Breslau/Wrocław erlebt wird, verkörpert
für die der Vorkriegsgeneration entstammenden Ankömmlinge, aber auch Menschen, die
vorläufig mit ihr in Berührung kamen, das Trauma des Krieges und der Entwurzelung. Für
diejenigen, die in Breslau/Wrocław heimisch werden sollten, bedeutete die Stadt die
tagtägliche Begegnung mit der Fremde. Diese brachte sehr bildhaft Czesław Miłosz (1911
Szetejnie/Šeteniai, Litauen – 2004 Kraków) zum Ausdruck. Miłosz, der sich 1951 in der
Reaktion auf die zunehmende Stalinisierung im kommunistischen Nachkriegspolen für Exil
entschlossen hat, erlebte Wrocław/Breslau weder als eine Begegnung mit einer spannenden
Kulturlandschaft, noch einer imponierenden Odermetropole. Für den aus dem
alteingesessenen polnischen Landadel Litauens stammenden Begründer der in Wilna der
Zwischenkriegszeit wirkenden Avantgarde-Gruppe (1931-1934), bedeutete der Krieg und
seine Folgen den Verlust seiner in den »polnischen Kresy« liegenden Heimat. In dem 1955
schon im Exil entstandenen Gedicht wurde ein Breslauer Hotelzimmer zum Innbegriff einer
unüberwindbaren Fremdheit und eines nachwirkenden Traumas, das die Rückkehr in die
Normalität zum Scheitern verurteilt.
Czesław Miłosz, Zimmer (Übers. von Karl Dedecius)
Im dunklen Zimmer
In der Stadt Breslau
Riecht man Ruinen
75
Die in den Jahren 1908-1910 erbaute Oderbrücke trug ursprünglich den Namen
„Kaiserbrücke“. In der Weimarer Republik wechselte die Brücke ihren Namen in
„Freiheitsbrücke“. Nach 1933 kehrte sie zum ursprünglichen Namen: „Kaiserbrücke“ zurück.
Seit 1945 heißt sie „Grunwaldzki“-Brücke.
76
Robert Gawłowski: Rzeka pamięci/[Der Fluss des Gedächtnisses]. In: Kiedy mówisz
Odra. Wiersze z motywem rzeki [Wenn du Oder sagst. Gedichte mit dem Flussmotiv].
Gesammelt, bearbeitet und mit Einführung versehen von Ryszard Sławczyński, Klub Muzyki
i Literatury Wrocław 1999, S. 89. (Übersetzt von M. Zielińska).
Die alten Läufer
Löffel im Teeglas
Im Korridor geht
Das Zimmermädchen
Die alten Läufer.
Im Nebenzimmer
Schlüsselgerassel
Knipsen der Lampe
Echo und Stimmen
Gelöschte Lichter
Und Bettgeknarre
Im dunklen Zimmer
Die alten Läufer.
Er ist hier dienstlich
Sicher aus Warschau
Das Ladenmädchen
Aus Staatsgeschäften
Riecht man Ruinen
Die Turmuhr oben
Das Rot des Dämmers
Und Bettgeknarre.
Unter mir fließen
Die ozeanischen
Plantierten Schäume
Eisblockgebirge
Es ist nach Kriegsschluß
Jahrhundertmitte
Kolibris dröhnen
Asche der Aschen.
Kolibris dröhnen
Wie sie ertragen
Die runde Erde
Die in mir hinrollt
Und die mich aufruft
Mit ihren Ländern
Und ihren Meeren
Sie zu ertragen.
Ein Neues Funland
Gefrorene Birke
Schaum an den Inseln
Die Robben bellen
Das Rot des Dämmers
Vögel auf Gräbern
Die beiden drüben
Zerschlagene Platten.
Trommel Trompete
Vom Lautverstärker
Sie hören Atem
Da rollt die Erde
Sie sind nicht fähig
Mit ihrer Schwäche
Die herzenschwere
Noch zu ertragen.
Ist es das Mitleid
Ist es die Liebe
Erfrorene Birke
Kein Bettgeknarre
Sei bis ans Ende
Jahrhunderthälfte
Du herzenschwere
Die alten Läufer.77
Die Analyse des Gedichts muss mit dem Hinweis auf die Zweideutigkeit des Titels des
Originals anfangen, die in der deutschen Übersetzung verlorengeht. „Pokój” bedeutet sowohl
„Zimmer”, als auch „Frieden“. Die vom Übersetzer gewählte Bedeutung „Zimmer“ scheint in
Bezug auf die das Gedicht eröffnenden Zeilen: „Im dunklen Zimmer/ In der Stadt Breslau“
(„W ciemnym hotelu/ W mieście Wrocławiu“) seine Begründung zu finden. Die Analyse des
Gedichts legt aber die These nahe, dass die Wahl ausgerechnet eines „dunklen“ Hotelzimmers
(und nicht etwa eines beliebigen anderen Zimmers) dem lyrischen Ich ein sehr prägnantes
Bild einer bedrohliche Vorläufigkeit, Einsamkeit und Fremdheit zu entwerfen erlaubt, die zur
Unheimlichkeit gesteigert wird. Will man die zweite Bedeutung des Originaltitels, „Frieden“,
mitdenken, lassen sich sowohl die im Gedicht entworfenen Bilder, wie auch die vermittelte
Atmosphäre als eine Umkehrung der Friedenszeit deuten. Die in der vierten Strophe
gefundene Zeile: „Es ist nach Kriegsschluß“, der die Funktion der Selbstbesinnung des
lyrischen Ich zugeschrieben werden kann, hebt noch die Bilder des mit ihr im Widerspruch
vorherrschenden Ausnahmezustands hervor. Die Welt ist aus den Fugen geraten und verharrt
in diesem Zustand („Kolibris dröhnen /Asche der Aschen“). Die Dunkelheit des
(Hotel)Zimmers wird intensiviert durch „Gelöschte Lichter“ und „Das Rot des Dämmers“.
Aufmerksamkeit verdienen auch die wiederkehrende – die erste, zweite und letze Strophe des
Gedichts abschießende – Zeile: „starte chodniki“, die von Karl Dedecius als „die alten
Läufer“ wiedergegeben wurde. Da dieses Bild nicht den schlechten Zustand der Läufer meint,
sondern eher als Verweis auf diejenigen zu verstehen ist, die diese Läufer „abgenutzt /
verschlissen“ haben, wird die Vorgeschichte der Stadt Breslau – in der polnischen
Imagination der unmittelbaren Nachkriegszeit gleichzusetzen mit der der »Festung Breslau« –
zum wichtigen Kontext des Gedichts. Die zunehmende Stalinisierung der 1950er Jahre wird
als Fortsetzung der Methoden des braunen Totalitarismus wahrgenommen. Das lyrische Ich,
das auf „Die beiden drüben“ – ein unbekanntes Paar im Nebenzimmer – lauscht, signalisiert,
dass er („dienstlich/ Sicher aus Warschau“) und sie („Das Ladenmädchen/ Aus
Staatsgeschäften“) – anonyme Vertreter der polnischen Nachkriegsgesellschaft, die sich mit
dem neuen System zu arrangieren versuchen – als »normale« Menschen miteinander nicht
77
Czesław Miłosz, Pokój/Zimmer. In: Wrocław liryczny/ Lyrisches Breslau. Wybór i
opracowanie/ Herausgegeben von Marek Graszewicz, Marek Zybura, Wirydarz Wrocław
1997, S. 78-83.
sein können. Zu groß sind noch die vom Krieg angerichteten inneren Verwüstungen, zu
lähmend und bedrohlich das Äußere, was das Bild einer „erfrorene[n] Birke“ versinnbildlicht.
Nicht zufällig wird das dunkle (Hotel)Zimmer (poln. „pokój“) in „der Stadt Breslau“ zur
Szene einer gescheiterten Liebesbeziehung gewählt. Die Kulisse der zerstörten Festung
Breslau verstärkt die Absage des lyrischen Ich an die Fortsetzung des Terrors und
Ideologisierung in der Epoche des Stalinismus, die erst Mitte der 1950er – mit dem
»polnischen Oktober« 1956 – Jahre zu Ende gehen wird. Über einen Frieden (poln. „pokój“)
kann man im Falle des kommunistisch regierten Nachkriegspolens erst sieben Jahre nach der
Gründung von zwei deutschen Staaten und drei Jahre nach dem Tod Stalins sprechen.
3. Odera, Oder, Odra zwischen Aneignung und Überschreibung
Die individuelle Entdeckung der (Vor)Geschichte der Stadt Wrocław und der
niederschlesischen Provinz, die im krassen Widerspruch mit ihrer offiziellen Deutung der
»wiedergewonnene Gebiete« stand, war von einer sehr großen Bedeutung. Erstens erinnerte
sie archäologische Ausgrabungen und wurde für viele junge Menschen zu interessantesten
Abenteuern ihrer Jugend. Zweitens unterminierte eine persönliche Auseinandersetzung mit
der Geschichte Breslaus ihre offiziell verordnete Tilgung. Der schon zitierte Robert
Gawłowski erzählt, welch eine gewichtige Rolle einem alten deutschen Atlas zukommen
konnte:
„Ich beginne Postkarten zu sammeln. Meine Sammlung ist zwar nicht besonders
imponierend, aber in meine Hände geraten – wohl auf irgendwelchen Dachböden
gefunden, alte deutsche Postkarten, überschrieben: »Oder«, »Brieg«, »Oppeln«,
»Breslau«, »Glogau«. Ich komme in Besitz von einem alten deutschen Atlas - meiner
damals ersten und kostbarsten Weltlandkarte. Ich »studiere« die Geographie der
Flüsse“.78
Diejenigen, die sich selbst mit der Breslauer Geschichte der Stadt Wrocław vertraut und
auseinandergesetzt haben, gehörten zu jenen an, die keine Probleme damit hatten, mit den
jahrzehntelang vorherrschenden Tabus zu brechen und die verwickelte Geschichte der Stadt
und Region von Ideologisierung zu befreien.
Bewusste Projizierung des Eigenen auf das Fremde, seine Domestizierung wird oft mit dem
Begriff aus der ideologisierten Öffentlichkeit der VRP der sog. „Repolonisierung“ bezeichnet.
Das politische Programm des Staates kreuzte sich mit dem psychologischen Bedürfnis der
Ankömmlinge zusammen. Der Schlüsselbegriff „wiedergewonnene Gebiete“ erlaubte ein
Motiv zu finden und die Entscheidung, hier zu bleiben und die eigene Existenz hier
aufzubauen, zu begründen. Nicht ohne Bedeutung ist auch, dass die Oderprovinz, nicht nur als
„Wiedergewonnenes“ sondern als „gelobtes Land“ dargestellt wurde – als sich endlich
verwirklichende historische Gerechtigkeit.79
Die seit den späten 1980er Jahren entstehende »Entgrenzungsliteratur«, die unter dem
irreführenden Begriff »Grenzlandliteratur« (der ihr Wesen verfehlt) bekannt wurde, verteidigt
– nach Stefan Chwin, dem Autor des Hanemann-Romans80 – „die Idee eines multikulturellen
78
Robert Gawłowski: Rzeka pamięci/[Der Fluss des Gedächtnisses]. In: Kiedy mówisz
Odra. Wiersze z motywem rzeki [Wenn du Oder sagst. Gedichte mit dem Flussmotiv].
Gesammelt, bearbeitet und mit Einführung versehen von Ryszard Sławczyński, Klub Muzyki
i Literatury Wrocław 1999, S. 89. (Übersetzt von M. Zielińska).
79
Vgl. Andrzej Zawada, Pochwała prowincji. Atut Wrocław 2009, S. 15.
80
Stefan Chwin, Hanemann, Wydawnictwo Marabut Gdańsk 1995. (Deutsch: Tod in
Danzig - 1997; Englisch: Death in Danzig - 2004).
Staates“81. Die »Entgrenzungsliteratur« ist „eine literarische Vision“82, die der Idee der
multikulturellen, multiethnischen und multikonfessionellen Tradition der „polnischen Kresy“
verpflichtet ist. Um diese Tradition verstehen zu können, muss auf den wichtigsten
Unterschied in den deutschen und polnischen Vorstellungen von »Grenze« und
»Grenzgebiet« hingewiesen werden. Im Gegensatz zu der abgrenzenden Bedeutung von den
„Grenzmarken“, die als „Bollwerke“ deutscher Präsenz im Osten verstanden wurden und die
deutsche Kultur gegen die anderen kulturellen Einflüsse verteidigen sollen, ist in der
Vorstellung von »Kresy«, als der östlichen Grenze des polnischen Vielvölkerstaates, die
»Öffnung« – beinahe »Grenzlosigkeit der Grenze« – enthalten.
Da mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges die jahrhundertlange Tradition des früheren
polnischen Vielvölkerstaats unter dramatischen Umständen untergegangen ist, ist die Idee der
Multikulturalität „als eher nostalgischer Mythos einer früheren Welt“83 zu verstehen. Die
Oderregion, die als »polnische Kresy im Westen« imaginiert wird, erlaubt nicht nur
Identifizierung mit dem multikulturellen Erbe dieser Region von einst und heute
(habsburgisch, tschechisch, schlesisch, jüdisch, preußisch, polnisch, galizisch, ukrainisch,
usw.), sondern auch Öffnung ihrer jetzigen Bewohner auf die anderen – vor zwanzig Jahren
noch miteinander konkurrierenden, oder sich sogar ausschließenden – Narrative über ihre
Geschichte. Die Gedächtnistafeln und Denkmäler des heutigen Wrocław sich das beste
Beispiel dafür. Diese wichtige mentale Wandlung zeichnet sich auch seit Mitte der 1990er
Jahre in der polnischen Literatur immer deutlicher ab. Die dominierende Tendenz wurde vor
zehn Jahren von Andrzej Zawada auf den Punkt gebracht:
„Die Literatur der letzten Jahre des 20. Jahrhunderts beschreibt eine Welt, die von
Menschen-Nomaden bewohnt, geschaffen und wiederaufgebaut wird. Man kann sie
sowohl Emigranten, Umsiedler, Vertriebene, als auch Globetrotter, Abenteurer
nennen, die nach neuen Heimaten und alten Wahrheiten suchen. Der Protagonist dieser
Literatur ist ein Mischling, dessen Biographie eine Summe von heterogenen
Elementen der großen und kleinen Kulturen, wie auch unterschiedlichen historischen,
wie familiären Erfahrungen ist. In der Literatur der Jahrhundertwende (…) findet man
interessanterweise keine Dekadenzstimmung, die das ausgehende 19. Jahrhundert
begleitet hat. Der Nomade von einer ausdrücklichen Grenzgänger-Identität ist
zweifelsohne eine Figur, die mehr als einen harten Schicksalsschlag hinter sich hat,
was als Zeichen eines gereiften Optimismus gedeutet werden kann“.84
4. Wrocław: the meeting place?
81
Stefan Chwin, «Grenzlandliteratur» und das mitteleuropäische Dilemma. In:
Transodra 17, Oktober 2007, hier zit. nach: Uwe Rada, Die Oder. Lebenslauf eines Flusses.
Gustav Kiepenheuer Verlag 2005, S. 63.
82
Stefan Chwin, «Grenzlandliteratur» und das mitteleuropäische Dilemma. In:
Transodra 17, Oktober 2007, hier zit. nach: Uwe Rada, Die Oder. Lebenslauf eines Flusses.
Gustav Kiepenheuer Verlag 2005, S. 63.
83
Stefan Chwin, «Grenzlandliteratur» und das mitteleuropäische Dilemma. In:
Transodra 17, Oktober 2007, hier zit. nach: Uwe Rada, Die Oder. Lebenslauf eines Flusses.
Gustav Kiepenheuer Verlag 2005, S. 63.
84
Andrzej Zawada, Pochwała prowincji. Atut Wrocław 2009, S. 90. (Übersetzt von M.
Zielińska)
Die Begegnung des »Alten« und »Neuen« stößt auf Probleme anderer Art. Das Gedicht von
Piotr Klimczak (geb. 1961 Wrocław/Breslau) thematisiert die nicht einfache Konfrontation
mit einer oft beklemmenden Geschichte der Stadt und Region, die ihre heutigen Bewohner
vor der Notwendigkeit ihrer Aufarbeitung stellt. Es kommt aber vor allen Dingen um
diejenigen Narrativen aus der Vergangenheit, die einen langen Schatten auf die gegenwärtige
Existenz und Identität der Stadtbewohner werfen. Da sie keine Chance ihrer dialogischen
Deutung anbieten – denn ihr vergangenheitsorientierter, monologischer Charakter war nie an
einem Dialog interessiert (mehr noch: der jeden auch potenziellen Dialogversuch zum
Scheitern verurteilen muss) –, wirken sie beunruhigend, belastend oder irritierend.
Piotr Klimczak, Für Paweł Huelle (Übers. von Manfred Mack)
Ja – sehr seltsame. Sehr seltsame Dinge.
Langsam, langsam kommen sie zusammen,
solange sie uns erlauben zu leben – nicht die Dinge –
die Menschen. Denn sie könnten ja,
Mit ihrer stillen Kraft, ihrem Wissen. Wissen Sie,
hier, in Breslau, was für
Ruinen sie komponiert haben, eine richtige Ausstellung,
Hektarweit, aus einer echten
Stadt – haben sie endlich gediegenste Romantik
Zustande gebracht, damit ein forte ertönt
In der perfektesten Variationen über den Abgründen.
Nein, ich spotte nicht. Und ich suspendiere das Urteil nicht
über die Geheimnisse auf einem gezogenen Faden.
Es geht nicht um die Deutschen,
noch um die Ukrainer, auch nicht um die Juden. Wer weiß,
wer sie sind, wieviel sie wissen oder können. Ich weiß nicht,
wie es in Danzig ist – denn bei uns
schwirren sie um die Bibliotheken herum,
um die Antiquariate, die Läden mit Kunsthandel, die Museen,
die Trödelmärkte, Trümmerfelder – von Anfang an
seit wir hier sind, hartnäckig, immerfort.
Wir können die gleichen Bücher lesen.
Angeblich. Aber.
Ja, viel Schönes stammt von ihnen.
Ob mehr vom ersten Zelt
Unserer Eltern, sich hier zufällig,
gleichsam vermehrt hat in den Ruinenlandschaften,
gleichsam anschwoll und explodierte von innen voll von Träumen
von Veduten, Eufonien, Aromen, denn in Galizien
gab es weder Abscheulichkeiten noch Schrecken
– und jenes Zelt füllte sich mit Erinnerungen,
und trank aus den Augen, bis heute.
Schauen Sie,
- sie lassen uns nicht, immerfort suchen sie
etwas bei uns,
immerfort stört sie etwas an uns,
wovor sie schreckliche
Angst haben,
offensichtlich, fehlt ihnen etwas
– obwohl sie gebildet und stark sind.
Fehlt ihnen nur die Existenz?
Denen, die gewählt haben, nicht zu sein,
aber sich konsequent zu verstärken, zu kämpfen,
das forte finale rondo mit hervorragenden Variationen zu spielen
Ruinen mit Geschmack zu komponieren? Für uns?85
Ein anderes Problem wird im Gedicht von Krzysztof Niewrzęda (geb. 1964 Szczecin/Stettin)
angesprochen: die Asymmetrie und Asynchronie der Erinnerung an die Vergangenheit Breslaus und die
Gegenwart Wrocławs, die einen tiefen Graben zwischen dem Vergangenen und Gegenwärtigen erzeugt.
Die in den 1960er Jahren geborene Nachkriegsgeneration der Polen, die sich ihrerseits mit der
Geschichte der Stadt und ihrer früheren Bewohnern vertraut gemacht und auseinandergesetzt hat, hat
nicht selten die Versuche unternommen, die Vergangenheit und Gegenwart zu überbrücken. 86 Die
Begegnung mit einem in der Vergangenheit verharrenden, monologischen Gedächtnis der früheren,
deutschen Bewohner der Oderstädte, die auf »ihre Erzählung« konzentriert sind, ruft zwangsläufig
Enttäuschung aus.
Krysztof Niewrzęda, Perfekt und Präsens (Übers. Mirosława Zielińska)
Wir tranken gemeinsam
ihren beliebten Korny
so lange
bis schließlich
der Fluss in unser Gespräch hineinfloss
zwischen den Zähnen
leicht lallend
sie ließen überflüssige Endungen weg
und nannten sie
Oda
versenkt in ihrer Jugend
rannten sie erfreut
um die vergilbten Fotos der Mietshäuser
herum
die Welle der Erinnerungen
hinderte sie daran
auf meine Uferseite zu gelangen
auch wenn wir uns die Hände reichten
denn nach wie vor
85
Piotr Klimczak, Pawłowi Huellemu/Für Paweł Huelle, in: Wrocław
liryczny/Lyrisches Breslau. Wybór i opracowanie/Herausgegeben von Marek Graszewicz und
Marek Zybura. Wirydarz Wrocław 1997, S. 160-163.
86
Ein der interessanten Versuche die Gegenwart und Vergangenheit der Oderstadt
miteinander zu versöhnen ist der Mitte der 1990er Jahre erschienene Prosaband „Bresław“,
vgl. Andrzej Zawada, Bresław, Wydawnictwo OKIS, Wrocław 1995. [Biblioteka
Wrocławskiego Oddziału SPP.]
ich wohnte nad Odrą
sie dagegen
haben mal an der Oder gelebt87
Dass die Begegnungen der Wrocławer und Breslauer oft mit Kommunikationsschwierigkeiten
verbunden sein können, kann im Grunde genommen – angesichts des jahrzehntelang
gegeneinander geführten, nicht selten politisierten und ideologisierten Diskurses – nicht
wundern. Viel wichtiger ist angesichts der – wie es scheint – unüberwindbaren
Gedächtnisasymmetrie und -asynchronie der Wille zum Gespräch mit dem Anderen und
Bereitschaft zur (kritischen) Autoreflexion. Das Gedächtnis der zukünftigen Generationen
der europäischen Oderregion wird Ergebnis der Interreaktion von unterschiedlichen in
den Narrativen vermittelten Erfahrungen, Gedächtnissen, Diskursen sein. Es ist somit
entscheidend, ob die Narrativen miteinander in Dialog kommen, oder nicht.
Noch nie hing so viel von dem individuellen Willen konkreter Personen ab, worauf auch
Andrzej Zawada hingewiesen hat:
„Das heutige Bild Niederschlesiens bleibt stets unscharf und scheint mehr eine
individuelle, persönliche Projektion ihrer Bewohner, als fertiges Image, das verbreitet
werden kann, zu sein“88.
Die Konferenz endete mit dem Wunsch der Teilnehmenden, das Thema Geschichte im Fluss
zu erweitern und im Migrationskontext neu zu diskutieren. Angeregt wurden ein OnlineDossier und die thematische Fortführung mit Begleitung bzw. Koordinierung durch die bpb.
- ENDE -
87
Krzysztof Niewrzęda, Perfekt i czas tereźniejszy [Perfekt und Präsens]. In: Kiedy
mówisz Odra. Wiersze z motywem rzeki [Wenn du Oder sagst. Gedichte mit dem Flussmotiv].
Gesammelt, bearbeitet und mit Einführung versehen von Ryszard Sławczyński, Klub Muzyki
i Literatury Wrocław 1999, S. 127. (Übersetzt von M. Zielińska).
88
Andrzej Zawada, Literacki autoportret z Odrą w tle. [Literarisches Porträt vor der
Oderlandschaft] In: Odra – Oder. Panorama europejskiej rzeki. [Odra-Oder. Das Panorama
eines europäischen Flusses], hrsg. von Karl Schlögel i Beata Halicka, Skórzyn 2008, S. 261.
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