Unsere Klassengesellschaft

Werbung
Unsere Klassengesellschaft
Wie könnten die Deutschen angemessen über ihr Gemeinwesen sprechen? Ein
unzeitgemäßer Vorschlag
Von Paul Nolte
5
10
15
20
25
30
35
40
45
50
55
Vor einiger Zeit präsentierte das Magazin Spiegel-reporter eine Titelgeschichte über die
"Internet-Deutschen". Während Boris-"Ich bin drin"-Becker als Musterexemplar dieser neuen
Spezies den Leser anlächelte, versuchten die Zahlenkolonnen einer Emnid-Erhebung, der
Behauptung des Magazins wissenschaftlichen Anstrich zu verleihen: Deutschland teilt sich - in
diejenigen mit Internet-Anschluss auf der einen Seite und die minder Privilegierten ohne
Internet auf der anderen. Nicht näher bezeichnete "Gesellschaftskritiker" warnen angeblich
bereits "seit Jahren" davor, doch nun ist das Unglück eingetreten: Die internetlosen
Deutschen sind das neue "Proletariat", ganz Deutschland "ist auf dem Weg in die ZweiKlassen-Gesellschaft".
Man staunt und stutzt. Erst einmal verwundert es, dass zehn Jahre nach dem Ende des
europäischen Kommunismus noch einmal Begriffe aus dem Arsenal der politischen Sprache
geholt werden, mit denen Marx einst den Durchbruch der Industriegesellschaft begleitete und
die bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, in der DDR noch länger, die Selbstdeutung von
Politik und Gesellschaft prägten. Haben wir nicht die unglückseligen Zeiten der sozialen
Zerklüftung der Gesellschaft in ein ärmliches Proletariat und eine vermögende Bürgerschicht,
wenigstens im Westen Deutschlands seit den Zeiten des Wirtschaftswunders, glücklich
überwunden? Leben wir nicht längst einträchtig beieinander, in der Harmonie des
Massenkonsums? Sehen wir uns nicht viel lieber als moderne, dynamische "Wissens-" oder
"Zivilgesellschaft"? Die Rede von einer neuen Zweiklassengesellschaft zeigt immerhin, dass
sich ältere Muster der sozialen Struktur in unserem kollektiven Gedächtnis erhalten haben,
die manchmal wie schlechtes Gewissen über uns kommen.
Schaut man aber genauer hin, wird klar: Was hier als neue Spaltung der deutschen
Gesellschaft entlang der "Internet-Linie" verkauft wird, ist alles andere als neu. Es ist
vielmehr ein getreues Abbild der alten Klassengesellschaft, die wir verdrängt haben, ohne
ihre Realität beseitigen zu können. Die Internet-Linie trennt in altbekannter Manier
diejenigen, die in ungesicherten, schlecht bezahlten Arbeitsverhältnissen leben, die viel
fernsehen und wenig Bücher lesen, von den anderen, die von der ökonomischen Entwicklung
profitieren, vielleicht selbstständig sind, in jedem Fall gut verdienen und an der Bildungs- und
Informationsflut partizipieren. Sagen wir es deutlich: Bildung und Besitz sind immer noch die
Grundlage dieser neu-alten Klassengesellschaft. Aus Bildung und Besitz ergeben sich
bestimmte Vorlieben und Lebensentwürfe, zu denen jetzt eben auch das Internet gehört.
Sogar in den politischen Präferenzen spiegelt sich das Muster der bürgerlichen
Klassengesellschaft wider: Die FDP und die Grünen genießen bei Internet-Nutzern viel mehr
Ansehen als bei den Nichtnutzern - nicht etwa, weil Guido Westerwelle so viel vom Surfen
versteht, sondern weil diese beiden Parteien gegenwärtig am stärksten den Charakter von
Klassenparteien haben: die FDP als Partei des "Mittelstandes" - in Wirklichkeit der
bestverdienenden Geschäftsführer und Zahnärzte -, die Grünen als Partei der
bildungsbürgerlichen Erbmasse aus Lehrern, Sozialpädagogen und Universitätsdozenten.
Gewiss ist manches an den Spannungslinien unserer Gesellschaft durchaus neu. Drei wichtige
Beispiele liegen auf der Hand: Der private Konsum hat, zum Beispiel mit dem auffällig
gesteigerten Markenbewusstsein, eine größere Bedeutung für die Selbststilisierung des
Einzelnen und seinen Platz in der Gesellschaft gewonnen. Internet-Nutzer sind
vergleichsweise jung - ein Beleg dafür, dass Alter und Generation in den sozialen
Verteilungskämpfen eine größere Rolle spielen. Und jeder weiß, dass zwischen "alter
Bundesrepublik" und "Ex-DDR" eine soziale und kulturelle Kluft liegt, die sich in den
vergangenen Jahren eher vergrößert als geschlossen hat. Diese Stichworte sind jedem
Zeitungsleser vertraut.
Trotzdem sind wir erstaunlich blind dafür, wie eng solche Phänomene mit dem Grundproblem
der sozialen Schichtung, mit den Funktionsmechanismen der Klassengesellschaft,
zusammenhängen. Aufmerksame Beobachter wissen spätestens seit Mitte der achtziger Jahre
von der wachsenden Schere zwischen den Einkommen aus selbstständiger und aus
unselbstständiger Arbeit. Sie wissen auch, dass Konsum und Lifestyle soziale Unterschiede
nicht eingeebnet, sondern vergrößert haben. Aber in Politik und Öffentlichkeit hat all das
kaum Resonanz gefunden: Es wäre zu peinlich zuzugeben, dass Klassenunterschiede auch im
Übergang in das 21. Jahrhundert unsere Gesellschaft noch fundamental prägen - vom
1
60
65
70
75
80
85
90
95
100
105
110
115
Schulbesuch bis zur Gesundheitsversorgung, vom Einkommen bis zur politischen Macht. Auch
das liberale Feuilleton spricht lieber über die vermeintlich egalisierende "Individualisierung",
über die Gesellschaft der "Optionen" und der "Risiken". Selten fällt dabei auf, dass die einen
mehr Optionen haben, die anderen größere Risiken tragen.
Man muss diese Diagnose nicht einmal teilen, um sich über die Unfähigkeit der Politik zu
wundern, soziale Unterschiede noch angemessen zur Sprache zu bringen. Meist wird mit
allgemeinsten Kategorien wie dem "Volk" oder den "Bürgerinnen und Bürgern" zugekleistert,
dass Menschen unterschiedliche Möglichkeiten, Mentalitäten und Lebensentwürfe haben - und
dass diese Merkmale sich nicht zufällig in der Gesellschaft verteilen. Wenn den Politikern aber
das Bewusstsein dafür fehlt, in welcher Gesellschaft wir leben, und die Begriffe nicht mehr
zur Verfügung stehen, um das auszudrücken, führt dies zu einem Realitätsverlust und zu
einem Mangel an Problemlösungsfähigkeit, den sich keine Demokratie auf Dauer leisten kann.
In der Debatte über die Ursachen rechtsradikaler Gewalt ist diese Unsicherheit spürbar. Wenn
etwa der hessische Ministerpräsident Roland Koch über dieses Thema räsoniert, spricht er
verschämt von der Angst der "kleinen Leute" vor dem Verlust des Nationalstaates und von
der Erfahrung des "einfachen Mannes". Worüber soll man sich mehr wundern: über die
hausbackenen Begriffe, die an Schwarzweißfilme der Wirtschaftswunderzeit erinnern - oder
darüber, dass Koch überhaupt gesellschaftsanalytische Kategorien zur Beschreibung eines
politischen Problems heranzieht? Roland Koch erwähnt sogar das "untere Drittel der
Bevölkerung". Also gibt es doch noch eine Unterschicht in Deutschland - auch wenn dieses
Wort im politischen Diskurs der Bundesrepublik fast obszön geworden ist.
Wirft man einen Blick in programmatische Texte der Parteien, so bestätigt sich der Eindruck,
diese seien unfähig, ein Bild der gegenwärtigen Gesellschaft zu entwerfen, soziale
Unterschiede und Konfliktlinien auf den Begriff zu bringen. In ihrem Grundsatzprogramm von
1994 spricht die CDU unter der Überschrift "Soziale Ordnung" von Prinzipien wie
Gerechtigkeit und Solidarität - aber auf welche gesellschaftliche Lage diese Prinzipien
eigentlich angewendet werden sollen, bleibt ganz offen. Später ist von der "Sozialpolitik seit
dem 19. Jahrhundert" die Rede, sogar vom Konflikt zwischen "Kapital und Arbeit" - aber das
ist eine historische Reminiszenz. Auch die "Neue Soziale Frage" ist schon vor einem
Vierteljahrhundert von Heiner Geißler entdeckt worden - und es ist bezeichnend, dass trotz
des enormen ökonomischen und sozialen Wandels seitdem praktisch keine neuen Begriffe
mehr erarbeitet worden sind, die den veränderten Interessenlagen und sozialen
Differenzierungen gerecht werden. Von der FDP kann man das ohnehin kaum erwarten.
Nachdem sie eine Weile das bemerkenswerte Experiment betrieben hatte, sich ausdrücklich
als Klassenpartei der "Besserverdienenden" und "Leistungsbereiten" zu präsentieren, hat sie
inzwischen den Rückzug in das allein selig machende Konzept der "Bürgergesellschaft"
angetreten. Das ist schön und gut, wenn es um Innen- und Rechtspolitik geht - aber kann
man damit die Gesellschaft verstehen? Überhaupt verdeckt die Rede von der
"Zivilgesellschaft" die sozialen Unterschiede, ohne die man über die Möglichkeit, politische
und sittliche "Zivilität" zu erreichen, doch gar nicht reden kann.
Und wie sieht es auf der Linken aus, wo man schon aus historischen Gründen eine größere
Sensibilität für das Thema erwarten könnte? Im noch gültigen Grundsatzprogramm der SPD
von 1989 werden ausführlich die Grundsätze einer "freien, gerechten und solidarischen
Gesellschaft" skizziert. Ganz am Schluss erst findet sich ein Abschnitt über die "Überwindung
der Klassengesellschaft". Es ist der kürzeste des ganzen Kapitels, und man sucht in ihm
vergeblich Auskunft darüber, wer oder was eigentlich die sozialen Klassen seien, die sich in
dieser Klassengesellschaft gegenüberstehen. Für das Wahlprogramm Gerhard Schröders 1998
war selbst das zu drastisch: Jetzt will die SPD nur noch "die sozialen Gräben in unserer
Gesellschaft zuschütten" - nur welche? - und setzt dabei auf die "Leistungsträger unserer
Gesellschaft", die den Kern der Neuen Mitte ausmachen sollen. Einzig bei den Grünen wird
das Grundproblem der sozialen Ungleichheit einigermaßen unverbrämt ausgesprochen. Dabei
steht das Problem von Armut und Unterstützungsbedürftigkeit im Vordergrund. Das ist
löblich, reicht aber nicht aus; und ein Gesamtentwurf der "gesellschaftlichen Situation der
Zeit", wie man in Anlehnung an Karl Jaspers' einstige Diagnose der "geistigen Situation der
Zeit" sagen könnte, kommt so nicht zustande.
Spätestens hier liegt der Einwand nahe, dass dies doch alles ganz normal und nicht weiter
verwunderlich sei. Warum sollte in Politik und Öffentlichkeit ein so unappetitliches Thema wie
die Aufteilung der Gesellschaft in unterschiedlich ausgestattete Schichten und Klassen gerne
angesprochen werden? Es erscheint selbstverständlich, dass die Rede darüber verpönt ist.
Doch ist dies keineswegs normal; es ist auch nicht immer so gewesen. In vorindustriellen
Gesellschaften waren es die Menschen ohnehin gewohnt, als einem bestimmten "Stand"
2
120
125
130
135
140
145
150
155
160
165
170
175
zugehörig angesprochen und im Alltag entsprechend behandelt zu werden. Die politische
Sprache war getränkt von sozialen Rangfragen. Auch in der industriellen Klassengesellschaft,
die sich in Deutschland seit der Mitte des 19. Jahrhunderts herausbildete, war es nicht
anders. Gerade weil die neuen, durch den Markt geschaffenen Klassenzugehörigkeiten für die
Zeitgenossen so unerhört waren, wurde darüber diskutiert. Die Zugehörigkeit zu einer
bestimmten Klasse gehörte zur Identität des Individuums; sie bot eine Gemeinschaft, die
soziale Sicherheit verlieh. Auch die Politik ging ganz selbstverständlich davon aus, dass
Menschen unterschiedlicher Klassenlage unterschiedliche Interessen hatten; bis in die
Weimarer Republik hinein wurde das Wahlvolk gezielt als "Bauern" oder "Bürger",
"Mittelstand" oder "Arbeiter" angesprochen. Erst in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre
hörte das auf. Darin wirkte teils das Bemühen des Nationalsozialismus nach, soziale
Unterschiede in einer "Volksgemeinschaft" einzuschmelzen; teils lösten sich extreme Härten
der "sozialen Frage" tatsächlich auf; teils machte man die Erfahrung, dass das Schweigen
über soziale Ungleichheit gesellschaftlich integrierend und befriedend wirken konnte. Die
positive Funktion des Schweigens und Verdrängens war gerade in Deutschland wichtig,
inzwischen aber überwiegen die Kosten. Denn eine demokratische Gesellschaft sollte sich
Rechenschaft über ihre Bauprinzipien ablegen.
Eigentlich müsste soziale Ungleichheit ein großes Thema unserer Zeit sein. In allen westlichen
Industrieländern hat sich der Trend zu einer immer egalitäreren Einkommensverteilung seit
den achtziger Jahren markant umgekehrt. Zeitweise schien sich ein Sensorium für die damit
neu entstehenden, oder wieder verschärfenden, sozialen Probleme herauszubilden - aber wer
spricht heute noch über die "Zweidrittelgesellschaft"? Für diese öffentliche Verdrängung gibt
es viele Gründe. In Deutschland tat sich seit 1990 eine neue gesellschaftliche Kluft zwischen
"West" und "Ost" auf, die mit Klassenunterschieden scheinbar nichts zu tun hatte. Unter
linken und liberalen Intellektuellen ist Gesellschaftskritik, überhaupt das Denken in
Kategorien der "Gesellschaft", passé und gilt als altmodisch; man wendet sich der "Kultur"
zu, der Welt der Symbole und Imaginationen, nicht mehr der harschen materiellen Realität.
Im Westen suggeriert die neue Unterschichtung durch Einwanderer aus Südeuropa und der
Türkei den "Deutschen", für sich hätten sie das Problem einer Klassengesellschaft gelöst. Es
gibt eine "neue Armut", aber im Allgemeinen ist das Wohlstandsniveau in der Ära Kohl auch
für diejenigen gestiegen, die weniger als der Durchschnitt besaßen oder verdienten: Der
soziale "Fahrstuhleffekt", das Anheben des allgemeinen Lebensstandards, machte vergessen,
dass die Abstände wuchsen und sich neue, subtile Mechanismen der sozialen Differenzierung
herausbildeten.
Diese neuen Mechanismen der Klassengesellschaft findet man nicht so sehr, wie früher, in
der Sphäre der Arbeit, sondern in Konsum und Alltag. Auch hier war Amerika Vorreiter;
gegen Ende der achtziger Jahre stellte die Publizistin Barbara Ehrenreich eine neue
Polarisierung des Gütermarktes in ein "Oben" und "Unten" fest, während das ehemals
dominierende, solide mittlere Segment immer mehr Schwierigkeiten hatte, Käufer zu finden.
Das galt für Alltagsgüter wie Bier oder Haushaltsgeräte ebenso wie für die Orte des
Einkaufens, die Warenhäuser und Lebensmittelgeschäfte. Seit etwa zehn Jahren lässt sich
dasselbe in Deutschland beobachten. Für Waren aller Art etabliert sich ein hochtrabend
"Premium-Segment" genannter Markt, während am anderen Ende der Preiskampf der
"Discounter" immer härter wird. Man kann Mineralwasser für 30 Pfennig verkaufen und ab
einer Mark aufwärts - dazwischen ist es schwierig; und es sind klassische
Einzelhandelsunternehmen wie Karstadt, die darunter am meisten leiden.
Auffallend wenig wird darüber gesprochen, wie eng dem jeweiligen Angebot bestimmte
soziale Käufer- oder Nutzertypen entsprechen. Die Vervielfachung der Offerten hat den Blick
darauf verstellt, dass der Zuwachs an Optionen sehr klassenspezifisch genutzt wird, mehr
noch: der Demonstration und Verfestigung von Klassenunterschieden dient. Das Fernsehen
ist das beste Beispiel: Der Aufstieg der Privatsender hat ja nicht einfach zu einer "Bilderflut"
geführt, er hat vor allem eine Klassendifferenzierung des Fernsehens bewirkt, die es zur Zeit
des Duopols von ARD und ZDF nicht gab. Mit RTL und Sat.1 ist ein spezielles
Unterschichtfernsehen entstanden, und deshalb war es nur konsequent, dass sich am
anderen Ende der sozialen Skala Sender wie 3sat oder Arte etablierten.
Wenn es in den fünfziger und sechziger Jahren jene Tendenz zur "nivellierten
Mittelstandsgesellschaft" gegeben hat, von der der Soziologe Helmut Schelsky sprach, hat
sich der Trend inzwischen umgekehrt. Von solchen Unterschieden will die Gesellschaft zwar
nichts wissen - und doch passt sich fast jeder den Spielregeln der neuen Differenzierung an
und kennt die geheimen Codes. Trotz vieler kluger Konzepte der Sozialwissenschaften ist die
3
180
185
190
195
200
205
210
215
220
225
230
235
klassenprägende Kraft von Konsum und Lebensstil in unserer Gesellschaft im Grunde noch
immer unverstanden.
Es würde sich lohnen, den neuen Klassendifferenzen auch in anderen Dimensionen
nachzuspüren. Natürlich ist es wahr, dass der Faktor "Generation" heute größere Bedeutung
als früher hat. Wie der Unterschied zwischen den Geschlechtern ist Alter ein soziales
Merkmal, das eine durchaus eigene Prägekraft besitzt. Aber in Politik und Öffentlichkeit wird
meist der Eindruck erweckt, als wären "die" Senioren geradezu die Avantgarde einer
klassenlosen Gesellschaft, als wären Menschen über 60 nur noch alt und nicht mehr Bürger
oder Arbeiter, (Ex-)Unternehmer oder (Ex-)Verkäuferinnen. Das führt zu seltsamen
Schieflagen der Diskussion: Während die Parteien Alter immer noch als Armutsrisiko
klassifizieren, liest man andererseits ständig über die reichen Alten auf den
Kreuzfahrtschiffen. Ein wenig mehr "Klassen-Bewusstsein" würde hier zu größerer Klarheit
führen - aber auch zu unpopulären Maßnahmen wie der Aufhebung pauschaler
"Seniorenermäßigungen" in öffentlichen Einrichtungen und Verkehrsmitteln.
Schließlich ist auch der Unterschied zwischen dem "Westen" und dem "Osten" der
Bundesrepublik in vieler Hinsicht als Klassengegensatz zu deuten. Mit Recht vergleicht man ja
häufig die Durchschnittsverdienste, Haushaltseinkommen oder privaten Vermögen in den
neuen und alten Bundesländern und stellt einen großen Abstand fest. Aber höchstens
verschämt gibt man zu, dass sich daran so schnell gar nichts ändern wird, weil es ein
Vergleich zwischen Äpfeln und Birnen ist: nämlich zwischen zwei ganz unterschiedlichen
Schichtungsstrukturen. Und dieser Unterschied hat historische Wurzeln, die weit hinter die
Vereinigung zurückreichen: mindestens bis zur Massenabwanderung des Bürgertums und der
Mittelschichten, der Selbstständigen und der Gebildeten aus der entstehenden DDR. Zurück
blieb die Arbeiterschicht. Auf der Grundlage der bestehenden Sozialstruktur wird sich die
"Angleichung der Lebensverhältnisse" also nie vollziehen lassen. Man müsste dann auch
fordern, die Lebensverhältnisse in Duisburg-Nord oder Köln-Chorweiler dem Durchschnitt der
alten Bundesrepublik anzupassen. Mehr "Klassen-Bewusstsein" heißt auch: Abschied nehmen
von manchen bequemen Illusionen.
Ein Plädoyer für mehr Klassenbewusstsein - das mag sich antiquiert anhören, wie die
Aufforderung zur Rückkehr in die Denkwelten der Arbeiterbewegung vor hundert Jahren. Es
heißt aber nur, dass wir ein geschärftes Bewusstsein dafür brauchen, in einer Welt zu leben,
die immer noch durch soziale Ungleichheit, durch Schichtung und Klassendifferenzen geprägt
wird. Das weiter zu verdrängen kann angesichts der rasanten Veränderungen, wie wir sie
zum Beispiel in der Informations- und Wissensökonomie erleben, und angesichts der
demografischen Veränderungen, denen wir nicht ausweichen können, politisch gefährlich
sein.
Mit Klassenkampf hat das gar nichts zu tun, wohl aber mit gesellschaftlicher
Selbstaufklärung. Gewiss, der alte Anklagegestus, wie er noch vor einiger Zeit aus den
Büchern Bernt Engelmanns über die "Reichen" der Bundesrepublik sprach, hat sich
verbraucht und wird von niemandem vermisst. Sagen darf man freilich auch: Der "Sozialneid"
ist in Deutschland zum Totschlagargument geworden; wer überhaupt noch soziale
Unterschiede anzusprechen wagt, bekommt reflexartig die "Du schürst den Sozialneid"Bratpfanne auf den Kopf gehauen. Umgekehrt muss man sich von der Illusion verabschieden,
die Armut abschaffen, die Unterschicht zur bürgerlichen Mittelklasse machen oder soziale
Ungleichheit überhaupt aufheben zu können - und sei es auch nur in der rührenden, typisch
deutschen Schrumpfvision von der "Angleichung der Lebensverhältnisse". Auch hier kann
"Klassen-Bewusstsein" zu jener Annäherung an die Wirklichkeit verhelfen, die effektive
Sozial-, Struktur- oder Wirtschaftspolitik erst ermöglichen.
"Klassen-Bewusstsein" als Einsicht in die Realitäten der gesellschaftlichen Struktur und der
sozialen Ungleichheit ist deshalb ein Projekt bürgerlicher Aufklärung. Der britische Historiker
David Cannadine argumentiert in seiner Studie über Class in Britain ähnlich: "Klasse" ist kein
kommunistisches Konzept, wie Margaret Thatcher glaubte; es war vor Marx da und wird das
Ende des Marxismus überleben. Seine Wurzeln reichen dorthin zurück, wo jetzt viele nach
den Fundamenten der Zivilgesellschaft graben: in die schottische Aufklärung mit ihren großen
Autoren wie Adam Smith, Adam Ferguson oder John Millar. Politische Zivilgesellschaft und
kapitalistische Klassengesellschaft sind eng verwandt.
Von Bonn aus, dem rheinischen Treibhaus bürgerlichen Wohlergehens, konnte man einfache
Einsichten über die Strukturen einer deutschen Klassengesellschaft leicht verdrängen. Über
den Sozialschock der politischen Klasse bei ihrer Ankunft in Berlin im vergangenen Jahr, als
sie Straßen und U-Bahnen plötzlich mit fremden Wesen aus einer anderen sozialen Welt
teilen musste, ist in den Medien amüsiert berichtet worden. Vielleicht setzt die Ankunft im
4
Alltag ja wirklich Bewusstseinsveränderungen in Gang. Die Politik der Berliner Republik
könnte davon nur profitieren.
5
Herunterladen