Vorwort - Buecher.de

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Vorwort
65 Fälle
aktiv en
bearbeit
wogene Diagnose, die erstens stark von der
Herangehensweise des einzelnen Psychiaters
oder Psychotherapeuten geprägt sein wird
und zweitens weiterhin dynamisch beurteilt
werden muss. Gerade in der Abgrenzung un−
terschiedlicher Persönlichkeitsstörungen, Psy−
chosen und affektiver Störungen, die kombi−
niert vorliegen oder ineinander übergehen
können, sind langfristige Verlaufsbeobachtun−
gen nötig. Psychiatrisches Wissen lässt sich
nur in der jahrelangen Auseinandersetzung
mit den Patienten, den Kollegen und den eige−
nen Einstellungen erwerben.
Wir wollen mit diesem Buch Interesse und
Neugier wecken. Wir wollen zeigen, dass es
sich sowohl von biologischer, als auch von
psychologischer als auch von soziologischer
Seite her lohnt, dem Fach Psychiatrie näher zu
kommen, damit die eventuelle Angst vor einer
Prüfung nehmen und vielleicht den einen
oder anderen Examenskandidaten in ein
psychiatrisches Krankenhaus (als Ärztin oder
Arzt!) und die entsprechende Facharztausbil−
dung zu locken. Die besondere Faszination
dieses Fachs liegt in der Verknüpfung der
oben genannten Herangehensweisen, die sich
derzeit beeindruckend in der modernen Hirn−
forschung niederschlägt, in der begonnen
wurde, psychologische Prozesse mit neurona−
len Netzwerken inhaltlich zu verbinden.
Wir widmen dieses Buch von Seite J. Becker−
Pfaff dem Lehrer und Freund W. Philippi und
von der Seite S. Engel seinem Vater.
Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern
gute Erfahrungen in der Psychiatrie und Psy−
chotherapie!
Stuttgart,
im Januar 2010
Johannes Becker−Pfaff
Stefan Engel
aus: Becker-Pfaff, u.a., Fallbuch Psychiatrie (ISBN 9783131401823) © 2010 Georg Thieme Verlag KG
Vorwort
Warum haben wir dieses Buch geschrieben? –
Uns reizte die Möglichkeit, unser klinisches
Wissen weitergeben zu können, unsere Erin−
nerungen an die eher unzureichend vorberei−
tende Literatur auf mündliche Examina, der
eher niedrige Stellenwert, den die Psychiatrie
und Psychotherapie in unserer universitären
Ausbildung hatte und unsere Überzeugung,
dass dieser mehr Beachtung zukommen sollte.
Sowohl die teilweise schwerst erkrankten Pa−
tienten, als auch das Fach selbst mit seinen
theoretischen Gebäuden, seinen unterschied−
lichsten ätiologischen und therapeutischen
Theorien und Anwendungen haben mehr Auf−
merksamkeit verdient, als ihnen in der ärztli−
chen Ausbildung zukommt. Der Stolz auf und
die Freude an unserem Fach waren vermutlich
der wichtigste Grund, dieses Buch zu schrei−
ben.
Der Arzt−Patient−Kontakt, die Anamnese und
die Beobachtung der Beziehungsgestaltung
des Patienten sind – neben aller Bedeutung
der ergänzenden Verfahren – das zentrale
diagnostische Instrument der Psychiatrie und
Psychotherapie. Das Konzept dieses Buches
konnte die Komplexität der dabei ablaufenden
Prozesse und Erkenntnisse nicht angemessen
darstellen. So könnte bei der Lektüre der Fälle
der Eindruck entstehen, dass man mithilfe
weniger Fragen und Eindrücke eine psychische
Krankheit diagnostizieren könnte. Wir möch−
ten ausdrücklich darauf hinweisen, dass dem
nicht so ist, sondern dass die psychiatrische
Diagnostik ein sehr viel schwierigeres und
komplexeres Unterfangen ist als es im Rah−
men der Struktur dieses Buches darzustellen
ist. Es wäre korrekter gewesen, bei den meis−
ten in unserem Buch gestellten Diagnosen je−
weils ~Verdacht auf . . .“ zu schreiben, doch mit
dieser Herangehensweise wäre das Buch wohl
kaum mehr flüssig lesbar gewesen und hätte
seiner Zielsetzung ~Prüfungsvorbereitung“
nicht mehr gerecht werden können.
Häufig erlauben nur langfristige Verlaufsbe−
obachtungen und Supervisionen eine ausge−
V
Fall 3
29−jähriger hilflos wirkender Mann
Fall
3
4
Ende März wird Ihnen im psychiatrischen
Notfalldienst durch die Polizei ein 29−jähriger
Mann gebracht, der gegen 23 Uhr in Badelat−
schen, einer Trainingshose und einem ver−
schmutzten T−Shirt unterwegs und Passanten
aufgefallen war. Der Patient wirkt verstört,
guckt sich fragend um und scheint nicht zu
verstehen, was mit ihm vorgeht. Er spricht
kein Wort deutsch und kann anhand seines
Ausweises als Russe identifiziert werden. Er
führt eine seit 2 Tagen geltende Aufenthaltser−
laubnis mit sich. Als er sich Ihnen gegenüber
setzt, lächelt er Sie verwirrt an, schüttelt den
Kopf und sagt: ~ Deutsch njet.“ Er weist wie−
derholt auf den Telefonapparat in dem Unter−
suchungszimmer und versucht, Ihnen etwas
verständlich zu machen. Seine leichte Bier−
fahne veranlasst Sie dazu, eine Alkoholbestim−
mung in der Ausatemluft durchzuführen, die
einen Wert von 0,5 ò ergibt. Seine Ausführun−
gen, die Ihnen ein wenig gehetzt und aufge−
regt vorkommen, können Sie leider nicht ver−
stehen. Sie hören nur immer wieder den
Namen Alexander heraus, wobei der Mann
dies jedes Mal mit Schulterzucken kommen−
tiert. Die Polizei möchte von Ihnen wissen,
was mit dem Mann weiter geschehen soll und
ob er psychisch krank sei, so dass ein Verbleib
im psychiatrischen Krankenhaus gerechtfertigt
wäre.
3.1 . . Begründen Sie anhand der Definitionen der Begriffe Psychiatrie,
Psychologie und Psychopathologie, warum der Patient durch die Polizei bei Ihnen
vorgestellt wird!
3.2 . . Welche Bereiche des psychischen Erlebens müssen Sie im Rahmen
eines psychopathologischen Befundes beschreiben? Nennen Sie für die einzelnen
Bereiche mögliche Abweichungen!
3.3 . . Welche Psychopathologie können Sie bei dem Patienten beschreiben?
Sie erinnern sich daran, dass der diensthabende Krankenpfleger russisch spricht und holen ihn
hinzu. Dieser übersetzt Folgendes: Der Patient sei erst wenige Tage zuvor nach Deutschland
eingereist und wohne bei einem Freund namens Alexander. Dieser hatte den Patienten mit einer
mündlichen Wegbeschreibung zum Zigaretten holen geschickt, und der Patient hatte sich in der
unbekannten Stadt verlaufen. Er habe jedoch die Telefonnummer des Freundes auswendig ge−
lernt, weswegen er darum bitte, das Telefon benutzen zu dürfen.
3.4 . . Was tun Sie?
Antworten und Kommentar Seite 71
aus: Becker-Pfaff, u.a., Fallbuch Psychiatrie (ISBN 9783131401823) © 2010 Georg Thieme Verlag KG
Fall 18
!!!
16−jaÃhriger Junge mit nachlassenden schulischen Leistungen
funden, das er wohl während einer seiner vie−
len schlaflosen Nächte gezeichnet habe. Sie
habe es heimlich mitgenommen, da ihr Sohn
ihr so misstrauisch erscheine.
Fall
In Ihrer Allgemeinarztpraxis sorgt sich eine
Mutter um ihren Sohn. Sie behandeln ihn seit
seiner frühen Kindheit und kennen ihn als
freundlich zugewandtes und körperlich gesun−
des Kind. Die Mutter berichtet Ihnen, dass
sich die Leistungen des 16−Jährigen seit ca. ei−
nem halben Jahr kontinuierlich in allen Fä−
chern verschlechtern würden. Sie habe mit
unterschiedlichen Lehrern Kontakt aufgenom−
men. Denen sei aufgefallen, dass sich der zu−
vor gut eingebundene Schüler zunehmend zu−
rückziehe und in den Pausen allein auf dem
Schulhof stehe. Er wirke häufig unkonzent−
riert. Einmalig sei es zu einem Wutausbruch
gekommen, den er anschließend nicht habe
erklären wollen. Wenige Tage zuvor habe sie
folgendes Bild (s. Abb.) in seinem Zimmer ge−
18
Zeichnung des
Patienten
18.1 . Welche Symptome erkennen Sie im Bericht der Mutter? Welche
Verdachtsdiagnose stellen Sie daher?
18.2 . Nach welchen weiteren Symptomen sollten Sie fragen, um Ihre
Verdachtsdiagnose zu bestätigen?
18.3 . Wieso ist es wichtig, in diesem Zusammenhang auch die
Familienanamnese zu erheben?
Die Mutter bittet Sie um Ratschläge für ihr weiteres Vorgehen und fragt Sie: ~Ist das schlimm
oder ist es die Pubertät?“
18.4 . Was antworten Sie ihr?
18.5 . Nennen Sie die wichtigsten epidemiologischen Zahlen Ihrer
Verdachtsdiagnose!
18.6 . Nennen Sie das Risiko der Entwicklung einer Schizophrenie für eineiige
Zwillinge, Kinder eines erkrankten Elternteils und Geschwister eines Patienten!
Antworten und Kommentar Seite 100
aus: Becker-Pfaff, u.a., Fallbuch Psychiatrie (ISBN 9783131401823) © 2010 Georg Thieme Verlag KG
19
Abwehr auf Schmerzreize
–
–
–
–
–
ja – nein?
gezielt – ungezielt?
seitengleich – halbseitig – halbseitig gekreuzt?
Streck−/Beugesynergismen?
Tonus?
Meningismus
– Nackensteifigkeit? Cave: Nach Trauma bei Verdacht auf
Halswirbelsäulen−Instabilität nicht prüfen!
Pupillenweite
– Lichtreaktion?
– Isokorie – Anisokorie?
Bulbi
–
–
–
–
–
okulozephaler Reflex
– positiv – negativ?
~schwimmend“?
divergent?
konjugierte Blickwendung?
spontane vertikale Bulbusbewegungen?
Nystagmus?
Kornealreflex
– einseitig/beidseitig abgeschwächt oder aufgehoben?
Muskeleigenreflexe/
Fremdreflexe/
pathologische Reflexe
– Eigenreflexe seitendifferent, abgeschwächt, gesteigert?
– Babinski einseitig – beidseitig?
– Bauchhautreflex seitendifferent?
Fall
Therapie: Die Behandlung der akuten Bewusst−
seinsstörung richtet sich nach der zugrunde lie−
genden Ursache.
3
Psychopathologischer Befund
3.1 Begründen Sie anhand der Definitionen
der Begriffe Psychiatrie, Psychologie und Psy−
chopathologie, warum der Patient durch die
Polizei bei Ihnen vorgestellt wird!
K Definitionen:
– Psych−: griech. Seele, Gemüt
– Psychiatrie: griech. Seelenheilkunde
– Psychologie: Wissenschaft vom Verhalten
und Erleben der Seele bzw. des Menschen
– Psychopathologie: Beschreibung abnormen
Erlebens, Befindens und Verhaltens
K Begründung: Der Polizei war das Verhalten
des Patienten abnorm erschienen, so dass sie
ihn durch einen Experten für Seelenheilkunde
(Psychiater) untersuchen lassen wollte.
Fall 3 Seite 4
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Antworten und Kommentar
ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN
Glasgow−Coma−Scale
Pathologische Bulbusstellung zur Differenzialdiagnostik bei tiefem Koma
Therapie der akuten BewusstseinsstoÃrung entsprechend der AÃtiologie
Fall 3
71
3.2 Welche Bereiche des psychischen Erlebens
müssen Sie im Rahmen eines psychopatholo−
Bereich
gischen Befundes beschreiben? Nennen Sie für
die einzelnen Bereiche mögliche Abweichungen!
Mögliche Abweichungen
Äußere Erscheinung
Ungepflegt, verwahrlost, erschöpft, devot, abgebaut
Bewusstseinszustand,
Vigilanz
Wach, somnolent, soporös, komatös, delirant, umdämmert, fluktuie−
rend, überwach
Aufmerksamkeit,
Konzentration
Reduziert, desinteressiert, zerstreut, abgelenkt, wechselnd, fahrig, ge−
langweilt
Orientiertheit (Person, Unsicher orientiert, verwirrt, ratlos, lückenhaft, desorientiert, fehl−
Ort, Zeit, Situation)
orientiert, uninformiert
72
Fall
3
Kontaktaufnahme, In−
teraktion
Freundlich, angepasst, überangepasst, negativistisch, ablehnend, ver−
schlossen, introvertiert, extrovertiert, gehemmt, scheu, feindselig, ag−
gressiv, distanzlos, unkooperativ, vorsichtig, hilflos
Psychomotorik,
Antriebsverhalten
Stuporös, kataton, verlangsamt, umtriebig, manieriert, unruhig, getrie−
ben, impulsiv, erregt, stereotyp, ruhig
Sprechweise, Sprache
Mutistisch, leise, monoton, aphasisch, danebenredend, stotternd, ton−
los, gepresst, überlaut, logorrhoisch, neologistisch, konfabulierend
Kontrolle, Steuerung,
Gelockerte oder aufgehobene Impulskontrolle, impulsiv, gelockert, ge−
spannt, verkrampft, hartnäckig, ziellos
Antworten und Kommentar
Denkabläufe (formales Gehemmt, gesperrt, verlangsamt, verworren, inkohärent, perseverie−
Denken)
rend, weitschweifig, ideenflüchtig, sprunghaft, zerfahren, eingeengt,
grüblerisch, gedrängt
Denkinhalte (inhaltli−
ches Denken)
Wahnhaft (hypochondrisch, misstrauisch, zwanghaft, paranoid, de−
pressiv), bizarr, überwertige Ideen
Intelligenz, intellek−
tuelles Niveau
Hochbegabt, im unteren oder oberen Normbereich, minderbegabt, de−
bil
Mnestische Funktio−
nen (Alt−, Neu−
gedächtnis)
Zerstreut, lückenhaft, vergesslich, retrograd oder anterograd amne−
stisch, verfälscht
Gestimmtheit, Affekti− Bedrückt, depressiv, pessimistisch, ratlos, parathym, ängstlich, gereizt,
vität
misstrauisch, feindselig, verzweifelt, läppisch, dysphorisch, heiter, ge−
hoben, hyperthym, euphorisch, ekstatisch
Affektive Resonanz
Eingeengt, verflacht, verarmt, bewegt, blockiert, affektlabil, affektin−
kontinent, überschießend
Wahrnehmung
Sensitiv, situationsverkennend, verzerrt, unwirklich, gesteigert, Hallu−
zinationen (z. B. optische, akustische, zönästhetische, olfaktorische)
Ich−Erleben
Fremdbeeinflussung, Gedankenentzug, −eingebung, −ausbreitung, De−
realisation, Depersonalisation
Gesamtpersönlichkeit, Motivation, Ich−Stärke, Belastbarkeit, Tagesrhythmik, Aggravation, Si−
Charakterzüge
mulation, Sexualität
Hinweise auf
Drogeneinnahme
Einstichstellen, Abszesse, vegetative Symptome, Foetor alcoholicus
Krankheitsgefühl,
Krankheitseinsicht
Leidensdruck, Krankheitseinsicht, Behandlungseinsicht, Compliance,
Freiwilligkeit der Behandlung
Suizidalität
Ruhe− oder Todeswünsche, Suizidgedanken, Suizidimpulse, Hand−
lungsrelevanz
Fall 3 Seite 4
aus: Becker-Pfaff, u.a., Fallbuch Psychiatrie (ISBN 9783131401823) © 2010 Georg Thieme Verlag KG
3.3 Welche Psychopathologie koÃnnen Sie bei
dem Patienten beschreiben?
K Äußere Erscheinung: leicht ungepflegtes Äu−
ßeres; witterungsinadäquat bekleidet
K Bewusstseinszustand: wach
K Aufmerksamkeit und Konzentration: soweit
beurteilbar ungestört
K Kontaktaufnahme: vorsichtig, freundlich, hilf−
los
K Psychomotorik: ruhig
K Antrieb: leicht angetrieben
K Sprache: Perseverationen des Wortes Alexan−
der
K Affektivität: freundlich, etwas parathym
K Hinweise auf Drogeneinnahme: leichte Alko−
holisierung
K Nicht beurteilbar sind wegen Verständnis−
schwierigkeiten: Orientierung, Gedächtnis, in−
haltliches Denken, Sinnestäuschungen, Ich−
Störungen, formales Denken, Intelligenz, Per−
sönlichkeitsmerkmale, Krankheitsgefühl und
Krankheitseinsicht
3.4 Was tun Sie?
K Anruf beim Bekannten des Patienten und
Überprüfung seiner Angaben
K Bei Verifizierung Entlassung
KOMMENTAR
Definition: Der psychophathologische Befund
dient der Beschreibung der psychischen Funk−
tionen, der Symptomatik und der Syndromato−
logie eines Patienten. Dabei kann eine standardi−
sierte Liste von psychischen Merkmalen hilfreich
sein, um einen lückenlosen Status zu erheben. Die−
ser dient maßgeblich der Diagnostik und der (häu−
fig symptomorientierten) Therapie.
Fall 3 Seite 4
aus: Becker-Pfaff, u.a., Fallbuch Psychiatrie (ISBN 9783131401823) © 2010 Georg Thieme Verlag KG
73
3
Antworten und Kommentar
Klassifikationssysteme: Aufgrund der Komplexi−
tät psychischer Erkrankungen und deren Phäno−
menologie wurden unterschiedliche Diagnosesys−
teme und diagnostische Kriterien entwickelt (z. B.
die unterschiedlichen Definitionen der Schizo−
phrenie durch Bleuler und Schneider). Um eine
internationale Vergleichbarkeit und eine einheitli−
che Kommunikationsform zwischen Ärzten und
anderen Institutionen des Gesundheitswesens zu
ermöglichen, wurden Klassifikationssysteme ent−
wickelt. Die derzeit aktuellsten sind die ICD−10
(International Classification of Diseases, 10. Revi−
sion, verbindliches Klassifizierungssystem der
WHO) und das DSM−IV (Diagnostic and Statistical
Manual of mental Disorders, 4. Revision, haupt−
sächlich in den USA eingesetzt). Diese beschreiben
detailliert die notwendigen psychopathologi−
schen Befunde sowie Schweregrade und Zeit−
dauern, die erfüllt sein müssen, um eine be−
stimmte Diagnose stellen zu können. Dadurch
sind sie in der Psychiatrie viel bedeutsamer als in
den somatisch−orientierten Fachgebieten, wo eine
Pneumokokken−Pneumonie eben eine Pneumo−
kokken−Pneumonie ist. Eine Depression ist aber
eben nicht nur eine Depression, sondern kann
leicht oder schwer ausgeprägt sein, als Reaktion
auf ein Trauma oder ohne erkennbaren Grund auf−
treten. Kritiker führen an, dass dabei Psychodyna−
mik und Ätiologie in diesen Klassifikationssyste−
men häufig nicht berücksichtigt werden und es
nur eine scheinbare Klassifikation des Einzel−
schicksals geben kann. Bei strikter Anwendung
der Klassifikationen und daraus abzuleitender Be−
handlungsstrategien droht die Individualität des
Patienten und die seiner Erkrankung verloren zu
gehen, was die Behandlung um einen entscheiden−
den, individuellen Faktor schmälert.
Fall
Bedeutung: Seltene Fälle wie dieses Fallbeispiel
veranschaulichen zum einen, welch wichtiges
Werkzeug die Sprache für die Psychiatrie ist, zum
anderen die Bedeutung des psychopathologischen
Befundes. Die Ankündigung eines verwirrten 29−
jährigen Mannes durch die Polizisten lässt den im
psychiatrischen Diagnostizieren Geübten schnell
an eine Intoxikation, eine Psychose oder eine
schwere körperliche Erkrankung denken, was mas−
sive Maßnahmen zur Folge hätte. Trotz der Verwir−
rung während der Untersuchung sind psychopa−
thologische Hinweise zu gewinnen. Auch in der
Nichtbeurteilbarkeit einiger wesentlicher Punkte
liegen Hinweise, denn die jeweiligen Pathologien
können zumindest nicht ausgeprägt vorliegen.
Auch ein nicht sprechender Patient kann seine
Desorientierung zeigen, wenn er sich situationsin−
adäquat verhält. Dieser Patient vermittelt jedoch
nur seine Hilflosigkeit, die dann aufgeklärt werden
kann. Der psychopathologische Befund dient ne−
ben der objektiven Dokumentation dem Ordnen
der oft komplexen psychiatrischen Situationen. Er
ist wie ein Puzzle, mit dem man das psychische
Verhalten und Erleben eines Patienten sehr detail−
liert zusammensetzen kann. Diese Beschreibung
ist als Grundlage für jede psychiatrische Diagnos−
tik unentbehrlich. Ein Puzzlestein kann eine kom−
plette Diagnose verändern: So kann eine Sinnes−
täuschung in Verbindung mit einer akuten Des−
orientiertheit auf ein Delir hinweisen, während
die Sinnestäuschung in Kombination mit einem
Erleben des Gedankenentzugs wichtiger Hinweis
auf eine schizophrene Erkrankung ist. Je genauer
der psychopathologische Befund beschrieben wird,
umso besser kann die Erkrankung des Patienten
diagnostiziert und behandelt werden.
ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN
Unterschiedliche Definitionen von Symptom, Syndrom und Erkrankung
Definitionen der einzelnen Beschreibungen psychopathologischer Befunde
Weitere Aspekte der psychiatrischen Untersuchung (z. B. neuropsychologische Untersu−
chung)
Anamneseerhebung in der Psychiatrie/Explorationsmethoden
Fall 4
74
Fall
4
Wahnhafte Störung
4.1 Beschreiben Sie die inhaltlichen Denk−
störungen der Patientin!
Komplexer systematisierter Wahn mit Aspekten
eines
K paranoiden Wahns: Verfolgung durch Rechts−
anwalt und Sozialarbeiterin
K Beziehungswahns: verstrickte Beziehungen
zwischen den einzelnen in den Wahn einge−
bundenen Personen, die alle in Beziehung zu
der Patientin stehen
K Liebeswahns: Verliebt sein des Rechtsanwalts
in die Patientin
K sexuellen Wahns: Vergewaltigung durch den
Rechtsanwalt
K Größenwahns: adlige Eltern und großes zu er−
bendes Vermögen
Antworten und Kommentar
4.2 Definieren Sie den Begriff Wahn!
Inhaltliche Denkstörung mit extremer Fehlbeur−
teilung der Realität, die mit weitgehend erfah−
rungsunabhängiger Gewissheit vertreten wird,
auch wenn sie im Widerspruch zur Wirklichkeit
der Mitmenschen steht.
4.3 Welche verschiedenen Arten des Wahn−
erlebens kennen Sie?
K Wahnstimmung: subjektive Stimmung, in der
etwas anders, seltsam, fremd, bedeutungsvoll
oder vieldeutig ist; häufig resultiert große Ver−
ängstigung
K Wahnwahrnehmung: realistische Wahrneh−
mung bekommt wahnhafte Bedeutung (z. B.
wird tatsächlicher Zigarettenrauch zum Gift−
angriff)
K Wahneinfall: plötzlicher wahnhafter Gedanke
K Systematisierter Wahn: Wahnsystem, das
dem Patienten in sich schlüssig und logisch
erscheint und in dem sich häufig Wahneinfälle
mit Wahnwahrnehmungen verknüpfen
K Wahnthemen: Beziehungs−, Verfolgungs−,
Größen−, Eifersuchts−, Schuld−, Verarmungs−,
Liebes−, Dermatozoenwahn, Hypochondrie,
Nihilismus
K Cave: Abzugrenzen ist die ~überwertige Idee“:
inhaltliche Denkstörung ohne das Kriterium
der Unkorrigierbarkeit
4.4 Grenzen Sie die wahnhafte Störung von
einer paranoid−halluzinatorischen Schizophre−
nie ab! Welche Diagnose stellen Sie bei dieser
Patientin?
K Wahnhafte Störung: Wahnerleben des Pati−
enten dominierend, andere psychopathologi−
sche Befunde wie formale Denkstörungen oder
Affektstörungen im Hintergrund; oft jahrelang
unbehandelt, da das Funktionieren im Alltag
häufig nicht sehr beeinträchtigt ist
K Paranoid−halluzinatorische Schizophrenie:
größere und deutlichere Vielfalt psychopatho−
logischer Symptome v. a. in den Bereichen for−
male Denkstörungen (z. B. Denkbeschleuni−
gung, Denkhemmung, Denkzerfahrenheit),
inhaltliche Denkstörungen (Wahn), Sinnestäu−
schungen und Ich−Störungen (z. B. Derealisa−
tion, Depersonalisation, Gedankenausbrei−
tung); häufig sehr auffällig und schnell in
Behandlung
K Verdachtsdiagnose: Wahnhafte Störung (nach
ICD−10: F22.0), weil sich andere psychopatho−
logische Symptome in der Fallbeschreibung
nicht finden.
4.5 Würden Sie der Patientin ein Antidepres−
sivum verordnen? Begründen Sie Ihre Ansicht!
Nein; Begründung:
K Psychose− und wahnfördernde Wirkung der
Antidepressiva
K Unterstützung der Verleugnung der Realität
durch die Patientin
K Antidepressiva erst bei Entwicklung eines de−
pressiven Syndroms nach erfolgter neurolepti−
scher Therapie indiziert
KOMMENTAR
Definition: Die wahnhafte Störung (altes und
missverständliches Synonym: Paranoia, paranoide
Psychose) ist eine psychotische Erkrankung, die
unterschiedlich definiert wird. Einige Autoren
zweifeln die Existenz der wahnhaften Störung an,
da bei sorgfältiger Untersuchung doch häufig Epi−
soden von Denkstörungen und Störungen des Ich−
Erlebens exploriert werden können und damit die
Fall 4 Seite 5
aus: Becker-Pfaff, u.a., Fallbuch Psychiatrie (ISBN 9783131401823) © 2010 Georg Thieme Verlag KG
– Zuerst Ausschluss oder Behandlung poten−
ziell behebbarer Ursachen, z. B. depressive
Störung
K Empfehlung von Vitamin E, Vitamin C und
Ginkgo biloba (empirisch abgesichert wirk−
sam)
K Motivation zu aktivem Gedächtnistraining
und kognitiver Aktivierung: Prävention und
Verminderung der Progression einer demen−
ziellen Entwicklung möglich
K Motivation zu regelmäßiger ~sportlicher“ Betä−
tigung, z. B. täglich eine Stunde Spazierenge−
hen, was nachgewiesenen positiven Effekt auf
kognitive Funktionen hat.
K Behandlung der vaskulären Risikofaktoren
(arterieller Hypertonus, Diabetes mellitus)
KOMMENTAR
Definition: Das leichte kognitive Defizit befindet
sich in der Grauzone zwischen normalem kogniti−
ven Altern und demenziellen Entwicklungen.
normales
Altern
Epidemiologie: Aufgrund der Beschreibung eines
fließenden Übergangs zwischen ~normalem Al−
tern“ und einer demenziellen Pathologie sind kei−
ne epidemiologischen Aussagen möglich.
Demenz
2 Gruppen
altersassozierte
Gedächtnisstörung
Klinik: s. Fallbeispiel und Antwort zur Frage 17.2.
3 Gruppen
Diagnostik: s. Antwort zur Frage 17.5.
100
Fall
18
Differenzialdiagnose: s. Antwort zur Frage 17.4.
diagnostische
„Grauzone“
leichte Demenz
Therapie: s. Antwort zur Frage 17.6.
Antworten und Kommentar
Prognose: Sie hängt zum einen von der prämor−
biden kognitiven Leistungsfähigkeit ab: Das kog−
nitive Altern eines hochintelligenten Menschen
führt diesen nicht unbedingt in eine Demenz, das
eines weniger begabten Menschen kann ihn unter
die Demenzschwelle führen. Zum anderen spielen
die Schnelligkeit des Alterungsprozesses bzw. der
Zunahme der kognitiven Defizite eine Rolle. Auch
psychische und somatische Begleiterkrankung
sind prognostisch zu berücksichtigen.
Kontinuum
kognitive Beeinträchtigung
Drei Konzepte von ~normalem Altern“ und Demenz:
Gemäß der ersten beiden gibt es eine Diskontinuität
(in 2 oder 3 Gruppen), gemäß der untersten eine Grau−
zone, die nicht weiter diagnostisch abklärbar ist.
ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN
Definition der sog. kognitiven FaÃhigkeiten
Potenziell behandelbare Erkrankungen mit demenzieller Symptomatik oder leichten
kognitiven StoÃrungen
Fall 18
Prodromalsymptomatik der Schizophrenie
18.1 Welche Symptome erkennen Sie im Be−
richt der Mutter? Welche Verdachtsdiagnose
stellen Sie daher?
K Symptome: Leistungsabfall, sozialer Rückzug,
Konzentrationsstörungen, Reizbarkeit, Aggres−
sivität, Misstrauen, Schlafstörungen
K Verdachtsdiagnose: Prodromalsyndrom einer
schizophrenen Erkrankung
18.2 Nach welchen weiteren Symptomen soll−
ten Sie fragen, um Ihre Verdachtsdiagnose zu
bestätigen?
K Ungewöhnliche Überzeugungen oder Vorstel−
lungen
K Verändertes Erleben (Derealisation)
K Antriebs− und Motivationsverlust auch für al−
terstypische Interessen
K Verändertes Denken
K Depressive Symptomatik (z. B. Weinen, Nieder−
geschlagenheit)
K Stimmungsschwankungen
K Unruhe
K Angstgefühle
K Appetitveränderungen
K Delinquentes Verhalten
K Gedächtnisstörungen
K Licht− und Geräuschempfindlichkeit
K Belastende Lebensereignisse
Fall 18 Seite 19
aus: Becker-Pfaff, u.a., Fallbuch Psychiatrie (ISBN 9783131401823) © 2010 Georg Thieme Verlag KG
K
K
K
K
K
Psychosozialer Stress
Drogenmissbrauch
Kopfverletzungen
Geburtstraumata
Psychische Erkrankungen in der Familien−
anamnese
18.3 Wieso ist es wichtig, in diesem Zusam−
menhang auch die Familienanamnese zu erhe−
ben?
K Genetische Belastung wird als wichtiger Risi−
kofaktor für die Entwicklung einer Schizo−
phrenie beschrieben
K Die Erkrankung eines Familienmitglieds kann
ein wichtiger ~Stressfaktor“ sein
18.5 Nennen Sie die wichtigsten epidemiolo−
gischen Zahlen Ihrer Verdachtsdiagnose!
K Prävalenz schizophrener Psychosen: 0,5–1 %
K Jährliche Inzidenz: 0,05 %
K Wahrscheinlichkeit, im Laufe des Lebens an
einer schizophrenen oder schizoaffektiven
Psychose zu erkranken: 0,6–1 %
K Männer und Frauen und unterschiedliche Be−
völkerungen sind jeweils etwa gleich häufig
betroffen
K Ausbruch der Erkrankung bei Männern durch−
schnittlich im 21. Lebensjahr, bei Frauen ca.
im 26. Lebensjahr.
K 90 % aller an einer Schizophrenie erkrankten
Männer und ca. 65 % der an einer Schizophre−
nie erkrankten Frauen: Erstmanifestation vor
dem 30. Lebensjahr
18.6 Nennen Sie das Risiko der Entwicklung
einer Schizophrenie für eineiige Zwillinge, Kin−
der eines erkrankten Elternteils und Geschwister
eines Patienten!
K Eineiige Zwillinge: 44 %
K Kinder eines erkrankten Elternteils: 9,5 %
K Geschwister eines Erkrankten: 7,5 %
Bedeutung der Prodromalsymptomatik: Der
Verlauf einer Schizophrenie hängt u. a. von der
rechtzeitigen Diagnose und damit dem rechtzeiti−
gen Therapiebeginn ab. Die o.g. Symptome (s. Ant−
worten zu Fragen 18.1 und 18.2) ließen sich als
Prodromi isolieren. Sie müssen nicht zur Schizo−
phrenie führen, aber ihr Auftreten macht unabhän−
gig von der späteren Diagnose eine therapeutische
Begleitung (z. B. Familien−, Sozio−, Psychotherapie)
sinnvoll. Die Frage nach dem Beginn einer neuro−
leptischen Therapie ist schwieriger zu beantwor−
ten und muss sorgfältig abgewogen werden. Uner−
wünschte Nebenwirkungen einer neuroleptischen
Therapie und Stigmatisierung durch die frühe
Diagnosestellung können zu mangelnder Com−
pliance führen, andererseits sind die Folgen einer
nicht oder zu spät behandelten schizophrenen Psy−
chose zu berücksichtigen:
K Erschwerte Genesung
K Schlechtere Prognose mit Beeinflussung der
gesamten Persönlichkeitsentwicklung
K Mehr und heftigere Rückfälle
K Erhöhung des Depressions− und Suizidrisikos
K Belastung zwischenmenschlicher Kontakte mit
Verlust der wichtigen Unterstützung durch
Angehörige und Freunde
K Risiko des Substanzmissbrauchs mit Ausbil−
dung einer Sucht
K Gefahr der Entwicklung einer Delinquenz
K Höheres Risiko einer längeren Hospitalisie−
rung
K Höherer Medikamentenverbrauch, damit er−
höhte Behandlungskosten.
Eine Behandlungsverzögerung kann durch die ca.
2−jährige Prodromalphase ohne produktive psy−
chotische Symptomatik zustande kommen, da in
dieser Zeit eine sichere Diagnosestellung nicht
möglich ist. Treten produktiv psychotische Symp−
tome auf, vergeht häufig ein weiteres Jahr, in
dem viele Patienten bereits Arztkontakte haben,
ohne dass die entsprechende Verdachtsdiagnose
gestellt und eine fachärztliche Untersuchung ver−
anlasst wird.
Durch frühzeitige Diagnostik und Intervention
soll die Prognose schizophrener Erkrankungen
verbessert werden: Reduktion der Rückfallraten
oder zumindest der Heftigkeit der Rückfälle, Ver−
ringerung der Suizidgefahr, seltenere und weni−
ger heftige biographische Einbrüche, Verringe−
rung der psychologischen, familiären und
finanziellen Belastungen, Reduktion der notwen−
digen Medikamentendosen, Verringerung der Be−
handlungsresistenz.
Epidemiologie: s. Antwort zur Frage 18.5 und
18.6. Die o.g. Wahrscheinlichkeiten sind in allen
Kulturen vergleichbar. Männer und Frauen erkran−
ken etwa gleich häufig. Es gibt keine Unterschiede
Fall 18 Seite 19
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18
Antworten und Kommentar
KOMMENTAR
101
Fall
18.4 Was antworten Sie ihr?
K Zuordnung der geschilderten Symptome und
Beurteilung der weiteren Entwicklung ist im
Alter der Pubertät schwierig
K Die geschilderten Symptome, v. a. sozialer
Rückzug und Leistungsabfall, sind aber für das
Prodromalsyndrom einer schizophrenen Er−
krankung typisch, daher sollte der Patient von
einem Kinder− und Jugendpsychiater unter−
sucht und weiter beobachtet werden
K Liegt das Prodromalstadium einer schizophre−
nen Erkrankung vor, kann durch frühe Inter−
ventionen der Verlauf dieser Erkrankung posi−
tiv beeinflusst werden, eine Behandlungsver−
zögerung kann sich ungünstig auf die mittel−
und langfristige Prognose auswirken (s. Kom−
mentar)
in den sozialen Schichten; es scheint nur so, dass in
unteren sozialen Schichten mehr Erkrankungen
vorliegen, da Erkrankte häufig in untere soziale
Schichten abrutschen. Die Schizophrenie gehört
zu den 10 häufigsten zur Behinderung führenden
Erkrankungen.
Ätiopathogenese: Die Ursache der Schizophrenie
ist letztlich nicht bekannt. Man muss von einer
multifaktoriellen Genese ausgehen. Die Befunde
der angegebenen Tabelle (Tab. 1) sprechen für eine
genetische Disposition.
Tab.1 Erkrankungswahrscheinlichkeit für Schi−
zophrenie in Abhängigkeit vom Verwandt−
schaftsgrad zum Erkrankten
102
Ehepartner
1%
Enkelkinder
3%
2,5 %
Kind eines erkrankten
Elternteils
9,5 %
Nichten und Neffen
Geschwister
7,5 %
Antworten und Kommentar
Erkrankungs−
wahrschein−
lichkeit
Fall
Verwandtschaftsgrad zu
einem an Schizophrenie
erkrankten Familienmit−
glied
Zweieiige Zwillinge
12 %
Eineiige Zwillinge
44 %
Kinder zweier erkrankter
Eltern
37 %
18
Aus der Psychopharmakaforschung ergab sich die
Dopaminhypothese (relatives Übergewicht bzw.
Überaktivität bzw. Überempfindlichkeit dopa−
minerger Neurone). Ursprünglich wurde ein Do−
paminüberschuss an D2−Rezeptoren des Gehirns
angenommen, da Dopaminagonisten psychoti−
sche Zustände hervorrufen können, Dopaminan−
tagonisten dagegen antipsychotisch wirken. Spä−
ter fand man eine frontale dopaminerge
Hypoaktivität (Negativsymptomatik, s. Fall 41)
und eine mesolimbische Hyperaktivität (Plus−
symptomatik). Diese Theorien gehen des Weite−
ren von einer Überregulation im serotonergen
und einer Unterfunktion im glutamatergen Sys−
tem aus. Östrogenen wird eine protektive Funkti−
on zugeschrieben, da diese evtl. die Empfindlich−
keit von D2−Rezeptoren absenken.
Auch pränatale bzw. perinatale Komplikatio−
nen kommen als Ursachen in Betracht. Morpho−
logisch findet sich eine Erweiterung der Hirn−
ventrikel mit Parenchymverlust in zentralen
limbischen Strukturen des Temporallappens ver−
mutlich infolge einer frühen Hirnentwicklungs−
störung oder einer Geburtskomplikation. Daraus
resultiert eine gestörte Informationsverarbeitung
im limbischen System, die eine psychotische
Symptomatik mitverursachen kann. Aufmerk−
samkeits− und Informationsverarbeitungsdefizite
sind im sog. P300−Potenzial (ereigniskorreliertes
Hirnpotenzial) nachweisbar. Dies geht mit ent−
sprechenden kognitiven Symptomen der Schizo−
phrenie einher.
In einem weiteren Modell wird der Thalamus als
Reizfilter verstanden, der bei der Schizophrenie
gestört sei.
Psychische Faktoren spielen ebenfalls eine Rolle,
z. B. ein ungünstiges Umfeld mit seelischen Be−
Tab. 2 Krankheits− und Therapiemodell (modifiziert nach Alanen)
Krankheitsmodell
Therapiemodell
Biomedizinisch (Die Krankheit beruht auf or−
ganischen Prozessen)
Pharmakologische und andere somatische Be−
handlungsformen
Individualpsychologisch (Die Krankheit beruht Einzelpsychotherapie
auf tief verwurzelten Störungen der Persön−
Methoden, die sich aus der Einzelpsychothera−
lichkeitsentwicklung)
pie herleiten (z. B. Gruppen−, Kunst−, Musik−,
Familientherapie)
Interaktionell (Krankheit ist Teil eines belaste− Systemische Therapie
ten sozialen Netzwerks und/oder wirkt sich
Therapeutische Gemeinschaften
als interaktionelles Anpassungsproblem aus)
Rehabilitation mit umweltorientierten Aktivi−
täten
Integriert (Alle Ansätze sind gerechtfertigt; ih− Die Behandlung ist umfassend nach fallspezi−
re Bedeutung und ihre wechselseitigen Bezie− fischen Bedürfnissen durchzuführen
hung sind in den unterschiedlichen Fällen
jeweils anders gewichtet)
Fall 18 Seite 19
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lastungen während der kindlichen Entwicklung.
Die erhöhte Rate schizophrener Patienten in un−
teren sozialen Schichten wird dadurch erklärt,
dass Schizophrene im Verlauf ihrer Erkrankung
in untere Schichten abgleiten (Drift−Hypothese).
Sowohl psychosoziale Überstimulation als auch
Unterstimulation kann zur Entwicklung einer
schizophrenen Psychose beitragen. Die Hypothe−
sen zum Konzept der schizophrenogenen Mutter
sowie der Double−Bind−Theorie wurden verwor−
fen. Verschiedene psychologische Zugangsweisen
(z. B. psychoanalytische, kognitiv−behaviorale) ha−
ben unterschiedliche Modelle zum Entstehen ei−
ner schizophrenen Erkrankung entwickelt.
Zusammen ergibt sich folgendes Krankheits− und
damit auch Therapiemodell (leicht modifiziert
nach Alanen) s. Tab. 2.
ZUSATZTHEMEN FÜR LERNGRUPPEN
Verschiedene psychologische Entstehensmodelle gemaÃß psychodynamischer und
behavioural−kognitiver Therapieschulen
Verlaufsformen der Schizophrenie
Fall 19
Polytoxikomanie
19.1 Wie gehen Sie noch in dieser Nacht weiter
19.4 Schildern Sie den optimalen weiteren
Behandlungsverlauf dieses Patienten mit dem
Ziel einer dauerhaften Abstinenz!
K Während der Entgiftung bereits Motivation
zur langfristig angelegten Entwöhnungsthera−
pie, meist im Rahmen von Kontakten zu
Suchtberatungsstellen
K Anschließende Entwöhnung (s. Kommentar)
im voll− oder teilstationären Rahmen
K Besuch von Selbsthilfegruppen
Fall 19 Seite 20
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19
Antworten und Kommentar
19.2 Beschreiben Sie die medikamentösen
Entgiftungstherapien für verschiedene hier in
Frage kommende Substanzen!
K Nur Benzodiazepine: ausschleichend Diaze−
pam oder Oxazepam (Faustregel: zu Beginn
die Hälfte der missbrauchten Tagesdosis, dann
alle 3 Tage wiederum die letzte Dosis halbie−
ren, ab ca. 4 mg Diazepam−Äquivalent in
0,5 mg−Schritten wochenweise reduzieren). Pa−
tienten geben meist eher zu hohe als zu nied−
rige Dosen an, bei mangelnder Auskunftsfä−
19.3 Wie behandeln Sie mögliche Begleit−
symptome?
K Schwere psychotische oder delirante Symp−
tomatik: hochpotente Neuroleptika (Halope−
ridol 5–20 mg/d)
K Krampfanamnese: Carbamazepin (600–
1200 mg/d; cave: bei schweren Leberschädi−
gungen wegen hepatischen Abbaus des Carba−
mezepins und dessen eigener Hepatotoxizität)
K Vegetative Begleitsymptomatik: b−Blocker
(z. B. Propranolol 20–100 oder max. 150 mg/d)
oder Clonidin (0,5–0,75 mg/d)
103
Fall
vor?
K Sorgfältige Diagnostik bezüglich der Somno−
lenz:
– Körperliche Untersuchung: Verletzungen,
Zungenbiss (epileptischer Anfall), kardio−
pulmonaler Status bei Verdacht auf Schlag−
anfall bei Endokarditis, neurologische Aus−
fälle
– Schädel−CT: Verletzung des Neurocraniums
nach Sturz, Schlag o.ä. (Blut aus dem Ohr)
– Notfall−Labor: Blutbild, Entzündungspara−
meter (CRP, BSG), Leberwerte (GOT, GPT,
g−GT), Kreatinin, Pankreasenzyme (Amyla−
se, Lipase), Herzenzyme (CK, CK−MB, Tropo−
nin T, LDH); später HIV−Status, Hepatitis−
Serologie
– Drogenscreening (meist Teststreifen mit
Opioiden, Kokain, Amphetaminen, Antide−
pressiva, Benzodiazepinen, Stimulanzien)
K Intensivmedizinische Überwachung bis zur
Herstellung eines stabilen Allgemeinzustandes
K Entgiftung mit anfänglich mindestens stünd−
licher Kontrolle der Vitalparameter und ggf.
medikamentöser Unterstützung
higkeit Dosen bis zu Stabilisierung der Vital−
parameter.
K Nur Opioide: Antidepressivum Doxepin (50–
200 mg/d) oder niederpotentes Neuroleptikum
Levomepromazin (50–300 mg/d) über 1–2
Wochen ausschleichend
K Opioide und Benzodiazepine gemischt: Ben−
zodiazepine allein oder mit Antidepressiva
und niederpotenten Neuroleptika kombiniert
in o.g. Dosierungen
K Zusätzlich Alkohol: Benzodiazepine (s. o., An−
fangsdosis bis zu 4 3 10 mg/d Diazepam, auch
nach klinischer Entzugssymptomatik titrieren)
Sachverzeichnis
Sachverzeichnis
202
A
B
Abhängigkeit 83, 145
Abwehrmechanismen 91
Acetylcholinesterase−
hemmer 99
ADAS 135
ADHS = Aufmerksamkeits−
defizit−/Hyperaktivitäts−
syndrom 177
Adipositas 112
Affektive Störung 87, 138
Agoraphobie 79
Akathisie 191
Alkoholentzugsdelir 125
Alkoholentzugssyndrom 125
Alkoholfolgekrankheiten 169
Alkoholfolgeschäden 145
Alkoholhalluzinose 126
Alkoholintoxikation 126
Alkoholmissbrauch 83, 164
Altersdepression 178
Alzheimer−Demenz 81, 137
Amphetamin−Miss−
brauch 164
Angst 78
Angststörung 78, 134
Anorexia nervosa 112
Anpassungsstörung, depres−
sive 132
Anticholinerges Syn−
drom 183
Antidepressiva 109
Artifizielle Störung 160
Aufmerksamkeitsdefizit−/
Hyperaktivitäts−
syndrom 177
Autogenes Training 172
Baby−Blues 174
Barbiturat−Missbrauch 164
Belastungsreaktion,
akute 184
Belastungsstörung,
posttraumatische 122
– akute 133
Benzodiazepin 173
– Entgiftung 103
Bewusstseinsstörung 69
Binge−Eating−Disorder 112
Bipolare affektive
Störung 137, 150
Bleuler 131
Bodymass−Index 112
Borderline−Persönlichkeits−
störung 156, 175
Bulimia nervosa 112
C
CAGE−Test 85
Cannabis−Missbrauch 164
Carbamazepin 152
CERAD 135
Charakterneurose 90
Clomethiazol 125
Cyclopyrrolon 173
– Normaldruckhydrozepha−
lus 120
– subkortikale 135
– vaskuläre 186
Depression 96, 137
– Alters− 178
– Involutions− 178
– pharmakogene 158
– postpartale 174
– somatogene 158
– Therapie 107
Desorientiertheit 111
Dialektisch−behaviorale
Therapie 175
Distraneurin 125
Dyssomnie 153
Dysthymie 138
E
Elektrokrampftherapie 151
EMDR = Eye Movement
Desensitization und
Reprocessing 175
Entgiftung 103
Entwöhnung 104
Enzephalopathie, hepato−
toxische 170
Essstörung 112
Expositionsverfahren 175
Extrapontine Myelino−
lyse 171
D
Delir 125
Delirium tremens 125
Demenz 186
– Alzheimer−Typ 81, 137
– Differenzialdiagnose 99
– frontale 135
– Klassifikation 135
– kortikale 135
– Lewy−Körper 154
F
Fertigkeitstraining 175
Fibromyalgie−Syndrom 140
Fokaltherapie 117
Frühdyskinesie 191
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L
P
Ganser−Syndrom 160
Gesprächspsychothera−
pie 115
Gille−de−la−Tourette−
Syndrom 98
Lewy−Körper−Demenz 154
Lithium 87, 109, 151
– Intoxikation 86
Lösungsmittelmiss−
brauch 164
H
M
Halluzinogen−
Missbrauch 164
Hang over 172
Hebephrenie 165
Hepatotoxische Enzephalo−
pathie 170
Herzneurose 68
Heultage 174
Hyperaktivitätsstörung 177
Hyperkinetisches
Syndrom 177
Magersucht 113
Malignes neuroleptisches
Syndrom 131, 188
Manie 167
Manisches Syndrom 139
Marchiafava−Bignami−
Syndrom 169
Medikamenteninteraktio−
nen 184
Methylphenidat 177
Mini−Mental−Test 99
Minus−Symptomatik, Schizo−
phrenie 149
Münchhausen−Stellvertreter−
Syndrom 161
Münchhausen−Syndrom 160
Myelinolyse, zentrale pon−
tine 170
Panikstörung 79
Parasuizidalität 77
Parkinsonoid 191
Perniziöse Katatonie 131
Persönlichkeitsstörung 89
– abhängige 142
– ängstlich−vermei−
dende 142
– Borderline− 156, 175
– dependente 142
– emotional instabile 157
– histrionische 189
– hysterische 189
– narzisstische 127
– paranoide 166
– schizoide 105
– schizotype 106
– selbstunsichere 142
Phobie
– soziale 79
– spezifische 79
Plus−Symptomatik, Schizo−
phrenie 149
Polytoxikomanie 103, 163
Positiv−Symptomatik, Schizo−
phrenie 149
Präsuizidales Syndrom 76
Progressive Muskelrelaxa−
tion 172
Projektion 92
Pseudodemenz 161
Psychiatrie 71
Psychoanalyse 115, 176, 189
Psychodynamik 116
Psychoedukation 165
Psychologie 71
Psychopath 90
Psychopathologie 71
Psychopathologischer
Befund 71
Psychopharmaka, Schwan−
gerschaft 123
Psychose
– organische 88
– paranoide 166
– schizophrene 131
Psychotherapie 114, 176
Puerilismus 160
Puerperale Psychose 173
I
Idealisierung 92
Identifikation 92
Intellektualisierung 93
Intelligenzminderung 80
Introjektion 92
Involutionsdepression 178
Isolierung 92
K
Katatonie 188
– perniziöse 188
Klaustrophobie 79
Kognitive Therapie 115
Kognitive Umstrukturie−
rung 175
Kognitive Verhaltensthera−
pie 175
Kokain−Missbrauch 164
Koma 70
Kontingenzmanagement 175
Konversion 92
Konversionsstörung 141
Korsakow−Syndrom 126, 169
Kraepelin 130
N
Narzissmus 127
Negativ−Symptomatik, Schizo−
phrenie 149
Nervenzusammenbruch 185
Neuroleptikum 180, 190
Normaldruckhydrozepha−
lus 120
O
Oligophrenie 80
Opiat−Missbrauch 163
Opioide, Entgiftung 103
Organische Psychose 88
Orientierung 111
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Sachverzeichnis
G
203
R
Rationalisierung 92
Reaktionsbildung 92
Regression 92
S
Sachverzeichnis
204
Schizoaffektive Störung 118
Schizophrenes Resi−
duum 149
Schizophrenie 130
– Ätiopathogenese 102
– Epidemiologie 101
– hebephrene 165
– Notfalltherapie 93
– paranoid−halluzina−
torische 74
– Prodromalsymptoma−
tik 100
– Subtypen 149
– Therapie 179
– Verlauf 148
Schlafstörung 152
– Therapie 172
Schneider 131
Schwangerschaft, Psychophar−
maka 123
Serotonerges Syndrom 182
Setting 116
Simulation 161
Somatisierungsstörung 141
Somatoforme autonome
Funktionsstörung 68
Somatoforme Schmerz−
störung 139
Somatoforme Störung 139
Somatogene Depression 158
Somnolenz 70
Sopor 70
SORKC−Schema 77
Spaltung 92
Spätdyskinesie 191
Sublimierung 93
Sucht 83, 145
– Substanzen 163
Suchttherapie, Ziele 104
Suizid 76
Suizidalität 128
– Risikofaktoren 128
– Therapie 130
Suizidversuch 77
Systemische Therapie 115
T
Tic−Störung 97
Transsexualismus 162
Transvestismus 162
Trauerreaktion 185
Trauma 122
Traumatophilie 161
Triadisches System 95
U
Unterbringungsgesetz 94
V
Valproinsäure 152
Vaskuläre Demenz 186
Verdrängung 92
Verhaltenstherapie 115
Verleugnung 92
Vermeidung 92
Verschiebung 93
Verwirrtheit, akute 110
W
Wahn 74
– depressiver 168
– manischer 168
– systematisierter 74
Wahneinfall 74
Wahnhafte Störung 74
Wahnstimmung 74
Wahnwahrnehmung 74
Wernicke−Enzephalo−
pathie 169
Wochenbettpsychose 173
Z
Zappelphilipp−Syndrom 177
Zentrale pontine Myelino−
lyse 170
Zolpidem 173
Zwangsstörung 147
Zyklothymie 138
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