INHALTSVERZEICHNIS 1. EINLEITUNG ............................................................................................................................ 3 2. GRUNDLEGENDE MERKMALE – MÄRCHEN, FANTASY, BIOGRAFIE ..................................... 5 2.1. MÄRCHENSTRUKTUREN UND -SYMBOLE ......................................................................... 5 2.2. MERKMALE DER FANTASYLITERATUR ........................................................................... 8 2.3. STEIN UND FLÖTE – EINE BIOGRAFIE ............................................................................ 11 3. STRUKTUREN EINES KLASSISCHEN MÄRCHENS .................................................................. 11 3.1 DREIGLIEDRIGKEIT DES ÄUßEREN AUFBAUS ................................................................. 12 3.2. ANWENDUNG DER PROPPSCHEN MORPHOLOGIE BEI STEIN UND FLÖTE ..................... 21 3.2.1. EINSCHRÄNKUNGEN ................................................................................................ 21 3.2.2. MÄRCHENHANDLUNGEN ......................................................................................... 23 3.2.3. STRUKTUREN DER MÄRCHENHANDLUNGEN........................................................... 27 3.2.3.1. DAS AUGENSTEINMÄRCHEN ............................................................................. 28 3.2.3.2. DAS BARLO-MÄRCHEN ..................................................................................... 32 3.2.3.3. DAS GISA-MÄRCHEN......................................................................................... 37 3.2.3.4. DAS FLÖTERMÄRCHEN ..................................................................................... 40 3.2.3.5. DAS NARZIA-MÄRCHEN .................................................................................... 42 3.2.3.6. DAS ARNILUKKA-MÄRCHEN............................................................................. 45 3.2.3.7. DAS URLA-MÄRCHEN ....................................................................................... 46 3.2.3.8. DAS MÄRCHEN VOM FRÖHLICHEN KÖNIG ....................................................... 50 3.2.3.9. DAS RÜBE-MÄRCHEN........................................................................................ 51 3.2.3.10. DAS AGLA-MÄRCHEN ..................................................................................... 52 3.2.3.11. DAS TRAUMMÄRCHEN .................................................................................... 54 3.2.3.12. DAS MÄRCHEN VON OLEG UND BOLEG ......................................................... 55 3.2.4. ZWISCHENFAZIT ...................................................................................................... 59 3.3. ÜBERNAHME ÄUßERER MÄRCHENELEMENTE .............................................................. 61 3.3.1. ANFANGS- UND ENDSEQUENZ .................................................................................. 61 3.3.1.1. DER ROMANANFANG ......................................................................................... 61 3.3.1.2. DAS ROMANENDE .............................................................................................. 64 3.3.2. ERZÄHLSITUATION .................................................................................................. 66 3.3.3. BRUCH MIT DER FIKTION ........................................................................................ 69 4. MÄRCHENMOTIVE UND –SYMBOLE ..................................................................................... 71 4.1. ZAHLENSYMBOLIK ......................................................................................................... 72 4.2. METALLISCHES UND MINERALISCHES .......................................................................... 74 4.3. ORTE............................................................................................................................... 77 4.4. ZEIT ................................................................................................................................ 80 4.5. WEITERE ÜBEREINSTIMMUNGEN .................................................................................. 81 5. FIGUREN ............................................................................................................................... 84 5.2. STATISCHE FIGUREN...................................................................................................... 88 5.2.1. MENSCHLICHE RATGEBER ...................................................................................... 88 5.2.2. ÜBERMENSCHLICHE GESTALTEN ........................................................................... 89 5.2.3. BELEBTE NATUR ALS HELFER ................................................................................ 90 5.3. VERÄNDERLICHE FIGUREN ........................................................................................... 91 1 5.3.1. BARLO ...................................................................................................................... 91 5.3.2. DIE FRAUENFIGUREN .............................................................................................. 92 5.4. NAMEN............................................................................................................................ 95 5.5. LIEBE UND EROTIK ...................................................................................................... 100 5.5.1. LIEBESBEZIEHUNGEN ............................................................................................ 101 5.5.2.TIERBRÄUTIGAM .................................................................................................... 105 5.5.3. EROTIK................................................................................................................... 107 5.6. MUSIK UND MAGIE ...................................................................................................... 108 6. FAZIT .................................................................................................................................. 111 7. ANHANG .............................................................................................................................. 115 7.1. LISTE DER BINNENGESCHICHTEN IN STEIN UND FLÖTE ............................................. 115 7.2. LISTE DER LIEDER IN STEIN UND FLÖTE ..................................................................... 116 8. LITERATURLISTE ................................................................................................................ 117 2 1. Einleitung Diese Arbeit möchte weder den Ansatz der Märchenforschung verfolgen, der besagt, dass Märchenmotive bereits jenseits dieses Genres existiert haben und existieren (und somit von jeder Textart aufgenommen werden können), noch über die Gründe für die Anlehnung des Romans an die Märchen spekulieren. Beides ließe sich nur durch ein dezidiertes Auseinandersetzen mit den Intentionen und Quellen des Autors untersuchen, wobei die Biografie Bemmanns und der Vergleich mit seinen weiteren literarischen Werken durchaus die These erlauben, dass er den Roman gezielt in Anlehnung an Märchen geschrieben hat, da Märchenforscher, Zauberer und Feen (Trilogie „Die Verzauberten“, 1990, 1993, 1998) oder die Sammlung von Geschichten (Erwins Badezimmer, 1984) stets Thema der Romane des studierten Germanisten sind. Dass diese Eigenart auch in seinem erfolgreichsten Werk angewandt wurde, ist nicht verwunderlich; vielmehr erreicht der Einfluss des Märchens auf Bemmanns Werk hier seinen Höhepunkt. Das kunstvolle Verbinden von Strukturen und Symbolen, die insbesondere für Volksmärchen typisch sind, mit den Strukturen eines Fantasyromans wird daher im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen; die prägnanten Parallelen und die entscheidenden Unterschiede beider Genres im Beispiel von Stein und Flöte. In der Fantasyliteratur ist das Wunderbare, das die Welt des Märchens durchzieht, ebenso verankert wie eine technisch und sozial eher mittelalterlich gestaltete Gesellschaft, in der es monarchische oder zumindest in ihrer Stellung an Macht einem König gleichende Landesherren gibt, die eine Schar von Bauern, Handwerkern und Soldaten regieren. Mögen Theoretiker wie Zgorzelski1 die heroic fantasy und das Volksmärchen hierbei voneinander trennen, so betonen sie jedoch auch, dass die Übergänge fließend seien. „Es wäre natürlich ein Irrtum, sich diese Typen von Fiktion als stabil und nichtevolutionär vorzustellen. Jeder von ihnen bildet eine Anzahl von Genres, die, historisch veränderlich, im Verlauf ihrer Entwicklung aufeinander folgende 1 Zgorzelski: Zur Einteilung der Phantastik, S.24ff. 3 Genre-Konventionen hervorbringen und auf diese Weise ein äußerste kompliziertes diachronisches Geflecht von Zügen, Einflüssen und Gegensätzen sowohl innerhalb eines jeden abgehobene Typus wie zwischen allen fünfen von ihnen bieten.“2 Nahe liegend wäre hierbei doch vielmehr, dass die Fantasyliteratur jener Gesellschaften, in denen ein bestimmter Märchenkanon zum kulturellen Allgemeingut gehört, eine starke Beeinflussung durch das Märchen erhält, da sich Welten und Ziele nicht markant voneinander unterscheiden, sofern die Welt des Fantasyromans in sich stabil ist und er nicht den Übergang von der einen in eine andere Wirklichkeit zum Thema hat3. Im Märchenroman Stein und Flöte sind diese Einflüsse stärker sichtbar als in anderen Beispielen der Fantasyliteratur. Er verwendet Stoffe, Figuren, Motive und dieselbe Grundstruktur aus Volksmärchen wie denen der Gebrüder Grimm und wendet sie gezielt an, um schon allein durch den Aufbau eine spezielle Märchenatmosphäre zu schaffen, die weit stärker reicht als Zitate aus Einzelmärchen. Intertextualität mag prognostiziert werden, wenn er Lauscher mit Mollo der Anlehnung an eine Figur aus Tolkiens Herr der Ringe begegnen lässt, womöglich auch bei den Anklängen an die Hamelner Rattenfängersage oder das Märchen vom Wasser des Lebens. Betrachtet man jedoch Motivik, Figurenkonstellationen und Handlungsverläufe geschlossen, erkennt man, dass Bemmann in Stein und Flöte eine Übernahme von Motiven und Strukturen aus den Märchen praktiziert, die den Grad reiner Intertextualität übersteigt. Beginnend mit dem Aufbau und der Strukturanalyse des Romans werde ich aufzuzeigen versuchen, auf welche Art Bemmann den Subtext des Märchens in der Symbolik nutzt und inwiefern die Tiefenstruktur der Romansegmente in 2 Ebenda, S.25 In Romanen wie den Chroniken von Narnia von C.S. Lewis, der Unendlichen Geschichte von Michael Ende, Harry Potter von J.K. Rowling oder Märchenmond von Wolfgang und Heike Hohlbein ist gerade dieser Übergang zwischen parallel existierenden Welten oder Gesellschaften, von denen eine meist im Verborgenen liegt und nur für wenige Auserwählte betretbar ist, einer der Kernpunkte der phantastischen Welt, in der die Romane spielen. Solche Romane sind daher von Fantasyromanen mit stabiler Welt, die von der realen Wirklichkeit komplett getrennt ist, zu unterscheiden. Beispiele für Fantasyromane mit stabiler Welt sind etwa Tolkiens Herr der Ringe, Terry Pratchetts Scheibenweltromane, Romane zur Rollenspielproduktion Das Schwarze Auge oder Hans Bemmanns Stein und Flöte. 3 4 sich selbst und in Verbindung untereinander den Märchenstrukturen gleicht. Parallelen und Ähnlichkeiten, aber auch die Unterschiede, die der Autor trifft, sollen die Anwendungsmöglichkeiten von Märchenstrukturen und -symbolen in der modernen deutschsprachigen Fantasy bzw. die sowieso schon vorhandenen Beziehungen aufzeigen. Da die Forschungslage zu Bemmanns Werk dürftig ist 4, habe ich versucht, die Elemente des Märchens durch Recherchen der umfangreichen Fachliteratur zu dieser Gattung herauszustellen, um nach eigenem Ermessen die Strukturen und Symbole aus Bemmanns Werk zu filtern. Dadurch sind einige Teile der Arbeit, in denen es um werkimmanente Zuordnungen geht, nicht durch Sekundärliteratur zu stützen gewesen, sondern beruhen allein auf dem Vergleich mit den KHM, die ich als Märchenvergleich herangezogen habe. 2. Grundlegende Merkmale – Märchen, Fantasy, Biografie In Stein und Flöte vermischen sich die Merkmale mehrerer Genres. Es ist nicht nur Märchenroman, sondern auch ein Fantasyroman, in dem die Biografie des Protagonisten dargestellt wird. Während Teile der unterschiedlichen Genres konform gehen, unterscheiden oder widersprechen sich andere. Will man die Strukturen eines einzelnen Genres herausfiltern, wie ich es in meiner Arbeit versuchen werde, ist es daher elementar, eine Vordefinition der einzelnen Strukturen vorzunehmen. Während ich dies bei Märchen und Fantasy ausführlicher darstelle, begnüge ich mich beim Punkt der Biografie mit einem kurzen Abriss der biografischen Elemente innerhalb des Romans. 2.1. Märchenstrukturen und -symbole „Um zu entscheiden, ob eine Geschichte ein Märchen oder etwas ganz anderes ist, könnte man fragen, ob es dem Kind gefalle, weil es mit Liebe erzählt wird. Dies wäre kein schlechter Weg zu einer Klassifikation.“5 4 Verweise auf Stein und Flöte ließen sich nur in Neuhaus: Märchen finden, der darin den Versuch unternimmt, die Gattungen des Kunst- und des Volksmärchen aufzulösen, letzteres als Erfindung der jeweiligen Zeit postuliert und das Märchen als umfassende Gattung durch die Jahrhunderte verfolgt, wobei sein Schwerpunkt auf dem neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert liegt. 5 Bettelheim: Kinder brauchen Märchen, S.35 5 Was Bettelheim mit diesem zwar revolutionär klingenden, aber wohl weder ernsthaft gemeinten noch durchführbaren Vorschlag anklingen lässt, ist die Ambivalenz der Schwierigkeit, Märchen als ebensolche zu kategorisieren. So leicht es scheinen mag, einen Text als Märchen zu definieren – schließlich beginnen alle Märchen nach dem Volksglauben mit ‚Es war einmal’, und ob dieses Kriterium zutrifft herauszufinden, bedarf keines langen Studiums –, so schwer hat sich die Märchenforschung damit getan, allgemeine Maßstäbe zu formulieren, die an jedes Märchen angelegt werden können. Einig wurde man sich darin, dass es eine Reihe von märchentypischen Kriterien gibt: etwa die Kürze des Textes, die Oberflächlichkeit der handelnden Figuren, Grundschemata von Aufgaben, Notsituationen oder Bedürfnissen, die bewältigt werden müssen, und bestimmte Formulierungen sowie Symbole und Motiven. Über die Gemeinsamkeiten hinaus wurden verschiedene Unterschiede herausgestellt, die eine Typisierung in verschiedene Subgenres des Märchens nahe legten. Wie diese Typisierung konkret auszusehen hat, war und ist immer noch eine Problemstellung der Märchenforschung. Eines der Kriterien zur Typisierung sind die unterschiedlichen Motive, nach denen Märchentypen aufgestellt werden können. Eine der grundlegenden Arbeiten hierzu erschien 1910 vom Finnen Antti Aarne, der Märchen kategorisierte und in Tiermärchen, eigentliche Märchen und Schwank- und Lügenmärchen einteilte, wobei er bei den eigentlichen Märchen noch einmal in vier Typen unterschied: in Zauber- und Wundermärchen, in legendenartige Märchen, in novellenartige Märchen und in Märchen vom dummen Teufel bzw. dem dummen Riesen. Eine solche Kategorisierung erwies sich zwar als nützlich und praktikabel, weshalb sie auch heute noch in der Märchenforschung Anwendung findet; allerdings ergaben sich bei der Einordnung gewisse Überschneidungen und dadurch Grauzonen. Andere Theoretiker kritisieren die Definition des Märchens über das Nachweisen bestimmter Motive. Spanner z.B. weist darauf hin, dass bereits bekannt sei, dass „die gleichen Erzählbilder, die gleichen Motive über die Gattungsgrenzen von Märchen, Sage, Epos, Roman und Drama hinweg vorhanden sein 6 können“6. Insofern genügt es nicht, Motive aufzuzeigen, um damit eine Parallelstruktur zwischen Märchen und Stein und Flöte zu belegen. Schon Jolles erweiterte 1930 die Definition des Märchens über die Motive um den Aspekt der Handlung: „Märchen ist Geschehen, Geschehen im Sinn der naiven Moral; entfern wir dieses Geschehen mit seinem tragischen Anfang, seinem Fortschreiten in der Richtung der Gerechtigkeit, seinen tragischen Hemmungen, seinem ethischen Schluss, so bleibt irgendein sinnloses Skelett, das uns keine moralische Befriedigung gewähren kann und das höchstens als mnemotechnisches Mittel zu einer Wiederherstellung der Form dient.“7 Es genügt also auch für die Gattung des Märchens nicht, bestimmte Motive aufzugreifen; sie müssen in einen kausalen und moralischen Ablauf eingegliedert werden, um inhaltlich wie formal dem Gattungsbegriff zu entsprechen. In den 1920er Jahren entwickelt Vladimir Propp aus demselben Ansatz heraus, ein allgemeingültigeres Prinzip zu finden, nach denen Märchen zu ordnen seien, sein System der Morphologie des Märchens, in dem er strukturalistische Prinzipien für eine neue Kategorisierung nutzte. Nicht mehr das Motiv, sondern die Handlung gilt für ihn als Kernelement. „Für die Erforschung der Märchen ist daher die Frage primär, was die Märchengestalten tun; die Frage nach dem wer und wie sind nur noch sekundärer Art.“8 Darauf gestützt analysiert er an einem Korpus von 100 russischen Märchen eine Abfolge von 31 Elementen, die stets in derselben Reihenfolge die Morphologie des Zaubermärchens bilden (wobei nicht jedes Element in jedem Märchen auftaucht/auftauchen muss und einige Verschiebungen möglich sind). Durch die Analyse dieser Elemente, d.h. Handlungsfunktionen, können Texte nun eindeutig zugeordnet werden. Märchen können also über Motive und Handlungsstrukturen definiert werden (denn auch Propp widerspricht nicht, dass die Motive ebenso charakteristisch 6 Spanner: Märchen als Gattung, S.165 Jolles: Einfache Formen, S.245 8 Propp: Morphologie des Märchens, S.26 7 7 fürs Märchen sind; nur als Ordnungskriterium genügen sie ihm nicht), z.B. mit Wesselski als „eine Kunstform der Erzählung, die neben Gemeinschaftsmotiven auch in einer die Entwicklung der Handlung bestimmenden Weise Wundermotive verwendet; durch das Nacherzählen wird das Märchen Einfache Form, eine Geschichte“9. Darüber hinaus sind gewisse Thematiken und Kernvorgänge in Märchen bindend. So geht es in Märchen um „Gerechtigkeit“10; „Wenn sie keine Wirklichkeit geben, so geben sie doch Wahrheit“11, um den Sieg des scheinbar Schwächeren über den Stärkeren. Liebe oder profaner die Brautsuche sind Gründe, weshalb ein Held in die Welt auszieht, ebenso wie pure Abenteuerlust oder Jugend. Mangelsituationen und Schädigungen müssen aufgehoben werden (Propp), eine Erlösung muss vollzogen, ein Rätsel oder eine Aufgabe gelöst werden. Am Schluss gibt es ein glückliches Ende, denn: „Die Volksmärchen sind ja immer auch naive Utopien von einer besseren Welt im Sinne von wunschgesteuerten Verwandlungen der Realität.“12 Figuren wie Hexen, Zauberer, Feen, sprechende oder verzauberte Tiere, Könige, Prinzessinnen und einfache Handwerker, Soldaten oder Jäger bevölkern die Märchen, und Zaubergegenstände, übersinnliche Fähigkeiten oder Helfer führen den Helden bzw. die Heldin zum guten Ausgang des Märchens. Zuletzt sind bestimmte Zahlen (v.a. die Drei und die Sieben), Farben und Metalle, Orte und die Zeitlosigkeit, in der die Märchen schweben (denn im Gegensatz zu den Sagen können sie keinem bestimmten Zeitraum zugeordnet werden), ebenso prägend für das Genre wie die charakteristische Kürze. 2.2. Merkmale der Fantasyliteratur Eine Definition der Fantasyliteratur ist ebenfalls häufig versucht worden; eine umfassende Arbeit stellt die Dissertation von Helmut W. Pesch, „Fantasy. Theorie und Geschichte“ von 1981 dar. Pesch unternimmt darin auch einen 9 Wesselski: Versuch einer Theorie des Märchens, S.104 Jolles: Einfache Formen, S.245 11 Lüthi: So leben sie noch heute, S.11 12 Wardetzky: Schöpferische Potentiale, S.197 10 8 Vergleich und eine Abgrenzung zwischen Märchen, Mythos und Fantasyliteratur. Fantasy definiert sich dabei nach drei Kriterien: der Handlung, dem Schauplatz und dem technologischen bzw. ontologischen Entwicklungsstand13. Die Werke dieses Genres schildern ein handlungsbetontes Abenteuer eines fast schon mythisch anmutenden Helden, am häufigsten tatsächlich mit dem Schwert in der Hand, in Welten, bei denen es sich „um prinzipiell nicht mehr messbare Verschiebungen, d.h. um Welten, die mit der historischen Kontinuität in irgendeiner Weise gebrochen haben“14 handelt. Diese Distanz zu einer Legitimation der Welt, die eben nicht mehr in einem Zusammenhang mit der Jetzt-Zeit und der wirklichen Welt steht, scheidet die Fantasy z.B. von der Science-Fiction, auch wenn ein Teil der Fantasyliteratur ihre phantastischen Welten in die Realität zu integrieren versucht (als Parallelwelten oder Abspaltungen in der Historie). Der dritte Faktor schließlich ist die Magie, die den fiktiven Zivilisationen und Geografien den letzten phantastischen Zug verleiht: „Magie zeigt sich in der Fantasy nämlich in verschiedener Gestalt, nicht nur als Naturkraft, der die Menschen unterworfen sind, sondern auch als erlernbare Kunst, deren Gesetze ebenso stringent sind wie die der Wissenschaft, oder als physische Fähigkeit, deren Erklärung noch als innerhalb der Naturgesetze möglich angesehen werden mag“15. Dieser Definition nach (die Unterkategorien der Fantasy wie z.B. High Fantasy oder Heroic Fantasy sind für diese Arbeit unerheblich, da sie alle auf diesen drei Kriterien fußen) ist eine Unterscheidung zwischen Märchen und Fantasy problematisch, da man alle Kriterien auch auf die Abenteuer eines mit wunderbaren Zaubermitteln ausgestatteten Märchenhelden in der Märchenwelt anwenden könnte. Pesch stellt jedoch den Determinismus der Märchen als markantesten Unterschied heraus, denn die Fantasy bricht mit dieser Tradition. Nicht alles muss gut ausgehen, nicht jeder Held erhält auch seine Geliebte zur Braut, nicht jedes Unglück kann beseitigt werden. „Selbst wenn also die Welt 13 Pesch: Fantasy, S.40ff. Ebenda, S.42 15 Ebenda, S.45 14 9 der Fantasy Handlungsnormen folgt, die denen von Mythos und Märchen vergleichbar sind, so hat sie nicht mehr dasselbe unreflektierte, gleichsam ‚unschuldige’ Verhältnis zu ihnen, sondern es hat sich hier ein qualitativer Wandel vollzogen.“16 Ohne Schwierigkeiten kann diese Definition auch auf Stein und Flöte übertragen werden. Die fiktionale Umgebung zwischen Fraglund, Barleboog, Draglop, Arziak und Falkenor steht in keinerlei Abhängigkeitsbeziehung von der realen Welt, obwohl Bemmann im zweiten Kapitel des dritten Buches eine Vision einbindet, die einen Übergang zu unserer Realität darstellen könnte (S.649-653). Allerdings beschränkt sich Bemmann auf vage Andeutungen wie Fotoapparate („Manche von ihnen trugen ein kleines, blitzendes Gerät bei sich, das sie zuweilen ans Auge hoben und auf eine der Figuren oder auch das Schloss richteten, als könnten sie auf diese Weise das alles besser anschauen.“17) und die Kleidung der beschriebenen Personen („ungewöhnlich lange Hosen“, „ein schmales, aus buntem Stoff gewebtes Halstuch (…), dessen Zipfel vorn herabhingen“, „Kleider der Frauen so kurz, dass man ihre Beine fast herauf bis zum Knie sehen konnte“18), so dass weder mit Bestimmtheit die Zeit als unsere reale Wirklichkeit festgelegt werden kann, noch diese Vision als Zukunftsbild der Realität Lauscher gewertet werden kann, obwohl darin eine alte Frau mit Urlas Augen auftritt, deren Familiengeschichte mit Lauscher verknüpft zu sein scheint („Was meinst du, warum diese Geschichte in unserer Familie von Generation zu Generation weitergegeben wurde? Wir stammen doch von den beiden ab!“19). Von dieser Episode abgesehen, tauchen keine Hinweise auf eine präindustrielle, reale Epoche auf, und auch der technologische und ontologische Horizont verweist auf eine andere Wirklichkeit: Christliche oder andere real-religiöse Anspielungen gibt es nicht, wenn auch romaninterne religiöse Vorstellungen angesprochen werden20, 16 Ebenda, S.53 Stein und Flöte, S.649 18 Ebenda, S.649f. 19 Ebenda, S.652 20 Das Verhältnis der Fischer am See des Grünen zu eben jenem Wasserwesen, von dessen Wirken sie den Ertrag ihrer Fischernetze abhängig machen, erinnert ebenso an Naturgottheiten wie der Glaube der Karpfenköpfe an den Großen Karpfen, der tatsächlich als Schutzgott für seine ‚Kinder’ in Erscheinung tritt – vgl. Stein und Flöte, S.416 – und über die Schuppen wunderbare Fähigkeiten verleiht: Lauscher schwitzt nicht (S.393), und Ruzzo kann länger 17 10 während magische Prinzipien wirken (vgl. 5.6.). Die Handlungen des Helden liegen schließlich häufig im Bereich von Questen (Befreiung von Barleboog, drei Fahrten für Arnis Leute, Suche nach der Identität, Rettung des Kindes usw.) oder dem Kräftemessen mit Gegenspielern (Gisa, Narzia, der Graue); es sind also die handlungsbetonten Abenteuer, die Pesch als Kriterium des Fantasyliteratur sieht. 2.3. Stein und Flöte – eine Biografie Die Merkmale der Biografie innerhalb des Romans sind einfach herauszustellen. Der Roman beginnt mit der Geburt des Protagonisten Lauscher und endet mit dessen Tod. Dies steht im Kontrast zur begrenzten biografischen Begleitung eines Märchenhelden, denn das Volksmärchen begnügt sich mit einer relativ kurzen Zeitspanne. „Seine Hauptpersonen sind in der Regel jung. Märchenheldin und Märchenheld werden nur zwischen Kindheit und Pubertät oder Heirat biografisch verfolgt. Ihr Alter bleibt ausgeklammert, bzw. Alte sind höchsten Helfer (die gute Alte, das alte Männlein, der weise Alte) oder Gegenspieler (die alte Hexe, der alte Zauberer).“21 Darüber hinaus verfolgt Stein und Flöte Lauschers Leben mit Fokus auf den Protagonisten, so dass abseits der Binnenerzählungen eine eher personale denn auktoriale Erzählperspektive vorliegt. 3. Strukturen eines klassischen Märchens Stein und Flöte ist auf mehreren Ebenen von Strukturen und Symbolen des Märchens durchzogen. Innerhalb der einzelnen Handlungsstränge des Romans sind deutliche Ähnlichkeiten zur Märchenmorphologie nach Propp zu finden, auch wenn die Überlappung einzelner Märchenhandlungen innerhalb des Romangeschehens und der Einfluss der Genreeigenschaften des Fantasyromans sowie der Biografie die Unterscheidung erschweren. „Außer durch die komplexere Handlungsstruktur unterscheidet der Roman sich vom Märchen unter Wasser bleiben (S.747f.). Arnilukka erwähnt einen „Todesvogel“ (S.675), an den die Karpfenköpfe glauben. Arni wird von den abgespaltenen Beutereiter in Form eines Weisen verehrt, und zuletzt gibt es noch die beiden mystischen Figuren des Grauen und des alten Steinsuchers, die dämonische und göttliche Prinzipien in sich vereinen (vgl. 5.2.2.). 21 Röhrich: „und weil“, S.78 11 u.a. durch Literarisierungsmerkmale wie die stärkere erzählerische Expansion und die Verselbständigung der Diskursebene.“22 Märchenstoffe und -motive werden in das Romangeschehen transponiert oder durch Binnenerzählungen eingeschoben, die wiederum auf die Handlung referieren oder Hintergründe für dieselbe schildern. Auch das Wechselspiel von Binnen- und Rahmenerzählung trägt dabei märchenhafte Züge, wenn man diesen Aufbau mit den ersten bekannten Märchensammlungen vergleicht. Überhaupt nutzt Bemmann bereits im äußeren Aufbau eine auffällige Dreigliedrigkeit, die schon bei Betrachtung des Inhaltsverzeichnisses ins Auge fällt. Er teilt seinen Roman zunächst einmal in drei Bücher, hebt im ersten Buch drei mal drei Geschichten und im zweiten Buch drei mal drei Träume hervor und unterteilt das letzte Buch in drei Kapitel, von denen das dritte wiederum in drei Teile zerfällt. Ist diese starke Tendenz zur Zahl Drei nur Zufall, oder präsentiert sich hier kompositorische Intention? Im Folgenden werde ich zunächst auf drei strukturelle Ähnlichkeiten zwischen klassischen (Volks-)Märchen und Stein und Flöte eingehen: auf die Dreigliedrigkeit im Aufbau des Romans, auf die Parallelen zwischen den Handlungssequenzen im Roman und der Proppschen Morphologie und auf die Einbindung der Binnengeschichten. 3.1 Dreigliedrigkeit des äußeren Aufbaus Die erste, die ins Auge springt, ist der Aufbau des Romans, der sich der Dreizahl bedient; jener Zahl, die in nur wenigen Zaubermärchen der Grimmschen Kinder- und Hausmärchen fehlt und generell neben der Sieben wohl die bekannteste Märchenzahl ist. „Ein solcher Rhythmus der Dreigliedrigkeit beherrscht aber auch sonst in erheblichem Maße den Aufbau des Märchens. Nicht bloß erscheint die Drei als die stehende Zahl überhaupt, indem Personen, Dinge, Maße regelmäßig in der Dreizahl erscheinen, (…). Diese Dreizahl gibt sehr oft dem Stoffe zugleich die entscheidende Gliederung.“23 22 23 Nolting-Hauff: Märchenromane mit leidendem Helden, S.417 Panzer: Märchen, S.95 12 Ebenso verfährt Bemmann. Zunächst teilt er seinen Roman in drei Bücher. In das erste Buch sind drei mal drei Geschichten, in das zweite drei mal drei Träume eingebunden. Das dritte Buch besteht aus drei Teilen, von denen das dritte wiederum in drei Kapitel unterteilt worden ist, und im dritten Kapitel findet sich einer weitere Gliederung in drei Teile. Auch inhaltlich spiegelt sich diese Dreiteilung wieder. Das erste Buch beschreibt die Übergabe eines ersten Zaubermittels an Lauscher, dem Augenstein, und Lauschers Aufbruch in die Welt; der Beginn einer klassischen Suchwanderung. Es umfasst drei Jahre der Wander- und Dienerschaft mit Barlo, Lauschers Beziehung zu einer ersten Frauengestalt, Gisa, und den Sieg über deren Zauber. Das zweite Buch, das nur ein knappes Jahr umfasst, beginnt wiederum mit der Übergabe eines Zaubermittels; dieses Mal erhält Lauscher die Silberne Flöte, das augenscheinlich machtvollste Zaubermittel innerhalb des Romans. Das Buch beschreibt Lauschers Bekanntschaft mit Arnis Leuten und seine Beziehung zur zweiten Frauengestalt des Buches, Narzias. Weiterhin geht es um die drei Fahrten, die Lauscher unternimmt, um Narzias Hand zu gewinnen – auch dies ein klassisches Märchenmotiv. Im dritten Buch werden die Ereignisse zwischen Lauschers einundzwanzigstem Lebensjahr und seinem Tod erzählt. Da sie nicht unter ein großes Thema zusammenzufassen sind – wie die Suchwanderungen im ersten und zweiten Buch – müssen inhaltliche Zäsuren, verknüpft mit äußerlichen Einschnitten und Unterteilungen vorgenommen werden. Verbindend ist jedoch die Beziehung zur dritten wichtigen Frauengestalt, Arnilukka, die in den Büchern zuvor bereits als Kind oder Traumgestalt eingeführt wurde, nun aber zentrale Bedeutung für Lauschers Liebesleben erhält und stets Ziel- oder Ausgangspunkt ist. Der erste Teil erzählt von Steinauges Suchwanderung nach seiner Identität; zur Unterstützung erhält er ein drittes Zaubermittel, den Zirbel. Nachdem er am Ende dieses Teils seine Erinnerungen gefunden hat und mit seinem 13 Scheitern und seinen Vergehen konfrontiert die Flucht in die Versteinerung sucht, ist der zweite Teil eine erneute Suche nach seiner Identität, die allerdings hauptsächlich in Form von chronologisch rückblickenden oder vorgreifenden Binnenerzählungen vorgenommen wird. Den Übergang zum dritten Teil markiert die Erlösung aus der Versteinerung durch Arnilukka. Das erste Kapitel des dritten Teils schließt chronologisch direkt an den zweiten Teil an und behandelt inhaltlich die vermeintliche Auflösung der Liebesgeschichte zwischen Lauscher und Arnilukka, deren Trennung auch das Ende des ersten Kapitels ist. Darüber hinaus spielen Lauschers Reflexion seiner Schuld sowie sein erster Schüler Döli eine gewisse Rolle. Am Ende dieses Kapitels trennt sich Lauscher vom Augenstein, den er seiner Tochter vererbt. Nach einem Zeitsprung setzt das zweite Kapitel ein, das wiederum eine klassische Suchwanderung beschreibt; dieses Mal muss Lauscher zunächst mit Hilfe seines zweiten Schülers Schneefink aus der Gefangenschaft der Blutaxtleute fliehen, um anschließend den Fluch zu brechen, der auf seiner Tochter liegt. Gleichzeitig mit dem Fluch wird auch die Geschichte Narzias beendet. Am Ende dieses Kapitels übergibt Lauscher die Silberne Flöte an Schneefink und trennt sich damit vom zweiten Zaubermittel. Das dritte Kapitel schließlich handelt von Lauschers Alter; das erste Unterkapitel konfrontiert ihn mit einer schwierigen Lage in Arziak, die im Tod seiner Tochter gipfelt, das zweite bringt die Lösung der Konflikts rund um ein Flötenduell zwischen Lauscher und Döli, das durch Schneefink entschieden wird, während das dritte Lauschers letzten Abschied von Arnilukka, seinen letzten Konflikt mit dem Grauen und seinen Tod beschreibt. Im Tod trennt sich Lauscher auch noch vom dritten Zaubermittel, dem Zirbel. Nun stellt sich die Frage, ob dieses Aufgreifen der Drei ein kompositorisches Mittel oder aber doch womöglich Zufall ist. Entscheidend ist hierfür, ob sich Belege dafür finden lassen, dass die Anzahl der als ordnendes Element 14 ausgewählten Binnenerzählung nicht der tatsächlichen Anzahl an Binnenerzählungen im Gesamttext entspricht. Betrachten wir zu diesem Zweck zunächst einmal die neun Geschichten aus dem ersten Buch. Sie unterscheiden sich von der Rahmenhandlung deutlich in den Merkmalen des Erzählers und der Linearität der Geschichte. Insgesamt können vier Merkmale ausgemacht werden, anhand derer die Binnenerzählungen auch ohne explizite Markierung auffallen: 1.) Erzähler: Liegt der Fokus des auktorialen Erzählers in der Rahmenhandlung bei Lauscher, so besitzt jede der neun Geschichten ihren eigenen Erzähler, der auch deutlich genannt wird. Vier dieser Binnenerzählungen (Die Geschichte von Arni mit dem Stein; Die Geschichte von Arni und den Leuten am See; Die Geschichte vom alten Barlo und seinem Sohn Fredebar; Die Geschichte vom jungen Barlo) haben einen Ich-Erzähler. 2.) Lauschers Position: Lauscher kommt in diesen Erzählungen gar nicht vor, ist jedoch stets ihr Adressat. 3.) Zeitliche Linearität: Mit Ausnahme des zeitlosen Märchens lassen sich alle Geschichten romanintern vor die Geschehnisse der Haupthandlung einordnen. 4.) Einbettung: Bei jeder Geschichte wird zunächst in die Erzählsituation eingeführt; wir erfahren, wer wann wem unter welchen Umständen erzählt. Ist die Geschichte beendet, gibt es noch einmal eine Reflektion über das Gehörte; entweder im Gespräch oder zumindest in den Gedanken Lauschers (auch dies übrigens erneut ein ‚Dreisatz’: Einführung, Geschichte, Reflexion).24 Sind das aber die einzigen Geschichten, auf die diese Merkmale zutreffen, oder hat der Autor willkürlich eine ihm genehme Anzahl an Geschichten markiert? Erzählsituationen innerhalb des Romans sind nicht ungewöhnlich; vielmehr wechseln sich Handlungen und Berichte von Handlungen, die die Figuren einander erzählen, regelmäßig ab (vgl. 3.3.). Viele Geschichten, die wir hören, 24 Eine genauere Analyse der Einbettung der Binnenerzählungen findet sich unter 3.3.2. 15 sind zeitliche Rückgriffe, die die Motivation einzelner Figuren erst begründet oder ihren persönlichen Hintergrund erzählt. Inhaltlich gibt es dabei drei Schwerpunkte, wodurch die neun Binnengeschichten in drei Typen klassifiziert werden können: Zunächst einmal sind einige der Geschichten zum Verständnis der aktuellen Handlung oder der Bestätigung impliziter Gerüchte notwendig (Typus 1). Die märchenhaft anmutende Geschichte von Gisa und den Wölfen etwa durchleuchtet die Antagonistin Gisa und verrät das Geheimnis der gelbäugigen Knechte der falschen Herrin von Barleboog. In der Geschichte erfahren wir von dem Verrat, den ein unbekannter Jüngling an Gisa begangen hat, dem Mord an ihrem Vater und dem daraus resultierenden Verlust ihres Vertrauens in die Liebe und in Männer ganz besonders. Der Zauberpakt mit den Wölfen und die Bedingungen des Paktes werden beleuchtet; woher der Erzähler, ein Bauer nahe Draglop, eigentlich von diesen Dingen Kenntnis gewinnen konnte, bleibt offen, denn nur so erhält der Leser die nötigen Hintergrundinformationen, um Gisas Verwandlung in eine Wölfin im späteren Verlauf der Handlung nachvollziehen zu können. Dass Gisa eine zauberkundige Hexe ist und die Knechte sich nachts in Wölfe verwandeln, weiß der Leser bereits; warum sie dies tun, erklärt die Geschichte. Ebenso erläutern die Geschichten vom alten Barlo und seinem Sohn Fredebar sowie die Geschichte vom jungen Barlo die Figur des wahren Herrschers von Barleboog. Der Leser mag die vielen Andeutungen über Barlos Herkunft besser verstanden haben als Lauscher, der wohl mit Absicht erst langsam versteht, als wessen Diener er übers Land reitet; die Bestätigung erhalten Leser und Lauscher jedoch erst in der Geschichte vom alten Barlo, die mit der wenig überraschenden Enttarnung Barlos als Enkel des alten Barlos und rechtmäßigem Erben endet. 16 Ähnliche Intention vertreten die Geschichten, die über Arni und den Stein erzählt werden, nur haben diese nur sekundär mit der Handlung des ersten Buchs zu tun. Vielmehr dienen sie dazu, Lauscher und damit auch dem Leser beim Verständnis des Steins zu helfen (Typus 2). Es handelt sich dabei um die Geschichte von Arni und dem Stein, die Geschichte von Urla und die Geschichte von Arni und den Leuten vom See. Bemmann strebt eine logische Motivierung seiner Romanfiguren an, die im Gegensatz zu den schematisch handelnden Archetypen des Märchens steht. Aus diesem Grund hinterleuchtet er die Vergangenheit der drei Ratgeberfiguren: Urla, Arni und den Sanften Flöter. Diese drei Binnenerzählungen scheinen daher auch in erster Linie biografische Episoden zu sein, die darüber hinaus versuchen Lauscher Wege aufzuzeigen, wie mit dem Stein umgegangen werden kann, da er innerhalb der Binnengeschichten als Rat gebendes Kleinod ebenso präsentiert wird wie als anvisiertes Statussymbol, dessen unrechtmäßige Inbesitznahme dem Dieb nur Unglück bringt (Beutereiter sterben auf dem Pass; der Herausforderer kann Urlas Blick nicht standhalten). Zuletzt gibt es noch drei Erzählungen, die einen starken Märchencharakter haben und der Stärkung von Barlos Vorhaben nützlich sind; sie fundieren die (Über-)Macht des Lachens und des Frohsinns gegenüber dem Bösen und Freudlosen (Typus 3). Die Grundthese könnte formuliert werden: Wer lachen kann, siegt über das Unglück. Schön Agla erhält nicht nur ihre eigene Freiheit, sondern auch die der Fischertöchter, die vor ihr zum Grünen gegangen sind, und darüber hinaus den Wohlstand des Dorfes; der König erhält sein Schloss und das Glück all seiner Untertanen zurück; Rübe schließlich besiegt den Zaubermüller. Obwohl alle drei Geschichten Märchen zu sein scheinen25, ist nur das Märchen vom fröhlichen König als solches klassifiziert, 25 während bei den anderen beiden Geschichten Über die Märchenhaftigkeit der Binnengeschichten: siehe 3.2.3.8. bis 3.2.3.12. 17 Sagencharakter26 erreicht wird, indem Agla eine Ahnin einiger Dorfbewohner (z.B. Lagoschs) sein soll und auch Rübe als historische Person dargestellt wird27. Die Merkmale dieser neun Binnengeschichten können aber noch mindestens zwei weitere Geschichten für sich einnehmen: die Geschichte des Eselwirts und die Liebesgeschichte des Bauern. Die Geschichte des Eselwirts (S.62-64) wird Lauscher vom Eselwirt erzählt; sie hat einen Ich-Erzähler, wird nicht von Lauscher unterbrochen, wohl aber am Ende reflektiert, spielt zeitlich vor den eigentlichen Geschehnissen im ersten Buch und stützt die Charakterisierung einer Figur (des Eselwirts) ebenso, wie es eine Antwort auf eine handlungsinterne Frage gibt, nämlich wie es ausgerechnet zu einem Wirtshaus für Esel kommt (inhaltlich entspricht sie damit dem Typus 1). Allerdings ist der Eselwirt keine so bedeutende Figur wie die Antagonisten Barlo und Gisa, weshalb dieser Erzählung wohl ein geringeres Gewicht innerhalb der Struktur eingeräumt wurde. Die Liebesgeschichte des Bauern (S.91-93) wird Lauscher vom Bauern selbst erzählt; auch sie hat einen Ich-Erzähler, liegt romanintern chronologisch vor der eigentlichen Handlung, wird nicht unterbrochen und am Ende reflektiert. Inhaltlich ist sie Typus 3 zuzuordnen, denn auch in ihr siegen Lachen und Zuneigung über Stolz und Eitelkeit. Allerdings ist diese Fröhlichkeit beeinflusst von der Musik des Sanften Flöters; es ist ein Motiv des zweiten Buches, das hier bereits eingeführt wird, nämlich die Macht der Silbernen Flöte. In den bereits erwähnten Geschichten gibt es keine mystische Quelle oder zauberische Unterstützung für das Lachen; die Fröhlichkeit wird allein 26 Nach Lüthi: Volksmärchen und Volkssage, S.22-48, unterscheidet sich die Sage nicht nur darin vom Märchen, dass sie im Gegensatz zum flächigen Märchen mehrdimensional erzählt, sondern auch in der „wirklichkeitsnahen, individualisierenden Darstellung“ (S.46). Auch ältere Definitionen wie z.B. die Definition Naumanns, trennen neben der poetischeren Darstellung der Motive im Märchen die Gattung der Sage durch stärkere temporale und lokale Bindung; eine unterschiedliche Zweckgebundenheit („Das Märchen ist bewusste Kunst und will lediglich unterhalten; aber die Sagen sind Berichte und Erklärungen von Erfahrungen, die unter den Gesetzen der primitiv-mystischen Denkweise gemacht sind und erzählt werden.“; Naumann: Sage und Märchen, S.67) kann in Bezug auf die Binnenerzählungen in Stein und Flöte jedoch nicht gemacht werden. 27 Vgl. Stein und Flöte, S.113 18 durch den Willen zum Lachen erzeugt. Diese Lehre wird innerhalb des ersten Buches dann auch umgesetzt. Wie der Bursche aus dem Märchen vom fröhlichen König wird in der Bevölkerung Barleboogs durch lustige Geschichten die Freude an der Freude geweckt; das Zauberkundige und Magische auf Barlos Reise wird dem Grünen und dem Tritonshorn überlassen. Kürzer als die Erzählung des Eselwirts und von Lauscher auch unterbrochen wird die Geschichte von Furro dem Schmied wiedergegeben (S.78f.), die die Geschichte des Eselwirts noch ergänzt. Auch sie ist in dem ersten Typus einzuordnen, hat aber nicht die Prägnanz der beiden anderen Binnenerzählungen, weshalb sie nicht zwangsläufig mit den anderen elf Binnenerzählungen gleichzusetzen ist. Im zweiten Buch wiederholt sich diese bewusste Markierung; dieses Mal nicht mit Geschichten, sondern mit Träumen. Ob hier eine bewusste Markierung vorliegt, ist jedoch nicht zu belegen, da anders als bei den Geschichten binnentextartige Traumschilderungen außerhalb des zweiten Buches des Romans eine Ausnahme sind. Lediglich in den Begegnungen mit dem Grauen sowie in den Binnenerzählungen während Lauschers Versteinerung können Parallelen entdeckt werden. Die meisten Träume innerhalb des Romans werden als Zusammenfassung wiedergegeben, versehen mit Andeutungen des Erinnerungsstandes. Die Träume, die im zweiten Buch explizit als ordnende Elemente herausgestellt werden, lassen sich schwer kategorisieren oder typisieren. Mal handelt es sich um phantastische Alpträume wie den drei schwarzen Träumen oder dem Traum von der Kröte, dann wiederum um Geschichten, die spätere Geschehnisse des Romans vorwegnehmen wie im Traum von Lauschers Besuch bei Arnis Leuten. Ähnlich thematisiert auch der süße Traum zukünftige Ereignisse, die allerdings variiert und ihrerseits mit Märchenmotiven verklärt werden (vgl. 3.2.3.11). Der Traum vom Falken ist ebenfalls visionär zu interpretieren, da darin die Beziehung zwischen Narzia und Lauscher vorweg genommen wird, Narzias Machthunger und ihre Gier nach dem Stein, doch ist dieser Traum eher als Warnung zu lesen. Der Traum von der Frau an der 19 Quelle referiert auf Arnilukka und erhält im dritten Buch eine Bedeutung, als bekannt wird, dass auch Arnilukka dabei in einer Vision Kontakt zu Lauscher aufgenommen hat. Auch der Traum vom (fast) vollkommenen Flöten ist eine Mischung aus Zukunftstraum, Referenz zu Arnilukka, die Teil des Traumes wird, und märchenhafter Erzählung. Vergleicht man nun die ausformulierten Träumen mit den eher fragmentartigen Hinweisen auf weitere Träume (S.340: Lauscher träumt von einem Falken, den er fangen möchte; ein Kind (Arnilukka) warnt ihn vor dem Falken, der ihm Hände oder Herz zerkratzen wird; S.352: Lauscher träumt von Gisas Tod, den er zuvor verursacht hat; S.356: das Falkenmädchen ruft ihn nach Hause), so fällt die relative Kürze der Fragmente auf. Ein inhaltlicher oder formaler Konsens abgesehen von der Situation des Träumers kann nicht gefunden werden. Die Unterteilung des dritten Buches schließlich ist nicht mehr nach Binnenerzählungen oder Träumen gestaltet, sondern folgt inhaltlichen Schwerpunkten wie Lauschers Dasein als Faun Steinauge, als steinerner Faun und als erlöster Mensch, der unter dem Fluch der Platzangst leidet (Aufteilung in den ersten, zweiten und dritten Teil), bzw. verschiedenen Altersstadien: der relativen Jugend nach der Erlösung, wenn er etwa dreiunddreißig ist, die Zeit nach seiner Gefangenschaft bei den Blutaxtleuten, wenn er mindestens Mitte Vierzig ist, und das Stadium des Greises kurz vor Lauschers Tod (Aufteilung in das erste, zweite und dritte Kapitel). Auffällig ist lediglich, dass die Splittung des dritten Kapitel des dritten Teils des dritten Buches in noch einmal drei Teile (I, II und III) insofern willkürlich wirkt, als es keinen zeitlichen oder örtlichen Wechsel zwischen I und II gibt, auch wenn Urlas Tod eine deutliche, inhaltliche Zäsur vorgibt. Dabei handelt es sich jedoch nur um den Wendepunkt zwischen Konflikt und Lösung; I und II sind durch Urlas Tod und die darauf folgende Gerichtsverhandlung über Azzos Schicksal ebenso inhaltlich verbunden wie getrennt. Aus all diesen einzelnen Aspekten – der bewiesenen bewussten Hervorhebung von neun aus elf bzw. zwölf Binnenerzählungen im ersten Buch, einer analog 20 vermuteten bewussten Ausformulierung von gerade neun statt zwölf Träumen und einer zumindest diffusen Dreiteilung im dritten Kapitel des dritten Teils des dritten Buchs – möchte ich die These, dass es sich bei der Dreiteilung im Aufbau um ein kompositorisches Mittel handelt, bei dem Bemmann bewusst mit der Dreizahl28 spielt, als belegt betrachten. 3.2. Anwendung der Proppschen Morphologie bei Stein und Flöte 3.2.1. Einschränkungen Propps Morphologie des Märchens zufolge besteht jedes Zaubermärchen aus bestimmten Funktionen, die stets in derselben Reihenfolge vorliegen29, wobei einige Funktionen auch fehlen können; „die meisten Märchen haben weniger als 31 Funktionen; das Fehlen einzelner Funktionen und Funktionsgruppen bei unveränderter Reihenfolge der übrigen ist geradezu als Normalfall anzusehen.“30 Innerhalb von Kunstmärchen ist das nur für „Folklore“ spezifische Gesetz der stets gleichen Reihenfolge ebenfalls außer Kraft gesetzt.31 Umso mehr überrascht es, dass auch unter dem Vorbehalt der Reihenfolge Propps Morphologie relativ problemlos auf das Verlaufsschema von Stein und Flöte bzw. die Struktur bestimmter Handlungseinheiten oder Binnenerzählungen anwenden lässt. Einige Einschränkungen sind dafür jedoch unumgänglich. Die erste Einschränkung trifft Propp bereits selbst, der die Reinform seiner Morphologie nur in den Märchen der ländlichen, russischen Texte vorzufinden glaubt. „Alle Einflüsse von außen verändern das Märchen, bisweilen führen sie sogar zu einem Zerfall. Sobald wir an die Grenze der absolut echten Märchen gelangen, beginnen schon die Schwierigkeiten. Afanaśevs Sammlung stellt in dieser Beziehung eine vorzügliche Quelle dar. Doch bereits die Märchen der Brüder 28 Die Dreizahl findet sich über den Aufbau hinaus auch auf geradezu exzessive Weise in den einzelnen Motiven des Romans, weshalb sie als bewusst verwandter Märchenbaustein eine herausragende Stellung erhält; vgl. 4.1. 29 Propp: Morphologie, S.25ff. 30 Nolting-Hauff: Märchen und Märchenroman; S.142 31 Propp: Morphologie; S.28 21 Grimm, die im Wesentlichen dieselbe Struktur aufweisen, zeigen bisweilen nicht mehr diese klare und feste Form. Alle Einzelheiten lassen sich nicht voraussehen. Es ist auch zu beachten, dass – ähnlich wie bestimmte Elemente innerhalb eines Märchens – sich auch ganze Genres gegenseitig beeinflussen und kreuzen können. Dabei entstehen manchmal recht komplizierte Konglomerate, in die Elemente unseres Schemas als Episoden eingehen.“32 Bei Stein und Flöte handelt es sich um ein solches Konglomerat, denn es ist Fantasyroman und Biographie, wenn auch mit deutlichen Parallelen zu Märchenstoffen und -strukturen, weshalb es auch als Märchenroman bezeichnet wird. Somit folgt der Roman nicht allein der Morphologie des Märchens, sondern ergänzt die einzelnen Funktionen z.B. durch deutlich mehr Beschreibungen oder Reflexionen über Gefühls- und Gedankenwelt des Protagonisten, als es bei Märchen der Fall ist. Zudem können Romanen ihre Handlungsschemata nicht allein durch Segmentierung des Textes abgewonnen werden; stattdessen müssen Handlungseinheiten zusammengefasst werden, um für die narrative Großform eines Romans überhaupt einen Vergleich zu den Segmenten und Funktionen des Märchens ziehen zu können.33 Die Funktionen können aufgrund des Genres einer Mischform daher nicht so eindeutig zuzuordnen sein wie in einem russischen Zaubermärchen, da die Motivlage unklar, einzelne Handlungen oder Abschnitte durch eine Reduktion auf Handlungseinheiten an Bedeutung verlieren können. Die zweite Einschränkung geht mit dieser ersten einher. Propps Funktionen nehmen bedingt durch die relative Kürze eines Märchens häufig nur einige wenige Sätze ein, einigen reichen wenige Worte. Propp profitiert dabei von einer Sonderstellung des Märchens, bei der „die Motifem-Symtax der Textoberflächenabfolge der erzählten Handlungen folgt“34, wodurch die Tiefenstruktur leicht zu identifizieren ist. Während die einzelnen Elemente in Märchen komprimiert auftreten, weiten sie sich in einem Roman wie Stein und Flöte auf größere Abschnitte, in denen die Tiefenstrukturen „verschleiert“35 werden, wodurch einige Funktionen nun antiproportional viel Raum einnehmen, während andere auf ihrer ursprünglichen Länge bleiben. Prinzipiell ist dies zwar unproblematisch, da Propp nie über eine Höchstgrenze seiner 32 Ebenda, S.99 Nolting-Hauff: Märchen und Märchenroman, S.138ff 34 Dorner-Bachmann: Erzählstruktur und Texttheorie, S.119 35 Ebenda, S.395 33 22 Funktionen gegeben oder generell über die Ausführlichkeit der Beschreibung geschrieben hat, doch im Zusammenhang mit der ersten Einschränkung kommt es nun vor, dass zwischen den einzelnen Funktionen Elemente eingefügt sind, die keiner Funktion zugeordnet werden können. Diese in Propps Sinne funktionslosen Elemente kommen im Idealtypus des Zaubermärchens nicht vor, sondern sind der Ausführlichkeit des Romans geschuldet. Die dritte Einschränkung schließlich hängt wiederum mit der zweiten zusammen. Stein und Flöte ist ein weitaus komplexeres Gebilde, dem der Autor einen kompositorischen Aufbau zugeschrieben hat. Innerhalb dieses Aufbaus kommt es zu Binnenerzählungen, zum Ende einer Märchenhandlung und zum Anfang einer neuen. In bestimmten Sequenzen des Romans finden sich Propps morphologischen Funktionen, in anderen wiederum sind nur noch einzelne Märchenmotive enthalten. Als einzelnes Märchen kann Stein und Flöte nicht behandelt werden. 3.2.2. Märchenhandlungen Will man die Märchenhandlungen innerhalb des Romans untersuchen, muss zunächst festgelegt werden, wie man diese Märchenhandlung definiert. „Die Handlungslinie des Märchens hat scharfe Gelenke: Aufgaben, Verbote und Bedingungen, genaues Klappen der Dinge, wenn möglich gerade noch im letzten Augenblick; als Schlusspunkt der prägnante Lohn oder die prägnante Strafe.“ 36 Im Gegensatz zum Volks- bzw. Zaubermärchen sind in Stein und Flöte Handlungslinien nicht prinzipiell von Erfolg gekrönt; die von Jolles postulierte Gerechtigkeit kann ebenso wie das als sicher geltende gute Ende ausbleiben. Elementar bzw. „obligatorisch“37 hingegen ist der Mangel bzw. die Schädigung, die dem Helden begegnen, damit die Gegenhandlung des Helden initiiert und der Versuch der Behebung ausgelöst werden kann. Vorhandene Schädigungen bzw. Mangelsituation in der Haupt- und Rahmenhandlung des Romans sind etwa Lauschers Unwissenheit über den Stein, Gisas unrechtmäßige Inbesitznahme Barleboogs, Gisas Unfähigkeit zur Liebe, Barlos Sprachlosigkeit, Lauschers Wunsch nach einem Ziel, das ihn zu einem freien 36 37 Lüthi: So leben sie noch heute, S.33 Propp: Morphologie, S.40 23 Erwachsenen macht, sein Wunsch, Narzia zu heiraten, der Verlust seiner menschlichen Gestalt und seiner Erinnerungen, die Versteinerung, die Unwissenheit über Arnilukkas Identität sowie die Flüche, mit denen Lauscher und Urla belegt sind. Aus all diesen Schädigungen und Mangelsituationen heraus entwickelt sich eine Handlung, die die Liquidierung der Mängel zum Ziel hat. Um als (Zauber-)Märchen bestehen zu können, ist eine wunderbare Unterstützung in Form von Gegenständen, Helfern oder Eigenschaften unabdingbar. Zusammengefasst muss eine Märchenhandlung, um als solche erkannt und analysiert zu werden, drei Kriterien erfüllen: Eine Schädigung bzw. ein Mangel liegt vor und initiiert die Handlung. Die Handlung hat die Aufhebung des Schadens bzw. des Mangels zum Ziel. Der Versuch wird durch ein Zaubermittel bzw. andere wunderbare Unterstützung ermöglicht. Diese Definition unterscheidet sich von der nach Nolting-Hauff „Minimalform des Märchens“38, die zu dem Schluss kommt, dass ein solches nach Propp aus einer Schädigung bzw. einem Mangel entsteht und über mindestens zwei „Zwischenfunktionen“ entweder in der Hochzeit (Element H), der Liquidierung (Element L), der Rückkehr (Element ↓) oder der Bestrafung (Element St) endet (vgl. Propps Äußerung: In diesem Zusammenhang taucht die Frage auf, was unter einem Märchen zu verstehen ist. Morphologisch gesehen kann als Zaubermärchen jede Erzählung bezeichnet werden, die sich aus einer Schädigung (A) oder einem Fehlelement (α) über entsprechende Zwischenfunktionen zur Hochzeit (H*) oder anderen konfliktlösenden Funktionen entwickelt. Den Abschluss bilden manchmal auch Funktonen wie: Belohnung (Z)m Erbeutung des gesuchten Objekts oder Liquidierung des Unglücks allgemein (L), Rettung vor den Verfolgern (R) usw.39). Ausschlaggebend für eine Änderung der Definition ist Bemmanns Verweigerung der Auflösung zum glücklichen Ende bei den meisten dieser Märchenhandlungen. Sie entsprechen aber – wie in der genauen Analyse gezeigt werden wird – in der Struktur zu genau den Prinzipien der 38 39 Nolting-Hauff: Märchen und Märchenroman, S.144ff. Propp: Morphologie, S.91 24 Zaubermärchen, als dass die mangelhafte Schlusssequenz ihrer Märchenhaftigkeit einen Abbruch tun könnte. Insgesamt kommt man zu sieben Märchenhandlungen in der Rahmenhandlung, der Biografie des Protagonisten Lauschers: dem Augensteinmärchen, dem Barlo-Märchen, dem Gisa-Märchen, dem Flötermärchen, dem Narzia-Märchen, dem Arnilukka-Märchen und dem Urla-Märchen. Zusätzlich finden sich fünf Märchenhandlungen in Binnentexten: das Märchen vom fröhlichen König, das Rübe-Märchen, das Agla-Märchen, das Traummärchen und das Märchen von Oleg und Boleg. Die umfassendste hierbei ist das Augensteinmärchen. Die Mangelsituation beginnt im ersten Buch, als Lauscher den Stein verbunden mit einem rätselhaften Spruch von Arni erhält, ohne dass er auch das Geheimnis des Steins kennt. Auf seiner Suchwanderung nach einer Erklärung benötigt er die Hilfe der Silberflöte, um verschiedene Prüfungen zu bewältigen, um letzten Endes die Erklärung des Steins zu erhalten und zu akzeptieren; dass der Stein nur Substitut der Liebe ist, die das Beste in einem hervorbringt, einen neue Wege gehen lässt, ohne nach den Konsequenzen für sich zu fragen, und die man nur geschenkt bekommen, nicht aber erzwingen kann. Wenn er den Stein am Ende des ersten Kapitels des dritten Teils des dritten Buches abgibt, ist diese Märchenhandlung abgeschlossen. Ein klassisches Märchenende wird verweigert. Teil des Augensteinmärchens ist das Barlo-Märchen im ersten Buch, in dem Lauscher als Diener Barlos diesem hilft, die unrechtmäßige Herrschaft Gisas über Barleboog zu beenden. Darin wird der Augenstein zum Zaubermittel, das gleichberechtigt neben dem Tritonshorn steht, das ebenfalls wundersame Unterstützung bringt. Mit der Vertreibung Gisas, der Inthronisierung Barlos und seiner Hochzeit mit Eldrade wird die Schädigung vollständig aufgehoben und ein klassisches Ende erreicht. Ebenfalls Teil des Augensteinmärchens ist das Gisa-Märchen, das weder linear noch zusammenhängend eingebunden wird. Es beginnt chronologisch mit den 25 in der Binnengeschichte über Gisa und die Wölfe berichteten Ereignissen und endet mit Lauschers Rettung vor dem Geisterwolf durch Gisas Geist, womit ihr Mangel, niemanden lieben zu können, endgültig aufgehoben wird – allerdings fehlt auch hier das klassische gute Ende. Auch die Elemente des Flötermärchen sind innerhalb der übrigen Handlung verstreut, werden im Gegensatz zum Gisa-Märchen linear erzählt, da das Märchen Teil der Identitätsfindung Lauschers ist. Es beginnt mit Lauschers Mangel an Macht und Anerkennung, die über das erste Buch hinweg aufgebaut wird und zu Beginn des zweiten Buches deutlich in Erscheinung tritt. Konfrontationen mit dem Grauen, eine dämonischen Präsenz des Unbekannten und der Angst, können nur durch den Schutz des Augensteins bzw. Arnilukkas überstanden werden, und die Flöte ist gleichermaßen Machtinstrument wie Wunschobjekt, dem Lauscher sich annähern möchte. Dieses Märchen endet mit dem letzten Kampf gegen den Grauen, der mit Lauschers Tod am Ende des letzten Unterkapitel des Romans zusammenfällt. Das Narzia-Märchen ist eigentlich ein Doppelmärchen, da es einerseits Narzias Schicksal, andererseits Lauschers Wunsch nach einer Hochzeit mit ihr behandelt. Die Mangelsituation ist Lauschers Wunsch nach einer Ehe mit Narzia, der sich im zweiten Buch herauskristallisiert, und Narzias Machtgier, die auch den Augenstein betrifft. Teile des Narzia-Märchens sind Elemente des Augensteinmärchens sowie des Urla-Märchens, zwischen denen es eine Verbindung schlägt, da es innerhalb des Augensteinmärchens beginnt und im Urla-Märchen mit dem Tod Narzias und der vorausgehenden Versöhnung zwischen Lauscher und Narzia endet (eine Heirat bleibt Lauscher verwehrt). Auch das Arnilukka-Märchen, die Suchwanderung einer Märchenheldin nach ihrem Tierbräutigam, der von ihr erlöst wird, ist fragmentarisch in den Roman eingebettet; obwohl sich die Handlungen dem Leser erschließen, werden nur einzelne Kernelemente aktiv geschildert; entweder in der Rahmenhandlung oder aber indirekt über Binnenerzählungen. Es zieht sich in diesen Einzelelementen über einen Großteil des Romans, auch wenn erst spät die Zusammenhängen deutlich werden, und beginnt sehr verschlüsselt mit 26 Lauschers Erstbegegnung mit dem Stein, um erst zu Beginn des letzten Unterkapitel des Buches mit dem Abschied zwischen Arnilukka und Lauscher zu enden. Das Urla-Märchen wird wiederum linear und zusammenhängend geschildert; es umfasst den Großteil des zweiten Kapitel des dritten Teils des dritten Buches und handelt von Lauschers Abenteuer, mit dem er seiner Tochter die menschliche Stimme zurückgibt, wofür er eine magische Kette, einen Zauberring und die Hilfe eines Wasserwesens sowie einer Zauberin braucht. 3.2.3. Strukturen der Märchenhandlungen Im Folgenden werde ich nun die Märchenhandlungen des Romans aufzeigen und in ihre Funktionen zerlegen, soweit dies möglich ist. Die Reihenfolge Propps ist nicht komplett aufrecht zu erhalten; durch die Komplexität des Romans werden einzelne Prüfungen, zusätzliche Aufgaben oder ganze Binnenerzählungen eingefügt, und einige der Märchenhandlungen überschneiden sich, so dass bestimmte Sequenzen mehr als eine Funktion einnehmen können. Dennoch ist eine märchenhafte Tiefenstruktur in diesen Handlungen deutlich. Nolting-Hauff erstellt einige Einschränkungen zwischen dem Märchenhaften im Märchen und im Märchenroman anhand der Übertragung der Märchenstruktur auf Ian Flemings James Bond zur Diskussionen; diese decken sich mit den von mir zuvor getroffenen Einschränkungen. 40 40 Nolting-Hauff: Märchen und Märchenroman, S.139 sowie 151f. 27 3.2.3.1. Das Augensteinmärchen Element/Funktion Handlungsinhalt Buch/Seite α (Mangel) B (Vermittlung) Lauscher ist nicht bei seiner Braut Arnilukka Arnis Stein gelangt in Lauschers Besitz; der Augenstein ist ein Symbol für die Augen Arnilukkas und lässt Lauscher erkennen, dass etwas bzw. jemand in seinem Leben fehlt, auch wenn er dies noch nicht fassen kann Lauscher verlässt Fraglund Erstes Buch Erstes Buch Aufbruch zu seinem Großvater Lauscher verliert den Augenstein und Barleboog und erhält ihn erst nach der dritten, bestandenen Prüfung seines Charakters wieder zurück Erstes Buch Erstes Buch Lauscher flieht vor Barlo und wird vom Sanften Flöter gerettet Der Sanfte Flöter verlangt, dass Lauscher Barlos Diener wird Lauscher zieht drei Jahre lang mit Barlo durchs Land und besiegt Gisa, ehe er zu seinem Großvater zurückkehrt Der Sanfte Flöter übergibt die Silberne Flöte an Lauscher Lauscher bricht auf, um nach Fraglund und zu Arnis Leute zu reisen Lauschers erste Begegnung mit Arnilukka Erstes Buch Narzia wird Lauschers Braut Zweites Buch Lö (Lösung) Narzia verwandelt Lauscher in einen Faun; in dieser Gestalt begegnet Lauscher Arnilukka dreimal, und sie läuft jedes Mal davon Versteinerung P (Schwere Prüfung) Arnilukkas Suchwanderung Lö (Lösung) Lauschers Erlösung T (Transfiguration) Lauscher wird wieder zu einem Menschen verwandelt und neu eingekleidet Hneg (Hochzeit) Hochzeit bleibt aus; Stein wird übergeben Zweites Buch und drittes Buch, erster Teil Drittes Buch, erster Teil Drittes Buch, zweiter Teil Drittes Buch, dritter Teil, erstes Kapitel Drittes Buch, dritter Teil, erstes Kapitel Drittes Buch, dritter Teil, erstes Kapitel C (einsetzende Gegenhandlung) ↑ (Abreise) Sch H Z (Schenker, Reaktion des Helden, Empfang des Zaubermittels) W (Raumvermittlung) Sch H Z W L (Liquidierung des Mangels) U (Unrechtmäßige Ansprüche) P (Schwere Prüfung) Erstes Buch Erstes Buch Erstes und zweites Buch Zweites Buch Zweites Buch Zweites Buch Tabelle 1 Die erste Märchenhandlung, die sich über weite Strecken des Buches zieht, ist die Liebesgeschichte zwischen Lauscher und Arnilukka. Sie beginnt im ersten Buch mit der Übergabe des Augensteins. Was zunächst wie die vorgezogene Sequenz der Elemente Sch, H und Z wirkt (in Arnis Tod wird Lauscher geprüft; als er sich als mitfühlend und hilfsbereit auch gegenüber seinen 28 Feinden erweist, gibt Arni ihm nicht nur den Stein, sondern auch den Spruch, der später als Legitimation für den Besitz an Bedeutung gewinnt41), ist bei genauerer Betrachtung Element B, die Vermittlung der Mangelsituation, dass Lauscher nicht mit Arnilukka zusammen ist. Ausgelöst durch die Betrachtung des Steins wächst in Lauscher der Wunsch zum Aufbruch, und so setzt Element C ein, die Gegenhandlung. Die Reise zu seinem Großvater ist nur ein oberflächlicher Grund; Lauscher bricht auf, weil er unruhig geworden ist und in die Welt ausziehen muss. Die Episode in Barleboog ist eine erste Prüfung Lauschers, die er nicht bestehen kann, denn er gibt nicht nur den Augenstein her, sondern gerät dadurch in Gisas Bann und vergisst dadurch Teile seines Erbes; der Stein erscheint ihm nun nutzlos genug, dass er ihn abgeben kann. Da sie eine eigene Märchenhandlung bildet, ist sie schwerlich einzuordnen. Insgesamt stellt es jedoch eine erneute Probe über den Besitz des Zaubermittels Augenstein dar, weshalb sie als dreifache Abfolge Sch H Z gewertet werden kann: Lauschers Charakter wird zunächst bei der Erstbegegnung mit Gisa geprüft. Er scheitert und verliert zur Strafe den Augenstein. Beim Gericht kehrt der Stein scheinbar zu ihm zurück, doch wieder versagt Lauscher. Die dritte Prüfung über das Leben der Amsel jedoch besteht Lauscher, und so gelangt der Stein zurück in seinen Besitz. Lauscher reist weiter (Element W) und gelangt zu seinem Großvater, dem nächsten Schenker innerhalb des Romans. Nun geht es um das Zaubermittel der Silberflöte, und erneut kommt es zur Abfolge Sch H Z, die dieses Mal mehr Raum innerhalb des Romans einnimmt, denn der Sanfte Flöter verlangt von seinem Enkel drei Jahre Dienst bei Barlo (auch wenn die Dauer der Dienstzeit zu diesem Zeitpunkt noch nicht feststeht). Diese drei Lehrjahre sind die Reaktion des Helden (Element H), denen nach überstandenem Kampf und dem Sieg über Gisa nach der Rückkehr zum Haus des Großvaters die Übergabe der Silbernen Flöte (Element Z) folgt. „Der Khan nickte. ‚Du besitzt den Stein zu recht“, sagte er. „Arni hat ihn dir offenbar gegeben, wenn dies auch von den unbegreiflichen Taten meines Bruders die unbegreiflichste ist. Wie konnte er einen Feind zu seinem Erben einsetzen?’“; Stein und Flöte, S.382f. 41 29 Die Reise zur Arnis Leuten ist durchsetzt von kleineren Prüfungen und Erzählungen sowie dem Zwischenstopp in Fraglund – diese Rückkehr nach Hause hat auch den Sinn zu zeigen, dass dies nicht das Ziel der Suchwanderung sein kann; es ging beim Aufbruch eben nicht nur darum, zu reifen und die Flöte zu erlangen, sondern das Ziel liegt jenseits dieses Ortes (allerdings ist es auch in Märchen nicht zwangsläufig nötig, dass ein Held in die Heimat zurückkehrt; tut er dies jedoch, verbleibt er dort auch, da Mangel bzw. Schädigung behoben wurden). Dadurch wird dieses Element W erneut recht umfangreich. Mit seiner Ankunft bei Arnis Leuten wiederholen sich die Prüfungen über seine Würdigkeit, den Augenstein zu tragen. Narzia als neue Gegenspielerin nimmt den Platz einer falschen Braut ein, um deretwillen Lauscher zu drei weiteren Aufgaben aufbricht. Bereits die erste führt ihn zu Arnilukka, doch ist diese noch nicht reif für ihre Rolle als Lauschers Braut (was innerhalb des Romans durch ihre Jugend gekennzeichnet ist). Das Kind Arnilukka wird nur durch Gisa als die Frau identifiziert, der Lauschers Liebe gelten wird42. Auch dies ist also eine Prüfung, die Lauscher nicht besteht – allerdings deshalb, weil er sie nicht bestehen kann. Bezeichnend für die Funktion, die Lauschers erste Begegnung mit Arnilukka einnimmt, ist jedoch sein Verhältnis zum Augenstein in direktem Vergleich mit dem Mädchen: „Denn unter dem Blick ihrer Augen erscheint ihm auf einmal alles wieder fraglich, was er sich eben zusammengedacht hatte, War dieser Stein, der das Abbild (oder das Urbild?) dieser Augen war, wirklich nur ein totes Stück Quarz?“43 Arnilukka hat also bereits die Stelle des Augensteins eingenommen, der seinerseits nur ein Substitut für ihre Liebe ist. Damit ist bereits das Element L erreicht: die Liquidierung des Mangels. Da beide Partner noch nicht für eine Ehe bereit sind, folgt die zweite Sequenz, die wiederum über einige Prüfungen zum eigentlichen Ende dieser Märchenhandlung führt. 42 43 Vgl. Stein und Flöte, S.350 Ebenda, S.338 30 Narzia erhebt nach den drei Fahrten Lauschers ein Anrecht auf ihn als Bräutigam (Element U), obwohl sie ihn weder liebt noch die Frau ist, die Lauscher mit dem Augenstein verbindet. Mit der Verwandlung in den Faun beginnt eine erste schwere Prüfung für Lauscher (Element P), in deren Verlauf er dreimal auf Arnilukka trifft, die jedes Mal erschrocken vor ihm flieht. Auch die Suche nach seiner Erinnerung ist nicht so erfolgreich, wie es den Anschein hat. Zwar findet Steinauge zu seiner Identifikation als Lauscher zurück, doch die vollkommene Aussöhnung mit seiner Person fehlt (symbolisiert durch das weitere Fehlen des Namens), da Lauscher über seine vergangenen Taten in Scham und Schuld versinkt. Es folgt daher eine zweite schwere Prüfung, in der Lauscher vom Helden zum Objekt degradiert wird: die Versteinerung, die Arnilukkas Suchwanderung auslöst. Diese ist jedoch nur implizit erwähnt; im späteren Verlauf werden Kernelemente zwar in Erzählungen aufgegriffen, doch bleibt es innerhalb dieser Märchenhandlung bei der Beschreibung von Lauschers erneuter Suche nach seiner Identität, während er ein steinerner Faun ist. Die Erlösung Lauschers durch Arnilukka (Element L) führt zur Transfiguration Lauschers zurück in einen Menschen (Element T), wenn die beiden nicht nur die Aufhebung der Verwandlung bemerken, sondern Lauscher auch Menschenkleidung erhält. Das letzte Element dieses Märchens, die Hochzeit zwischen Lauscher und Arnilukka, bleibt aus; es kommt somit zu einem Element Hneg, die ich analog zu Propps Alternativen für dieses Element einführen möchte. Die Ehe wird aufgrund der Umstände verwehrt, doch die Suche Lauschers ist beendet, was durch die endgültige Abgabe des Steins und sein Weiterreichen an Lauschers Tochter Urla symbolisiert wird. 31 3.2.3.2. Das Barlo-Märchen Element/Funktion Handlungsinhalt Seite b c d e f Mutter mahnt Lauscher, sich nicht aufhalten zu lassen Lauscher lässt sich von Gisa aufhalten Gisa fragt Lauscher über den Stein aus Lauscher berichtet bereitwillig Gisa nimmt Lauscher mit sich aufs Schloss und bietet sich und ihre Herrschaft ihm an – sie fordert das Ablegen des Steins Lauscher folgt Gisa begierig und legt auch den Stein ab Lauscher gerät unter Gisas Einfluss und lernt das Töten und Herrschen Barlo verliert durch Lauscher seine Zunge und Sprache Barlo wird aus Barleboog vertrieben Der Sanfte Flöter führt Barlo und Lauscher als Herr und Diener zusammen und lehrt Barlo das Flöten S.14 S.16 S.16 S.16 S.17 Lauscher erhält nach bestandener Prüfung Jalf als Reittier S.59-61 Barlo bricht wieder auf S.64f. Abreise von Lauscher und Barlo S.79 Angriff der Wölfe; Sieg dank Jalf Barlo und Lauscher ziehen über Land S.88f. Angriff des Knechts bei den Holzfällern; Sieg dank Jalf Barlo erhält nach bestandener Prüfung das Tritonshorn als Geschenk des Grünen S.107ff. S.126-128 Angriff der Wölfe im Moor; Sieg dank des Grünen Angriff der Wölfe am Wasserfall; Sieg durch den Grünen Lauscher und Barlo sind zu Freunden geworden; Aussöhnung Barlo hat durch die Flöte und Eldrade wieder eine Stimme erlangt Gisa ist noch Herrin Barlo, Lauscher und der Kriegszug ziehen vors Schloss S.142f. S.169f Lauscher wird von Gisa aufgefordert, ihr den Stein zu geben Lauscher hilft Gisa und gibt ihr den Stein S.187f. Gisa wird zur Wölfin und vertrieben Barlo und Eldrade heiraten S.189 S.189f. g Element A Element A Element A Element B (Verbindendes Element) Elemente Sch H Z (Schenker, Reaktion des Helden, Empfang des Zaubermittels) Element C (einsetzende Gegenhandlung) Element ↑ (Abreise) Element K/S Element W (Raumvermittlung) Element K/S Elemente Sch H Z (Schenker, Reaktion des Helden, Empfang des Zaubermittels) Element K/S Element K/S Element L Element L Element Lneg Element ↓ (Rückkehr) Element P Element Lö (Lösung) Element St Element H Tabelle 2 32 S.17 S.18ff. S.26 S.26 S.33-38; S.52-58 S.172 S.181 S.184 S.186 S.188 Innerhalb des Augenstein-Märchens integriert ist die Märchenhandlung des verstoßenen Königssohns, der sein Reich zurückerobert, das Barlo-Märchen. Eine Besonderheit ist jedoch die Position des Helden, denn in diesem Märchen wird anhand eines doppelten Helden der Aduleszens- und Reifungsprozess des Helden durchlaufen. Der doppelte Held – Barlo und Lauscher Im Verlauf des ersten Buches ändert sich Lauschers Position innerhalb der Erzählung. War er zunächst noch der Protagonist, dessen Entscheidungen die wichtigsten Handlungen in Gang gesetzt haben – der Pazifist unter den Beutereitern, der den Stein als Belohnung erhält und danach beschließt, in die Welt zu ziehen; der verführte Sünder, der unter Gisas Einfluss gerät und den Unschuldigen damit Schaden bringt – so wird er durch Eingreifen seines Großvaters zum Diener degradiert. Fortan nimmt Lauscher nicht mehr die Stellung eines Helden, sondern nur noch die eines Helfers ein, während Barlo, der bezeichnenderweise erst jetzt einen Namen erhält, zum wahren Protagonisten wird. Lauscher wird nun erst einmal befolgen, was man ihm sagt, gehen, wohin er befohlen wird, und an den entscheidenden Stellen Barlos Worte übersetzen, statt eigene zu finden. Er kennt weder die wahre Identität seines Herrn noch das Ziel der Reise, und seine Reaktionen und Gedanken verraten deutlich, dass ihm diese Position nicht zusagt. „Und wie lange soll ich der Diener eines ehemaligen Pferdeknechts sein?“, fragte Lauscher trotzig. Nachdenklich betrachtete der Sanfte Flöter seinen Enkel. „Wenn du so denkst“, sagte er dann, „wird es wohl ziemlich lange dauern. Du wirst Barlos Diener bleiben, bis er dich eines Tages nicht mehr braucht und aus freiem Entschluss entlässt.“ Als er das hörte, ließ Lauscher den Kopf hängen. Das waren ja trübe Aussichten, wenn ausgerechnet jener Mann über seine Freiheit bestimmte, der allen Grund hatte, sich an ihm zu rächen.44 Lauscher wurde aus alledem nicht recht klug, zumal er spürte, dass der Schmied auch ihn jetzt mit anderen Augen betrachtete. Offenbar war es nicht unbedingt eine Schande, der Diener dieses Mannes zu sein, dessen Name Furro so beeindruckt hatte.45 Lauscher war von diesen Aussichten nicht sonderlich begeistert. Er hatte gehofft, mit Barlo über Land zu reiten, wie Furro sich ausgedrückt hatte, und dabei womöglich ein paar denkwürdige Abenteuer zu erleben. 46 44 Ebenda, S.57 Ebenda, S.68 46 Ebenda, S.80 45 33 Erst im letzten Moment, der Entzauberung Gisas und damit auch ihrer Vertreibung aus Barleboog, greift Lauscher wieder aktiv ins Geschehen, während er zuvor nur passiv reagiert hat. Der Held der Rebellion und der Besitzer des Tritonhorns ist aber Barlo. Warum aber greift Bemmann zu dieser Dopplung des Protagonisten? Meiner These nach hat Bemmann kaum eine andere Wahl, wenn er der Märchenstruktur gerecht werden möchte. Im Prinzip liegt im ersten Buch die Struktur eines Drachentöter-Märchens vor. Der Held (Barlo) bricht auf, um das Ungeheuer (Gisa) zu erlegen; als Unterstützung erhält er nach einer Probe (dem Erlernen des Flötens und der Suche nach Verbündeten innerhalb einer dreijährigen Wanderschaft) nicht nur ein Zaubermittel (das Tritonshorn), sondern auch einen Helfer mit übernatürlichen Fähigkeiten (Lauscher mit seinem Stein). Am Ende eines solchen Märchens stehen die Heirat des Helden und die Thronbesteigung. Will Bemmann diese Märchenstruktur erhalten, darf nicht Lauscher der Held sein, denn da das Märchen nur Teil einer größeren Struktur, die Lauschers Suchwanderung nach seiner Braut beschreibt, darf er weder Herrscher werden noch heiraten. Beides sind Zeichen des vollendeten Reifeprozesses, der bei Lauscher zu diesem frühen Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen sein kann, und so muss jemand anderes zumindest scheinbar die Rolle des Helden ausfüllen. Barlos Rolle wird auch dadurch erleichtert, dass Bemmann ihm einen familiären Hintergrund geben kann, der vielen Sagen, aber auch Fantasyromanen zugrunde liegt: Barlo ist der vertriebene Königssohn, der inkognito auf die Gelegenheit wartet, das an ihm begangene Unrecht zu rächen und wieder Herr in seinem eigenen Land zu werden. Von der Schädigung an übernimmt Barlo die Position Lauscher als aktiver Märchenheld. Es kommt zu zwei Schädigungen (Element A): Zunächst verliert er nur seine Zunge und damit die menschliche Sprache, doch darüber hinaus wird er endgültig aus seinem Schloss vertrieben. 34 Der Aufenthalt beim Sanften Flöter ist das verbindende Element B, an dem Lauscher durch seine Positionierung als Diener die Rolle des Helden auf Barlo transfiguriert, denn fortan ist dieser derjenige, der aktiv das Geschehen bestimmt, indem er beschließt, Gisa den Kampf anzusagen (Element C, auch wenn sein Entschluss nicht explizit genannt wird), und gemeinsam brechen Barlo und Lauscher auf (Element ↑). Obwohl Lauscher nicht mehr der eigentliche Held des Märchens ist, erhält er mit Jalf eine Art Zaubermittel-Ersatz, denn Jalf verfügt über keine übernatürliche Fähigkeiten (er ist weder sprachbegabt, noch kann er Dukaten speien oder besonders schnell laufen); allerdings ist Jalf im Verlauf der Handlung mehrfach ein Helfer, dessen Fähigkeiten im Lauschen denen Lauschers überlegen sind. Die Umstände, unter denen Lauscher Jalf erhält, entsprechen zudem wieder einer Prüfung, denn der Eselwirt verlangt von Lauscher, dass er Jalf bittet, auf ihm reiten zu dürfen, und nur durch Jalfs Zusage kommt Lauscher in den Genuss dieses Reittiers (Elemente Sch H Z). An ihrer ersten Station, dem Fischerdorf am See des Grünen, erhält auch Barlo, nachdem er für den Grünen auf der Insel gespielt hat (Element Sch und H), mit dem Tritonshorn ein Zaubermittel (Element Z). Dank der Wasserwesen, die er damit rufen kann, werden die Begebenheiten im Verlauf erfolgreich gemeistert. Die dreijährige Reise, die geschildert wird, beinhaltet auf mehreren Ebenen Element W: Nicht nur, dass Barlo und Lauscher tatsächlich herumreisen – Barlo sammelt auch Kampfgefährten, während Lauscher mehr über seinen Herrn in Erfahrung bringt, bis er am Ende dieser Funktion weiß, dass er dem wahren Herrn von Barleboog dient. Einzelne kritische Situationen und Kämpfe können durch die Zaubermittel bereinigt werden. Am Ende der drei Jahre ist eine der Schädigungen, Barlos Sprachlosigkeit, durch die Flöte und Eldrade, die ihn auch wortlos versteht, beseitigt. Auch eine zweite Schädigung, das zerrüttete Verhältnis zwischen Lauscher und Barlo, die in Barlos Mordversuch an Lauscher gipfelt, ist aufgehoben, denn die beiden sind Freunde geworden. Die ausbleibende Liquidierung der Schädigung durch Gisas unrechtmäßige Inbesitznahme kann aber nur durch Barlos Rückkehr zum Schloss (Element ↓) 35 und eine schwere Prüfung beseitigt werden: Gisa muss gegenübergetreten werden (Element P). An dieser Stelle übernimmt Lauscher wieder die Rolle als Held und übergibt Gisa freiwillig seinen Stein (Element Lö), durch den nicht nur sie geheilt werden kann, sondern der auch trotz dreimaliger Warnung der Vorarbeiters, der sie aufzuhalten versucht, die Verwandlung und Vertreibung Gisas auslöst (Element St). Mit der Hochzeit zwischen Barlo und Eldrade und der Thronbesteigung des rechtmäßigen Helden wird das Märchen gleichsam glücklich zu einem Ende geführt. 36 3.2.3.3. Das Gisa-Märchen Funktion Handlungsinhalt Seite α (Mangel) d e b f g c A a A C (einsetzende Gegenhandlung) ↑ (Abreise) Sch H Gisa soll verheiratet werden, weist aber alle Freier ab Fremder fragt Gisa über den Edelstein ihres Vaters aus Gisa bereichtet ihm von dem Stein implizites Verbot, den Stein jemandem zu zeigen Fremder überredet Gisa, ihm den Stein zu zeigen Gisa lässt sich auf den Wunsch des Fremden ein Gisa verletzt das Verbot ihres Vaters Diebstahl des Steins Tod des Vaters Gisa wird „böse“ Gisa schwört den Männern Rache und will reich werden S.82 S.83 S.83 S.83 S.83 S.83 S.83 S.83 S.84 S.84 S.84 Gisa verlässt das Tal und reist in den Wald Angriff der Wölfe Gisa handelt mit ihnen ein Geschäft aus und schwört, die drei Bedingungen zu erfüllen Gisa erhält die Knechte als Untergebene Gisa und die Knechte kommen nach Barleboog S.84 S.84 S.84f Gisa wird auf Fredebars Fest eingeladen Wölfe töten Fredebar und den Hofstaat und Gisa beginnt mit der Suche nach Edelsteinen Gisa wird reich und mächtig S.86 S.86f. Z W (Raumvermittlung) Element K Element S „L“ Sch H Z Sch H Z Sch H Z A M P Lö (Lösung) L T/St P/Lö P/Löneg T P/Lö L Tabelle 3 Gisa trifft auf Lauscher und entwendet ihm den Stein Gisa entfernt mit Hilfe ihrer Knechte den Stein erneut aus Lauschers Reichweite Gisa versagt und kann Lauscher den Tod der Amsel nicht abgewinnen Gisa verliert Lauscher Gisa wird auf der Stirn gezeichnet Lauscher kehrt mit Barlo zurück, um Gisa zu besiegen Gisa bittet um den Stein und erhält ihn Gisa beginnt wieder zu lieben Gisa wird in eine Wölfin verwandelt Gisa stellt sich zwischen den Wolf und Lauscher; Lauscher überlebt Gisa versucht Arnilukka zu töten und wird stattdessen von Lauscher getötet Gisa wird unter dem Ebereschesetzling begraben Gisa rettet Lauscher vor dem Geisterwolf Gisa ist wieder gut S.85 S.85 Tenor im ersten Buch S.16-19 S.25f. S.27 S.27 S.27 S.187 S.188 S.188 S.189 S.198f S.349f S.351 S.578f. S.579 Auf den ersten Blick scheint das Märchen von Gisa – wenn man es in seiner chronologischen, nicht in der romanimmanenten Reihenfolge liest – ein typisches Freiermärchen zu sein, indem ein Bewerber sich darum bemüht, die von Flüchen belastete Braut zu befreien und für sich zu gewinnen. Dadurch, dass sie selbst jedoch die Heldin ist, wird es zu einem Suchwanderungs- und Erlösungsmärchen, denn Gisas Heilung kann nur durch Liebe bewirkt werden. 37 Der chronologische Anfang des Gisa-Märchens ähnelt dem Märchen vom König Drosselbart. Auch hier lehnt eine ebenso schöne wie stolze Prinzessin alle Freier hochmütig ab, bis es zur Trennung vom Elternhaus durch die Zwangsverheiratung durch ihren Vater kommt. Bei Gisa erfolgt die Trennung vom Elternhaus durch den Tod des Vaters (Element a), und die Hochzeit wird durch den Pakt mit den Wölfen ersetzt. Wenn Gisa im Roman eingeführt ist, ist die Schädigung an ihr bereits begangen worden, wodurch diese nicht mehr behoben werden kann: Durch den Betrug in ihrer Jugend und den Mord an ihren Vater hat sie dessen Stein bereits verloren, und auch der Mangel eines Ehemannes lässt sich nicht mehr beheben. Die zentrale Schädigung findet jedoch innerhalb der Binnenerzählung über Gisa und die Wölfe statt, wenn sie der Liebe abschwört (Element A) und die Männer verflucht. Hier verkehrt sich die bisherige leidende Heldin in eine Figur, die außerhalb ihres eigenen Märchens Gegenspielerin ist, denn böse Menschen sind von der Rolle des Märchenhelden ausgeschlossen, da es die Dichotomie von Gut und Böse verwischen würde. Nur unter der Voraussetzung, dass sie sich später ändern wird, kann Gisa überhaupt noch Protagonistin bleiben; allerdings wird sie zu einer Anti-Heldin. Zunächst erhält sie durch die Prüfung durch die Schenker, die Wölfe, mit deren Fähigkeit, sich tagsüber in Menschen zu verwandeln, ein Zaubermittel (Sch H Z); dieses setzt sie im folgenden Kampf auch ein, um ihren Gegner zu vernichten (Kampf – Sieg). Dieser Sieg ist jedoch negativ konnotiert, da sie damit Unrecht begeht, unschuldige Menschen mordet und einen Thron an sich reißt, der ihr nicht gehört47. Die Liquidation, die damit erreicht wird (sie wird reich, wie sie es gewünscht hat, und kann damit den Verlust des Steins ihres Vaters verschmerzen), ist jedoch nur scheinbar: Einen Ersatz für den Stein kann sie nicht finden, und die Jagd nach dem materieller Reichtum entzieht ihr 47 Märchenhelden müssen nicht zwingend moralisch sein (vlg. Bettelheim: Kinder brauchen Märchen, S.13-18); wenn am Ende etwa der jüngste Sohn, der zuvor nur mit einem Kater als Erbe betraut wurde, durch die Listen und den Betrug eben jenes Tieres die Königstochter heiratet, definiert der Leser ihn dennoch als „gut“. 38 ihre Menschlichkeit Stück für Stück. Zu diesem Zeitpunkt ist Gisa eine Wölfin in Menschengestalt. Die Transfiguration Gisas setzt mit Lauschers Auftreten ein; hier haben wir eine verkehrte Sch H Z Konstellation, denn Gisa wünscht den Stein zwar zu besitzen, kann mit ihm aber nichts anfangen und entfernt ihn daher. Dennoch will sie ihn auf jeden Fall von Lauscher, der als Besitzer des Steins die Rolle des Schenkers übernimmt, trennen; dazu wendet sie erst Schmeichelei und Bestechung an und wendet im zweiten Fall, wenn der Stein über Barlo zurück zu Lauscher zu kommen droht, ihre angehäufte Macht an, um ihn aus dem Fenster zu werfen. In zwei Prüfungen gelingt es Gisa, den Schenker zu überzeugen, und als Folge geht das Zaubermittel nicht in ihren Besitz über, sondern wird aus dem Besitz Lauschers entfernt. Die dritte Prüfungssituation allerdings, der Versuch die Amsel zu erschießen, misslingt, und statt den Stein weiterhin von Lauscher fernzuhalten, kehrt dieser zu ihm zurück, und Gisa verliert im Gegenzug ihre Macht über Lauscher. Dabei wird sie von dem Saphir, den Lauscher ihr nachwirft gezeichnet (Element M), auch wenn der kritische Leser sich fragt, wie Lauscher den Stein an ihre Stirn werfen konnte, wenn sie sich gerade von ihm entfernt hat. Allerdings gehört dies auch zum Wunderbaren des Märchen: Nicht alles muss zwingend logisch sein. Ohne Lauscher potenziert sich Gisas Bösartigkeit noch einmal, und eine Erlösung aus der Lieblosigkeit scheint ausweglos, denn der Gerechtigkeitswunsch des Märchens verlangt nun Gisas Vertreibung oder Tod. Bei Lauschers und Barlos Rückkehr zum Schloss kommt es daher zur schweren Prüfung (Element P), auf der nicht weniger als Gisas Menschlichkeit auf dem Spiel steht. Dieses Mal gelingt ihr die Probe, denn sie überwindet ihre Gier und fragt Lauscher nach dem Stein, und dieser bietet ihn ihr freiwillig an. Psychologisierend könnte man interpretieren, dass Gisa in der Gefühllosigkeit ihrer Isolation (Gisa ist allein im Schloss, sie hat keinen Freund, keinen Geliebten) von Selbstlosigkeit und Mitgefühl berührt zur Besinnung kommt. Allerdings muss sie für ihre Taten bestraft werden, weshalb die Wölfin in Menschengestalt nun zum Menschen in Gestalt einer Wölfin wird (morphologische Doppelbedeutung des Motivs als Element St und T), und Gisa 39 erhält die Chance, sich in ihrer Menschlichkeit zu bewähren. Indem sie Lauscher vor dem Wolf schützt, der ihr wie ein Schatten und damit als Verkörperung ihrer Schuld folgt, bewältigt sie eine erste Prüfung ihrer Menschlichkeit; wenn sie Arnilukka jedoch aus Eifersucht töten möchte, scheitert sie, und eine neue Strafe ist nötig. Gisa wird nun vom Wolf befreit und unter einer Eberesche begraben. (Element T). In dieser Verkörperung, allen körperlichen Bedürfnissen entrückt, gelingt es Gisa, ihre Bösartigkeit vergessen zu machen: Als Eberesche schützt sie die Menschen, was sie auch beweist, als sie Lauscher vor dem Geisterwolf rettet. Gisa ist wieder gut geworden, und die Schädigung damit getilgt (Element L). 3.2.3.4. Das Flötermärchen Funktion Sch H α Z C (einsetzende Gegenhandlung) a ↑ (Abreise) P Löneg W Pneg P Lö P/ Löneg P Lö P Lö P Löneg L Tabelle 4 Handlungsinhalt Sanfter Flöter verlangt, dass Lauscher Diener wird Lauscher willigt ein Lauscher wünscht sich Anerkennung und Macht Lauscher erhält die Silberne Flöte von seinem Großvater Lauscher genießt die Ehrungen von Arnis Leuten und verspricht, nach seinem Unterricht zu ihnen zu reisen Tod des Sanften Flöters Lauscher bricht auf Kinder in Draglop wollen, dass er spielt Lauscher bezaubert sie Lauscher reist durchs Nebelmoor Der Graue lockt mit Macht, wird aber vom Stein in der Verführung gehindert Der Graue verlangt den Stein Lauscher behält ihn Narzia-Märchen, in dem Lauscher der Macht der Flöte erliegt Der Graue verlangt, dass Lauscher die Ziegen tötet Sein eigenes Entsetzen hindert Lauscher daran Der Graue verlangt im Traum von Lauscher, auf Arni zu schießen Der Tod im Traum ist nicht real, und Lauscher wird über Rinkulla von Arnilukka aus der Leere gerissen Lauscher kann Arnis Leute vor den Beutereitern warnen Lauscher versagt, weil er auf den richtigen Moment warten will Lauscher vertreibt den Grauen und stirbt Seite S.193 S.202ff. S.212 S.245 S.247 S.254 S.255f. S.256-259 S.259-268 S.268f. S.268f. S.303ff. S.551 S.551f. S.554f. S.556 S.559 S.560 S.816f. In der Märchenhandlung des Flötermärchens geht es um Lauschers Auseinandersetzung mit seinen eigenen Wünschen, seiner Gier und seinem 40 Machthunger. Es wird nicht zusammenhängend erzählt, sondern besteht aus einzelnen Szenen, die in die Romanhandlung eingebunden sind. Voraussetzung ist die Übergabe der Silbernen Flöte an Lauscher, die für Lauscher eine scheinbare Macht und große Ehre repräsentiert. Konträr dazu steht die Mangelsituation, die Auslöser dieser Handlung ist (Element α): Lauschers fehlende Anerkennung als Held und seine Selbstzweifel angesichts des vermeintlichen Versagens beim Sieg über Gisa. Und doch lähmte ihn das dumpfe Gefühl, irgendetwas Entscheidendes versäumt zu haben, das undeutliche Bewusstsein einer Schuld, von der er nicht wusste, worin sie bestand. Gisas Gesicht war so nah gewesen, und jetzt sehnte er sich danach, es zu berühren. War das Ziel, nach dem er suchte, mit ihrem grauen Schatten für immer in den Wäldern entschwunden? Solange er hier an dem Turmfenster saß und zu den Wäldern hinüberstarrte, würde er sich nicht davon befreien können. Er würde wieder reiten müssen, dort aus diesem allzu lieblichen Tal und hinein in das schattige Dickicht jenseits der sanften Wiesenhänge. 48 Dieses Mangelgefühl breitet sich nach der Hochzeit bei ihm aus und soll durch eine neue Reise kompensiert werden, die ihn zunächst einmal zu seinem Großvater führen soll, ehe er ein Ziel finden möchte, mit dem er „frei und selbständig“49 werden kann. Als er auf Arnis Leute trifft, die ihn wegen des Besitzes des Steins verehren, glaubt er, dieses Ziel gefunden zu haben und beschließt, zu ihnen zu reisen (Element C). Ermöglicht wird die Abreise durch den Tod des Großvaters (Element a). Es folgen nun diverse Prüfungs- und Verführungsfunktionen, denn auf der einen Seite gerät Lauscher selbst immer in die Verlockung, seine Flöte anzuwenden (in Draglop, bei den Beutereitern und den Bergdachsen), wobei er jedes Mal der Versuchung erliegt und damit die Prüfung scheitert; auf der anderen Seite wird er vom Grauen in seinen Träumen besucht, der ihn dazu antreibt, die Macht der Flöte zu forcieren. Einige diese Prüfungen vereitelt die Anwesenheit des Steins und damit Arnilukka (Pneg), bei anderen kommt es erst gar nicht zu einer Prüfung, weil der Graue Lauscher nur sein Gift ins Ohr träufelt, ehe er wieder verschwindet, und jedes Kräftemessen dadurch verhindert wird, anderen schließlich widersteht Lauscher, und bei jeder überstandenen Prüfung reift Lauschers Persönlichkeit, bis er in der letzten Prüfung in der Lage ist, dem Grauen nicht nur zu widersagen, sondern ihn zu vertreiben. Er hat die Liquidierung des 48 49 Ebenda, S.189f. Ebenda, S.193 41 Mangels erreicht, indem er das Bedürfnis, das den Mangel erzeugt hat, überwindet. 3.2.3.5. Das Narzia-Märchen Funktion Handlungsinhalt Seite Sch H Z Lauscher erhält von seinem Großvater nach drei Jahren Lehrzeit die Flöte Lauscher verliebt sich in Narzia S.240 α (Mangel) α B (Verbindendes ) C (einsetzende Gegenhandlung) α ↑ (Abreise) W K S L α ↑ (Abreise) W K S L α ↑ (Abreise) W K S L/A V P Lö L/T A P/Lö St Hneg Arnis Leuten fehlen Geschäftsbeziehung nach Arziak Lauscher erfährt, dass er großen Ruhm für Arnis Leute erwerben kann, wenn er nach Arziak fährt Lauscher beschließt, selbst etwas zu werden, damit er um Narzia werben kann Narzia wünscht ein Schmuckstück Lauscher verlässt Arnis Leute Lauscher reist über Urlas Hütte und Schiefmauls Haus nach Arziak Lauscher kämpft um die Gunst der Bevölkerung von Arziak und besonders um Promezzo Lauscher erhält alle nötigen Zusagen und das Schmuckstück Lauscher kehr zu Arnis Leuten zurück und erhält einen Kuss von Narzia Narzia wünscht den Teppich; Arnis Leuten wollen Frieden mit den Beutereitern Lauscher verlässt Arnis Leute Lauscher reist durch die Steppe Lauscher spielt gegen Hunli Schach Lauscher gewinnt den Teppich Lauscher kehrt zu Arnis Leuten zurück und erhält einen großzügigeren Kuss von Narzia sowie das Heiratsversprechen Narzia wünscht den Ring des Großmagiers; Arnis Leute wünschen einen Zuchthengst Lauscher verlässt Arnis Leute Lauscher reist über die Karpfenköpfe nach Falkenor Lauscher überlistet den Hirten und spricht mit dem Großmagier Lauscher erhält Pferd und magischen Ring Lauscher kehrt zu Arnis Leuten zurück, heiratet und wird in den Faun verwandelt Falke verfolgt Lauscher Versteinerung Arnilukka erlöst Lauscher aus der Versteinerung Lauscher wird wieder zu einem Menschen Lauscher leidet weiterhin unter Platzangst Urla-Märchen Narzia stirbt Lauscher ist nur teilweise befreit; eine Aufhebung der Schädigung ist nicht mehr möglich Tabelle 5 42 S.303f.; S.307-309; S.317f. S.318f. S.318f. S.319-321 S.321 S.321 S.321-332 S.332-356 S.356f. S.362 S.378 S.378 S.378f. S.386-389 S.390 S.397-399 S.405 S.405 S.408-417; S.418 S.419-428 S.429: S.443 S.445-450 ab S.456 S.581 S.654 S.662 S.676 S.720ff. S.757 S.758 Das Narzia-Märchen ist ein typisches Werbungsmärchen, indem der Freier versucht, die Hand der Prinzessin zu erhalten. Als Zaubermittel für dieses Märchen benötigt Lauscher die Silberflöte, die er schon vor Beginn der eigentlichen Märchenhandlung von seinem Großvater vererbt bekommt. Mit seiner ersten Begegnung mit Narzia verliebt er sich in sie und beschließt, sie für sich zu gewinnen. In Narzias Auftrag erfüllt Lauscher drei Fahrten, die vordergründig Arnis Leuten dienen, allerdings immer noch einen privaten Auftrag von Narzia beinhalten. Mit dem Erfolg dieser Aufträge gewinnt Lauscher sich ein Anrecht darauf, Narzia zu heiraten. Sie erinnern an die klassischen Fahrten, um eine Rätselprinzessin für sich zu gewinnen. Das Märchen belohnt mit der ihm eigenen Gerechtigkeit den höchsten Einsatz – und dafür könnte der Kopf schon gelten – mit dem höchsten Lohn. Immer steht bei Todesstrafe eine Prinzessin auf dem Spiel, die als Mitgift ein Königreich und einen Herrscherthron zu bieten hat (…). Rätselprinzessinnen treten darum auch meist sehr selbstherrlich auf; sie wehren sich offensichtlich mit gutem Recht gegen jeden untauglichen, oder im Sinne ihrer Rätsel, unwissenden Bewerber um ihre Hand und ihren Thron.50 Narzia erfüllt viele Ansprüche dieser Definition einer Rätselprinzessin. Sie ist als Tochter Hönis quasi die Prinzessin von Arnis Leuten und übernimmt auch die Herrschaft über jene nach dem Tod ihres Vaters, dem sie zuvor Ratschläge erteilt hat. Ihr Auftreten ist mit Steigen ihrer Macht umso selbstherrlicher, und auch ihre Schönheit wird gerühmt. Lauscher ist dieser Schönheit gleich zu Beginn erlegen; er setzt sein Vertrauen sehr schnell in sie, denn „ihre Augen ließen ihm keine andere Wahl“51. Dem wichtigsten Punkt, das Stellen eines Rätsels auf Leben und Tod, kann sie in Menschengestalt allerdings nicht nachkommen. Erst als Falke geschieht es, dass sie die berüchtigten drei Fragen stellt, deren Antworten eigentlich unmöglich zu erraten sind – außer man verfügt über die benötigte Lebenserfahrung. Solche Elemente sind aus dem Märchen bekannt, etwa aus KHM 125 oder – in umgekehrter Rollenverteilung, da der Freier das Rätsel stellen und die Prinzessin es erraten muss – in KHM 22. 50 51 Snook: Auf den Spuren, S.121 Stein und Flöte, S.309 43 Mit dem Ende der drei Fahrten kommt es scheinbar zum gattungstypischen Happy End, doch im Moment der Erfüllung ereignet sich die Katastrophe (L/A), denn Narzia verwandelt Lauscher in einen Faun und verwandelt damit gleichzeitig die Liquidierung in eine neue Schädigung, denn fortan ist Lauscher zur Hälfte seiner Menschlichkeit beraubt und muss um seine Erinnerungen, seine menschliche Identität kämpfen. Auch die Struktur ändert sich nun, denn statt zusammenhängend setzt sich das Märchen nun in Einzelszenen im Verlauf der übrigen Handlung fort. Immer wieder versucht der Falke, Lauscher den Stein zu stehlen, und nachdem er eine Weile diesem Schicksal entgehen konnte, gibt Lauscher den Stein her, um dafür Erinnerungen zu erhalten; dennoch prophezeit er, dass der Stein Narzia kein Glück bringen wird. Diese Prophezeiung erfüllt sich mit dem Sturm der Beutereiter, in dem das Dorf von Arnis Leuten fast gänzlich zerstört und seine Bewohner getötet werden. Dieses Ereignis führt zu Lauschers Entscheidung, sich der Versteinerung zu übergeben, in deren Verlauft er sogar Erkenntnisse über Narzia und die Kette ihrer Mutter gewinnt, die er zur Liquidierung der Schädigung im Urla-Märchen braucht. Dieses ist dann auch Bestandteil des Narzia-Märchens, denn darin wird Lauscher wieder mit Narzia konfrontiert und hat nun die Chance, die letzte Schädigung, seine Platzangst, aufheben zu lassen. Dieses wird durch Narzias Tod verhindert, so dass die einzige Schädigung, die Lauscher von Narzia empfangen und durch sie liquidiert hat, die misslungene Liquidierung in der Hochzeit war. 44 3.2.3.6. Das Arnilukka-Märchen Funktion a b c A d Sch H Z L/↑ (Abreise) A B C L Hneg Handlungsinhalt Promezzo reist zu Arnis Leuten Promezzo möchte nicht, dass Arnilukka mitkommt Arnilukka setzt sich durch und begleitet ihn Arnilukka wird zur Geisel Narzia erkundigt sich über sie und Lauscher Arnilukka rettet die Flöte aus dem brennenden Haus Arnilukka flieht und ist wieder frei Lauscher wird versteinert Arnilukka erfährt durch das Lied vom Schicksal ‚ihres’ Flöters nach Rücksprache mit Belarni entscheidet Arnilukka, nach Lauscher zu suchen Arnilukka erlöst ihn Trotz ihrer gegenseitigen Liebe und ihrer Tochter entscheiden sich die beiden gegen ein gemeinsames Leben Seite S.665 S.665 S.665 S.666 S.667f. S.672f S.673 S.581 S.712 S.712 S.654/S.662 S.713f. Tabelle 6 Das Märchen von Arnilukkas Suche nach ihrem Tierbräutigam und der Erlösung des steinernen Fauns wird nur angedeutet; bedingt durch die Fokussierung auf Lauschers Geschichte kann dieses Märchen nicht eigenständige Handlung des Romans werden. Vielmehr erstreckt sich das Geschehen über einen Großteil des Romans, während dem Leser nur einzelne Elemente präsentiert werden, diese allerdings in zunächst unbewusst doppelter Form. Arnilukkas Suchwanderung beginnt, als Lauscher verschwunden ist und dauert neun Jahre an. Drei entscheidende Situationen werden im Roman geschildert: die Vorbereitung für die Schädigung in der Zeit, als Arnilukka als Geisel im Dorf von Arnis Leuten gefangen gehalten wird (Elemente a, b und c), dort aber die Flöte findet (Elemente Sch, H und Z); Arnilukkas Entschluss, nach Lauscher zu suchen (Element C), dem vorangeht, dass sie von seinem Schicksal erfährt (Element B), und natürlich die Erlösung (Element L). Die ersten beiden Sequenzen erfährt der Leser aus den Berichten, die Arnilukka Lauscher gibt, und dabei wird offenbar, dass Lauscher Arnilukka auf seiner eigenen Suchwanderung begegnet ist, ohne dass die beiden einander erkannt haben: drei Träume Arnilukkas finden sich in drei Träumen oder Visionen Lauschers aus der Vergangenheit wieder; und auch während ihrer Flucht, die mit Arziak dasselbe Ziel hatte, treffen sie sich zweimal: im Dorf und auf dem 45 Pass. Ein Erkennen in diesem Moment hätte jedoch die Versteinerung Lauschers und damit auch seinen Erlösungsprozess durch Arnilukka verhindert, zumal sie zu diesem Zeitpunkt wohl noch nicht reif genug gewesen wäre, dem Faun das Fell zu kraulen und ihn dadurch zurückzuverwandeln; das Element H, das eigentlich erwartet wird, entfällt jedoch. 3.2.3.7. Das Urla-Märchen Funktion α (Mangel) B (Verbindendes ) C (einsetzende Gegenhandlung) ↑ (Abreise) V (Verfolgung) R (Rettung) Sch H Z W (Raumvermittlung) Sch H Z (Schenker, Reaktion des Helden, Empfang des Zaubermittels) Sch H Z Sch H Z K S L ↓ (Rückkehr) P Lö T St Hneg Tabelle 7 Handlungsinhalt Urla kann die Sprache der Menschen nicht sprechen Lauscher erfährt durch Weißfeders Geschichte von Urlas Unglück und der Lösung dazu Lauscher organisiert seine Flucht mit Schneefink Seite S.720 S.720-722 Flucht von Lauscher und Schneefink Blutaxtleute folgen ihnen Weißfeders Schwarm lockt sie auf die falsche Fährte Lauscher erhält von der Forelle Hilfe bei der Suche nach Kette, Ring und Falken Lauscher und Schneefink reisen zur Ziegenhöhle S.723-727 S.728 S.728f. S.729f. Lauscher besteht die Prüfung bei Rinkulla S.732f. Lauscher besteht die Prüfung bei Mollo Lauscher besteht die Prüfung beim Direx Lauscher tritt gegen das Wasser an im Kampf um die Schätze Lauscher erringt Kette und Ring Lauscher hat die fraglichen Gegenstände Lauscher und Schneefink kehren zum Waldrand zurück Narzia fordert Kette, Ring und Augenstein Urla hilft Narzia und gibt ihr den Stein Urla beherrscht die Menschensprache; Lauscher soll ebenfalls geheilt werden; dies scheitert jedoch Narzia stirbt Lauscher verabschiedet sich von Arnilukka und Urla S.734-737 S.737-740 S.741-744 S.722f. S.730f. S.744 S.745 S.745f. S.754f. S.755 S.756f S.757 S.761 Die Märchenhandlung des Urla-Märchens folgt den Vorbildern der Queste aus der Fantasyliteratur, ohne dabei die Märchenmorphologie zu verletzen. Lauscher ist nun ein gereifter Held, der selbstbestimmt die Prüfungen löst, statt als Helfer nebenher zu laufen oder fremdbestimmt zu werden; er ist ein Akteur, der zur richtigen Zeit am richtigen Ort war – dass er darüber hinaus noch über das Wissen und die Fähigkeiten verfügt, um die Queste zu lösen, ist ein weiteres Zeichen seiner Entwicklung, denn solche Erfahrungswerte kann man sich nur im Leben aneignen. 46 Ausgangspunkt ist der Mangel, dass seine Tochter Urla die Menschensprache nicht sprechen kann. Damit Lauscher, der zu diesem Zeitpunkt ein Gefangener ist, von Urlas Unglück erfahren kann, wird in Element B eine Botschafterin geschickt: die Dohle Weißfeder, die ihm unwissentlich von Urla berichtet, als sie davon den anderen erzählt (ein solche Motiv gibt es z.B. auch in KHM 6, wenn die Raben sich über das Unglück des Königssohn unterhalten und der treue Johannes dabei Zeuge wird). Lauscher bricht aus, um mit Schneefink zurückzureisen und Ring und Kette zu erringen. Bemmann macht aus dieser Sequenz – einer Ausarbeitung der Elemente V und R – eine spannende Verfolgung, die nur durch die Mithilfe der Vögel, welche die Blutaxtleute auf die falsche Spur locken, gelingt. Ebenso essentiell ist in diesem Märchen die Zusammenarbeit von Tieren und Menschen, denn nicht nur mit den Vögeln kommuniziert Lauscher, sondern auch mit einer Forelle, die Verbindung zu Arnilukka aufnehmen und von seiner Rückkehr erzählen soll. Das Zusammenspiel von Mensch und belebter Natur ist hierbei ein weiterer Hinweis für Lauschers Reife, ebenso die Tatsache, dass er den Vögeln aufträgt ihre Flucht zu decken. Märchenhelden fliehen selten aufgrund einer rationalen Überlegung, sondern werden bei ihrer Flucht von Zaubermitteln oder dem Schicksal beschützt. Mit dem Abstieg in die Dunkelheit, den Lauscher unternehmen muss, spielt Bemmann auf eine lange literarische Tradition an, die von der griechischen Mythologie (Orpheus und Euridyke) über Dante (Göttliche Komödie) bis in die Gegenwart reicht: Lauscher steigt in die Unterwelt hinab. Dabei begegnet er zunächst Rinkulla, die ihm zwar den Weg weisen, seine Angst aber nicht nehmen kann (obwohl ihre Augen Lauscher helfen, die Angst zu überwinden, da sie seinem Stein ähneln). Die nächste Begegnung mit dem Wesen Mollo ist eine klare Reminiszenz an Gollum aus dem Herrn der Ringe bzw. dem kleinen Hobbit: ein Wesen, das in der Unterwelt haust und einen Schatz bewacht, das unbelebtes Gold mit Kosenamen versieht, den Eindringling aber nur in der dritten Person anspricht und einen Hang zu Ellipsen hat52. In der Begegnung 52 Es ist nicht die einzige Anspielung des Buches auf Tolkiens Werk. Wenn der alte Steinsucher bei seiner ersten persönlichen Begegnung Lauscher fragt: „Was hast du denn 47 mit Mollo muss Lauscher seine Gier überwinden, denn Mollo bietet ihm Gold an, das Lauscher jedoch ablehnt – und damit eine Prüfung besteht, bei deren Misslingen Mollo ihn angegriffen hätte. Auch die dritte Begegnung auf dem Weg in die Unterwelt, das Zusammentreffen mit dem Direx, erfordert von Lauscher, eine seiner Eigenschaften zu überwinden. Nach Angst und Gier ist es dieses Mal die Sucht nach Ordnung, denn während der Direx versucht, die Welt zu ordnen, kann Lauscher mit seiner Musik das Chaos und die Varianz der Wirklichkeit genießen. Nachdem er diese Prüfungen überstanden hat, gelangt er ans Wasser, wo ihn drei Wasserfrauen erst ins Verderben locken, Laianna aber rechtzeitig erscheint, um sein Leben zu retten und ihm von der Möglichkeit des Tauschgeschäfts zu erzählen. Auch dies ist typisch für Märchen: Der Held kann sich nicht nehmen, was er möchte, ohne eine Gegenleistung zu erbringen – und er muss es persönlich holen, wenn er nicht scheitern will (das Motiv eines Schmarotzers, der die Lorbeeren der Taten des Märchenhelden einheimsen möchte, ist sehr schön in der Figur des Riesen aus KHM 121 geschildert, der seiner Braut den geforderten Apfel zwar bringen kann, aber ihr den Ring als Beweis, dass er es selbst getan hat, schuldig bleibt und somit scheitert). Nachdem Lauscher errungen hat, was er braucht (Element S) kehrt er zu Schneefink zurück und wird mit einer weiteren Märcheneigenart konfrontiert: der unzuverlässigen Zeit. Denn während er eine unbestimmte Zeit in der Unterwelt war, sind an der Oberfläche drei Tage vergangen (vgl. KHM 39, wo die Magd sieben Jahre statt drei Tage bei den Wichtelmännern verbringt). Nach diesem Ausflug ins Questenabenteuer, das in Ritterromane und Fantasybücher oft frequentiert wird (das Erringen eines Schatzes unter Einsatz des Lebens), kehrt die Handlung des Urla-Märchens in die reinen Märchenstrukturen zurück, wenn es nach der Rückkehr Schneefinks und erwartet (…)? Einen Zauberer mit spitzem Hut?“ (S.494), so erinnert dies Tolkien-Leser unwillkürlich an die Beschreibung des Zauberers Gandalf, dessen spitzer Hut bei seinem ersten Treffen mit Bilbo als Zeichen seines Standes erwähnt wird (vgl. Tolkien: Der kleine Hobbit, S.10). 48 Lauschers und der Ankunft Arnilukkas, Belarnis und Urlas zur direkten Konfrontation mit der Gegenspielerin Narzia kommt. Eine letzte schwere Prüfung gilt es zu bestehen, wenn Narzia auch den Stein fordert. Parallel zu den Handlungen ihres Vaters im Gisa- und Barlo-Märchen übernimmt nun Urla die Rolle der Heldin, indem sie selbstlos den Stein an Narzia verschenkt und damit den Fluch löst. Auch hier heilt die mitfühlend gespendete Liebe die Spuren von Hass und Gier, und Narzia ist frei. Sie gewährt Urla die menschliche Sprache (Element T) und versucht auch Lauschers Fluch noch zu heben, scheitert allerdings darin, da der Prozess der Strafe (St) bereits in Gang gesetzt wurde: Durch die Binnenerzählung über den Magier aus Falkenor und Belenika weiß der Leser, dass Narzia mit der langen Zeit als Falke viele menschliche Jahre eingebüßt hat, so dass es kein Wunder ist, dass sie nun rasant altert und zu Staub zerfällt. Nachdem die Gegenspielerin besiegt ist, versagt auch das Urla-Märchen Lauscher die Integration in seine Familie, obwohl seine Gefühle für Arnilukka sichtbar sind, aber um ihm zu erlauben, Urlas Vater und Arnilukkas Ehemann zu werden, müsste Belarni aus dem Figurengefüge herausfallen, und das wäre auch ihm gegenüber ungerecht, da er sich nie als grausam oder eigensüchtig präsentiert hat. Belarni gehört zu den Guten, und daher würde es auch die Gerechtigkeit des Märchens stören, falls er seinen Platz jetzt für Lauscher räumen müsste. 49 3.2.3.8. Das Märchen vom fröhlichen König Funktion A (Schädigung) B (Vermittlung) C (einsetzende Gegenhandlung) Sch (Schenker) H (Held) Zneg (Zaubermittel) Sch H Zneg Sch H Z K (Kampf) S (Sieg) L (Liquidierung) H (Hochzeit) Tabelle 8 Handlungsinhalt Riesen vertreiben die Schlossbewohner König beobachtet das Treiben der Riesen und erkennt, dass diese nicht gehen werden König beschließt, etwas zu unternehmen Seite S.102 S.102 König bittet die Ritter um Hilfe Ritter ziehen aus König findet in Gewalt und Kraft kein Mittel gegen die Riesen König bittet die Zauberer um Hilfe Zauberer ziehen aus König findet in Magie kein Mittel gegen die Riesen junger Bursche kommt des Wegs und fragt nach dem Grund für die Trauer König antwortet ihm und verspricht ihm die Hand seiner Tochter Bursche verspricht ihm Hilfe König und sein Gefolge ziehen lachend zum Schloss Riesen sind geschrumpft und können vertrieben werden König hat das Schloss zurück, und der Bursche heiratet die Prinzessin S.102 S.102f. S.103 S.102 S.103 S.193 S.103 S.103 S.103 S.103f. S.104 S.104f. S.105 Diese auch innerhalb des Romans als Märchen gekennzeichnete Geschichte hat eine klare Märchenstruktur: Nach der Schädigung erkennt der König, dass die Riesen nicht von allein weichen wollen, und setzt zur Gegenhandlung an. Nun entpuppt der König sich als Figur in der Funktion des Schenkers, denn er bietet die Hand seiner Tochter zu Belohnung. Zwei erfolglose Versuche durch Brachialgewalt und Magie scheitern; beim dritten Versuch wird das Zaubermittel des Lachens als Hilfe angeboten, und der darauf folgende Marsch zum Schloss (Element K) endet gattungstypisch mit dem Sieg: Die Schädigung ist aufgehoben, und der Bursche heiratet die Königstochter. 50 3.2.3.9. Das Rübe-Märchen Funktion α (Mangel) C (einsetzende Gegenhandlung) Handlungsinhalt Rübes Unlust zur Holzfällerarbeit Rübe frühstückt und haut seine Axt in den Baumstumpf Seite S.113 S.113 ↑ (Abreise) K (Kampf) Rübe bricht auf und kommt zur Mühle erste Aufgabe, bei der der Müller zu betrügen versucht Rübe gewinnt durch die Kombination von Kraft, Lachen und Flatulenz zweite Aufgabe, bei der der Müller zu betrügen versucht Rübe gewinnt durch die Kombination von Kraft, Lachen und Aufstoßen dritte Aufgabe, bei der der Müller zu betrügen versucht Rübe gewinnt durch die Kombination von Kraft, Lachen und Wasser abschlagen Müller verliert sein Messer Rübe kehrt nach Hause zurück S.113 S.113f. S (Sieg) K (Kampf) S (Sieg) K (Kampf) S (Sieg) St (Strafe) ↓ (Rückkehr) Tabelle 9 Das Rübemärchen ist ein Schwankmärchen, das S.114 S.114 S.114f. S.115 S.115 S.115 S.115 nur dadurch als Zaubermärchen gewertet werden kann, weil Rübes stetige Fröhlichkeit in der Rahmenhandlung zu dem Mittel wird, mit dem die Gegenspieler besiegt werden können; es steht also stellvertretend für ein Zaubermittel. Die Struktur ist sehr simpel: Aus Langeweile (Element α) entschließt sich Rübe zur Gegenhandlung und reist los (Element ↑); er tritt in den Wettstreit mit dem zauberkundigen Müller und muss drei Aufgaben bewältigen (K-S), bei denen der Zaubermüller stets zu betrügen versucht. Rübe schlägt die Magie jedoch mit einem einfachen Mittel: seiner Physis. Den mystischen Zauberkräften stellt er körperbetont und in humoristischer Schilderung seine Körperlichkeit entgegen, indem er flatuliert, aufstößt und uriniert, und besiegt den Müller damit stets doppelt: Ekel oder Schreck sorgen für die Aufhebung des Zaubers, das Lachen erklärt Rübe darüber hinaus noch zum moralischen Sieger über den griesgrämigen Müller, der zuletzt für seine Arroganz bestraft (St) wird und seinen kostbaren Besitz an Rübe übergeben muss (der diesen wiederum für profane Tätigkeiten wie Speck schneiden einsetzt). Ob damit eine Liquidierung erreicht ist, bleibt jedoch offen, da nichts mehr über Rübes Gemütslage erzählt wird – von seinem Appetit einmal abgesehen. 51 Wenn man das Rübe-Märchen ob seines doch etwas derben Humors nicht in die Reihe der Schwankmärchen ordnen möchte, kann man es auch als Verkehrung der Märchen vom dummen Riesen/dem dummen Teufel sehen (vgl. 2.1.). In diesen Märchen geht es darum, dass der Mensch sich mit List über einen scheinbar übermächtigen Gegner durchsetzt und durch seinen Intellekt über das Rohe und Animalische triumphiert. Diese Rollen sind im Rübe-Märchen vertauscht, so dass aus der Überlegenheit des Geistes eine Unterlegenheit wird und das Rohe, scheinbar Dumme zuletzt siegt (dass Dumme über angeblich Kluge siegen, belegen aber auch die zahlreichen Dummlingsmärchen, z.B. KHM 6353, 8954 oder 3355). 3.2.3.10. Das Agla-Märchen Funktion c A a B A B C P Löneg L A P Lö L L Tabelle 10 Handlungsinhalt Jelosch heiratet eine Wasserfrau Grüner verliert seine Wasserfrau Mutter stirbt Grüner ruft nach Aglaia Fischfang ist schlecht Grüner ruft erneut nach Aglaia Fischer ziehen Erkundigungen ein und treffen eine Absprache mit dem Grünen Mädchen wird zum Wasser geführt Mädchen verschwindet Fischfang ist wieder normal Verlust eines Mädchens pro Jahr Agla wird zum See geführt Agla singt für den Grünen und trifft eine neue Absprache Grüner ist glücklich Mädchen kehren zurück Seite S.120/S.121f. implizit S.120 S.121 S.122 S.122 S.123f S.124 S.124 S.124 S.124f. S.125 S.126 S.126 Das Agla-Märchen wird zweifach präsentiert: in Form eines Liedes und einer Geschichte. Das Lied thematisiert dabei jedoch nur die Elemente der Prüfung, während die Geschichte das gesamte Märchen präsentiert und daher auch zur Vorlage der Strukturanalyse genommen wurde. 53 Die drei Federn: Die als klug geltenden Königssöhne versagen, während der jüngste und als dumm geltenden Sohn die Aufgaben des Vaters erfüllt, eine schöne Frau und das Erbe des Throns erhält. 54 Die goldene Gans: Der Dummling erhält die Hand der Königstochter. 55 Die drei Sprachen: Der wegen seiner Dummheit schließlich verstoßene Grafensohn wird durch Kenntnis der Tiersprachen reich und zum Papst. 52 Insgesamt handelt es sich bei der Geschichte, die wiederum nicht als Märchen gekennzeichnet ist, auch im Proppschen Sinne um ein Minimalmärchen (vgl. 3.2.2.), denn neben der Schädigung kommt es nur noch zu den Funktionen Schwere Prüfung – Lösung, ehe die Schädigung liquidiert werden kann. Durch den Verlust der Wasserfrau liegt eine erste Schädigung beim Grünen vor (Element A), der sie vermisst und dadurch traurig wird. In seinem Rufen nach ihr lässt er die Fischer davon wissen (Element B), doch niemand reagiert auf diese Vermittlung. Eine zweite Schädigung, der Einbruch der Existenzgrundlage, bedroht nun die Dorfgemeinschaft und lässt sie die Initiative ergreifen, weshalb bei der Rückkehr des Grünen (Element B) eine Gegenhandlung einsetzt, die in der Abmachung der Fischer mit dem Grünen endet, ihm ein Mädchen an den See zu schicken. Das Aussenden des Mädchens hat Prüfungscharakter (Element P); allerdings versagt das Kind, da es statt der vermissten Fröhlichkeit nur noch mehr Kummer ins Reich des Grünen bringt. Dennoch genügt dieses Element, um die zweite Schädigung, den Verlust der Fische, aufzuheben (Element L); im gleichen Zug tritt allerdings eine neue Schädigung auf, nämlich der Verlust der Mädchen. Insgesamt ist dies die dritte Schädigung des Märchens, welche nach dem Gesetz der Steigerung für die Fischer am schwersten wiegt. Erst die mit Erfolg bestandene Probe durch Agla kann diese Schädigung aufwiegen; sie liquidiert zunächst die Trauer des Grünen und bringt auch die verlorenen Mädchen zurück (Element L). Wunderbare Aspekte kommen in diesem Märchen nur begrenzt vor; die Mutter und der Grüne, welcher die Rolle eines Gegenspielers einnimmt, gehören dem Volk der Wassermenschen an, so dass der Grüne auch über die übermenschliche Fähigkeit verfügt, die Fische von den Netzen der Fischer fernzuhalten. Wichtigeres Zaubermittel sind jedoch der Gesang, mit dem Agla den Grünen zu sich lockt (vgl. 5.6.), und das Zaubermittel des Lachens. 53 3.2.3.11. Das Traummärchen Funktion W α (Mangel) P Sch H Z Lö W P Sch H Z Lö W P Sch H Z Lö W P Lö P Lö P Lö W L T H Tabelle 11 Handlungsinhalt Lauscher kriecht durch einen Wald Lauscher muss einen ihm unbekannten Ort erreichen Dornenhecke versperrt den Weg Lauscher bittet Rotkehlchen um Hilfe und erhält sie Lauscher kann die Dornenhecke überwinden Lauscher reist über eine Wiese Wassergraben versperrt den Weg Lauscher bittet Ente um Hilfe und erhält sie Lauscher kann den Wassergraben überwinden Lauscher klettert eine Mauer empor Spalt versperrt den Weg Lauscher bittet Spinne um Hilfe und erhält sie Lauscher kann den Spalt überwinden Lauscher erreicht den Garten Angst hält ihn auf Spinne treibt ihn voran, weil er erwartet wird Lust im Wasser hält ihn auf Ente treibt ihn voran, weil er erwartet wird Müdigkeit und Trägheit halten ihn auf Rotkehlchen treibt ihn voran, weil er erwartet wird Lauscher im Labyrinth des Gartens Lauscher hat den Ort erreicht Lauscher wird zum steinernen Faun Lauscher und die Frau sind vereint Seite S.364 S.364 S.364f. S.365 S.365 S.365f. S.366 S.366 S.367 S.367f. S.368 S.368f. S.369 S.369f S.370 S.370 S.371 S.371 S.372 S.372 S.372ff. S.374 S.374 S.374 Das Märchen im süßen Traum folgt dem Schema jener Märchen, in denen der Held auszieht, ohne einen eigentlichen Grund dafür angeben zu können, und auf seiner Reise auf seine zukünftige Frau trifft, für die er drei Aufgaben erfüllen muss, z.B. KHM 4 oder 121, die jedoch beide den Aspekt der Furchtlosigkeit beim Helden beinhalten, der aus sich selbst heraus die Aufgaben erfüllen kann. Lauschers wandert durch einen Wald (Element W), ohne sein Ziel zu kennen. Allerdings weiß er, dass er eines hat und dieses erreichen muss (Mangelsituation). Nacheinander erreicht er drei Hindernisse, die er überwinden muss (Elemente P – Lö). Um diese bewältigen zu können, braucht er die Hilfe dreier Tiere, mit denen er gattungstypisch kommunizieren kann. Da er sie höflich um Hilfe bittet (Elemente Sch und H), gewähren sie ihm einen Rat und übernatürliche Hilfe (Z); so kann Lauscher eine Dornenhecke durchqueren, ohne Schaden zu nehmen, einen Teich über sieben Seerosenblätter überwinden und an einem Spinnenfaden über eine Kluft 54 klettern. Nun hat er den Zielort erreicht, muss aber drei weitere Prüfungen ablegen, die von denselben Tieren in umgekehrter Reihenfolge angemerkt werden, im Grunde aber in Lauscher selbst liegen und damit auch nur von ihm allein überwunden werden können. Lauscher muss seine Angst, seine Lust, etwas anderes zu tun, und seinen Trägheit überwinden, um das eigentliche Ziel, den Brunnen mit den beiden Steinstatuen, zu erreichen (L). Durch plötzliche und unmotivierte Transfiguration zum Steinfaun wird ihm die Möglichkeit gewährt, Kontakt mit der Frau aufzunehmen, und in der sexuellen Vereinigung beider56 kann die Auflösung des Märchens in Funktion H* gesehen werden, wobei die Hochzeit durch den Akt sublimiert wird. 3.2.3.12. Das Märchen von Oleg und Boleg Funktion α B (Vermittlung) C (einsetzende Gegenhandlung) ↑ (Abreise) Sch H Z C (einsetzende Gegenhandlung) ↑ (Abreise) Sch H Z W (Raumvermittlung) L R (Rettung) X U P Lö E und Ü St H Lneg Tabelle 12 Handlungsinhalt Vater ist krank weise Frau berichtet von den heilkräftigen Beeren; Vater erzählt seinen Söhne davon Oleg entschließt sich, die Beeren zu holen Seite S.679 S.679 Oleg rudert drei Tage den Fluss hinauf Fischotter bittet Oleg um eine Beere; Oleg verweigert sie ihm; Elfenkönigin verzaubert Oleg Boleg entschließt sich, die Beeren zu holen S.679 S.680 Boleg rudert drei Tage den Fluss hinauf Biber bittet Boleg um eine Beere, dieser gewährt sie ihm; Biber bittet bei der Elfenkönigin für Boleg, woraufhin dieser erlöst wird Boleg und der von ihm frei gebetene Oleg machen sich auf den Weg nach Hause; dabei betrügt Oleg seinen Bruder Oleg bringt die Beere zu seinem Vater; dieser gesundet Biber retten Bolegs Leben Boleg kehrt nach Hause zurück, wird aber nicht als derjenige erkannt, der den Vater gerettet hat Oleg gilt als Held und ist Erbe seines Vaters Boleg soll die Fischotter töten, obwohl er weiß, weshalb diese seinem Bruder das Leben schwer machen Boleg erzählt die wahre Geschichte Vater erkennt am Boot Boleg als denjenigen, der die Wahrheit erzählt, und enttarnt Oleg als Lügner Oleg wird verstoßen Boleg ist als einziger anerkannter Sohn der Erbe seines Vaters Vater stirbt S.680 S.681f. S.679 S.680 S.682f. S.683 S.684 S.685 S.685f. S.686 S.686 S.687 S.687 S.687 S.687 Neuhaus spricht von einer sexuellen „Brachialsymbolik“ im Bild der Vereinigung unter der Springbrunnenfontäne; vgl. Neuhaus: Märchen, S.329 56 55 Die Binnenerzählung über Oleg und Boleg folgt der morphologischen Struktur des Märchens sehr genau, auch wenn sie nicht als Märchen gekennzeichnet wird, sondern laut ihrem Erzähler Wazzek eine Geschichte ist, „die ich als Junge in unserem Dorf von einem Fischer gehört habe“ (Stein und Flöte, S.679); ob es sich dabei nur um eine Erzählung oder den Bericht eines tatsächlichen Vorfalls handelt, lässt der Erzähler allerdings offen. Die Geschichte von Oleg und Boleg beginnt mit Element α, der Mangelsituation. Der Vater liegt auf dem Sterbebett und weiß durch eine heilkundige Frau von den Beeren auf der Insel der Elfenkönigin, die ihn genesen lassen würden. Er unterrichtet zunächst seinen Sohn Oleg darüber (Element B), der auch sogleich bereit ist, aufzubrechen (Element C) und mit seinem Boot den Fluss hinauffährt (Element ↑), wo er Insel und heilkräftige Misteln findet. Aus eigensüchtigen Motiven fällt er eine der Pappeln, um die Beeren zu erhalten und verletzt dabei einen Fischotter schwer. Dieser prüft ihn, indem er ihn bittet, ihm zu helfen (Element Sch), doch Oleg versagt und lässt den Otter sterben (Element H). Zur Strafe für seine Tat wird er von der Elfenkönigin verzaubert und muss auf der Insel stehen bleiben (Zneg). Nun wiederholen sich die Elemente B, C und ↑, als der zweite Sohn des Fischers, Boleg, aufbricht, um die Aufgabe zu erfüllen und seinem Vater das Leben zu retten. Auch er fällt eine Pappel und verletzt dabei ein Tier, doch als der Biber ihn um Hilfe bittet (Element Sch), besteht Boleg die Prüfung (Element H) und erhält zur Belohnung die Freundschaft des Bibers (Element Z), die ihm auch gleich danach zugute kommt, als auch er von der Elfenkönigin verzaubert wird, doch durch die Fürbitte des Bibers befreit wird und mitsamt eines Mistelzweigs die Erlaubnis zu gehen erhält. Auf seine Bitte hin wird auch sein Bruder befreit, und gemeinsam machen sie sich auf den Rückweg (Element W). Statt eines Kampfes kommt es zum Betrug an Boleg durch Oleg, der ihm den Mistelzweig im Schlaf fortnimmt und seinen Bruder den Fluss hinab treiben 56 lässt. Dennoch erfolgt Element L, die Liquidierung des Mangels, denn der Vater wird von Oleg dank der Beere geheilt und zum Erben erklärt. Boleg wird mittlerweile von zwei Bibern gerettet (Element R) und kehrt ebenfalls zurück, wo er jedoch die Wahrheit mit Rücksicht auf seinen Vater verschweigt und Oleg in der Rolle des Helden belässt (Element U). Erst als er die zu Recht auf Oleg erzürnten Fischotter töten soll (Element P), fasst Boleg sich ein Herz und erzählt die Wahrheit (Element Lö). Der Vater durchschaut nun Olegs Lügen anhand des Bootes (Elemente E und Ü) und verstößt Oleg (Element St); Boleg ist somit auch der Erbe seines Vaters (Element H). Zu diesem Märchen findet sich ein recht ähnliches in Grimms Märchen: Das Wasser des Lebens (KHM 97). Die Ausgangssituation ist ebenfalls der todkranke Vater, der ein Wundermittel zur Genesung benötigt, das Wasser des Lebens (Element α). Ein alter Mann unterrichtet die drei Königssöhne darüber (Element B), von denen der älteste aufbrechen will, um das Wasser zu finden (Element C). Seine Motivation ist hierbei analog zu Olegs Motivation zu sehen. „Der Prinz dachte in seinem Herzen: ‚Bringe ich das Wasser, so bin ich meinem Vater der liebste und erbe das Reich.’“ (KHM 97; S.69) „Wenn ich dem Vater einen solchen Mistelzweig bringe, dachte er, dann wird er mir so dankbar sein, dass er mich zu seinem alleinigen Erben einsetzt.“ (Stein und Flöte, S.680) Der Prinz bricht auf, auch wenn im Gegensatz zu Olegs Vater der König erst überredet werden muss, seinen Sohn gehen zu lassen (Element ↑) und begegnet einem Zwerg (Element Sch), auf dessen Frage nach dem Wohin er nicht höflich antwortet (Element H) und zur Strafe in einem Berg gefangen gesetzt wird (Element Zneg). Nun wiederholt sich die Sequenz vom Aufbruch des Sohnes bis zur Gefangensetzung im Berg beim zweiten Prinzen, der ebenfalls scheitert, und beim dritten Prinzen, der die Prüfung besteht und zur Belohnung erfährt, wo das Wasser des Lebens zu finden ist und wie er es erlangen kann (Element Z). Der Prinz reist zum angegebenen Ort (Element W), wo er die Prinzessin erlöst (erneut die Elemente Sch, H und Z) und nicht nur das Wasser des Lebens, 57 sondern auch ein magisches Brot und ein magisches Schwert erringt (sowie die Hand der Prinzessin). Das Abschlagen der Ferse durch das zuschlagende Schlosstor kennzeichnet den Helden (Element M). Auch der Prinz bittet um Vergebung für seine Brüder, obwohl er vom Schenker (dem Zwerg) gewarnt wird, wobei es wieder Parallelen zur Geschichte von Oleg und Boleg gibt: „Hüte dich vor ihnen, sie haben ein böses Herz.“57 „Hoffentlich bereust du es nicht, dass du deinen Bruder freigebeten hast.“ 58 Mit dem Erringen des Wassers des Lebens ist die Liquidierung des Mangels erreicht (Element L), doch auf dem Rückweg (Element ↓) vollbringt der Prinz nicht nur drei Wundertaten, sondern wird auch von seinen Brüdern verraten, die das Wasser austauschen und eigene Ansprüche stellen (Element U). Dies löst eine neue Sequenz aus: Der Prinz ist um sein Erbe gebracht (Element A) und soll getötet werden. Der Jäger hat jedoch Mitleid und lässt ihn ziehen (Element B6), woraufhin sich der Prinz versteckt (Element ↑). Nun wird durch die erlöste Prinzessin eine neue Aufgabe gestellt (Element Sch), bei der seine beiden älteren Brüder nacheinander versagen (Element H) und fortgeschickt werden (Element Zneg), die der Prinz aber besteht (Element H), woraufhin er nicht nur die Prinzessin heiratet (Element H), sondern auch erfährt, dass sein Vater ihm mittlerweile verziehen hat (Element L). Nachgeschoben werden auch die Brüder ihrer Lügen überführt (Element Ü) und entgehen nur deshalb der Strafe, weil sie selbst schon geflohen sind (Element St). Das KHM 97 ist umfangreicher in seinen Funktionen, allerdings vor dem Rückweg beinahe identisch aufgebaut. Die Motive und handelnden Figuren ähneln sich ebenfalls. Es gibt eine Vater-Sohn-Konstellation, in der der Vater todkrank ist und die Söhne als Sucher ausgesandt werden. Egoistische Söhne, die nur auf ihr eigenes Wohl bedacht sind, scheitern, während der selbstlose Sohn, dessen Ziel nur das Leben seines Vaters ist, die Aufgabe bewältigen kann. In beiden Märchen ist das gesuchte Objekt ein heilendes Zaubermittel, 57 58 KHM 97; S.72 Stein und Flöte, S.683 58 das bei einer Frauengestalt gefunden werden kann, und in beiden Märchen wird die Information über das Heilmittel von einer dritten, weisen Person vermittelt. Durch den Tod des Vaters am Ende büßt die Geschichte jedoch einen wichtigen Teil ihrer Märchenhaftigkeit ein – nicht nur, dass dem Helden Boleg nun eine erneute, nicht zu liquidierende Schädigung zugefügt wird; der Sinn seiner Suchwanderung wird auch ad absurdum geführt, da Boleg statt des gesetzten Ziels, der Errettung des Lebens seines Vaters, das genaue Gegenteil bewirkt hat, nämlich den Tod seines Vaters. 3.2.4. Zwischenfazit Die Tiefenstrukturen des Zaubermärchens lassen sich in allen aufgezeigten zwölf Märchenhandlungen nachvollziehen, auch wenn die Reihenfolge der Funktionen partiell variabel gestaltet ist. Auffallend ist, dass in fünf Märchenhandlungen jedoch statt der Elemente L bzw. H eine Verweigerung des glücklichen Endes folgt – ein klarer Bruch mit Märchentraditionen, denn: Eine Grundlinie des Hollywood-Films, auf die in der Bezeichnung „Traumfabrik“ ironisch angespielt wird, besteht darin, das das Happy End zu den ungeschriebenen Gesetzen des Erzählens gehören. Hollywood-Filme gehen gut aus. Und diese Tatsache verbindet sie mit den Märchen. 59 Diese Brüche sind für den Fortgang der Rahmenhandlung jedoch unvermeidlich, da jede Erfüllung des Märchenanspruchs nach einem glücklichen Ende auch das Ende von Lauschers Wanderung zur Folge hätte. So aber entwickelt sich wie etwa beim Gisa-Märchen eine Verquickung der einzelnen Bücher durch das Fortführen einer neuen Märchensequenz, in der die Rollenverteilung verändert wird (aus der Gegenspielerin des Barlo-Märchens wird die tragische Heldin des Gisa-Märchens), oder der scheinbar unglückliche Ausgang, wie etwa die fehlende Verbindung zwischen Arnilukka und Lauscher, erlaubt es dem Helden, weiterzuziehen (und bei den Blutaxtleuten von der Lösung der Sprachlosigkeit seiner Tochter zu erfahren). Die fortführenden neuen Schädigungen (Lauschers Ruhelosigkeit angesichts Barlos Hochzeit, seine Verfehlungen als Flöter, die Verwandlung in den Faun und in eine Steinfigur, sein Bruch mit Arnilukka usw.) unterstreichen 59 Schneider: Film – Märchen – Wirklichkeiten; S.83 59 zusätzlich noch die Kernaussage des Buches, die es auch schon im vollständigen Titel trägt: „und das ist noch nicht alles“. Obwohl Lauscher sich durch Bestehen seiner Abenteuer weiterentwickelt und als Persönlichkeit reift, ist dieser Prozess nie abgeschlossen, wie sich in den Zwiegesprächen mit dem Zirbel und den Vorwürfen des Holzstocks immer wieder zeigt. „Du bist ein Esel!“, sagte er. „Da rede ich nun und rede, und du begreifst überhaupt nichts. Hast du nicht immer wieder und hier in diesem Tal auf besondere Weise erfahren, dass du geliebt wirst? Wärst du sonst überhaupt bis hierher gekommen? Das sollte doch Grund genug für eine Hoffnung sein, die für das ganze Leben reicht. Seit du diese Augen, die du nicht einmal beschreiben kannst, zum ersten Mal gesehen hast, hättest du das schon spüren müssen, aber du warst die meiste Zeit ja damit beschäftigt, bei alledem etwas für dich selber herauszuschlagen! Was ist dir in dem bisschen Leben, das du hinter dir hast, nicht schon alles geschenkt worden! Und du hast es eingesteckt, als stünde es dir zu. Vielleicht solltest du einmal damit anfangen, etwas herzuschenken, damit du merkst, was dir noch alles an Hoffnung bleibt. (…)“60 Beendet werden die Handlungen dadurch im Wesentlichen durch die Abgabe der Zaubergegenstände, die sie ausgelöst haben: Lauscher übergibt den Augenstein an Urla und vererbt damit seine Liebe an sein Kind; er überlässt die Flöte seinem Schüler Schneefink, der ihn in der Kunst sowieso schon übertrumpft hat, damit dieser die Musik und damit die Magie in die Welt tragen kann, und im Angesicht seines Todes pflanzt er den Zirbel in der Hoffnung ein, dass auch aus ihm neues Leben entsteht. Die Botschaft des Romans ist somit ein Weiterschreiten, ein Fortdauern über die Generationen. Diese Kontinuität stünde in erschreckendem Kontrast zu einem traditionellen Märchenabschluss. Auffällig ist ebenfalls, dass die Zahl der Märchenhandlungen, die nacheinander oder parallel ins Geschehen geknüpft sind, mit Fortlaufen des Romans sinkt und Märchenelemente in der Tiefenstruktur dort kaum noch vorkommen. Möglicher Grund hierfür könnte die Betonung der Jugend in den meisten Märchen sein, während hier das Alter eines Märchenhelden dargestellt wird. 60 Stein und Flöte, S.705f. 60 3.3. Übernahme äußerer Märchenelemente Nachdem ich mich bisher um die auffällige Dreiteilung des Aufbaus und die Tiefenstrukturen der Märchenhandlungen innerhalb des Romans bemüht habe, möchte ich nun auf eine dritte strukturelle Beeinflussung von Stein und Flöte zu sprechen kommen: die Übernahme äußerer Märchenelemente in die Textform des Romans. 3.3.1. Anfangs- und Endsequenz Da die formelartigen Anfänge und Schlüsse von Märchen als wohl bekannteste äußere Merkmale anzusehen sind61, möchte ich auch überprüfen, inwiefern dieses Märchenelement von Bemmann aufgegriffen wurde. Beschäftiget man sich mit dem Romananfang und -ende bei Stein und Flöte, ergeben sich deutliche Parallelen zu den Beginnen der Märchen. 3.3.1.1. Der Romananfang „In Fraglund wurde vorzeiten ein Knabe geboren, von dessen merkwürdigem Schicksal hier erzählt werden soll.“62 Die häufigsten Anfangsformeln in den KHM sind „Es war einmal“ und „Es war(en)“; alternativ beginnen die Märchen direkt mit der Hauptfigur, ihrem Gegenspieler oder einem ihrer Vorfahren, insbesondere Mutter oder Vater. Bemmann wählt das weniger geläufige „vorzeiten“, das er nicht initial einsetzt, sondern durch Beginn mit einem Lokalattribut erst an die dritte Stelle63 stellt. Diese Formel wird bei wenigen Märchen genutzt; eine Auszählung der KHM findet nur sechs Beispiele von Vorzeiten-Märchen, darunter allerdings zwei Märchen, die zum bekannten Kanon der Gebrüder Grimm zählen, der in allen Märchenbüchern abgedruckt wird: Dornröschen64 (KHM 50) und Tischlein deck dich 65 (KHM 36). Die übrigen vier Märchen (KHM 57: Der goldene 61 Sie stehen bereits pars pro toto für das gesamte Genre, weshalb Märchentheoretiker wie Lüthi oder Röhrich ihren Arbeiten solche Formeln zitiert oder in leichter Abwandlung als Titel geben; vgl. „So leben sie noch heute“ bzw. „Es war einmal“ (Lüthi) oder „..und weil sie nicht gestorben sind“ (Röhrich) 62 Stein und Flöte, S.11 63 Dritte Stelle bei Zählung der Satzteile; wörtlich gezählt ist es natürlich die vierte Stelle. 64 „Vorzeiten war ein König und eine Königin, die sprachen jeden Tag: ‚Ach, wenn wir doch ein Kind hätten!’, und kriegten immer keins.“ (KHM 50; Bd.1, S.257) 65 „Vorzeiten war ein Schneider, der drei Söhne hatte und nur eine einzige Ziege.“ (KHM 36; Bd.1, S.195) 61 Vogel66, KHM 134: Die sechs Diener67, KHM 175: Der Mond68 und KHM 194: Die Kornähre69) zählen hingegen zu den unbekannteren. Dennoch kann „vorzeiten“ als Eingangsformel gelten, zumal der Märchencharakter des Romananfangs im Gesamtzusammenhang unterstrichen wird. Inhaltlich beginnen Märchen oft mit Nennung des Helden oder seiner Eltern; Anzahl und Geschlecht der Kinder werden genannt (z.B. zwei Kinder, drei Söhne, drei Schwestern). Mitunter wird auch zunächst die Geschichte der Eltern angerissen, indem diese um die Geburt des Kindes bitten müssen (z.B. KHM 50, wo ein Frosch Dornröschens Mutter die Erfüllung ihres Wunsches ankündigt, oder KHM 144, in dem König und Königin ihre Unfruchtbarkeit bejammern, ehe ihnen das Eselein geboren wird) oder ihnen ein besonderes Schicksal widerfährt, das Auswirkungen auf das Leben ihrer Kinder hat (z.B. KHM 85, in dem der Fischer einen verzauberten Fisch fängt und wieder freilässt und zum Dank u.a. mit zwei goldenen Kindern belohnt wird, oder KHM 29, wo den Eltern bei der Geburt prophezeit wird, dass das Glückskind die Königstochter heiraten wird, und damit der König zum Gegenspieler wird). „Der Märchenerzähler weist mit gewissen Anfangsformeln auf die Unbestimmtheit von Zeit und Raum hin, in denen seine Geschichte spielt, wie mit dem bekannten ‚Es war einmal’“70, wobei durchaus fest definierte Orte (z.B. ein Wald oder ein Schloss) vorkommen, und ebenso verfährt auch Bemmann. Drei Einstiegsfragen, die märchentypisch zu Anfang geklärt werden, werden auch in Stein und Flöte beantwortet: wer, wann und wo. „In Fraglund wurde vorzeiten ein Knabe geboren, von dessen merkwürdigem Schicksal hier erzählt werden soll.“ „Es war vorzeiten ein König, der hatte einen schönen Lustgarten hinter seinem Schloss, darin stand ein Baum, der goldene Äpfel trug.“ (KHM 57; Bd. 1, S.292) 67 „Vorzeiten lebte eine alte Königin, die war eine Zauberin, und ihre Tochter war das schönste Mädchen unter der Sonne.“ (KHM 134; Bd.2, S.221) 68 „Vorzeiten gab es ein Land, wo die Nacht immer dunkel und der Himmel wie ein schwarzes Tuch darübergebreitet war, denn es ging dort niemals der Mond auf, und kein Stern blinkte in der Finsternis.“ (KHM 175; Bd. 2, S.328) 69 „Vorzeiten, als Gott noch selbst auf Erden wandelte, da war die Fruchtbarkeit des Bodens viel größer, als sie jetzt ist: damals trugen die Ähren nicht fünfzig- oder sechzigfältig, sondern vier- bis fünfhundertfältig.“ (KHM 194; Bd. 2, S.408) 70 Beit: Märchen, S.9 66 62 Wer Der Protagonist des Romans wird noch ohne Namen eingeführt; zu Beginn ist er nur ein Knabe. Seinen Namen erhält er noch auf derselben Seite, nachdem Vater, Mutter und Großvater des Kindes angerissen wurden, und auch dieser weist einige Parallelen zu Märchennamen auf, die aber später behandelt werden. Zunächst einmal unterscheidet ihn nichts von den Söhnen, Töchtern, Brüdern, Schwestern, Soldaten, Schneidern oder Bauern, die in Märchenanfängen vorstellt werden. Diese relative Offenheit zu Beginn über die Art des Helden verbindet Lauscher mit den Protagonisten jener Märchen, die ihrem Helden keinen Namen geben, sondern ihn Sohn, Prinz oder Müllersbursche bleiben lassen – eine Neigung, die nach Taylor in der Entwicklung der Märchen liegt: Da der Schwerpunkt auf der Handlung, nicht auf dem Handelnden liegt, entwickeln sich die Namen der Figuren erst gar nicht, da die Märchen im Typischen, Formelhaften und Allgemeinen erstarren.71 Wo Die meisten Märchen geben als Ort höchstens Lokalitäten wie Wald oder Berg an, auch wenn einige wenige direkte Angaben machen72. Es sind stereotype Schauplätze, die von den Hörern und Lesern in der Regel in ihrer Umgebung wiedergefunden werden können, solange es sich nicht um goldene Berge oder das Schlauraffenland handelt. Fraglund nun ist ein fiktiver Ort in der imaginären Welt, in der Stein und Flöte spielt; in seiner Fremdheit signalisiert er dem Leser prinzipiell eine Abkehr vom Märchen und eine Hinwendung zur Fantasy, in der fremde Welten wie Mittelerde73, die Scheibenwelt74 oder Phantasién75 zum vertrauten Inventar gehören. Die Fantasy verlangt geradezu einen Bruch mit der herkömmlichen Wirklichkeit und unterstreicht den Charakter der anderen Welt durch fiktive Geschichtschroniken oder Karten76: „Wie Tolkien entwickelt Bemmann einen ganzen Mikrokosmos, eine umfangreiche geschlossene Welt mit zahlreichen Figuren und einer eigenen 71 Taylor: Names in Folktales. KHM 33 etwa spielt in der Schweiz und KHM 137 in Ostindien. 73 Schauplatz der Romane „Herr der Ringe“ und „Der kleine Hobbit“ von J.R.R.Tolkien 74 Schauplatz einer erfolgreichen Romanreihe des britischen Fantasyautors Terry Pratchett 75 Schauplatz der „Unendlichen Geschichte“ von Michael Ende 76 Vgl. Zgorzelski: Time and Space, S.135ff. für ein Beispiel anhand Tolkiens Mittelerde 72 63 komplexen Handlung.“77 Die Einführung Fraglunds transferiert Lauschers Abenteuer somit schon zu Beginn nicht nur ins Märchenhafte, sondern auch in eine Fantasywelt. Wann Die bekannteste Eingangsformel für Märchen ist wohl „Es war einmal“. Ebenso wie „vorzeiten“ erweckt sie den Eindruck einer Zeitlosigkeit; ein solcher Anfang „ruft mit einem Schlag den Sinn für eine weite Welt unermesslicher Zeiten wach“78. Bemmann verzichtet an diesem Punkt auf eine genauere temporäre Einordnung; im Verlauf des Buches wird er immer wieder durch Angaben der Reisezeit oder der Jahreszeit den Eindruck einer fortlaufenden Zeitschiene erwecken. Das „vorzeiten“ suggeriert jedoch, dass es jederzeit oder niemals sein könnte; dies unterscheidet Bemmann von Fantasywerken wie etwa dem Herrn der Ringe, der schon zu einer ganz bestimmten Zeit seiner fiktiven Chronik von Mittelerde einsetzt.79 3.3.1.2. Das Romanende Im Gegensatz zum Märchenanfang ist das Ende nicht so stark formal festgelegt. Zwar gibt es einige Schlussformeln, die als märchentypisch wahrgenommen werden, wie „Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute“ oder „Und sie lebten glücklich und zufrieden bis an das Ende ihrer Tage“; de facto sind diese Formeln aber die Ausnahme bei den Märchen. Das eigentliche Ende eines Märchens wird durch seinen Inhalt geprägt: Wenn die Schädigungen behoben oder die Hochzeit angesetzt ist, kann sich der Hörer beruhigt zurücklehnen, denn er weiß ja bereits, was nun kommt: ein vollkommen glückliches Ende. Dass dennoch Schlussformeln analog zu den Eingangsformeln als gattungstypisch begriffen werden, hängt wohl an der starren Form der Märchen, in denen die Strukturen mehr oder minder flexibel festlegen und Formeln oder zumindest fast wortwörtliche Wiederholung 77 Neuhaus: Märchen, S.324 Tolkien: Über Märchen, S.82 79 Vgl. Zgorzelski: Time and Space, S.128f. 78 64 bestimmter Ereignisse vom Hörer nicht abgelehnt, sondern erwartet werden.80 Darüber hinaus weckt auch der Aufbau der phantastischen Welt der Märchen eine weitere Erwartung im Hörer: Der Erzähler, der seine Hörer auf diese Weise in die Wunderwelt einführt und dann den Einblick in sie vermittelt, führt aber auch seine Hörer mit einer Schlussformel wieder aus ihr heraus, indem er die erlebten Geschehnisse in ihrer Bedeutung für den Hörer relativiert. 81 Bemmann hat sich durch seinen häufigen Bruch mit den Erwartungen der Leser eine gewisse Freiheit von dieser Erwartung erwirkt. Wenn so viele Dinge anders verlaufen als im Märchen, warum sollte Lauscher am Ende dann glücklich und zufrieden bis an das Ende seiner Tage leben? Doch gerade hier gelingt Bemmann eine kunstvolle Wendung: Er schließt einen Kreis. Zum Ende des Romans hat Lauscher alle Verpflichtungen abgegeben. Frühere Befehlsgeber wie Barlo sind verstorben, die Zaubermittel haben ihre Erben gefunden, mit Rikka, seiner Enkeltochter, und Schneefink, seinem Meisterschüler, hat er Menschen gefunden, die das fortführen und besser machen können, was er als Jüngling im wahrsten Sinne des Wortes verbockt hat82. Den letzten Konflikt mit dem Grauen entscheidet er auch für sich und hat damit nicht nur Liebe und Verpflichtungen, sondern auch seine Angst überwunden. Lauscher ist frei, um zu gehen, wohin immer er möchte. Da der Roman aber seine gesamte Lebensgeschichte beinhaltet, kann sein Ende nur der Tod sein. Der Roman hat den Leser gelehrt, dass es keine Rückkehr aus dem Tod geben kann; wer in Lauschers Welt einmal stirbt, bleibt auch tot und erhält keine zweite Chance durch ein märchenhaftes Wunder. Durch die Öffnung einer zweiten, einer transzendentalen Welt nach dem Tod, einer Jenseitsvorstellung, in der Lauscher auch dem Sanften Flöter wieder begegnet, kann Bemmann jedoch die Botschaft der Schlussformeln wie „Und wenn sie nicht gestorben sind…“ adaptieren. So wie diese nämlich ein ewiges Leben suggeriert, verkündet auch der Sanfte Flöte: „Was du bisher erfahren hast, das war doch 80 Lüthi: So leben sie noch heute, S.24f. Von Beit: Märchen, S.10 82 Zur Strafe seines Fehlverhaltens mit der Flöte und der Ignoranz dessen, was ihn den Stein zu lehren versucht hat, nämlich die Zugehörigkeit zu Arnilukka, erhält Lauscher schließlich Bocksbeine. 81 65 nur eine Vorahnung vom Anfang und längst/noch nicht/alles.“83 Auch dies vermittelt den Anspruch von Ewigkeit und Zeitlosigkeit, den Roman wie Märchen mit den Anfangsformeln geschaffen haben. Darüber hinaus sind diese letzten Worte nicht nur ein beliebtes Leitmotiv, das den Roman in Variationen durchzieht84, sondern auch ein Zitat des vollständigen Buchtitels – und somit ergibt sich tatsächlich ein Kreislauf vom Anfang zum Ende. 3.3.2. Erzählsituation Frühe Märchenbücher (z.B. die Märchen von 1001 Nacht oder die Sammlungen von Straparole oder Basile) sind eine Sammlung von einzelnen Geschichten, die in einer Rahmenerzählung eingebettet sind, wobei die einzelnen Märchen mehr oder weniger mit dieser Rahmenhandlung verknüpft sind. Ähnlich ist auch Stein und Flöte aufgebaut, das über 29 Binnenerzählungen85 verfügt, die Lauscher berichtet werden, dazu zehn in sich geschlossene, rückblickende Geschichten, die er als Steinfigur miterlebt, neun in sich geschlossene Träume, 25 Balladen und Lieder86. Bei jedem dieser Binnentexte ist die Einbindung gleich. Zunächst wird die Erzähl- bzw. Vortragssituation (bei den Träumen die Umstände des Einschlafens) geschildert; anschließend erfolgt die Erzählung bzw. Traum oder Lied, und im Anschluss daran reflektiert Lauscher über das Gehörte, die Umstände seines Erwachens und seine Erinnerungen an den Traum werden geschildert oder aber die Reaktionen des Publikums werden dargestellt. Somit wird jeder Binnentext in eine erneute Dreierstruktur gegliedert, die aus Einführung, Hauptteil und Reflektion besteht. 83 Stein und Flöte, S.818 Vgl. Stein und Flöte, S.14, S.53, S.90, S.19, S.30, S.94, S.112, S.140, S.208, S.244, S.268, S.282, S.455, S.497, S.567 85 Vgl. 7.1. 86 Vgl. 7.2. 84 66 Die folgenden Beispiele sind typisch für die Einbindung einer Geschichte (1 und 2), eines Traums (3) und einer Ballade bzw. eines Liedes (4): Einführung Hauptteil Reflexion (1) So ging der Nachmittag vorüber, und als auch noch ein nicht minder reichhaltiges Abendessen aufgetischt worden war und keiner mehr so rechte Lust hatte, von seinem Platz aufzustehen, sagte Kurlosch zu Barlo und Lauscher: „Jetzt ist es an der Zeit, dass ihr erfahrt, bei welcher Gelegenheit ich Arnis Stein zum ersten Mal gesehen habe“, und er begann mit der Stein und Flöte; S.132) Geschichte von Arni und den Leuten am See Stein und Flöte; S.132-140 „Jetzt weißt du, woher ich deinen Stein kenne, Lauscher“, sagte Kurlosch noch. „Ich weiß noch lange nicht alles“, sagte Lauscher, „und durch deine Geschichte habe ich viel über den Stein erfahren. Arni konnte mir nicht mehr viel sagen, als er ihn mir gab.“ Bald darauf verabschiedete sich das Hochzeitspaar, und alle gingen schlafen. Stein und Flöte; S.140 (2) „So einfach ist es nun auch wieder nicht“, sagte Wazzek lächelnd. „Ich will dir eine Geschichte erzählen, die ich als Junge in unserem Dorf von einem Fischer gehört habe. Stein und Flöte; S.679 Geschichte von Oleg und Boleg Stein und Flöte; S.679-687 Nun frage ich dich, Flöter: Wer war schuld am Tod dieses Mannes: Oleg, der ihm mit dem Mistelzweig das Leben zurückbrachte, oder Boleg, der ihn mit seiner Wahrheit tötete?“ Lauscher dachte lange nach und sagte dann: „Boleg hat den Tod seines Vaters verursacht, (…)?“ Stein und Flöte; S.687 (3) Seine Enttäuschung ließ ihn nicht einschlafen. (…) Noch einmal ließ er den braunen Saft auf seinen Handteller tropfen, und diesmal warf es ihn sofort zurück auf sein Bett, sobald seine Zunge den bittersüßen Geschmack aufnahm, und im nächsten Augenblick begann schon Stein und Flöte; S.400 Der schwarze Traum Stein und Flöte; S.400f. Dieses Bewusstsein der Verlorenheit und des unaufhaltsamen Sturzes beherrschte ihn noch, als er im Morgengrauen aufwachte. Im fahlen Dämmerlicht kam ihm alles unwirklich vor, die Gegenstände der Stube schienen aus allzu dünnem Stoff zu bestehen, als dass man sie hätte greifen können. Stein und Flöte; S.402 (4) In der hektischen Lustlosigkeit dieser Tonfolge schwang ein Misslaut von untergründiger Bösartigkeit Refrain des Liedes über den Goldwanst Stein und Sobald sie diesen Gesang, der auch ihnen anscheinend nicht unbekannt war, zu hören bekamen, ließen die 67 mit, der ihm Unbehagen, ja fast Angst verursachte. Den Junkern schien diese Art von Musik jedoch zu gefallen, und der Text zu diesem Lied war ihnen offenbar schon vertraut; denn sie scharten sich sogleich um den Flöter, und einer fing an, mit hoher greller Stimme vorzusingen, während die anderen im Chor den Refrain herausschrieen: Stein und Flöte; S.780 Flöte; S.780 Goldschmiedesöhne Belarni einfach stehen und kamen langsam herangeschritten, doch jetzt war in ihrer gemessenen Gangart schon so etwas wie verhaltene Wut spürbar, etwa auch darin, wie sie sich enger zusammenschlossen und auch in einer gewissen Steifnackigkeit ihrer Haltung. Stein und Flöte; S.781 In der Einführung werden alle relevanten Fragen beantwortet. Es wird erläutert, wer wem an welchem Ort in wessen Gesellschaft und zu welcher Zeit etwas erzählt, manchmal aus auch welcher Motivation heraus oder in welcher Stimmung sich der Erzähler befindet. Vergleicht man dies nun etwa mit Basiles Pentamerone, ergibt sich eine Parallelstruktur. Auch Basile setzt jedem Märchen eine kurze Einführung vor und lässt eine Reaktion auf die Erzählung im Anschluss folgen; allerdings sind diese Textpassagen genreabhängig kürzer als in Stein und Flöte. Im Pentamerone umfassen Einführung und Reflexion jeweils nur einen Satz; beide stehen unmittelbar hintereinander am Anfang eines Märchens (zunächst die Reflexion auf das vorangehende Märchen, dann die Einführung für das neue Märchen); Ausnahmen bilden nur das erste und das letzte Märchen eines Tages, bei denen die Einführung bzw. die Reflexion etwas länger ausfällt und eine Aufzählung des übrigen Geschehens außerhalb der Märchen enthält. Für gewöhnlich sind die Übergänge aber wie folgende zwei Beispiele aufgebaut: „Mit so unbeschreiblichem Vergnügen wurde das Märchen Zezas vernommen, dass, wenn es auch noch eine Stunde gedauert hätte, diese den Zuhörern wie ein Augenblick erschienen wäre. Als nun hierauf die Reihe an Cecca kam, so begann sie also zu reden:“87 „Als die Erzählung Antonellas zu Ende geführt und wegen ihrer Schönheit und Anmut und weil sie für ein ehrbares Mädchen von so gutem Beispiel sein könnte, lebhafte gelobt worden war, begann Ciulla, welche jetzt die Reihe traf, auf folgende Weise:“88 87 88 Pentamerone, S.19 Ebenda, S.76 68 Die Kommentare über die Märchen mögen kurz sein, sind in ihrem Umfang jedoch dem der Märchen angepasst. Die Übergänge zwischen den einzelnen Geschichten in Tausend und eine Nacht sind sogar noch knapper gefasst; hier wird in der Regel nur auf den Wechsel zwischen Tag und Nacht und die Tatsache, dass Scheherazade ihre Erzählung daher beendet, hingewiesen. In der Struktur sind die Parallelen zwischen der Einbindung der Geschichten in Stein und Flöte und der Einbindung der Märchen des Pentamerone deutlich. Auch bei Basile werden die Kerninformationen in diesen Einleitungen genannt: wie die Zuhörer das Märchen aufgenommen haben und welches Mädchen nun an der Reihe ist. Die Fragen nach Ort oder Zeitpunkt stellen sich nicht, da dies bereits durch die allgemeine Rahmenhandlung genannt ist. Diese Ähnlichkeiten zwischen Märchensammlungen und Stein und Flöte sind meines Erachtens zu frappierend, um etwa wie Neuhaus Bemmanns Vorbilder für diese Erzählweise im Bildungsroman und der Tradition des gesellschaftlichen Erzählens zu sehen, zumal auch er Tausend und eine Nacht anführt.89 Bemmann erzählt keine Lehrstücke oder Anekdoten; er eröffnet einen Reigen aus Märchen oder zumindest Erzählungen, die Märchenmotive oder -funktionen enthalten. Neben diesem Erzählzyklus erreicht Bemmann jedoch noch ein zweites Ziel: Indem er Rückblicke auf Geschehnisse der Vorgeschichten einzelner Figuren in die Binnentexte verlegt, kann die Haupthandlung linear fortschreiten, wie es sie es auch im Märchen tut, von einigen Schicksalssprüchen oder Visionen einmal abgesehen, die aber stets die Zukunft, nie die Vergangenheit des Geschehens betreffen. 3.3.3. Bruch mit der Fiktion Bemmanns Erzählstil geht sogar noch einen Schritt weiter. Durch Kommentare eines Erzählers verweist er auf den Erzählcharakter des Romans selbst, der bereits im Anfangssatz angestimmt wird: „von dessen merkwürdigem Schicksal hier erzählt werden soll“. Der Leser wird in jene Situation gesetzt, die für das mündlich tradierte Märchen typisch ist: Es wird ihm etwas erzählt, 89 Neuhaus: Märchen, S.328 69 er ist der Adressat einer Geschichte, deren Wahrheitsgehalt abhängig davon ist, wie viel Vertrauen man in die Existenz von Lauschers Umwelt setzt. Diese fiktionale Erzählhaltung wird durch Kommentare immer wieder aufrechterhalten, in denen Bemmann erneut darauf hinweist, dass man nur indirekt über den Bericht Anteil an der Geschichte hat und dass bewusst ausgewählt wurde, was erzählt werden soll. Das Frühstück am nächsten Morgen ist für diese Geschichte bedeutungslos; (…). 90 Über die Ereignisse dieses Sommers auf der Schafweide gibt es sonst kaum Nennenswertes zu berichten.91 (…) und redeten über dies und das, doch darüber braucht hier nicht mehr berichtet zu werden, weil es für diese Geschichte keine Bedeutung hat.92 Die Speisefolge braucht hier nicht weiter beschrieben zu werden. 93 (…) was dann noch weiter geschah, kann sich jeder selbst ausmalen. 94 Von dem Ritt am Fluss entlang ist diesmal nichts Besonderes zu berichten. 95 Über den Rest der Rückreise ist nichts weiter zu berichten, als dass (…) 96 Bemmann durchbricht bewusst die Illusion des Lesers, der sich in der Geschichte fallen lassen könnte und erinnert ihn durch solche Kommentare an die tatsächliche Situation: dass dem Leser die Geschichte Lauschers erzählt wird. Solche Verben sind an den entsprechenden Stellen dann auch dominant, wenn zu lesen ist, dass auf das Berichten oder Beschreiben verzichtet wird. Ein solcher Bruch mit der Illusion der Fiktion ist auch bei den Brüdern Grimm zu finden. Eine Reihe von Märchen beinhalten auch Kommentare oder Sprüche, die mit den eigentlichen Geschichten nichts mehr zu tun haben, etwa das Ende von Hänsel und Gretel97 (KHM 15) oder den Bremer Stadtmusikanten98 (KHM 27). Somit adaptiert Bemmann auch in diesem Punkt ein Spezifikum des Märchens: Nicht nur, dass er Märchen erzählt, er macht es seinen Lesern auch bewusst und simuliert die Erzählsituation. 90 Stein und Flöte, S.53 Ebenda, S.87 92 Ebenda, S.105 93 Ebenda, S.132 94 Ebenda, S.189 95 Ebenda, S.251 96 Ebenda, S.397 97 „Mein Märchen ist aus, dort lauft eine Maus, wer sie fängt, darf sich eine große, große Pelzkappe daraus machen.“ 98 „Und der das zuletzt erzählt hat, dem ist der Mund noch warm.“ 91 70 Auffällig ist auch, dass in den Bereichen des Romans, die weniger stark in Märchenhandlungen eingebunden sind, die Anzahl der Binnentexte zurücktritt, nämlich im dritten Kapitel des dritten Teils des dritten Buches, wenn das Alter Lauschers beschrieben wird. Märchenfunktionen sind nur noch rudimentär enthalten: Der Kampf zwischen den Brüdern endet tragisch mit dem Tod der Schwester, die beerdigt wird und nicht ins Leben zurückkehrt, der Wettstreit zwischen dem Protagonisten Lauscher und seinem ehemaligen Schüler Döli wird von Schneefink, einer externen Figur dieses Kampfes, beendet, und letztlich kann auch an Lauschers Tod keine Märchenfunktion geknüpft werden. Die einzige Binnenerzählung des dreigeteilten letzten Kapitels sind Spottverse auf die Goldjunker sowie Dölis Version des Agla-Märchens. Die Spottverse (S.780ff sowie S.790f.) tragen kein neues Sujet vor, sondern unterstreichen nur die zuvor schon geschilderten Zwistigkeiten, und Dölis Version ist ein Zerrbild des Agla-Märchens, indem es um Untreue und Betrug geht – ein Antimärchen, dem keine Märchenfunktionen zugeschrieben werden können. 4. Märchenmotive und –symbole Die Märchenhaftigkeit eines Textes wird oft an den vorhandenen Märchenmotiven festgemacht. So führten die „zahlreichen kaum rationalisierten Märchenmotive“99 der Artusromane die Literaturwissenschaftler zu weiteren Recherchen und zur Rückführung des Romans auf keltische Mythologie und Märchenstrukturen100. Auch für Kreuzer101 oder Neuhaus102 ist die Häufigkeit von Motiven, die dem Märchen zugerechnet werden, ein sicheres Anzeichen für die Zugehörigkeit eines Textes zu den Kunst- oder Zaubermärchen. Solche Motive sind vielzählig und reichen von Kleinigkeiten wie den Attributen einzelner Gegenstände bis hin zu umfassenderen Symboliken – und in jeder dieser Formen sind sie in Stein und Flöte auch enthalten. 99 Nolting-Hauff: Märchen und Märchenroman, S.147 Ebenda, S.147-178 101 Kreuzer: Einleitung, S.8 102 Neuhaus: Märchen, S.9ff 100 71 4.1. Zahlensymbolik Die vermutlich bekannteste Zahl des Märchens ist die Drei, „Vierzahl, Sechszahl, Siebenzahl werden seltener gewählt“103. Drei eiserne Bänder liegen um das Herz des Eisernen Heinrichs (KHM 1); drei Nächte muss der, der auszog, das Fürchten zu lernen, im verwunschenen Schloss ausharren (KHM 3); an drei Quellen ziehen Brüderchen und Schwesterchen vorbei, und von der dritten trinkt Brüderchen (KHM 11); drei goldenen Haare muss das Glückskind vom Teufel holen und dabei auf drei Fragen die Antwort finden (KHM 29); drei Söhne hat der Schneider im Tischlein deck dich (KHM 36); drei Kleider lässt sich Allerleihrauh machen (KHM 65); drei Tropfen Blut erhält die Gänsemagd als Pfand ihrer Mutter (KHM 89), drei Tage Qual muss der König vom Goldenen Berg ertragen, ehe er drei Riesen drei Zaubergegenstände entwendet (KHM 92) – diese Liste ließe sich beliebig fortführen. Oft steht die Drei auch im Titel (KHM 13, 14, 16, 29, 33, 63, 79, 96, 118,120, 124, 137, 151), von den Titeln, in denen drei Gegenstände oder Personen genannt sind, ganz zu schweigen. Dreimalige Wiederholung, ja Steigerung finden wir häufig im Märchen. Sie wird verschieden erklärt. Die einen führen die Heiligkeit der Dreizahl an, andere erklären es dynamisch, also als Dreitakt, oder aber psychologisch, indem die Drei die kleinste erlebbare Vielzahl bedeute. Uns liegt es fern, eine dieser Vermutungen als alleingültig hinzustellen, denn man kann mit dem besten Willen nicht Gesetzmäßigkeiten und Triebkräfte im lebendigen Gefüge der Dichtung auf einen Nenner bringen. Was wir sagen können ist dies: Die Dreizahl ist eines der wichtigsten Kompositionsmittel im Märchen. 104 Die Vier, Sechs und Sieben treten ebenfalls auf, etwa bei den vier kunstreichen Brüdern (KHM 129), den sechs Schwänen (KHM 49), den sechs Dienern (KHM 134) oder den Sechsen, die um die Welt kommen (KHM 71), bei den sieben Zwergen (KHM 53), den sieben Geißlein (KHM 5) oder den sieben Schwaben (KHM 119). Auch Bemmann bezieht sich stark auf eine Zahlensymbolik. So ist die Fünf stark rund um Falkenor vertreten, wo alles auf diese Zahl aufzubauen scheint: 5-Ton-Musik, fünfeckige Stadtmauern, Gebäude und Räume (S.311ff.) – selbst in Kleinigkeiten wird die Fünf aufgegriffen. So treibt der Stallmeister Ernebar in einem Anfall fünf mal fünf Pferde los, als der Sanfte Flöter nach Falkenor 103 104 Von der Leyen: Zum Problem der Form, S.75 Spanner: Märchen als Gattung, S.169 72 kommt (S.432), und der Hengst aus Falkenor hat bei Arnis Leuten fünf Fohlen gezeugt (S.665). Stärker als die Fünf hat jedoch die Drei Anteil an der Symbolik des Romans.„Dreigliedrigkeit ist im Märchen zwar häufig, aber nicht notwendig“105 Diese Aussage kann man in Bezug auf Stein und Flöte nicht unterschreiben, denn im Roman ist die Drei die zentrale Zahl, was sich nicht nur im Romanaufbau niederschlägt (vgl. 3.1). Die Drei durchzieht alle Kapitel wie ein roter Faden; es vergehen kaum einmal zehn Seiten, ohne dass sie implizit oder explizit genannt wird. Bei Reisen oder Entfernungen generell wird die Drei häufig genannt, zumindest für eine einzelne Etappe der Reise. So müssen Barlo, Lauscher und der Sanfte Flöter dem Fluss drei Biegungen lang folgen, bis sie vom Haus des Sanften Flöters aus den Eselwirt erreichen (S.59). Von Furro aus reisen Barlo und Lauscher drei Tage nach Draglop (S.95). Rübe geht innerhalb der Binnengeschichte über ihn mehrfach drei Schritte. Drei Tage sind Lauscher, Lagosch und Barlo nach dem Nebelmoor unterwegs, als sie auf der Straße Trill treffen, und wiederum drei Tage zwischen Draglop und dem Dorf Dagelors. Bragar braucht nach seiner Befreiung drei Tage, um zum Hof seines Vaters zu kommen. Mit drei Sprüngen verschwindet die Wölfin Gisa im Wald und mit ebenso vielen Sprüngen bringt sich Lauscher in den Schutz der Eberesche. Drei Tage reitet Höni mit der Gesandtschaft aus Falkenor, bis sie die Stadt erreichen, und drei Monate braucht er, bis er nach seiner ersten Reise dorthin zurückkehrt. Zeiträume sind generell oft in der Dreizahl angegeben: Der Zaubertrank aus dem Krüglein gibt Schlaf für drei Tage, Barlo ist drei Jahre lang als Knecht in Barleboog, Lauscher und Barlo reiten drei Jahre lang übers Land, ehe sie sich Gisa zum Kampf stellen; drei Jahre verbringt Lauscher als Faun Steinauge im Wald, neun Jahre (also drei mal drei) ist er eine Steinstatue, zwölf Jahre (drei mal vier) lebt Lauscher bei den Blutaxtleuten. 105 Lüthi: Aschenputtel-Zyklus, S.54 73 Nicht zu vergessen sind in diesem Zusammenhang auch Altersangaben, die häufig eine Vielzahl der Drei sind. So ist der Zirbel 369 Jahre alt; Arnilukka ist etwa 12 bei ihrem ersten Treffen und damit neun Jahre jünger als Lauscher. Urla ist 30 Jahre alt, als ihr Mann ermordet wird und sie von den Beutereitern entführt wird – was wiederum einen Wendepunkt in ihrem Leben darstellt, da sie anschließend als Eremitin in ihre Hütte zieht. Die Dreiersymbolik geht jedoch noch weiter. Personen sind häufig zu dritt unterwegs, ob es nun Lauscher, Barlo und Lagosch auf dem Weg durchs Nebelmoor oder Promezzo, Arnilukka und Lauscher auf ihrer Reise durch den Schauerwald sind, Gurlo, Rauli und Trill in der Silbernen Harfe oder drei Beutereiter beim Großen Brüller, als Lauscher nach Fraglund zurückkehrt. Khan Hunli hat drei Söhne, Belarni und Arnilukka ziehen ebenfalls drei Kinder auf, Lingli bekommt drei Töchter. Ereignisse und Prüfungen beinhalten ebenfalls diese Zahl, denn neben den schon erwähnten drei Jahren Dienstzeit bei Barlo muss Lauscher auch drei Fahrten für Narzia unternehmen, und auf dem Weg zum See, um Kette und Ring zu holen, begegnet er dreimal jemandem, der ihn aufzuhalten versucht (Mollo, den Direx, die drei Wasserfrauen). Von kleineren, wenn auch wichtigen Details wie den drei Farben, die im Stein gesehen werden können, oder dem Dreiklang des Amselrufs und des Pfiffs, der die Mäuse herbeilockt, bis hin zu der Dreizahl an Frauen, in die Lauscher sich verliebt (Gisa, Narzia, Arnilukka) und die Anzahl der Zaubermittel, die ihm zugestanden werden (Augenstein, Silberflöte, Zirbel) beweist sich der nahezu exzessive Gebrauch der Zahl immer wieder aufs Neue. 4.2. Metallisches und Mineralisches Das Märchen grenzt sich vom Volkslied insbesondere dadurch ab, dass die Vorliebe für die Natur, das Grüne und Braune bei den Märchen in den Hintergrund rückt106. Die Wälder sind nicht grün, sondern golden, silbern und aus Diamant (KHM 133); die Früchte eines Baumes ebenfalls aus Gold oder Silber (KHM 57; KHM 130), die Haare der Prinzessin sind golden, ebenso wie 106 Lüthi: Freiheit und Bindung, S.3f 74 ihre Kleidung (KHM 65), und auch Körperteile können zwischen lebendigem Fleisch und Metall wechseln (KHM 31, in dem das Mädchen ohne Hände zunächst Hände aus Silber erhält, die später wieder zu echten Händen verwandelt werden). In Stein und Flöte spielt Metall keine so wundersame Rolle wie in den Märchen, außer im Zaubermittel der Flöte. Dort ist das wertvolle Metall jedoch ambivalent konnotiert. Die Silberflöte verfügt über eine besondere Macht, die sich auch in dem Rätselspruch andeutet, der in ihr Metall geprägt ist: „Lausche dem Klang/folge dem Ton/doch übst du Zwang/bringt mein Gesang/dir bösen Lohn“107, doch nicht nur dadurch unterscheidet sie sich von den übrigen Flöten. Sie ist auch haltbarer als etwa die Weidenflöte, die Lauscher sich als Faun Steinauge baut: „Seine Weidenflöte hatte er längst weggeworfen; denn die vertrockneten Rohre hatten sich verzogen und gaben keinen klaren Ton mehr.“108 Die Silberflöte in ihrer Macht und Stabilität wird somit ein begehrtes Objekt. Auf seiner ersten Fahrt für Narzia beschenkt Promezzo Lauscher allerdings mit einem Goldüberzug, der auch den warnenden Spruch überdeckt. Zu diesem Zeitpunkt hat Lauscher bereits damit begonnen, den Spruch zu missachten, da er mit seiner Musik sein Publikum in die Weise beeinflusst, die ihm gerade recht ist: Er beendet einen Streit in der Silbernen Harfe (S.252f.) oder lockt die Kinder aus Draglop wie der Rattenfänger aus Hameln hinter sich her (S.254ff.), er verscheucht die Pferde der Beutereiter (S.295f.) oder versucht den Bergdachsen eine Handelsbeziehung mit Arnis Leuten schmackhaft zu machen (S.330). So verwundert es nicht, dass ihm die Worte auf der Flöte nicht mehr in Erinnerung sind, als diese von Gold überzogen werden 109. Mit dieser Goldflöte richtet er unbewusst weiteren Schaden an, als er die Bergdachse tatsächlich von einer Partnerschaft mit Arnis Leuten überzeugt oder die Pferde der Beutereiter langfristig befriedet. Nur in Falkenor versagen seine Künste an den Menschen. Mit dem Feuer, das die Beutereiter in Folge von Lauschers Taten, die sie in Hunger, Not und Rachedurst treiben, im Dorf von Arnis Leuten legen und aus dem Arnilukka die Flöte gerade noch retten kann, wird 107 Stein und Flöte, S.202 Ebenda, S.532 109 „Er versuchte sich an die Worte zu erinnern, die dort gestanden hatten, aber sie wollten ihm nicht mehr einfallen.“; Stein und Flöte, S.340 108 75 die Goldhaut abgesprengt, und die Silberflöte mitsamt ihrem Rätselspruch tritt wieder ans Licht. Mit der Abkehr vom wertvolleren Gold und der Rücktransformation in die Silberflöte enden auch Lauschers Versuche, durch die Musik Einfluss zu gewinnen; nur bei der Flucht vor den Blutaxtleuten nutzt er sie, um diese zum Tanzen zu bringen. Neben dem Hang zum Metallischen neigt das Märchen auch zu einer Wandlung des Mineralischen. Da werden Berge zu Glas oder Gold und Fleisch zu Stein, wenn Menschen zur Strafe verwandelt werden (KHM 6, KHM 60). Diese Versteinerung ist ein typisches Motiv, das durch den Bruch eines Veroder Gebots110 ausgelöst wird und dem stets die Erlösung durch einen treuen Gefährten folgt111. Dieses Motiv ist Stein und Flöter vertraut. Mit dem Augenstein spielt ein Stein eine Titelrolle, der sich darüber hinaus im ersten Buch schon mit Edelsteinen messen muss, denen er an materiellem Wert unterlegen ist, dafür aber übernatürliche Kräfte hat112: Der Glanz des Scheins, die nur im Zusammenhang mit Licht zu Tage tritt113, bewirkt eine Herzenswärme in seinen Betrachtern, die nur von einer lebendigen Kraft verliehen werden kann. Rikka und Eldrade, die Kröte und Arnilukka verspüren dieses Gefühl, und Arni offenbart das Geheimnis des Steins Belarni: Wenn ich ihn anschaue, ist es, als blicke ich in die Augen des Menschen, den ich am meisten geliebt habe, und dann fällt es mir nicht schwer, das zu tun, von dem ich eigentlich schon vorher wusste, dass es das richtige ist. 114 Der Stein steht somit als Substitut für jene Frauen, die Urlas Augen haben (welche dem Stein ja gleichen, da alle drei Farben, blau, grün und violett, darin 110 In KHM 6 weiß der treue Johannes, dass er dem Prinzen die Wahrheit nicht offenbaren darf; er bricht das Verbot aber. Der später versteinerte Bruder in KHM 60 geht auf die Jagd, obwohl ihn seine Frau bittet, dies nicht zu tun. 111 Der König und seine Frau opfern Johannes für seine treuen Dienste das Leben ihrer Kinder (KHM 6); der Bruder sucht nach seinem Zwilling, als er den halb rostigen Dolch als Zeichen findet, dass mit ihm etwas nicht stimmt (KHM 60). 112 Vgl, Neuhaus: Märchen, S.326; Neuhaus sieht darin eine Kapitalismuskritik Bemmanns, übersieht jedoch, dass es auch in Märchen eine typische Wendung ist, dass jene, die nur auf den scheinbaren materiellen Wert achten oder zu gierig werden, bestraft werden, z.B. die beiden älteren Brüder in KHM 54, der Reiche in KHM 87 oder die Frau des Fischers in KHM 19. 113 Im Schatten des Waldes bei Gisas und Lauschers erster Begegnung bleibt er ebenso stumpf wie in der Zeit, wenn Lauscher an ihm zweifelt und ihn nachts befragt, oder wenn Narzia ihn nutzen möchte bzw. ihn in die Goldschale in Arnis Hütte legt. 114 Stein und Flöte, S.646 76 enthalten sind, und von denen Lauscher über den Stein Visionen, Trost oder Warnungen erhält), und da Lauscher für Arnilukka ebenso empfindet wie Arni für seine Frau, kann man den Augenstein als symbolisches Substitut für Liebe sehen. Zu dieser Deutung passt auch die Eigenschaft des Steins, dass er nur dann Glück bringt, wenn er freiwillig weitergegeben wird, da man auch Liebe nicht kaufen oder erzwingen kann. Die zweite Bedeutung von Stein innerhalb des Romans ist die Versteinerung Lauschers während des zweiten Teils der dritten Buches, die er als Strafe für seine bisherigen Verfehlungen auf sich nimmt – aus Verzweiflung, da er Arnilukka nicht retten konnte, und aus Scham, weil er die Chance, die er dazu hatte, vertan hat115. Seine Erlösung wird zur Prüfung für Arnilukka, deren Liebe und Treue ihn schließlich befreit. Bemmann verquickt im Stein die Dichotomie von Tod und Leben; ob nun etwas eigentlich Totes lebendige Gefühl ausstrahlt oder etwas eigentlich Lebendiges zu etwas Totem wird – stets ist es ein Wechsel zwischen beiden diametralen Zuständen. 4.3. Orte Die Orte in Stein und Flöte sind recht breit gefächert. Es gibt Dörfer und Städte, die entweder wie Fraglund, Draglop, Barleboog, Falkenor oder Arziak einen Namen tragen oder wie das Dorf am See des Grünen, das Dorf von Arnis Leuten oder die Dörfer, denen Barlo und Lauscher auf ihrer Reise Besuche abstatten, nach einer geografischen Besonderheit in ihrer Nähe bzw. ihren Einwohnern bezeichnet werden. Darüber hinaus sind verschiedene Wälder, Höhlen, Seen, die Steppe und das Nebelmoor wichtige Handlungsorte, denen Bemmann mehr Raum für die Beschreibung einräumt als den Städten. Er nimmt sich insbesondere dann Zeit für dezidierte Naturbeschreibungen, wenn es sich um unheimliche oder gefährliche Orte handelt wie bei der Beschreibung des Nebelmoors im Herbst116 und des Schauerwalds117. 115 Statt Arnis Leute vor dem Herannahen der Beutereiter zu warnen, von dem er durch die Krähen weiß, verschläft Steinauge den Moment, weil er gehofft hat, als großer Held auftreten zu können; vgl. S.559f. 116 Stein und Flöte, S.256ff sowie S.270f. 77 Viele dieser Orte gehören auch zum Repertoire der Volksmärchen; in diesen nehmen insbesondere der Wald, der Berg und das Wasser in Form eines Sees, eines Flusses oder eines Meeres wichtige Positionen ein. Von Beit118 führt in ihrer Arbeit für alle diese Orte auch auf Naturmythen zurück. Alle drei Orte stellen Plätze des Übergangs dar. Der Berg grenzt an den Himmel und damit an das Transzendentale, das Wasser ist in der Erde und somit die Verbindung zum Totenreich (zumindest in der Mythologie der Naturvölker). Wasser und Wald sind Zwischenreiche; Orte der wunderbaren Begegnung, Lebensraum für übermenschliche Gestalten wie Wasser- oder Baumfrauen. Diese Orte können schützen (wie in KHM 97, wenn der Königssohn sich im Wald verbirgt, oder KHM 53, wenn Schneewittchen sich vor ihrer Stiefmutter versteckt); sie können aber auch eine Gefährdung darstellen (wie bei KHM 15, wenn sich Hänsel und Gretel im Wald verirren, oder bei KHM 11, wenn Brüderchen durch das Trinken aus einer Quelle verwandelt und Schwesterchen im Bad getötet wird). Auch für Lauscher ist das Wasser ein Ort des Schutzes und der Kommunikation ebenso wie der Gefährdung. Wichtige Handlungen finden in unmittelbarer Nähe des Wassers statt, z.B. seine Versteinerung und Erlösung. Im Grünen, dem mystischen Herrscher der Wasserwesen, hat Lauscher einen Schutzgeist gefunden, der ihm mehrfach das Leben oder zumindest die Freiheit schenkt. Der Große Karpfen hält seine Hand schützend über ihn, um ihn während des Schachspiels gegen Hunli zu kühlen und ihm im Braunen Fluss das Leben zu schenken. Er merkte, wie er sank. Vor seinen Augen war nichts mehr als das grüne Geflimmer des Wassers. Er sank und hielt den Atem an, bis seine Lungen zu bersten drohten, doch mit einem Male wurde seine Brust leicht, er fühlte sichgetragen von glatten, breiten Rücken und spürte sanften Flpssenschlag unter seinen Schultern. Und ehe ihm die Sinne vergingen, hörte er aus der Teife des Wassers einen volltönenden Gesang wie das auf- und abschwellende Dröhnen einer Glocke.119 Auch die Wasserfrau Laianna hilft Lauscher, indem sie Ratgeberin und Beschützerin der Zaubergegenstände ist und diese später an Lauscher ausleiht, 117 Ebenda, S.347f. Von Beit: Symbolik, S.38-40 sowie S.46-56 119 Stein und Flöte, S.410f. 118 78 damit dieser seiner Tochter helfen kann. Bei dieser Begegnung droht Lauscher allerdings auch zu ertrinken120, ebenso wie im Braunen Fluss. Eine letzte, wichtige Bedeutung hat das Wasser im Zusammenhang mit Arnilukka, die mit Fischen reden kann. Auf diese Art werden die Wasserbewohner zu Boten für Lauscher, als er nach Arnilukka sucht bzw. sie warnen möchte. Der Wald nimmt ebenfalls eine ambivalente Stellung als Ort des Schutzes und der Bedrohung ein. Die Begegnungen mit den Wölfen können nur dank Jalf oder dem Tritonshorn gut ausgehen, und auch vor Barlo muss Lauscher zunächst durch den Wald fliehen. Den Krüppelwald, den er auf dem Weg zu Arnis Leuten zu durchqueren versucht, bewohnen gefährliche Baumtrolle, die Menschen nach dem Leben trachten121. Selbst nach Lauschers Verwandlung in einen Faun, mit der er selbst der Sphäre des Waldes angehört und nun auch mit den Birkenmädchen spielen kann – eine Anspielung auf Pan und die Dryaden aus der griechischen Mythologie –, birgt der Wald noch die Gefahr des Geisterwolfs, vor dem ihn Gisa rettet. Die Furcht im Wald wird durch Narzias Fluch in eine Angst vor dem Leben ohne Wald umgekehrt, in Platzangst. Berge schließlich stehen für Grenzen, Hindernisse und Prüfungen. Urla wird auf dem Pass auf die Probe gestellt, indem sie ihre Entführer nicht vor dem Schneesturm warnt, Kurgis Leben jedoch rettet. Dieser Pass wird die Verbindung zwischen den Beutereiter und den Bergdachsen, aber auch ein Ort für Entscheidungen. In Urlas Hütte, die zwischen den beiden Welten steht, müssen Hunli und Arni ihre Wahl treffen, und auch Lauscher muss sich dort entscheiden, in welche Richtung er reiten möchte: weiter nach Arziak oder zurück zu Arnis Leuten122. Hier kommt es auch zweimal zu einer transzendentalen Begegnung zwischen der toten Urla und Lauscher: als Lauscher auf Fahrt für Narzia ist123 und in der Zeit seiner Versteinerung124. 120 Ebenda, S.742 Ebenda, S.289-293 122 Ebenda, S.325 123 Ebenda, S.322-324 124 Ebenda, S.614-616 121 79 Somit übernimmt Bemmann die mythisch-transzendentale Bedeutung solcher Orte als Zwischenräume, die ambivalent Gefahr und Schutz anbieten, und integriert sie in die recht offen gehalten Geografie seiner Welt. 4.4. Zeit Märchen werden meist in der Zeitlosigkeit gehalten. Selten werden Jahreszeiten genannt (Ausnahmen sind Märchen, in denen eine bestimmte Witterung notwendig ist, z.B. die Anfangssequenz von Schneewittchen, die im Winter stattfindet, oder der Auszug des Mädchens, das im Winter Erdbeeren finden soll in KHM 13); häufiger ist eine Umschreibung mit „einmal“, „eines Tages“, „einst“ oder „vorzeiten“. Diese Zeitlosigkeit ist jedoch ein Merkmal des Gesamtmärchens; einzelne Stationen im Verlauf haben durchaus eine chronologische und stets lineare Abfolge. Rückblicke kommen im Märchen kaum vor; wenn überhaupt in der Aufklärung einer Verzauberung, in der das Opfer vom Zeitpunkt seiner Verwünschung berichtet. Vorgriffe treten nur in Form von Träumen auf. Typisch für Märchen sind eine Abfolge von Tag und Nacht, Zeiteinheiten von drei Tagen, einer Woche, einem Jahr, drei Jahren oder hundert Jahren. Ebenso sind aber auch Formulierungen wie „eines Tages“ zum Abschluss eines undefinierten Zeitraumes üblich, wenn etwa zuvor die Familiensituation beschrieben wurde und nun der Übergang zur eigentlichen Handlung markiert wird. Stein und Flöte ist zu großen Teilen eine Abbildung von Lauschers fiktiver Biografie und verfolgt bis auf wenige Ausnahmen eine beinahe tägliche chronologische Abfolge. Leerstellen gibt es lediglich in der Kindheit, bei Reisen, während der Versteinerung, wenn Lauscher losgelöst ist von der Zeit, und im zweiten und dritten Kapitel des dritten Teils des dritten Buches, in dem Lauschers Alter aufgezeigt wird. Da es in einer anderen Realität angesiedelt ist, erhält das Geschehen selbstverständlich keine zeitliche Einteilung in den geschichtlichen Kontext der 80 Wirklichkeit, und Bemmann verzichtet auch auf eine große geschichtliche Chronik seiner Welt. Durch den Aufbau einer Familiengeschichte und der ständigen Verzweigung erweckt er jedoch den Eindruck der Kontinuität. So kann man Arnilukkas Stammbaum bis zu ihrer Urgroßmutter aufschlüsseln, und auch der Stammbaum Belarnis (den Stammbaum seines Ziehvaters) kann man bis zum Urgroßvater zurückverfolgen, dessen Sohn Urla vor dem Schneesturm gerettet hat. Auf diese Weise gelingt es Bemmann eine in sich geschlossene Geschichte in völliger Zeitlosigkeit zu erschaffen – ein Konzept, das er mit der Zukunftsvision im zweiten Teil des dritten Kapitels des dritten Buches125 zwar gefährdet, durch die vagen Andeutungen dort jedoch nicht vollständig zerstört (vgl. auch 2.2.). 4.5. Weitere Übereinstimmungen Die Parallelen zwischen den Märchen und Stein und Flöte sind mannigfaltig. So kommt es in Märchen zur Erlösung von Menschen, die in Tiere verwandelt wurden (z.B. KHM 1: Der Froschkönig, oder KHM 25: Die sieben Raben). Auch in Stein und Flöte erlöst Lauscher die von Narzia in Hunde verwandelten Menschen. Diese Verwandlung erfüllt ähnliche Kriterien wie die in den beispielhaft angeführten Märchen, denn Narzia ist zu diesem Zeitpunkt der Geschichte die Gegenspielerin der Opfer ihrer Zauber, da sie herrisch über Arnis Leute regiert und jene bestraft, die ihr nicht gehorchen. Der Froschkönig wurde von einer Hexe verwandelt, die sieben Raben werden von ihrem Vater verflucht. Zumindest für die Verwandelten gibt es keine neuerliche Begegnung mit ihrer Schädigerin (Lauscher begegnet Narzia sehr wohl noch, allerdings ist mit der Erlösung Linglis und ihrer Leidensgenossen dieser Handlungsstrang bereits abgeschlossen). Die Erlösung erfolgt durch den Märchen- bzw. Romanhelden und ist von Dauer; das Gute triumphiert also über das Böse. Die Erlösung erfolgt jedoch nicht durch Liebe oder große Selbstopfer; Lauscher ist einfach nur zur richtigen Zeit am richtigen Ort, um sie vornehmen zu können, 125 Ebenda, S.649-653 81 was ihn jedoch schicksalgebunden in die Rolle des Erlösers geraten lässt statt aus eigenem Antrieb126. Tiere sind im Roman vor Lauschers Verwandlung in einen Faun zwar in der Regel nicht sprachbegabt, d.h. sie können Lauscher keine Antworten in menschlicher Sprache geben, doch redet er mit Jalf wie mit einem Freund oder „wie mit einem Bruder“127, wie der Eselwirt es ihm vorschlägt. Nur in der Traumsequenz vom Traum von Lauschers Besuch bei Arnis Leuten ist Jalf eine Stimme gegeben. Auch zwischen dem Sanften Flöter und der Amsel besteht ein ähnliches Freundschaftsverhältnis, und Arnilukka ist in der Lage, mit Fischen zu sprechen. Eine Ausnahme bildet zusätzlich die Kröte Goldauge; schon von seiner ersten Begegnung mit ihr an spricht Lauscher mit ihr von gleich zu gleich128. Es gibt verschiedene Motive, weshalb jemand auf Wanderschaft zieht. Barlo etwa ist ein vertriebener Königssohn (vgl. KHM 92, indem der König mühsam zu seiner Frau und seinem Königreich zurückfinden muss, oder KHM 97, indem der jüngste Königssohn auf Befehl des Vaters beinahe getötet wird und fliehen muss). Wie König Drosselbart (KHM 52) tarnt er sich als Spielmann auf seiner Reise durch das eigene Königreich. Auch das Motiv des Lachens variiert Bemmann aus den KHM, in denen Lachen oft dazu führt, dass eine Aufgabe gelöst wird (z.B. KHM 64, wo die Prinzessin zum Lachen gebracht wird und der Besitzer der goldenen Gans sie nach drei Prüfungen heiraten darf) oder den Unterschied macht zwischen dem positiven Helden und seinem Gegenspieler (z.B. der fröhliche Schneider und der griesgrämige Schuster in KHM 107)129. „Wer nicht lacht, der hat ein böses Gewissen“, heißt es in KHM 9, dem Märchen von den zwölf Brüdern. Insbesondere im ersten Buch werden sämtliche Gegenspieler durch Lachen 126 Auch Märchenhelden entscheiden nicht, wo sie sein wollen; sie sind eingebunden in die Handlung und haben keine eigene Wahlfreiheit. 127 Stein und Flöte, S.61 128 Ebenda, S.29ff. 129 Vgl. Röhrich: „und weil sie nicht gestorben sind“, S.185-205, wo Röhrich zwischen dem Lachen innerhalb des Märchen und dem Lachen über die Märchen ebenso differenziert wie die gesellschaftlichen Umstände, unter denen etwas komisch wirkt. Er kommt zum Schluss, dass das Volksmärchen zur eher ernsthaften Literatur zählt (S.204). 82 entwaffnet: die Riesen aus dem Märchen vom fröhlichen König ebenso wie Gisas Knechte. Sie haben ein schlechtes Gewissen, denn sie sind nicht einmal zum Lachen fähig. Dieser zutiefst menschlichen Eigenschaft wird quasi zum komisierenden Diskurs, der einen zerstörerischen Einfluss auf das Phantastische im Sinne des Dunklen und Unbekannten hat130. Der Traum ist im Roman ein Ort für zukunftsweisende Visionen. So nimmt der Traum von Lauschers Besuch bei Arnis Leuten einige Ereignisse vorweg – dass Lauscher sich verloren fühlt und des Zaubertranks bedarf, der ihm Kraft verleiht – und auch Elemente des Traums vom (fast) perfekten Flöten bewahrheiten sich, als Lauscher mit seiner Flötenmusik Tiere und Menschen becirct131. Auch Elemente aus dem süßen Traum kehren in Lauschers wirklichem Leben zu ihm zurück: „Auch das weiß ich nicht genau. Ich weiß nur, dass ich hinüber muss über diese Mauer auf die andere Seite.“ „Welche Mauer?“, fragte das Wiesel. „Ich sehe weit und breit keine Mauer.“ (…) „Wer redet hier von einer Mauer? Über’s Gebirge möchte ich.“ 132 Eine Mauer musste Lauscher jedoch im süßen Traum auf seinem Weg zu Arnilukka überwinden133. Auch auf andere Weise nehmen die Träume Einfluss auf Lauschers Leben, denn Warnungen, die er darin erhält, schützen ihn vor dem Verlust des Steins. Ein solches Zusammenspiel aus Traum und Wirklichkeit kennt auch das Märchen. In Jorinde und Joringel (KHM 69) weist ein Traum Joringel der Weg zur Erlösung Jorindes, in KHM 181 folgt eine Frau, die ihren Mann an eine Nixe verloren hat, ihrem Traum, und auch in KHM 42 wiederholt der Vater, der auf der Suche nach einem Paten für sein Kind ist, erfolgreich eine Traumhandlung. Selbst bei der Auswahl der Berufe und Tiere wirken die Details aus Stein und Flöte selbst beim ersten Lesen vertraut, denn Schäfer, Bauern, Hirten und Spielmänner sind aus den Märchen bekannt, ebenso wie die Fauna des 130 Vgl. Durst: Theorie der phantastischen Literatur, S.313 „Während dieser Worte des Khans war Lauscher eine vage Erinnerung durch den Kopf geschossen, dass er die Kraft seiner Flöte schon einmal an Tieren ausprobiert habe. Damals waren es Hunde gewesen, nur konnte er sich nicht entsinnen, wo und wann das gewesen war.“; Stein und Flöte, S.295 132 Ebenda, S.477 133 Ebenda, S.368 131 83 Romans. Wölfe (KHM 26 oder KHM 5), Pferde (KHM 89), Esel (KHM 27), Vögel (KHM 21,96, 157 oder 64) und Fische sind ebenso in Märchen zu finden wie Ziegen (KHM 5), Mäuse (KHM 2) oder Kröten (KHM 63); nur beim Wiesel und dem Falken fehlen die Entsprechungen in den KHM . Auch die Kontaktaufnahmen sind ähnlich: Während Lauscher das Wiesel Nadelzahn oder die Maus Der-mit-der-Schlange-spricht töten könnte, bitten auch in Märchen Tiere darum, verschont zu werden (KHM 60 oder 19). Teilweise adaptiert Bemmann ganze Stoffe (wie den Lockzug des Rattenfänger aus Hameln, der in Stein und Flöte noch relativ harmlos damit endet, dass ein überraschter Lauscher feststellt, dass die Kinder, die ihm zuvor tanzend und springend gefolgt sind, kraftlos zu Boden sinken) oder zitiert Stellen aus den Märchen mehr oder minder versteckt. Auffällig sind hierbei etwa die Aufbruchsszene Lauschers im ersten Buch, als die Mutter ihn warnt, sich nicht aufhalten zu lassen, während er auf dem Weg zu seinem Großvater ist, und die unwillkürlich an Rotkäppchen denken lässt, das eine ähnliche mütterliche Mahnung mit auf den Weg bekommt, als es zu seiner Großmutter möchte. Am Ende der Geschichte vom jungen Barlo zitiert Eldrade eine Märchenstelle: „Man sagt ja, dass ein Messer stumpf und rostig wird, wenn der Besitzer stirbt“134. Gesagt wird dies in KHM 60: „Wann ihr euch einmal trennt, so stoßt dies Messer am Scheideweg in einen Baum, daran kann einer, wenn er zurückkommt, sehen, wie es seinem abwesenden Bruder ergangen ist, denn die Seite, nach welcher dieser ausgezogen ist, rostet, wann er stirbt; solange er aber lebt, bleibt sie blank.“ 5. Figuren Die Figuren des Romans lassen sich in mehrere Strukturen gliedern. So wäre es möglich, sie nach ihrem Stellenwert als Haupt- oder Nebenfigur zu kategorisieren oder etwa nach ihrer Position Lauscher gegenüber (Gegenspieler, Geliebte, Ratgeber, Helfer). Eine entscheidende Eigenschaft der Romanfiguren gegenüber den Figuren eines Märchens würde dabei aber außer 134 Ebenda, S.180 84 Acht gelassen werden: die Möglichkeit zum Wandel. Tatsächlich kann man die Figuren in zwei Klassen einteilen, die statischen und die veränderlichen. Die statischen Figuren sind in der Regel Charaktere, denen einen gewisse Transzendenz zu Eigen ist oder die in ihrer Entwicklung beschränkt sind. Sie treten selten in Erscheinung, dann aber immer auf dieselbe Art und Weise, und sind Ratgeber, Verführer oder Helfer Lauschers. Zu diesen Figuren zählen einerseits der alte Steinsucher, der Graue, der Sanfte Flöter, die alte Urla und Arni mit dem Stein, andererseits Tierfiguren wie Goldauge, Nadelzahn, Rinkulla, Einhorn oder die Mäuse. Auch der Zirbel kann zu diesem Figurenkreis gerechnet werden. Die veränderlichen Figuren treten zumindest eine Zeitlang regelmäßig auf und kehren nach einer bestimmten Ruhephase wieder in den Lauf der Handlung zurück. Dabei durchlaufen sie eine Wandlung, die sich meist auch körperlich niederschlägt und gleichzeitig einen Wechsel ihrer Beziehung zu Lauscher zur Folge hat. Zu diesem Figurenkreis zählen Barlo, Gisa, Narzia, Arnilukka, Belarni, Döli, Schneefink und die kleine Urla. Die Veränderung trifft in besonderem Maße auch auf Lauscher zu, dessen Entwicklung der Roman schließlich verfolgt und der von Probe zu Probe stolpert oder eilt. „Alle Erfolge sind im Märchen an Bewährungsproben geknüpft: Geduldsproben, Gehorsamsproben, Geschicklichkeitsproben, Mutund Kraftproben, Klugheits- und Scharfsinnsproben. Die Läuterung des Menschen, seine Reifung ist ein zentrales Thema des Märchens; insbesondere verlangt das Märchen immer wieder die selbstlose Opferbereitschaft des Helden.“135 5.1. Lauscher – ein Märchenheld? Als Protagonist einer Biografie durchläuft Lauscher die Wandlung von einem gerade geborenen Baby zu einem alten Mann, der schließlich stirbt. Dabei wird 135 Röhrich: Sage und Märchen, S.18 85 er durch mehrere Eigenschaften ausgezeichnet, die ihn auf der Suche nach seiner Identität begleiten werden. Schon zu Beginn ist er als Außenseiter gekennzeichnet, der in einen natürlichen Konflikt mit seinem Vater tritt, denn der Große Brüller ist für das Kind, das laute Stimmen nicht ertragen kann, zunächst einmal eine Bedrohung. Zu einer Aussöhnung zwischen beiden wird es nicht kommen, denn obwohl der Große Brüller sich bemüht, seine Lautstärke in Lauschers Gegenwart zu dämpfen, kann Lauscher die Erwartung seines Vaters, zu seinem Nachfolger zu werden, nicht erfüllen – er schlägt mehr nach der Art seines Großvaters. Dennoch versucht Lauscher, seinem Vater keine Schande zu bereiten – das Toben und die Scham angesichts seiner Wut, wenn er erfährt, was sein Sohn in Barleboog als Richter getrieben hat, verhindern Lauschers Rückkehr nach Fraglund, nachdem er Gisa entkommen ist. Dieser Generationskonflikt wird in viele Märchen hineingelesen. Sei es nun bei Hänsel und Gretel, wo die glückliche Rückkehr der Kinder zu ihrem Vater eine Lösung des Konflikts suggeriert, oder bei Schneewittchen, wo die Eifersucht der (Stief-)Mutter auf die junge Prinzessin nur durch Flucht und den Tod der Gegenspielerin kompensiert werden kann, oder einem Märchen wie den Bremer Stadtmusikanten, die die vermeintliche Nutzlosigkeit der Alten in der Gesellschaft ad absurdum führt – die Problematik zwischen jung und alt, Eltern und Kindern ist in Märchen allgegenwärtig. Anders sieht es mit der Sesshaftigkeit aus. Wie Lauscher ziehen viele Märchenhelden aus, doch enden ihre Märchen damit, dass sie heiraten, einen Thron erben oder nach Hause zurückkehren. Lauscher hingegen bleibt ein Einsiedler, bedingt durch seine ständige Wanderschaft bzw. seine Platzangst. Sesshaft wird Lauscher nie und versagt somit die völlige Integration in die Gesellschaft. Dabei ist er ehrgeizig und möchte etwas erreichen. Schon früh träumt er davon, mit Barlo auf Abenteuerreise zu gehen und Heldentaten zu vollbringen. Seine Ungeduld und die ihm eigene Ernsthaftigkeit verhindern, dass er tatsächlich in die Fußstapfen seines Großvaters tritt und ein richtiger Flöter wird, denn schon 86 seine Bemühungen, ein brauchbarer Flöter werden zu wollen, stoßen beim Sanften Flöter auf Unverständnis, denn Brauchbarkeit hält dieser für Flöter für unpassend: „Es wird nicht deine Aufgabe sein, dich nützlich zu machen.“136 Allerdings ist es dieser Wunsch nach Nützlichkeit, der Lauscher für die Einflüsterungen des Grauen und den Missbrauch der Flöte empfänglich macht. Märchenhelden müssen sich mit solche psychologischen Fragen, ob sie etwas tun sollen oder nicht, nur in den Prüfungselementen stellen; für gewöhnlich agieren sie, statt zu reflektieren. Selten richten sie beim Agieren allerdings soviel Schaden an wie Lauscher, der die Mitschuld am Hass der Beutereiter auf Arnis Leute und die Bergdachse trägt, an Gisas Tod und an Wazzeks Unglück. Allerdings ist der Roman bereit, diese Schuld zu relativieren und ihn ein Stück seiner Verantwortung zu entheben137 Die Frage, ob Lauscher ein Märchenheld ist, ist schwer zu beantworten, denn Lauscher durchläuft nicht nur eine Entwicklung (was ihn als Märchenheld a priori atypisch macht, da deren Entwicklung höchstens äußerlich, nicht aber innerlich vonstatten geht – der arme Geselle wird zum Königssohn oder die Magd zur Prinzessin; eine charakterliche Veränderung gibt es jedoch nicht, da Märchenhelden zu stereotyp sind, um überhaupt einen Charakter zu besitzen), sondern wechselt auch zwischen einem aktiven und einem passiven Status. Im aktiven Status trifft er seine eigenen Entscheidung, die meist darin bestehen, weder auf den Spruch des Steins noch den der Flöte zu hören oder den Zirbel zu konsultieren, sondern seinen eigenen Wünschen nach Sex (Gisa) oder Macht, nach verlockender Ehe (Narzia) oder Heldentum folgt. Entscheidungen, die er in diesem Status trifft, führen in der Regel zu einer Schädigung für ihn selbst (wie die Verwandlung in einen Faun oder die Versteinerung) bzw. sein Umfeld (wie etwa der Verlust von Barlos Stimme oder der die Bestrafung Wazzeks). Solche negativen Folgen werden bei den Taten eines Märchenhelden nicht geschildert138. 136 Stein und Flöte, S.203 Vgl. ebenda, S.687 und S.691 138 In KHM 54 schickt der Held Soldaten aus, die aus einem mit List an sich gebrachten Zaubermittel stammen. Er führt Krieg gegen den rechtmäßigen König und legt Gebäude in Schutt und Asche. Allerdings erzählt das Märchen nichts von den Getöteten, den Waisen, den 137 87 Neben dem aktiven Status gibt es noch einen passiven Status, in dem Lauscher keine eigenen Entscheidungen trifft, sondern sich jemandem anvertraut. Im ersten Buch trifft Barlo die Entscheidungen, während Lauscher als Diener folgt; als er zum Faun verwandelt wird, erhält Lauscher Unterstützung vom Zirbel und von tierischen Helfern, die ihn in die richtige Richtung lenken, und während seiner Versteinerung überlässt er die Handlung notgedrungen Arnilukka. Im passiven Status beschränken sich Lauschers Entwicklungen auf innere Prozesse: die Reifung während der Dienerschaft unter Balro vom Jüngling zum Mann, der Gisa gegenübertreten und widerstehen kann, die Identitätssuche Steinauges, der nun das Ausmaß seiner Handlungen einigermaßen überblicken kann, und die inneren Erlebnisreisen des Steinfauns, die ebenfalls der Erkenntnis über seine Umwelt dienen. Im passiven Status erfüllt er den Stand des Helden besser als im aktiven, doch ‚leidet’ sein Heldenstatus darunter, dass sein Handlungsraum sehr viel größer ist als der eines stereotypen Prinzen, Gesellen oder Spielmanns – Lauscher besitzt Handlungsfreiheit, die dem Helden nicht zusteht, und nutzt diese auch, um Fehler zu begehen. 5.2. Statische Figuren 5.2.1. Menschliche Ratgeber Drei Menschen werden von in Stein und Flöte als Ratgeber und Mentoren Lauschers eingeführt: Urla, der Sanfte Flöter und Arni mit dem Stein. Sie geben ihre Weisheiten an Lauscher weiter, auch wenn dieser nicht unbedingt auf sie hört, und teilen ansonsten ein gemeinsames Schicksal: Angesichts ihres hohen Alters überleben sie den Roman nicht. Urla ist bereits zu Beginn des Romans gestorben und agiert nur noch in Geschichten oder Visionen. Sie steht für die alte weise Frau, die als Helferin im Märchen fungiert, Wege weisen und Antworten geben kann. Solche Kriegsversehrten oder Hunger und Krankheit, da die Figuren im Märchen isoliert agieren statt in einer Gesellschaft. Somit kann das Verhalten der Märchenhelden nur auf Gegenspieler oder zu erlösende Bräute/Bräutigame reflektieren. 88 Frauengestalten finden sich etwa in Die drei Spinnerinnen (KHM 14), wenn drei seltsame, körperlich entstellte Frauen der Protagonistin helfen, oder in Der Teufel und seine Großmutter (KHM 125). Auch Frau Holle (KHM 24) wird als alte Frau beschrieben, und in KHM 181 stammt der Rat, mit dem die Frau ihren Mann von der Nixe erlöst erneut von einer alten Frau. Der männliche Ratgeber ist in den Märchen seltener; allerdings übernehmen Könige oder Vaterfiguren mitunter die Aufgabe, Wissen weiterzureichen (z.B. der König in KHM 6). In Stein und Flöte teilen sich zwei Männer diesen Posten: Arni mit dem Stein und der Sanfte Flöter. Beide fungieren auch als Übergeber eines Zaubermittels kurz vor ihrem Tod, den Lauscher jeweils miterlebt, und auch in ihren Ratschlägen sind sie ähnlich. Sie üben auf Lauscher Vorbildfunktion aus, zumal er mit dem Wissen aufwächst, mehr nach seinem Großvater zu schlagen (der im Gegensatz zum Großen Brüller ein ruhigerer Mann ist), und von Arni erhält er schließlich den Stein und damit den Auftrag, dem Schimmer zu folgen und das Geheimnis zu ergründen. Spätestens in seiner Funktion als Träger des Steins tritt Lauscher auch offiziell in die Fußstapfen des zu diesem Zeitpunkt zur Heilsgestalt verklärten Arnis. Alle drei Ratgeberfiguren werden auch nach ihrem Tod noch einmal in die Handlung eingebunden; sei es nun als Vision wie Urla oder als Geistergestalt wie Arni oder zu guter Letzt wie der Sanfte Flöter, der Lauscher nach dessen Tod willkommen heißt. Auch hier übernimmt er sofort wieder die Rolle desjenigen, der sich besser auskennt als sein Enkel. 5.2.2. Übermenschliche Gestalten In den beiden Figuren des Grauen und des alten Steinsuchers schafft sich Stein und Flöte eine eigene Dichotomie von Gut und Böse. Der Graue ist dämonische Verführergestalt, der mit Vorliebe nachts auftaucht und Ansprüche stellt; so fordert er bei der ersten Begegnung Lauschers Stein. Seine Ziele sind destruktiv, denn auch wenn er mit Macht und Reichtum lockt, ist er stets von Zerstörung umgeben (etwa im dritten schwarzen Traum, wenn 89 er die Statuen des Fauns und der Frau zerstört, oder in den Träumen des Fauns, mit denen er ihn dazu locken will, die Ziegen zu töten). Der alte Steinsucher ist das Gegenteil des Grauen, denn er ist die Quelle der drei wichtigsten Zaubermittel im Roman: Er gab Urla den Stein, dem Sanften Flöter die Flöte und Lauscher den Zirbel. Bis auf das letzte Unterkapitel des Romans bleiben dies auch seine einzigen Auftritte; dann jedoch, wenn Lauscher alt geworden ist, begegnet er ihm in I, II und III. Als Schöpferwesen nimmt er zumindest theistische Züge an, nähert sich aber auch dem Tod an, wenn er in I verkündet, Barlo besuchen zu wollen, dessen Tod wenig später bekannt wird, und in III das Stück vor Lauschers Tod an seiner Seite geht. Beide Figuren sind transzendentale Erscheinungen, die sich mit dem Auftauchen des Teufels als Verführer (z.B. KHM 100 und 101) bzw. dem göttlichen Wirken in den KHM (z.B.KHM 87 oder 135) vergleichen lassen. 5.2.3. Belebte Natur als Helfer Im Roman gibt es zahlreiche Tiere, die als Helfer auftreten und sich eigentlich nur in ihrer Sprachbegabung unterscheiden. Jalf und die Amsel etwa sind in der Lage, sich dem Menschen verständlich zu machen, ohne dessen Sprache zu verstehen, und entwickeln zu Lauscher bzw. zum Sanften Flöter eine wahre Freundschaft. Solche Tierfreundschaften kennt man z.B. von Aschenputtels Tauben (KHM 21) oder dem Löwen des Königssohn, der sich vor nichts fürchtet (KHM 121). Die Kröte verfügt über die menschliche Sprache, ohne dass dieser Umstand je thematisiert wird. Ihr Auftauchen stets bei Nacht lassen ihre Wahrhaftigkeit jedoch in Zweifel ziehen; womöglich handelt es sich bei ihr nur um ein Traumgespinst. Andererseits sind sprachbegabte Tiere im Märchen weit verbreitet, z.B. Fallada in KHM 89, der Wolf in KHM 26 oder die Kröte in KHM 63. Mit Lauschers Verwandlung in den Faun, der die Sprache der Tiere versteht, wird das Spektrum an tierischen Helfern erweitert. Das Wiesel Nadelzahn sorgt 90 für Lauschers leibliches Wohl und bezieht sich auch häufig aufs Essen. Die Ringelnatter Rinkulla ist weise Ratgeberin und mit ihren Achataugen ein weiteres Substitut für den Augenstein und Arnilukka139. Die Mäuse schließlich sind fleißige Helfer, die meist unterschätzt werden und sich doch als wahre Helden erweisen140. Einen übernatürlichen Helfer aus der Natur erhält Lauscher im Zirbel, der ihm Ratgeber und gleichzeitig Spötter ist. Als Zaubermittel, das er direkt vom alten Steinsucher erhält, ist es nicht verwunderlich, dass eine der Methoden des Zirbels, Lauscher etwas verständlich zu machen, das Gleichnis ist. Der Zirbel enthält auch die Zirbelin, deren markantes Zeichen ihr Duft ist, und die für eine etwas körperbetonte Art des Trostes und Beistand steht. 5.3. Veränderliche Figuren 5.3.1. Barlo Barlo erhält die Rolle des Märchenprinzen, dessen treuer Diener Lauscher wird (etwa vergleichbar mit dem Königssohn und seinem Diener in KHM 6 oder KHM 22). Er ist Autoritätsperson und Sympathieträger, denn als leidender Held, der Zunge, Vater und Herrschaft verloren hat, gönnt man ihm sein glückliches Märchenende mit Eldrade. Für Lauscher ist er Herr und Freund zugleich; in seiner Gegenwart kann er die Verantwortung abgeben und Barlos Junge sein, und somit begegnet Lauscher ihm, je älter er wird, mit umso gemischteren Gefühlen, bis es ihm im hohen Alter sogar peinlich wäre, Barlo nach Arziak zu holen141. Der Autoritätsanspruch Barlos verliert sich jedoch bei Lauschers Besuch beim alten Barlo, denn wo der junge Barlo noch tatkräftig und kämpferisch war, wo er mit seiner Musik die Menschen zu begeistern wusste, ist er nun ein alter Mann, der immer noch seine Ordnungen schätzt und sich voller Würde 139 Dass Bemmann gerade eine Schlange, die schon in der Bibel als Tier der Verführung gilt, als Erinnerung an Arnilukka gewählt hat, könnte man im Zusammenhang mit dem Thema der Erotik auch als sexuelles Motiv deuten. 140 Das Motiv, dass viele kleine Tiere, zu denen man freundlich war, Taten vollbringen können, die für mächtigere Tiere oder Menschen unmöglich sind, wird mehrfach in Stein und Flöte thematisiert und lässt sich auch in den KHM finden (z.B. KHM 62 oder 107). 141 Stein und Flöte, S.787 91 präsentiert. Der jugendliche Held von einst hat sich zu „einem Denkmal seiner selbst“142 verwandelt, eine Karikatur beinahe, über die Lauscher und sein Pferd sich amüsieren können. 5.3.2. Die Frauenfiguren Gisa ist zu Beginn ganz die schöne, aber böse Hexe: Nach dem ‚Hexenhammer’ von 1487, der Rechtsgrundlage der Hexenprozesse, besitzen Hexen übernatürliche Kräfte und treiben Zauberei. Sie sind zur Liebe unfähig. Sie haben Gewalt über andere Menschen. Sie gestehen niemals ihre Schuld ein und vergießen niemals Tränen. Sie vertrauen auf die eigene Macht. Sie gebären keine Kinder und maßen sich Männerrollen an. 143 Für Röhrich ist dieses Hexenbild nur bedingt in Grimms Märchen tradiert, in denen Hexen in der Regel als böse, alte Weiber dargestellt werden, denen die sexuelle Ausstrahlung und der Tanz zur Walpurgisnacht nicht mehr nahegelegt werden können. Wer fände die Hexe aus dem Knusperhaus schon anziehend? Von einem solchen Hexenbild unterscheidet sich Gisa, Lauschers Gegenspielerin aus dem ersten Buch, ganz erheblich, denn schon vom ersten Moment an ist er von ihrer Schönheit wie verzaubert – zunächst von ihren Augen („und diese Augen übten eine solche Gewalt auf ihn aus, dass es ihm Mühe machte, den Blick abzuwenden“144), später von ihrem gesamten Körper. Schöne, zauberkundige Frauen, die dem Hexenbild des Hexenhammers näher stehen als dem aus Hänsel und Gretel, treten in der Fantasyliteratur häufiger auf. Die Hauptfigur der Nebel von Avalon von Marion Zimmer-Bradley, die der Morgaine aus der Artus-Sage angelehnt ist, ist eine solche moderne Hexe. Auch in der Unendlichen Geschichte von Michael Ende wird Bastian von der schönen Xayíde becirct, bis er all seine Erinnerungen hinzugeben droht und sich auch gegen seine Freunde wendet. Ist Gisa daher eher der Fantasyliteratur als den Märchen zuzuordnen? Obwohl es auf den ersten Blick so scheint, kennen Grimms Märchen bei genauerer Betrachtung die schöne, zauberkundige Frau sehr wohl, die sich auf Hexenkünste versteht, auch wenn die Knusperhexe weiter verbreitet ist. Die 142 Ebenda, S.770 Röhrich: „und weil“, S.129 144 Stein und Flöte, S.16 143 92 bekannteste Gestalt dieses Typus ist wohl die böse Stiefmutter aus Schneewittchen145 (KHM 53), aber auch in KHM 49 heiratet der Vater der später in sechs Schwäne verwandelten Prinzen eine junge Hexe146. Deren Beschreibungen zeigen deutliche Parallelen zur Hexe Gisa: „Dieses Mädchen galt als das schönste weit und breit. Viele junge Männer kamen und warben um Gisa, aber sie war stolz und wies alle ab.“147 Nach ihrer Verwandlung in eine Wölfin ändert sich Gisa jedoch – zunächst zu einer ambivalenten Figur, die mal Lauscher schützt, dann versucht, Arnilukka zu töten, und anschließend in einen hilfreichen Baum auf ihrem Grab, durch den sie nur noch Gutes tun kann. Auch Narzia durchlebt eine Veränderung. Zu Beginn tritt sie als Rätselprinzessin auf, als schöne und stolze Frau, die Lauscher als Braut gewinnen möchte und um deretwegen er jedes Risiko auf sich nimmt. Rätselprinzessinnen sind klug und dabei von so blendender Schönheit, dass die Bewerber um ihre Hand entweder kopflos werden oder dahinsiechen in Hoffnungslosigkeit oder ihrem Vater den Krieg erklären. Und mögen diese Schönheiten auch innerlich mit sich uneins sein, treten sie dennoch selbstherrlich und imponierend auf, so dass ihr eigener Vater ihrem Willen nachgibt und sie mit ihren Todesurteilen gewähren lässt.148 Hinter der Schönheit lauern allerdings ihre Berechnung und ihr Drang zu herrschen, und ihre Grausamkeit und ihr Stolz gewinnen mit der Zeit die Oberhand über Narzia. Aus der Geliebten wird die Gegenspielerin, die als Falke verwandelt Lauscher hinterher jagt, um den Stein zu ergattern. Ganz zum Schluss ihrer Geschichte wandelt sich Narzia sogar noch in eine dritte Figur: Sie kehrt teilweise zu der Rätselprinzessin zurück, in die sich Lauscher verliebt hat, verliert aber ihre Bösartigkeit. Kurz vor ihrem Tod, als Narzia ihre Zauberkunst einsetzt, um Urla zu heilen und zu versuchen, auch den Fluch von Lauscher zu nehmen, wird sie zur reinen Prinzessin, doch ihr „Es war eine schöne Frau, aber sie war stolz und übermütig und konnte nicht leiden, dass sie an Schönheit von jemand sollte übertroffen werden.“; „mit Hexenkünsten, die sie verstand, machte sie einen giftigen Kamm“ (KHM 53) 146 „er sah wohl, dass sie sehr schön war, aber sie gefiel ihm doch nicht, und er konnte sie ohne heimliches Grausen nicht ansehen“; „und da sie von ihrer Mutter die Hexenkünste gelernt hatte, so nähete sie einen Zauber hinein“ (KHM 49) 147 Stein und Flöte, S.82 148 Snook: Auf den Spuren, S.126 145 93 Tod, die Strafe für die lange Zeit als kaltherziger Vogel, verhindert eine vollständige Aussöhnung mit ihren Taten. Arnilukka ist zu Beginn nur ein Mädchen von etwa zwölf Jahren, das durch seine Unschuld, seine Fröhlichkeit und seine Augen die Freundschaft Lauschers erwirbt. Für den Leser sind diese Augen schon Anzeichen genug, dass sie im Verlauf des Romans noch eine Rolle spielen wird, und auch Gisa erkennt in ihre eine Gefahr, weshalb sie sie töten möchte. Lauscher sieht in ihr jedoch nur ein Kind, und durch dieses Fehlurteil erwirbt sich Arnilukka einen Status als eine Variation von Aschenputtel. Das tragende Thema aller zum Aschenputtel-Zyklus gehörenden Märchen ist das Auseinander klaffen von Schein und Sein. Die gering geschätzte Titelfigur erweist sich als die Beste. Sie ist eine besonders eindrückliche Repräsentantin des unterschätzten Märchenhelden, für den die angelsächsische Forschung den Terminus ‚unpromising hero’ geprägt hat.149 Arnilukkas Verwandlung hängt mit ihrem Alter zusammen, denn sie wandelt sich vom unreifen Kind, das nur Begleitung, Trost und Freundschaft zu bieten hat, zur jungen Frau, die über den Augenstein auf mystische Weise mit Lauscher verbunden ist und auserkoren scheint, mit ihm glücklich zu werden, wenn vorher nicht die Schädigungen der Verwandlung und Versteinerung in Lauschers Leben einbrechen würden. Das Kind Arnilukka wird mit der Zeit reif genug, um als Frau aufzubrechen, um Lauscher zu erlösen. Diese Geschichte Arnilukkas bleibt quasi unerzählt, da sie nur aus der Perspektive Lauschers miterzählt wird, aber gewisse Aspekte der Märchenheldin einer Suchwanderung vereinen sich in ihrem Charakter, ohne jedoch in völliger Konsequenz beibehalten zu werden. Eine wesentliche und für den Verlauf der Erzählung oftmals entscheidende Eigenschaft der Frau ist ihre unbeirrbare Treue, ihre totale Opferbereitschaft und Selbstlosigkeit, ihre Leidensfähigkeit und Durchhaltekraft. Dies sind die Eigenschaften, die von der Frau, die ihren Mann oder der Schwester, die ihre Brüder erlösen will, gefordert werden. Das Schicksal, ihren verlorenen Mann wiederzufinden bzw., neu zu gewinnen, was man auch als die Motivik der „Suchwanderung“ bezeichnet, zeigt das häufige Lebensschicksal von Frauen im Märchen.150 Arnilukka leidet; sie wird von Narzia gefangen und mit einer Verwandlung zur Maus gequält; sie verliert beim Fluchtversuch ihre einzige Vertraute; sie 149 150 Lüthi: Der Aschenputtel-Zyklus, S.53 Röhrich: „Und weil…“, S.115 94 überlebt die Flucht beinahe nicht, weil sie schwer erkrankt und verliert obendrein ihren Vater. Dennoch gibt Arnilukka nicht auf und beschließt, Lauscher zu suchen. Dabei hat ihre Suchwanderung schon vor ihrer Geiselhaft bei Narzia begonnen, wenn auch unbewusst – denn dreimal begegnet sie Lauscher in seiner Gestalt als Steinauge, und jedes Mal läuft sie erschrocken vor seiner Tierhaftigkeit fort. Dennoch bricht sie mit dem Bild der leidenden Märchenheldin, denn als sich die Auflösung ihrer Konflikte ankündigt und sie Lauscher heiraten könnte, entscheidet sie sich gegen ihn und für die Stabilität an Belarnis Seite. 5.4. Namen Bei den Namen ist erneut ein Spagat zwischen Märchengepflogenheiten und der klassischen Namensgebung in der Fantasyliteratur bemerkbar. Eine ganze Reihe von Figuren, vorneweg der Protagonist und seine männlichen Vorfahren, haben sprechende Namen, die sich auf eine Eigenschaft ihres Charakters zurückführen lassen. Der Große Brüller ist physisch wie akustisch eine mächtige Erscheinung, während der Sanfte Flöter ein friedlicher Mann ist. In Lauschers Fall ist sein ganzes Leben aufs Lauschen ausgelegt; dies ist die Aufgabe, die er meistern soll und zu der er immer wieder von seinem Großvater angehalten wird. Er erhält seinen Namen auch aus optischen Gründen: „Er schaut aus, als ob er lauscht.“151 „Ihm schien es fast so, als habe ihn dieses Instrument, das ihm allzu früh in die Hand gelegt worden war, daran gehindert, das Zuhören so zu lernen, wie es seinem Namen entsprochen hätte“152 Dies erinnert an Dornröschen (KHM 50), deren Name für ihr Leben (soweit es für das Märchen von Bedeutung ist) programmatisch ist153: Sie ist die Rose hinter den Dornen. Ebenso ließe sich das Glückskind aus dem Märchen von des Teufels drei goldenen Haaren (KHM 29) als Vergleich heranziehen, das seinen Namen ebenfalls fatalistisch erhält und damit gleich eine wichtige Charaktereigenschaft verliehen bekommt. Schneewittchen wird sogar nach ihrem Namen gebildet, denn der Wunsch der Mutter nach einem Kind rot wie 151 Stein und Flöte, S.11 Ebenda, S.765 153 Vgl. Schmidt-Knaebel: Volksmärchen in der textlinguistischen Analyse, S.47-50; SchmidtKnaebel unterscheidet die gattungstypischen Namen in besondere und alltägliche Namen. 152 95 Blut, weiß wie Schnee und schwarz wie Ebenholz erfüllt sich, weshalb das Kind den Namen Schneewittchen erhält (KHM 53). Bei den Blutaxtleuten und den Tieren, deren Namen Lauscher als Faun erfährt, sind die Namen stärker ans Physische gebunden und erinnern nun endgültig an Märchennamen wie den von Aschenputtel, Schneewittchen, Rotkäppchen, Allerleihrauh, Schneeweißchen oder Rosenrot, die allesamt ihren Namen dem Aussehen verdanken. Nadelzahn das Wiesel, die Kröte Goldauge oder der Ziegenbock Einhorn, der sein zweites Horn bei einem Unfall verloren hat, besitzen entweder schon einen Namen, der eher Bezeichnung ihres Aussehens ist, oder bekommen ihn von Lauscher verliehen154. Beispielhaft ist Lauschers Bemühung, mit dem Stock in Kommunikation zu treten, den ihm der alte Steinsucher übergeben hat, denn dazu muss er erst dessen Namen finden. Der Ziegenbock gibt ihm den Rat: „Suche einen Namen, der seiner Art entspricht. So wird das wenigstens bei uns gemacht.“155 Lauscher gelingt es nun, über Holzling und Bäumler auf Zirbel zu kommen – die Ausarbeitung eines Namens, der Ausdruck der Art der Figur ist. Auch dies ist märchentypisch, denn: „Die einmaligen Märchennamen dagegen ziehen automatisch eine Textstelle nach sich, die Hörerin und Leser zu Zeugen der Namensgebung macht.“156 Schließlich gibt es noch eine Reihe von Figuren, die allein nach ihrem Beruf oder ihrer Familienbeziehung benannt sind; insbesondere bei Müttern fällt auf, dass sie seltenst einen Namen erhalten. Lauschers Mutter etwa wird konsequent nur in Abhängigkeit ihrer männlichen Bezugspersonen bezeichnet: als Lauschers Mutter, Frau des Großen Brüllers oder Tochter des Sanften Flöters – ein Schicksal, das sie wiederum mit ihrer Mutter teilt, die ebenfalls nur die Großmutter oder die Frau des Sanften Flöters ist (als Mutter ihrer Tochter kann sie nicht bezeichnet werden, da diese ja keinen eigenen Namen hat). Zwar könnte man darauf beharren, dass diese Figuren nicht wirklich handlungstragend, sondern nur Nebenfiguren sind, doch im Vergleich mit der 154 Vgl. ebenda S.464, wenn Lauscher Einhorn einen Namen verleiht und im Gegenzug den Namen Steinauge erhält, oder S.194, wenn er die Kröte mit dem Namen Goldauge anspricht 155 Ebenda, S.508 156 Schmidt-Knaebel: Volksmärchen in der textlinguistischen Analyse, S.48 96 Blutlinie Urlas fällt die Ungleichheit der Namensgebung besonders auf. Als mystische Stammmutter besitzt Urla einen Namen; ihrer Tochter und Enkeltochter widerfährt dieses Glück schon nicht mehr – allerdings erfährt der Leser die Namen ihrer Ehemänner. Akkas und Rikkas Ehemänner haben ebenso Namen wie Arnilukkas beide Geliebten und ihre Kinder; erst bei Urlas Ehemann verzichtet der Autor erneut auf einen Namen; er wird nur als „der Schmied“ bezeichnet; ein Beruf, den mit Ausnahme Belarnis alle Ehemänner von Urlas Nachkommen ausübten. Nebenfiguren schließlich werden häufig allein über ihren Beruf identifiziert, insbesondere bei Figuren aus dem ersten Buch. Der Eselwirt hat ebenso wenig einen Namen wie der Schäfer oder der Bauer, bei denen Barlo und Lauscher in ihrem Jahr als Schafhirten Unterschlupf finden. Selbst Barlo wird lange Zeit nur als „Pferdeknecht“ geführt, ehe er die Rolle als Lauschers Herr einnimmt. Diese Namensgebung aufgrund von Äußerlichkeiten oder Weglassen einer individuellen Bezeichnung, um Familiengrad bzw. Beruf zu verwenden, trifft nun auf die Namensgebung innerhalb der einzelnen Völker. Zieht man hier Tolkiens Mittelerde zum Vergleich, wird bald deutlich, was Bemmann bezweckt hat: Zumindest die männlichen Namen lassen in ihrer Endung bereits eine Kategorisierung in einen Volksstamm zu. So enden die typischen Namen der Beutereiter auf –i; ein Suffix, das man bei mehr als einem Dutzend Namen antrifft und das sowohl für männliche wie weibliche Namen zutrifft, denn auch die Magd, neben Narzia die einzige Frau unter den Beutereitern, die namentlich erwähnt wird, trägt mit Lingli einen Namen mit typischer Endung. Unter den Bergdachsen scheint bei Männern eine Endung auf –o mit vorangehendem doppelten Konsonanten verbreitet, wie die Beispiele Promezzo, Azzo, Arnizzo, Sparro oder Ruzzo nahe legen, während Frauennamen wie auch in den meisten anderen Völkern auf –a enden. Bei den Fischern wiederum enden männliche Namen meist auf –sch, während die Männernamen aus dem Gebirge auf –os enden und Männernamen in Falkenor auf –ar. 97 Die Archetypen im Märchen erhalten bisweilen die Namen Hans, Grete, Lise oder Else; typische Namen zur Zeit der Niederschrift durch die Gebrüder Grimm und somit austauschbar geworden. Bemmann nutzt eine vergleichbare Technik, indem er Namen eines einzelnen Volkes in fast inflationärer Anzahl einführt. Bestes Beispiel ist das Volk der Beutereiter, bei denen mehr als ein Dutzend Namen genannt werden, deren Inhaber z.T. nur sehr kurze Auftritte haben und schon bald in der Erinnerung des Lesers miteinander verschwimmen. Registriert wird die Endung in Verbindung mit der Beschreibung des äußeren: den schwarzen, strähnigen Haaren, den flachen Nasen, der olivfarbenen Haut. Abgesehen von jenen Beutereitern, die eine wichtigere Rolle einnehmen (Arni, Hunli, Höni, Belarni), tragen die auftretenden Beutereiter kaum individuelle Merkmale. Diese Technik legt nahe, dass es bei der Namensgebung nach Volksstämmen auch darum ging, aus den nur scheinbaren Individuen einen austauschbaren Abkömmling eines Volkes zu machen. Eine Besonderheit betrifft noch die Bezeichnung der Hauptfigur. Ähnlich wie Aragorn aus dem Herrn der Ringe wechselt auch Lauscher seine Namen. Nach der Verwandlung in den Faun wird er Steinauge getauft, und als er sämtliche Erinnerungen verloren hat und als steinerner Faun an der Quelle steht, wird er nur noch mit „er“ bezeichnet. Dabei vollzieht er die Änderung eines Namens, der durch eine Eigenschaft verliehen wird, zu einer Bezeichnung, die er seinem Stein verdankt, bis hin zum entpersonalisierten Personalpronomen in der völligen Identitätslosigkeit – und auch wieder zurück. Diese Rückwandlung ist an den Namen Arnilukkas, der damit sinnstiftende Bedeutung erhält, und an die Flöte gebunden. In der Musik findet er die Erinnerung wieder, und erst, als der Text ihren Namen wieder aufgreift, erhält auch Lauscher innerhalb der Bezeichnungen des Romans seinen menschlichen Namen zurück, obwohl die Verwandlung in den Faun noch anhält. Zusammenfassend gibt es also drei Typen von Namen in Stein und Flöte (vgl. Tabelle 13). Namen des ersten Typus findet man bei Figuren, die statt eines Namens eine Bezeichnung tragen, die etwas über ihr Äußeres bzw. ihren Charakter verraten. Diese Namensgebung steht dem Märchen am nächsten. 98 Namen des zweiten Typus sind in erster Linie Nebenfiguren vorbehalten. Es sind Bezeichnungen ihres Beruf- oder Familienstandes oder aber Namen, die nach den Regeln einer bestimmen Volksgruppe innerhalb der Romanwelt gebildet wurden. Durch fehlende individuelle Ausbildung der Figuren sind diese Namen wie Platzhalter für die Bezeichnung der Volksgruppe. Diese Namensgebung stellt eine Mischform von Märchen- und Fantasystruktur dar, da Berufsbezeichnungen märchentypisch sind, die Zuordnung zu einer Volksgruppe hingegen oft in Fantasyromanen benutzt wird. Die Identifizierung über die Namenssuffixe weisen zudem eine gewisse Ähnlichkeit zur Nutzung von Namen wie Hans oder Grete im Märchen auf. Namen des dritten Typus sind individuelle Phantasienamen, die einer Figur ihre Herkunft aus einer wunderbaren Welt (im Gegensatz zur realistischen Welt) sowie häufig auch ihre Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volk dieser Welt belegt. Diese Namen lassen häufig Interpretationsspielraum für ihre Bedeutung und stehen eher dem Fantasyroman nahe, da sie nach Regeln der phantastischen Welt gebildet werden und nicht originär der üblichen Namensgebung des Sprachraums des Autors entstammen. Typus 1 Typus 2a Typus 2b Typus 3 Stein und Flöte Lauscher, Sanfter Flöter, Einhorn, Nadelzahn, Der-dem-Falkenweissagt, Schiefmaul, Großer Brüller Eselwirt, Mutter, Großmutter, Verwalter, Pferdeknecht, Diener, Bauer, Schäfer Russo, Sparro, Ruzzo, Kurgi, Günli, Orri, Wanli, Blörri, Lujos, Rullos, Hurlusch, Bargosch Arnilukka, Belarni, Rinkulla, Barlo, Urla KHM Aschenputtel, Dornröschen, Schneewittchen, Rotkäppchen, Allerleihrau, Brüderchen, Schwesterchen, Soldat, (Königs-)Tochter, Bauer, Großmutter, König, (Königs-)Sohn Hans/Hänsel, Grete(l), Else Herr der Ringe Baumbart, Streicher --- Faramir, Boromir, Eomer, Eowyn, Gandalf, Frodo Ork, Ent, Goblin, Zwerg, Elb Stolzfuß, Spachtler, Sackheim, Balbo, Bungo157 Tabelle 13 157 Hobbitzu- und Vornamen, zitiert nach den Anhängen und Registern, S.100 99 5.5. Liebe und Erotik Im Märchen sind Liebe und Erotik stark von einander getrennt. Liebe wird als Motivation oder Konfliktlösung genutzt; so bricht etwa der jüngst Sohn in Das Wasser des Lebens (KHM 97) aus Liebe zu seinem Vater auf, um das rettende Zaubermittel für die Genesung des Todkranken zu finden. Der Prinz in Schneewittchen (KHM 53) verliebt sich in die scheinbar Tote und kann durch seine Bitten die Zwerge erweichen, sie ihm zu überlassen – wobei auch die Zwerge es bereits aus Zuneigung zu Schneewittchen nicht über das Herz gebracht haben, sie zu begraben. Die geschwisterliche Liebe sorgt in vielen Märchen für die Erlösung derer, die verzaubert sind; die Brüder werden sowohl in Die zwölf Brüder (KHM 9) als auch in Die sieben Raben (KHM 25) oder Die sechs Schwäne (KHM 49) von ihrer Schwester erlöst, die dafür stets schwere Prüfungen auf sich nimmt. Die geschlechtliche Liebe zwischen Mann und Frau hingegen wird – womöglich kindgerecht oder aber von der Prüderie des 19. Jahrhunderts gefördert – lediglich im Substitut der Ehe behandelt. Eine Braut zu finden oder den Bräutigam zurückzugewinnen, sind häufige Motive. Für Propp ist die Brautwerbung sogar zentrales Element und Motivation, die Hochzeit angestrebtes Ende der Morphologie aller Zaubermärchen. Auch viele GrimmMärchen enden mit der Hochzeit des Helden bzw. der Heldin. Liebe wird dabei nahezu mit Ehe gleichgesetzt; das höchste der Gefühle ist das Ergreifen der Hand oder ein Kuss, der häufig auch erlösend wirkt (z.B. bei Dornröschen in KHM 50). Alle weitere Erotik oder Geschlechtlichkeit verschweigt das Märchen jedoch. „Als Werbungs- und Liebesgeschichte hätte das Märchen zwar mannigfachen Anlass zur Darstellung erotischer Szenen, aber es macht davon so gut wie keinen Gebrauch, und man wundert sich, dass erotischsexuelles Verlangen in ihm eine so geringe Rolle spielt.“158 Dass Teil der Ehe auch Sexualität ist, dass die Kinder, die in Märchen geboren werden, im sexuellen Akt gezeugt werden müssen – diesen Punkt verschweigen die Märchen gern. Das Bett ist Schlafplatz; dass es auch für andere Zwecke dienen könnte, wird nur selten angedeutet, etwa wenn in Die 158 Röhrich: „und weil“, S.35f. 100 zwei Brüder (KHM 60) der unerkannte Zwillingsbruder nachts ein Schwert zwischen sich und die Frau seines Bruders legt. Aus einigen Märchen sind Andeutungen, dass die Protagonisten sexuellen Verkehr hatten, sogar herausgestrichen; so merkt die Hexe in anderen Fassungen von Rapunzel, dass ihr Schützling Männerbesuch erhält, daran, dass ihre Kleider am Bauch nicht mehr passen, da Rapunzel geschwängert worden ist159. Stein und Flöte nähert sich diesen Konzepten an, ohne sie jedoch vollkommen zu erreichen. Da der Roman den Gedanken des Protagonisten und seiner Gefühlswelt mehr Raum bietet, als einem Märchenhelden je zugestanden wurde, geht seine Liebesvorstellung über einen Kuss oder die Heirat weit hinaus. Auch seine fleischlichen Gelüste werden nicht verschwiegen. Andererseits sind auch Lauschers erotische Abenteuer weitestgehend stilisiert worden. Doch beschäftigen wir uns zunächst mit den Liebesbeziehungen. 5.5.1. Liebesbeziehungen Lauscher verliebt sich in seinem Leben in drei Frauen. Die erste wichtige Frau ist Gisa, der er zu Beginn seiner Abenteuer erliegt und der er jeden Wunsch erfüllt160. Da jede Frau zunächst über ihre Augen Eindruck auf Lauscher macht, ist es der saphirblaue Blick, der ihn zuerst fesselt. Gisa werden Zauberfähigkeiten zugeschrieben; in der Binnenerzählung „Die Geschichte von Gisa und den Wölfen“ geht sie einen Pakt mit den Wölfen ein; auch in diesem ist mit der Forderung der Wölfe, dass sie ihr Blut mit ihnen teilen, bei ihnen liegen und ihnen den Pelz kraulen muss, bereits erotische Anspielungen enthalten161. So kann explizit nur eine Jungfrau durch ihr Blut den Wölfen menschliche Gestalt verleihen. In der Beziehung zwischen Lauscher und Gisa, in der er wie im gesamten ersten Buch eher Objekt und passiver Teil zu sein scheint – der einzige Entschluss, den er wirklich selbst trifft, nämlich das Leben der Amsel zu verschonen, entzweit das Paar, befreit ihn von Gisas Zauber und bringt ihm den 159 Rölleke: Nachwort, S.607f. Stein und Flöte, S.16ff. 161 Ebenda, S.84f. 160 101 Augenstein zurück162 – ist es Gisa, für die die Liebe die tragenderen Auswirkungen hat. Sie hat sich tatsächlich in Lauscher verliebt, wie ihre Verwandlung in die Wölfin beweist. Ihre Eifersucht auf Arnilukka führt zum Angriff auf das Kind und somit zu ihrem Tod, der ausgerechnet von Lauscher initiiert ist: Sein Pfeil tötet Gisa als Wölfin, nachdem ihre Liebe zu ihm ihr Leben als Herrin von Barleboog beendet hat. Doch auch über den Tod hinaus hat diese Liebe Auswirkungen auf Gisa, denn die Eberesche auf ihrem Grab rettet Lauscher später das Leben: Er versuchte das Hindernis zu überspringen, blieb aber mit dem Huf an irgendetwas hängen und stürzte der Länge nach ins Gras. „Halte dich an den Baum, den du mir gesetzt hast“, raunte eine Stimme, und ehe er nicht recht den vollen Sinn dieser Worte begriffen hatte, packte er den armstarken, glatten Stamm einer jungen Eberesche, der unmittelbar vor ihm stand. Dann hörte er hinter sich den Wolf wütend aufheulen und meinte schon, seinen stinkenden Atem im Nacken zu spüren.163 Dass aus dem Grab eines geliebten Menschen etwas Gutes entspringt, ist gängiges Märchenmotiv. So wächst auf dem Grab von Aschenputtels Mutter der Baum, auf dem die beiden Tauben sitzen, die ihr Kleider und Geschmeide für den Ball zuwerfen (KHM 21), im Märchen Von dem Machandelbaum (KHM 47) fliegt ebenfalls ein Vogel von eben dem Baum los, unter dem der Bruder begraben wurde und sorgt für die Strafe der bösen Stiefmutter und die Wiederbelebung des Kindes. In Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein (KHM 130) ist es wiederum das Grab, auf dem ein hilfreicher Baum wächst (auch, wenn nur die Eingeweide der zauberfähigen Ziege dort begraben sind). Lauschers Gefühle für Gisa werden von Schuldgefühlen abgelöst; zwar hat er sie von dem Zauber befreit, der sie gierig und böse hat werden lassen, doch verliert sie dadurch auch ihre menschliche Gestalt. Dennoch vergisst er sie recht bald, als er auf Narzia trifft. In seiner zweiten Liebesgeschichte finden sich gleich zwei klassische Märchenkonfigurationen wieder. Zunächst übernimmt Narzia die Rolle der Rätselprinzessin, um deren Hand Lauscher zu drei Fahrten aufbricht. Gelingt es ihm, alle drei Aufgaben zu meistern und Narzia drei Liebesbeweise zu bringen, darf er sie heiraten. 162 163 Ebenda, S.27f. Ebenda, S.578 102 Bemmann variiert die klassischen drei Aufgaben, die der Bewerber bestehen muss, ehe er die Prinzessin heiraten darf, indem er sie logisch in die Mentalität der Beutereiter einfügt, deren Sitten dies von allen Freiern verlangen; eine solche Erklärung wird in Märchen nie gegeben. Dass Narzia Lauschers romantischen Überschwang nicht teilt, erkennt der Leser sehr schnell, denn wo er sich glühende Küsse vor Wiedersehensfreude erhofft, gewährt sie ihm nur eine flüchtige Berührung ihrer Lippen.164 Darüber hinaus thematisiert sich in der Beziehung zwischen Lauscher und Narzia als zweites der Konflikt von Unschuld und Sexualität, den Märchenforscher nach Bettelheim häufig in der Beziehung Mensch zu Tier in Märchen erkennen. In Adulenzenzmärchen wie Rotkäppchen und Märchen vom Tierbräutigam wie dem Froschkönig symbolisiert die Verkörperung des Mannes als Tier die Hilflosigkeit und Ohnmacht der unerfahrenen Mädchen gegenüber der Sexualität. Auf das Tierbräutigam-Motiv gehe ich noch einmal gesondert ein (vgl. 4.2.2.). Die Liebesbeziehung zwischen Arnilukka und Lauscher variiert wiederum die Beziehung zwischen Lauscher und Narzia. Beide Frauengestalten trifft er kurz hintereinander, denn Arnilukka begegnet er auf der ersten Fahrt, die er für Narzia unternimmt. Auch hier wird er gleich von ihren Augen gefangen genommen, die nun keine Leerstelle im Farbenspektrum mehr offen lassen – nach Gisas lediglich blauen und Narzias nur grünen Augen vereinen Arnilukkas Augen wie der Stein blau, grün und violett. Somit entfällt auch der sonst übliche Vergleich mit einem Edelstein (Gisas Augen sind wie Saphire, Narzias wie Smaragde), denn Arnilukkas Augen sind wie der Stein. Über diesen Stein führen die beiden Liebenden eine Kommunikation jenseits von Zeit und Raum, in deren Verlauf der Stein sich wiederum Arnilukkas Augen anpasst. Die erste Vision eines Gesichts hat Lauscher, nachdem seine Großmutter ihn im ersten Buch in einem tranceähnlichen Zustand auf die junge Frau 164 Ebenda, S.362 103 aufmerksam gemacht hat, die sie aus dem Stein anschaut165. Auch Lauscher ist zu dieser Zeit noch recht jung, so dass es sich lediglich um erste Andeutungen der Liebesgeschichte handelt, doch je öfter er von nun an den Stein betrachtet, um so klarer erhält er ein Bild von der Frau: im ersten Winter an Barlos Seite kann er bereits ihre Stimme hören und glaubt, ihre Augen zu sehen166, kurz vor Ende seiner Lehrzeit erblickt er schon ein Gesicht, „und er wusste nicht, war es das Gesicht einer uralten Frau oder eines Kindes, unter dessen Blick sein herz wieder anfing zu schlagen, und dann hörte er wieder diese Stimme, die wie von weither läutende Glocken klang“167 Zum Zeitpunkt ihres ersten realen Treffens ist Arnilukka noch ein Kind, und entsprechend unschuldig gesteht sie dem Flöter, dass sie ihn mag. Schon in dieser ersten Zeit geben sie einander Schutz; allerdings ist es beim Ritt durch den Schauerwald nur Lauscher, der Arnilukka schützt: Er erzählt ihr Geschichten, um ihre Angst zu vertreiben168, und tötet Gisa. Deren Andeutungen, weshalb sie das Kind töten wollte, versteht er nicht: „Vielleicht habe ich gemeint, ich könne dich zurückgewinnen, wenn ich das Kind aus der Welt schaffe. (…)“ „Was hat Arnilukka damit zu tun?“, fragte Lauscher. „Du kannst nicht erwarten, dass ich dir das erkläre“, sagte Gisa. 169 Auch die weitere Beziehung zwischen Lauscher und Arnilukka ist eher vom Schutzbedürfnis gegeneinander geprägt, obgleich zu diesem Zeitpunkt in Lauschers Träumen eine deutlichere Sprache gewählt wird, denn etwa im süßen Traum tritt Arnilukka bereits als Erwachsene und als Ziel seiner sexuellen Gelüste auf. Grund für diese Trennung ist der Alters- und Reifeunterschied, denn während Lauscher die Pubertät beendet hat und mit etwa einundzwanzig Jahren als erwachsen gelten muss, ist Arnilukka noch ein Kind. Die Liebesgeschichte zwischen den beiden muss also auf eine mystische Ebene der Zeitlosigkeit verlegt werden, in der die gereifte Arnilukka auf Lauscher zurückblicken kann und durch den Stein in Visionen und Träumen mit ihm in Verbindung tritt. Von dreien dieser Begegnungen berichtet sie Lauscher nach dessen Erlösung. 165 Ebenda, S.52 Ebenda, S.93f. 167 Ebenda, S.185 168 Ebenda, S.346f. 169 Ebenda, S.350 166 104 Die Liebesgeschichte zwischen den beiden endet entgegen aller Gattungszwänge mit ihrer Trennung – und ihrer gemeinsamen Tochter Urla. Arnilukka heiratet Belarni, während Lauscher alleine durch die Welt zieht und von den Blutaxtleuten verschleppt wird. Nun kann man zwar interpretieren, dass Belarni durch seinen Namen und seine Familiengeschichte mehr Anrecht auf eine Ehe mit Arnilukka hat (beide tragen Arni im Namen, der mit Arnilukkas Großmutter verheiratet war, und durch den Trick, dass Belarni nur angenommenen Sohn Hunlis ist, wird auch das Tabu der Blutschande geschickt umgangen); und ebenso kann man darauf hinweisen, dass auch bei späteren Besuch das Band zwischen Arnilukka und Lauscher noch ein herzliches ist; einen Sinn ergibt diese Trennung aber nur mit Blick auf die Struktur des Romans, dessen Dreiteilung noch mindestens zwei Kapitel einforderte und in dem der Konflikt zwischen Lauscher und Narzia noch nicht beendet ist. Mit der Hochzeit wäre allerdings der Zwang aufgetreten, dass sie glücklich und zufrieden leben würden bis an das Ende ihrer Tage. 5.5.2.Tierbräutigam Im Tierbräutigam-Motiv überschneiden sich die Liebes- und Erotikvorstellungen, denn das stark Sexualisierte führt zur Verwandlung in den Faun, während die reine Liebe zur Erlösung führt, da „das Tierische des Partners erst durch wahre Liebe überwunden werden muss“170. Nachdem Narzia ihrer Rolle als Rätselprinzessin abgelegt hat, kommt es zur Hochzeit und damit zur Konfrontation der unschuldigen Narzia mit dem bereits durch Gisa erfahrenen Liebhaber Lauscher. Narzia erschrickt jedoch bei Lauschers Anblick, und es kommt zur Verwandlung. Er sah nur noch Narzias grüne Augen, als er auf das Lager zuschritt, doch sobald er in den Lichtschein der Kerze trat, weiteten sich diese Augen zu einem Ausdruck von Entsetzen. „Nein!“, schrie Narzia, und in ihrem verzerrten Gesicht stand Abwehr und blankes Grauen. „Ein Fell wie ein Tier!“, flüsterte sie tonlos und starrte auf die Mitte seines Körpers. Und dann schrie sie wieder gellend: „Ein Fell wie eine Tier! Du bist wie eine Tier!“ Sie kauerte sich zusammen und umklammerte ihren Körper mit beiden Armen, als wolle sie ihn vor dem Zugriff dieses haarigen Unholds schützen oder vielleicht auch, weil ihr bewusst wurde, dass sie unfähig war, irgendetwas von sich selbst preiszugeben und fremden Händen auszuliefern.171 170 171 Röhrich, Sage und Märchen, S.14 Stein und Flöte, S.449 105 Vergleicht man Narzias Reaktion nun mit Bettelheims Ausführungen über den Tierbräutigam172, entdeckt man gewisse Parallelen. Die Verwandlung in das Tier, das nur auf das Verlangen seines Es instinkthaft reagiert, geschieht auch in Stein und Flöte im Augenblick der direkten Auseinandersetzung mit der Sexualität. Narzia, die bisher stets selbstbestimmt und gelassen und sogar in für Lauscher als romantisch erwarteten Augenblicken beinahe kühl geblieben ist, fällt hier in kindliche Angst- und Abwehrhaltung zurück. Auch handelt es sich hierbei um eine von Narzia als Bedrohung aufgefasste männliche Sexualität, was sich mit Bettelheims Analysen deckt. „So hat man den Eindruck, dass das Märchen zwar die Sexualität ohne Liebe und Hingabe als tierisch hinstellt, dass aber wenigsten in der westlichen Tradition ihre Tieraspekte nicht bedrohlich, sondern sogar liebreizend erscheinen, wenn es sich um ein Mädchen handelt; nur die männlichen Aspekte der Sexualität erscheinen tierhaft.“173 Beide Beobachtungen treffen zu: Trotz Eheversprechen handelt es sich um eine Sexualität, in der nur von Lauschers Seite Liebe und Hingabe entgegen gebracht werden. Von derselben Quelle tritt nun auch die Tierhaftigkeit auf. Weder Lauscher noch Narzia sind tatsächlich integriert, sondern stehen im Missverhältnis zur Gesellschaft; in Lauschers Fall verhindern Eigenansprüche und Selbstsicht die Erkenntnis, dass er wie eine Schachfigur genutzt worden ist und keinesfalls als der strahlende Held betrachtet wird, der er gern sein möchte. Auch sein Bild von Narzia ist gestört, da er davon ausgeht, in ihrem Einverständnis zur Hochzeit den Beweis zu haben, dass sie seine Gefühle erwidert. In der Hochzeitsnacht wird aus diesem gestörten Verhältnis die Konsequenz gezogen, und es kommt zum Bruch. Bettelheim stellt drei Hauptzüge der Märchen über den Tierbräutigam heraus: Erstens erfahren wir nicht, auf welche Weise und weshalb der Bräutigam in ein Tier verwandelt wurde, und das, obwohl die meisten anderen Märchen uns über solche Dinge aufzuklären pflegen.174 Stein und Flöte verrät diese Umstände im Gegensatz zum Märchen; der Roman hebt sogar den Grund hervor, weshalb die Verwandlung nur zur Hälfte glückt und Lauscher statt in einen Ziegenbock in einen Faun verwandelt wird. 172 Bettelheim: Kinder brauchen Märchen, S.324-364 Ebenda, S.334 174 Ebenda, S.331 173 106 Zweitens hat eine Zauberin die Verwandlung vorgenommen, wird aber für ihre Untat nicht bestraft.175 Auch in Stein und Flöte ist es eine weibliche Figur mit Zauberkraft, die den Zauber ausspricht. Eine direkte Bestrafung entfällt ebenfalls, auch wenn Narzia im Verlauf des Romans eine Generalstrafe für ihre Handlungen erhält und erst ihre Macht, dann ihre menschliche Gestalt und zuletzt ihre Jugend und das Leben verliert. Drittens veranlasst der Vater die Heldin dazu, das Tier zu heiraten, und sie tut es aus Liebe zum Vater oder aus Gehorsam gegen ihn; die Mutter spielt vordergründig keine Rolle dabei.176 Dieser Zug entfällt im Roman komplett. Weder wird Narzia zur Heirat gedrängt oder gezwungen, auch wenn Höni diese Entwicklung unterstützt, sondern ist selbst die treibende Kraft in der Verbindung, noch ist dies bei Arnilukka, der späteren Heldin der Tierbräutigamssequenz, der Fall. Bei Arnilukka und Lauscher kommt es nicht einmal zur Ehe, sondern lediglich zu Sex und einer gemeinsamen Tochter; die bürgerliche und romantische Legitimation bleibt ihnen versagt. 5.5.3. Erotik „Die KHM der Brüder Grimm scheinen – mindestens vordergründig – jeder Erotik zu entbehren.“177 Diese Feststellung trifft Röhrich und begründet sie damit, dass zeitgenössische Moralvorstellungen, weibliche Quellen und Kinder als Zielgruppe Argumente dafür waren, dass erotische Anspielungen aus den KHM gestrichen wurden (während sie in arabischen Kulturkreisen, wo männliche Erzähler und andere Moralvorstellungen vorherrschen, durchaus in Märchen vorhanden sind)178. Stein und Flöte kennt diese Bedenken gegen erotische Anspielungen oder Beschreibungen nicht179. Das erste Treffen zwischen Gisa und Lauscher endet damit, dass sie die Nacht gemeinsam verbringen und Gisa Lauscher zu ihrem Liebhaber macht. Lauschers Sehnsucht nach Narzias Körper wird ebenso 175 Ebenda, S.331 Ebenda, S.331 177 Röhrich: „und weil“, S.43 178 Ebenda, S.41-48 179 Neuhaus liest gar eine „starke erotische Spannung“ aus dem Roman; vgl. Neuhaus: Märchen, S.329 176 107 beschrieben wie seine Träume, die sexuell kodiert gelesen werden können (vgl. 3.2.2.11.) Arni wird vom Kluibenschedl gefragt, ob er es mit kleinen Kindern treibt180. Lauschers Genitalien, die in seiner faunischen Form nur von Fell bedeckt sind, erschrecken Arnilukka, als sie ihm noch als halbes Kind begegnet, und vertreiben sie auch nach Lauschers Erlösung: „Es hat mich erschreckt, als dein Fell plötzlich nicht mehr von Stein war und dein Körper sich regte.“181 Erotik wird als Teil des Charakters der Figuren erfasst und beschrieben, so dass sie im Verlauf des gesamten Romans den gleichen Rang wie Liebe einnimmt, hinter dem bürgerliche Begriffe wie die Ehe zurücktreten (keine der beiden Frauen, mit denen Lauscher schläft, ehelicht er zuvor oder anschließend; die Ehe, die er schließt, wird nicht vollstreckt, da Narzia ihn zuvor verwandelt). 5.6. Musik und Magie Stein und Flöte ist auch die Geschichte eines Musikers, der über seine Kunst Einfluss auf das Geschehen in seiner Umgebung zu nehmen versucht. Zwar wird schon früh der Mythos der Musik als Zaubermusik gebrochen, wenn der Sanfte Flöter Barlos herausgeschnittene Zunge nicht einfach heilen kann182, doch bleibt die Flötenmusik bis zum letzten Handlungsort des Romans, dem verklärten Jenseits, in dem der Sanfte Flöter ohne Instrument flötet, Trägerin einer wirklichkeitsändernden, quasi magischen Macht. Dies wiegt umso stärker, da Magie innerhalb des Romans im Vergleich zu anderen Fantasybüchern sparsam eingesetzt wird. „Die Welt der Fantasy ist somit in einem ganz besonderen Sinne eine Welt, die aus Sprache aufgebaut ist; es verwundert darum auch nicht, dass die Sprache die Möglichkeit gibt, diese Welt zu verändern.“183 Zauberformeln und Beschwörungen, die traditionelle Form, mit Sprache die Wirklichkeit zu formen, finden sich im Roman jedoch wenig; lediglich das Versprechen, das Gisa den Wölfen gibt und das sie einholt, als sie sich in Lauscher verliebt, und Narzias Befehle, z.B. „Sprich wie 180 Stein und Flöte, S.233 Ebenda, S.659 182 „‚So meinst du das also’, sagte Lauscher ein wenig enttäuscht. ‚Ich hatte angenommen, du brauchst nur ein paar Töne auf deiner Silberflöte zu spielen, und schon kann er wieder reden.’“; Stein und Flöte, S.54 183 Pesch: Fantasy, S.163 181 108 ein Mensch, kleine Urla!“184 oder das abgebrochene „Sei ein …“185 können hier als Fallbeispiele angeführt werden. Zu magischen Vorkommnissen zählen in erster Linie die Verwandlungen in Tiere oder Tierartige (instrumentalisiert durch Ring und Kette), die magischen Visionen, die durch den Augenstein hervorgerufen werden, die wundersamen Wirkungen der Kräutertränke aus Falkenor, deren kryptische Beschriftungen zukunftsahnende Kraft haben, und eben die Musik. Dass Musik eskapistische oder zauberhafte Wirkungen vermitteln kann, zählt zu den modernen Mythen, die wir längst akzeptiert haben; ihre Wirkung im Einsatz als Film- oder Werbemusik ist untersucht, und auch in den allgemeinen Sprachgebrauch ist dieser ‚Zauber der Musik’ übergegangen. In Märchen wird diese Floskel jedoch zu fiktiver Wirklichkeit. „Diese zentrale Rolle des Musikinstruments in diesen Märchen kann man kurz als ‚magische Funktion’ umschreiben. Im Märchen wird ein Instrument nicht aus künstlerischen Gründen und nicht zur Unterhaltung gespielt, es dient vielmehr zur magischen, zauberischen Erwirkung einer Handlung.“186 Musik nimmt also einen gleichwertigen Rang zur Magie innerhalb der Märchen ein. Auch in den KHM wird sie nicht um ihrer selbst willen gespielt. Der wunderliche Spielmann (KHM 8) lockt mit seiner Musik Tiere herbei und bezaubert einen Holzfäller, um ihn gegen die Tiere zu unterstützen. Für Rapunzel (KHM 12), die im Turm eingesperrt ist, bleibt der Gesang die einzige Methode, ihre Außenwelt zu erreichen und damit Gesang den Prinzen anzulocken – wenn sie dies auch unbewusst tut. Hans mein Igel (KHM 108) lockt ebenfalls mit seiner Dudelsackmusik die Menschen zu sich In KHM 28 wird aus dem Knochen eines Ermoderten das Mundstück für ein Blasinstrument geschnitzt; die Musik, die darauf gespielt wird, entlarvt den Mörder. Der Heldin und dem Liebsten Roland (KHM 56) gelingt die Flucht vor der Hexe einmal, indem die Hexe durch Zaubermusik zum Tanz gezwungen wird. 184 Stein und Flöte, S.756 Ebenda, S.757 186 Schmidt: Kulturgeschichtliche Gedanken zur Musik im Märchen, S.210 185 109 Die Musik in Stein und Flöte wird zu ähnlichen Zwecken genutzt. Der Sanfte Flöter nutzt sie, um Zornige zu besänftigen (etwa Barlo, als er seinen Enkel vor dessen Wut rettet187, oder die Beutereiter bei ihrem Angriff auf die Bärenleute188) bzw. um Menschen damit Freude zu bringen, durch welche sie ihren Stolz vergessen können (z.B. in der Liebesgeschichte des Bauern189). Barlo nutzt ähnlich wie Rapunzel und Hans mein Igel die Musik zur Kommunikation; da ihm die Artikulation menschlicher Sprache genommen wurde, ersetzt die Musik ihm die Stimme. Dieser Ersatz geht nicht nur soweit, dass seine ungefähre Stimmung übermittelt werden kann, sondern dass seine Zuhörer die unausgesprochenen Strophen seiner Lieder verstehen190 und schon nach kurzer Zeit mitsingen können: Voran ritt Barlo und flötete ein Lied, das alles aus den Häusern trieb, die noch bei ihrem Frühstück gesessen hatten. Die anderen Musikanten nahmen die Melodie auf, und bald sangen viele den Text mit; denn Barlo beherrschte seine Sprache inzwischen auf eine Weise, dass jeder den Sinn seines Spiels verstehen konnte.191 Döli missbraucht seine Musik, um Hohn und Spott über die Goldschmiede aus Arziak auszuschütten192 (vgl. Flötenwettbewerb), ebenso wie Lauscher aus Eigennutz seine Musik immer wieder dazu genutzt hat, um andere Menschen oder Tiere damit zu manipulieren. Schneefink schließlich, der fünfte Flöter des Romans, übernimmt die Tugenden der Flöter vor ihm, indem er es ebenfalls vermag, Geschichten und Worte mit seiner Musik zu übermitteln, übt dabei aber niemals Zwang auf die Zuhörer aus und übertrifft seinen Lehrmeister noch in seiner Kunstfertigkeit193. Auf diese Weise wird Musik nie um ihrer selbst gespielt. Sie drückt Emotionen aus oder erzählt ganze Geschichten, lenkt und leitet Menschen oder zwingt ihnen den Willen des Musikanten auf. 187 Stein und Flöte, S.32f. Ebenda, S.49 189 Ebenda, S.92f. 190 „Er nahm die Melodie der Ballade auf, und jedermann konnte verstehen, was er spielte“; ebenda, S.97 191 Ebenda, S.146 192 Vgl. ebenda, S.790ff. 193 Ebenda, S.764: „Ich habe lange genug auf ihr gespielt, doch wie ich sie hätte spielen sollen, habe ich erst von dir gelernt. Du wirst sie besser spielen als ich.“ 188 110 6. Fazit Was sagt nun diese Arbeit über Bemmanns Roman aus? Dass in einem Märchenroman Märchenmotive zu finden sind, ist nicht verwunderlich; insbesondere dann nicht, wenn man bedenkt, dass in der Literaturwissenschaft auch jene Theorie Anhänger gefunden hat, die ich in meiner Einleitung erst einmal ausgeschlossen habe: nämlich jene, die Wardetzky wie folgt postuliert hat: Die narrativen Strukturen sind vor den Märchen in die Psyche des Menschen eingeschrieben gewesen. Das Märchen bedient sich ihrer, statt sie hervorzubringen.194 Das Märchenhafte in der Literatur wäre danach nur das Herausgreifen bestimmter Strukturen der Psyche, und eine Ähnlichkeit zwischen verschiedenen Gattungen oder Genres demnach nicht mehr zwangsläufig die Befruchtung der einen durch die andere, sondern womöglich nur eine Parallelentwicklung. Also wäre es nur Zufall, dass sich bei Bemmann, der gezielt einen Roman mit einer Sammlung von Binnengeschichten verfasst hat, neben Märchenstrukturen auch Märchenmotive zu einem Werk vereinen? Oder kann man nicht vielmehr davon ausgehen, dass soviel Zufall nicht existieren kann, sondern dass jemand sehr gekonnt und gezielt mit den Stoffen und Strukturen des Märchens gearbeitet hat, dass der Autor einen märchenhaften Roman schreiben wollte, der sich an die Geschichten anlehnt, die wir alle im Laufe unserer Kindheit auf die eine oder andere Art konsumiert haben? Dies erinnert dann doch stark an Kunstmärchen-Definitionen wie denen von Wührl, der erst einmal verneint, dass es das Kunstmärchen geben kann, sondern dass darunter eine große Anzahl von Novellen- oder Romantypen gibt, die man unter dem Sammelbegriff des Kunstmärchens zusammenfassen kann195. 194 195 Wardetzky: Schöpferische Potentiale, S.196 Wührl: Kunstmärchen, S.15 111 Ebenso könnte man den Ansatz Neuhaus’ verfolgen, für den das Volksmärchen ebenso künstlich wie das Kunstmärchen geschaffen wurde und seinen Gattungsbegriff dem Vorurteil verdankt, das im 18. Jahrhundert Naturpoesie genannt wurde und von Jolles mit Einfache Formen umschrieben wurde. Für Neuhaus ist auch Stein und Flöte ein Märchen, und die Vorstellung, dass man mit dem Erstellen von Märchenstrukturen mehr erreichen könnte als eine Fleißarbeit, die das Herz der Strukturalisten erfreut, nahezu absurd.196 Allerdings stößt Neuhaus bei seiner Besprechung Bemmanns an die Grenzen seines Märchenverständnisses, wenn er keinen Grund finden kann, weshalb Arnilukka und Lauscher kein Paar bleiben dürfen. Hätte er Bemmanns akribische Freude an Dreiteilungen und die Neigung zur Verquickung von Märchen und Fantasy ähnlich aufgefasst, wie ich es tue, würde sich diese Frage nicht für ihn stellen:197 Bemmann kann die Dreierketten seines Aufbaus nicht durchbrechen, weshalb er Lauscher keine Sesshaftigkeit erlauben darf. Er bricht mit den ehernen Gesetzen des Märchens, eröffnet seinem Protagonisten dadurch jedoch neue Möglichkeiten. Wenn man die Märchenstrukturen in Stein und Flöte untersucht, kommt man nicht umhin, neben den gravierenden Gemeinsamkeiten auch die Unterschiede festzustellen, die nicht weniger wichtig sind. Bemmann hat ein rationales Moment ins Märchen eingebracht, durch das die Aufweitung der Motive zu Romanhandlungen erst möglich werden. Er erklärt, warum Figuren zu bestimmten Kenntnissen gekommen sind, indem er dem Leser zeigt, wie z.B. Lauscher auf wunderbare Weise von Belenikas Kette erfahren hat, oder indem er rationale Erklärungen für Wunder sucht198. Er entwickelt eine Persönlichkeit, die auch bereit ist, an den Anforderungen ihrer Gesellschaft zu scheitern, und führt vor, wie jemand selbst in der Welt des Wunderbaren zutiefst unglücklich und einsam werden kann. 196 Vgl. Neuhaus: Märchen, S. 5ff. Da Phantastik für ihn kein Gattungsbegriff ist, sondern nur eine „Merkmalsbezeichnung literarischer Texte“ (ebenda, S.16), kann sich ihm diese Frage sowieso nicht stellen. 198 Dies gelingt ihm z.B., wenn er Gisas Verwandlung über eine Binnengeschichte einen Grund verleiht. Sie wird nicht zur Wölfin, weil sie böse ist, sondern weil sie einen mit ihrem Blut besiegelten Pakt geschlossen hat. Dieser wiederum ist ebenfalls nicht aus ihrem abgrundtief schlechten Charakter erwachsen, sondern weil sie auf einen Betrüger hereingefallen ist, der ihre Gefühle benutzt hat, um ihren Vater zu ermorden und sich dessen Kleinod anzueignen. 197 112 Bemmanns Zauber sind ähnlich wie die Magie, die Gandalf in Herr der Ringe wirkt, subtiler und realistischer als fliegende Feuerbälle oder einstürzende Wände, denn die Magie, die in Stein und Flöte gewirkt ist, ist eine Magie der Gefühle, transponiert durch die Kunst der Musik, und der Erinnerung, transponiert in der Kunst der Erzählung. Sie kann jedoch die Grenzen des Lebens nicht dauerhaft überschreiten, und so ist der Mensch auch weiterhin Krankheit, Tod und Leiden ausgesetzt. Durch die Verweigerung solcher Wunder wie der Wiederbelebung Verstorbener oder das Nachwachsen verlorener Körperteile, gelingt es Bemmann, einen neuen Reiz im Märchen zu wecken. „Der Märchenhörer steht in der Sicherheit, dass das Erwartete auch wirklich eintreten wird.“199 Der Leser von Stein und Flöte kann dies nicht; denn Bemmann eicht die Waage aus Erwartetem und Unerwartetem neu, so dass sich der Leser nicht zurücklehnen und allein die Form der Erzählung oder des Vortrags genießen kann, sondern sich um das Schicksal der Romanfiguren sorgen muss. Der Leser kann weder darauf vertrauen, dass Lauscher und Arnilukka ein Paar werden, noch dass Urla überlebt, obwohl sie die Tochter des Helden ist. Das Wunderbare wird ein Stück weit entmachtet, so dass etwa die Wirklichkeitsstiftung des Märchens bei Bemmann nur rudimentär vorhanden ist. Wo das Märchen klare Normen aufstellt, behält sich Bemmann die Möglichkeit zur Relativierung. So schreibt er z.B. über Gisa: „Dieses Mädchen galt als das schönste weit und breit.“200 In einem reinen Märchen hätte sie nicht als solches gegolten, sie wäre das schönste Mädchen weit und breit, denn: „Im Märchen entsteht ein Mensch von vollkommenere Schönheit, ohne jeden abnormen Zug in Gestalt oder Verhalten.“201 Vollkommenheit ist aber ein Mythos, den Bemmann zerstört, denn jede Frau, die als besondere Schönheit beschrieben wird, entpuppt sich als Mensch ohne Liebe, dessen Gier dem Augenstein gilt, weil er etwas Seltenes ist, das man weder kaufen noch stehlen kann. Hier sägt Bemmann am Schein der perfekten 199 Lüthi: So leben sie noch heute, S.24 Stein und Flöte, S.82 201 Lüthi: Volksmärchen und Volkssage, S.50 200 113 Märchenfiguren, die wissen, was sie zu tun haben, aber dafür ganz entschieden an Charakter vermissen lassen, da sie unter der Feder von Jakob und Wilhelm Grimm nur reine Archetypen geworden sind, denen Erotik, Lachen und Tod fremd sind (alles Motive des Märchens, die sich bei den Vorläufern der KHM wie den Märchen von Perrault noch finden lassen202). Um noch einmal auf die Eingangsfrage zurückzukommen: Was sagt nun diese Arbeit über Bemmanns Roman aus? Nun, sie kommt zu dem Schluss, dass er sehr geschickt mit einer Vielzahl an selbst verfassten Märchen jongliert hat, die vertraute Bilder und Handlungen ansprechen, sich gegenseitig beeinflussen oder auseinander folgen und die ein breites Spektrum an Einblicken in Lauschers Welt gewähren. Bemmann nutzt die Symbolik und Strukturen des Märchens, um seine Leser auf modernere Art mit den Themen zu konfrontieren, die wir auch aus den Märchen kennen: Liebe, Tod, Generationskonflikte, Treue, Hass oder Gier. Als deutliche Stütze seiner Vorlage verleiht er dem Roman ein Korsett aus Zahlensymboliken, die womöglich etwas übertrieben sind, aber auch die Wirkung erzielen, dass man, wenn man schon nicht weiß, ob eine Liebe am Ende erfüllt ist oder nicht, doch zumindest ahnt, dass die Liebenden drei Schritte brauchen werden, um sich zu treffen oder zu trennen. Darüber hinaus sorgen Erzählstrukturen wie der Anriss der kleinen Rikka oder die Hoffnung auf den Zirbel, der Wurzeln treibt, für eine Lebendigkeit des Leitmotivs des Romans: „und das ist noch nicht alles.“ Selbst wenn Roman und diese Arbeit nun zuende sind, irgendwer wird irgendwann mit den Stoffen, Motiven und Strukturen weitermachen. 202 Röhrich: „und weil“, S.190ff. 114 7. Anhang 7.1. Liste der Binnengeschichten in Stein und Flöte Ausgewählt wurden alle längeren, zusammenhängenden und möglichst wenig unterbrochenen Geschichten, die Lauscher innerhalb des Romans vorgetragen werden. Titel mit einem * sind von Bemmann für die Geschichte ausgewählt worden; die übrigen Titel sind nach Inhalt der Erzählung und in Anlehnung an Bemmanns Titel von mir vergeben worden. Seiten Erzähler(in) Titel 38-52 62-64 70-76 78-79 82-87 91-93 102-105 113-115 120-126 132-140 151-167 Sanfter Flöter Eselwirt Rikka Furro Schäfer Bauer Gurlo Krautfass Lagosch Kurlosch Dagelor 176-180 195 206-211 226-237 242-244 265 281-282 Eldrade Goldauge Günli Sanfter Flöter Sanfter Flöter Sperling Lauschers Mutter 310-317 Narzia 432-435 Wendikar 534-539 633-636 665-675 679-687 688-691 Wazzek Barnulf Arnilukka Wazzek Wazzek 704-705 709-722 720-722 748-749 Zirbel Arnilukka Weißfeder Ruzzo Geschichte von Arni mit dem Stein * Geschichte des Eselwirts Geschichte von Urla * Geschichte von Furro dem Schmied Geschichte von Gisa und den Wölfen * Liebesgeschichte des Bauern Märchen vom fröhlichen König * Geschichte von Rübe und dem Zaubermüller * Geschichte von Schön Agla und dem Grünen * Geschichte von Arni und den Leuten am See * Geschichte vom alten Barlo und seinem Sohn Fredebar * Geschichte vom jungen Barlo * Geschichte von der Kröte, die hoch hinaus will Geschichte von der Großen Scheidung Geschichte von Arni und den Blutaxtleuten Geschichte von der Silbernen Flöte Fabel von Löwe, Nachtigall, Drossel und Spatz Geschichte vom zweiten Besuch des Sanften Flöters bei Urla Geschichte von Hönis erstem Besuch bei den Falkenleuten Geschichte vom Besuch des Sanften Flöters bei den Falkenleuten Geschichte vom Pferdesklaven Wazzek Geschichte von Gisas Machtübernahme Geschichte von Arnilukka und Narzia Geschichte von Oleg und Boleg Geschichte von den 3 Angriffen der Beutereiter auf Arziak Geschichte von dem Baum, der alles wollte Geschichte von Arnilukkas Zwickmühle Geschichte von Falke und Maus Geschichte von Ruzzo und der Karpfenschuppe 115 7.2. Liste der Lieder in Stein und Flöte Ausgewählt wurden alle Lieder, deren Text in Strophenform abgedruckt worden ist; ob es sich dabei um einen Spottvers oder eine Ballade machte, spielte bei der Auswahl keine Rolle. Die Titel sind von mir gewählt. Sänger(in) Titel Rauli Barlo Lied über Gisa Lied über den Drachen von Draglop und den Bär von Barleboog Spottlied über Gisa Spottlied über Lauscher, Barlo und dessen Antwort Spottlied über Gisas Knecht Lied über Schön Agla Trill Holzfäller und Barlo Holzfäller Marla unbekannt Arnilukka Fischermädche Schön Agla Trill Barlo Aglas Lied für den Grünen Spottlied über Barlo, Lauscher und Lagosch „Kampfgesang“ Krautfass Lauscher/Jalf Arnilukka Spottvers über Gisa Lauschers Hilferuf-Lied Haust einer im Wald alte Frau/Arnilukka Kinder von Draglop Aufforderung für den Großartigen Flöter Lauscher Ballade von Klein Rikka Arnilukka Arnilukkas Suchlied Krähen Fresslied Laianna Suchlied nach Arnilukka Eiren Wiegenlied für das Baby Birkenmädchen Steht eine im Wald Lauscher Vogellied für Arnilukka Maus Heldenlied für Der-dieHoffnung-nie-aufgibt Pferdejunker/Arnizzo Lied vom Goldwanst Döli/Lauscher Was geht uns an Grüner Antwortlied des Grünen Döli Ballade von der Fischermaid und dem alten Grafen 116 Strophen & Variationen Seite 9 Strophen 6 Strophen S.96f. S.98f. 1 Strophe 3 Strophen S.101 S.106f. 4 Strophen 6 Strophen 2 Zeilen 7 Strophen 6 Strophen 1 Strophe wiederholt S.108f. S.117f. S.271 S.486 S.639f. S.125 S.800 1 Strophe 2 Strophen 3. Strophe 1 Strophe 4 Strophen 3 Strophen 1. Strophe wiederholt 2. Strophe wiederholt wiederholt 1 Strophe S.144 S.146 S.181 S.186 S.214ff. S.249 S.613 5 Strophen 5 Strophen 1 Strophe 1 Strophe 1 Strophe 3 Strophen 1 Strophe 3 Strophen S.328 S.487 S.557 S.571 S.620 S.661 S.662 S.695 4 Strophen 2 Strophen 2 Strophen 7 Strophen S.780ff. S.790f. S.800 S.801ff. S.641 S.652f. S.255 8. Literaturliste Primärliteratur BEMMANN, Hans: Stein und Flöte und das ist noch nicht alles. Stuttgart 2000. BRÜDER GRIMM: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. 3 Bände. Stuttgart 2001. ENDE, Michael: Die Unendliche Geschichte. Stuttgart; Wien 2001. TOLKIEN, J.R.R.: Der kleine Hobbit. Deutsch von Walter Scherf. München 2002. Derselbe: Der Herr der Ringe. 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