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6. Vorlesung
Descartes
I. Das vorstellende Verhältnis zum Seienden. Der Mensch als Subjekt. Die
Wahrheit als Gewißheit.
Meditationen über die Grundlagen der Philosophie – 1 (siehe die Anlage).
Der Anspruch des Menschen auf einen von ihm selbst gefundenen und
gesicherten Grund der Wahrheit entspringt der Befreiung aus der Verbindlichkeit der
biblisch-christlichen Offenbarungswahrheit und der Kirchenlehre. An die Stelle der für
alle Wahrheit maßgebenden Heilsgewißheit tritt die Gewißheit des auf sich selbst
gestellten Menschen. Descartes Philosophie vollzieht diesen Wandel und eröffnet damit
das Bereich, darin sich die neuzeitliche Methaphysik und Geschichte bewegen werden.
Ihr Grundsatz lautet: ego cogito (ergo) sum. Seine wörtliche und geläufige
Übersetzung/Auslegung ist: Ich denke, also bin ich. Doch gebraucht Descartes an
wichtigen Stellen für cogitare das Wort percipere – etwas in Besitz nehmen, einer Sache
sich bemächtigen, und zwar hier im Sinne des Sich-zu-stellens von der Art des Vor-sichstellens. Zu-gestellt, vor-gestellt ist etwas dem Menschen erst dann, wenn es ihm festund sichergestellt ist als das, worüber er verfügen kann. Das cogitare ist immer ein
Denken im Sinne des Be-denkens, das darauf zielt, nur das Bedenkenlose als Wahre
gelten zu lassen. Das Zweifeln ist kein Hin-und-her-Schwanken, vielmehr wesenhaft auf
das Unbezweifelbare bezogen. Das Vor-stellen ist eigentlich ein Sicher-stellen. Der
Gegen-stand ist das in einem gesicherten und verfügbaren Zustand Vor-gestellte.
Descartes sagt weiter: Jedes ego cogito ist cogito me cogitare, d.h. jedes „ich
stelle etwas vor“ stellt zugleich „mich“ vor, den Vorstellenden. Das besagt keineswegs,
dass bei jedem Vorstellen von einem Gegenstand auch noch, gleichsam als Zugabe, der
Vorstellende als ein solcher vorgestellt und zum Gegenstand werde. Er ist mit vorgestellt
als dasjenige, auf das zu und auf das zurück das Vorgestellte hingestellt wird. Das
Vorgestellte ist mir vorgestellt, vor mich gestellt. Es verweist also immer auf die
Vorhandenheit des Vorstellenden. Dies kann auch so ausgedrückt werden: das
menschliche Bewußtsein ist wesenhaft Selbstbewußtsein. Das will sagen: Das
Bewußtsein meiner selbst kommt nicht zum Bewußsein von den Dingen hinzu, gleichsam
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als ein neben diesem herfahrender Beobachter, sondern das Bewußtsein von den Dingen
ist in seinem Grunde Selbstbewußtsein. Das Selbst des Menschen stellt sich dem
Vorgestellten unter, d.h. er ist das zum Grunde Liegende, sub-iectum. Auch vor
Descartes hat man schon gesehen, dass das Vorstellen und sein Vorgestelltes auf ein
vorstellendes Selbst bezogen sind. Das entscheidend Neue ist hier aber, dass dieses Selbst
zum Subjekt, zum Fundament alles Seienden wird.
Mithin ist Descartes Satz keine Schlußfolgerung. Im menschlichen Vorstellen
eines Gegenstandes ist schon zugleich das, wogegen er steht oder wovor er gestellt ist,
da.
Indem der Mensch zum Subjekt, zum Grunde Liegenden wird, kann Descartes
seinem Satz auch die Fassung geben: sum res cogitans. Das besagt nicht: Ich bin ein
vorhandenes Ding, das mit der Eigenschaft des Denkens ausgestattet ist, sondern: Ich bin
ein Seiendes, dessen Art zu sein im Vorstellen besteht. In allem Ich-sagen versteckt sich
eine Zweideutigkeit. Einmal meint es ich selbst, das Selbstsein, das auch dem „Wir“
eignet. Zum anderen meint es den vereinzelten Menschen in seiner Besonderung als
diesen und keinen anderen. Descartes Satz bezieht sich auf das erste Ich, auf das
Selbstsein als vom Wesen des Vorstellens her bestimmtes. Der Mensch ist nicht dadurch
Subjekt, dass er sich gegen die Welt, gegen das Objekt abkapselt, vielmehr dadurch, dass
er sich das Objekt im geklärten Sinne vorstellt und so er sich in seinen Gund setzt.
Allerdings ist dieses vorstellende Selbst, genauso wie den von jedweder Situation
abgesonderten und an seiner Eigentümlichkeit gewendeten Menschen, wiederum
transsituativ, da es der beständig anwesende Grund des Seienden, also vorhanden ist.
Dass Seiendheit Vor-gestelltheit besagt, bedeutet zwar keineswegs, das Seiende sei eine
bloße Vorstellung, ein Vorkommnis im menschlichen Kopf. Das vorgestellte Seiende ist
durchaus faktisch, „reel“. Es ist aber nicht so, wie es an sich selbst wäre, d.h. von einem
ereignishaften Zusammenhang aus, sondern virtuell bearbeitet, gemeistert, die
Materialisierung einer ihm vorausgedachten Form.
Die Wahrheit wird zur Gewißheit, in welcher Gewißheit entscheidend bleibt, dass
der Mensch als Subjekt seiner selbst gewiß und sicher ist. Die Methode, das Vor-gehen
erhält jetzt ein methaphysisches Gewicht, da das Seiende auf seine Sicherstellung hin
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erschlossen wird. Sie ist nicht mehr nur die Abfolge der verschiedenen Schritte, sondern
die Vorstellungsweise, der Weg zur Zustellung und Beherrschung des Seienden.
II. Das Sein als Substantialität. Die Ausdehnung als Wesen der körperlichen
Substanz. Leib-Seele-Dualismus. Der Leib als Maschine.
Descartes unterscheidet das „ego cogito“ von „res corporea“. Diese
Unterscheidung bestimmt künftig die von „Geist“ und „Natur“ in allen ihren
Umwandlungen. Wichtiger ist hier aber, dass er die Gegensatzglieder als Substanzen
versteht. Der Titel „substantia“ bedeutet das an ihm selbst Seiende, das, was, um zu sein,
keines anderen bedarf, d.h. was nicht von seiner Teilnahme an einem situativen
Zusammenhang her bestimmt ist. Noch jetzt ist es zu sehen, dass dieses Verständnis in
vollem Einklang mit der Notwendigkeit steht, die beiden Seiten des Vorstellens als
vorhandenen zu denken – da sie transsituativ sind. Die Substanzen werden allein in ihren
„Attributen“ zugänglich, und jede Substanz hat eine ausgezeichnete Eigenschaft, an der
ihr Wesen ablesbar wird. Descartes zufolge macht das Wesen der körperlichen Substanz
die Ausdehnung nach Länge, Breite und Tiefe aus. Der Beweis dafür vollzieht sich in der
Weise, dass gezeigt wird, wie alle anderen Bestimmtheiten dieser Substanz, vornehmlich
divisio, figura und motus, nur als modi der extensio begriffen werden können. So kann
ein Körperding bei Erhaltung seiner Gesamtausdehnung doch vielfach die Verteilung
derselben nach verschiedenen Dimensionen wechseln und sich in mannigfaltigen
Gestalten als ein und dasselbe Ding darstellen. Die Bewegung wird auch aus der extensio
begriffen: indem das Substantielle eines Körperdings seine Ansich, d.h. das nicht
wegzunehmende, das ständig bleibende an ihm ist, und dieses in seiner Ausdehnung
erkannt wird, indem also das Körperding etwas „volles“, eine Stelle besetzendes und von
dieser Stelle alles Andere ausschließendes darstellt, ist seine Bewegung nichts anderes als
einen Ortwechsel. Hier werden die Orte als abstrakte Punkte seiner Vorhandenheit im
homogenen und leeren, 3D-Raum. Bestimmungen wie durities (Härte), pondus (Gewicht)
und color (Farbe) können weiterhin aus der Materie weggenommen werden, sie bleibt
doch, was sie ist. Sofern sie sind, erweisen sie sich wiederum als Modi der extensio.
Härte z. B. wird im Tasten erfahren. Die harten Dinge „widerstehen“ der Handbewegung,
etwa einem Wegschiebenwollen. Würden die „nichtweichenden“ Körper degegen mit
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derselben Geschwindigkeit ihren Ort wechseln, in der sich der Ortwechsel der die Körper
„anlaufenden“ Hand vollzieht, dann käme es nie zu einem Berühren, Härte würde nicht
erfahren und auch nie sein.
Die Ausdehnung tritt als diejenige Charakteristik des nicht-menschlichen
Seienden hervor, die dem Verständnis des Seins als Substantialität, d.h. als
Vorhandenheit genügt. Indem andererseits Descartes das Sein der Materie so denkt, kann
es nicht verwundern, dass er es aus einer seienden Beschaffenheit ableitet. D.h. das Sein
ist nicht mehr das, was das Seiende erst bestimmt und zum Vorschein bringt, sondern im
Gegenteil, es wird vom letzten her verstanden. Während also der Vorstellende vorhanden
als etwas zwar unausgedehntes, aber auf sich selbst als den Bestimmenden ständig
verweisendes ist, ist das Vorgestellte als etwas ausgedehntes, doch unbestimmtes und
verfügliches vorhanden. Die angemessene Zugangsart zum Seienden, dessen Sein
Descartes mit der extensio gleichsetzt, ist das Erkennen, die intellectio, und zwar im
Sinne der mathematisch-physikalischen Erkenntnis. Diese gilt als diejenige Erfassungsart
von Seiendem, die der sicheren Habe seines Seins jederzeit gewiß sein kann. Die
Mathematik ist bei Descartes keine zufällig besonders geschätzte Wissenschaft, sondern
genügt in einem ausnehmenden Sinne seinem Seinsverständnis, indem sie nur das
immerwährend Bleibende erkennt, d.h. indem durch sie solches am Seienden zugänglich
wird. Aus dieser grundsätzlichen ontologischen Orientierung heraus unterordnet
Descartes das andere Modus der Anschauung als die Zugangsart zu einem vorhandenen
Seienden, die sensatio (Einbildung) gegenüber der intellectio (die Anschauung ist jenes
Verhältnis zum Seienden, das es als vorhanden erschließt, weil sie einem transsituativen
und teilnehmungslosen Beobachter zugehört. Das besagt, die echte Erkenntnis des
Seienden sei von den Sinnen, d.h. vom Leib, und d.h. von einer Eingeschriebenheit in die
jeweilige Situation ganz unabhängig.
Insoweit außerdem nach Descartes die Dinge ausgedehnt, d.h. vorhanden, d.h.
auseinander liegend sind, befinden sie sich, trotz der eigenen Überzeugung des
Philosophen, in einem galileisch- newtonschen Raum, in einem homogenen und leeren
Behältnis deren Nebeneinanders. Das ist gerade der Raum, in dem sich das transsituative,
„leiblose“ Denken bewegt, der später als apriorische Form dieses Denkens gelten wird.
Meditationen über die Grundlagen der Philosophie – 2, 5, 6 (siehe die Anlage).
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Das Ich, die Seele ist mit dem Körper gleichsam behaftet. Sie bilden keine
Einheit, zwischen ihnen besteht auch keine Ähnlichkeit. Die beiden verhalten sich als
zwei exakt gleichgehende Uhren zueinander. Wenn z. B. die eine „Schmerz“ zeigt, zeigt
die andere „Traurigkeit“. Es geht also nicht darum, dass die Idee der Seele Abdruck,
Abbild eines sinnlichen Eindrucks ist, sondern darum, dass zwischen ihnen als völlig
heterogenen eine Entsprechung, Korrespondenz besteht. Das höhere Wesen ist die Seele,
für die der Leib als eine steuerbare Maschine fungiert.
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