Einführung in die Didaktik der Mathematik Andrea Hoffkamp WS 2016/17 1 Mittwoch, 30. November 16 Erinnerung • Modul:Vorlesung „Einführung in die Mathematikdidaktik“, Planungsseminar, Schulpraktische Übungen (SPÜ) und mündliche Prüfung • Registrierung SPÜ im SS 17 nur im Zeitraum: 5.12. 18.12.16 möglich • • • Nur anmelden, wenn Sie wirklich daran teilnehmen wollen! • https://praktikumsportal.lehrerbildung.sachsen.de SPÜ im SS 17 voraussichtlich überbucht SPÜ kann/soll auch im WS 17/18 absolviert werden - hier stehen ausreichend viele Plätze zur Verfügung! Anmeldung entsprechend ein halbes Jahr später 2 Mittwoch, 30. November 16 Rückschau • • Mathematikunterricht und Allgemeinbildung • Wissenschaftstheoretische und fachphilosophische Perspektive als Basis für unterrichtspraktische Überlegungen • Exemplarisch: Indirekte Argumentation bzw. indirekte Beweise Allgemeinbildende Aspekte mathematischen Beweisens und Argumentierens und deren Bedeutung für die Schule 3 Mittwoch, 30. November 16 Zum Feedback zur letzten VL • Ein paar genannte Wünsche: ‣ ‣ mehr Diskussionsarbeit und Austausch untereinander ‣ Beweisarten und Beweise im Unterricht an weiteren Beispielen ‣ Was ist prüfungsrelevant? Welche Methoden unterstützen die Herstellung einer Argumentationskultur? Wie lassen sich logische Grundlagen vermitteln? 4 Mittwoch, 30. November 16 7.Vorlesung: Mathematisches Beweisen und Begründen anhand von Unterrichtsbeispielen vertiefen Allgemeinbildende Aspekte reeller Zahlen 5 Mittwoch, 30. November 16 Voraussetzungen und Methoden zur Herstellung einer Argumentationskultur • Die Lehrperson als Vorbild - die Bereitstellung der Situation: ‣ ‣ ‣ Umgang mit Fehlern und Trennung von Lern- und Leistungssituationen mathematisches und fachphilosophisches Basiswissen, um mit offenen Argumentationssituationen umgehen zu können Impulse geben, die typisch für mathematisches Erkunden und Schließen sind: Ist das immer so? Wer hat eine andere Vermutung? Warum ist das immer so? Sind das alle Fälle, in denen .... ? aus: Rahmenlehrplan 1-10 Mathematik, Berlin/Brandenburg, 2015 6 Mittwoch, 30. November 16 Aufgabengestaltung als zentrales methodisches Element Beispiel: Dreiecksarten und ihre Charakterisierung (Klasse 6) 7 Mittwoch, 30. November 16 Methodische Perspektive Aufgabengestaltung als zentrales methodisches Element Methodische Perspektive Welche logischen Gesetzmäßigkeiten/Schlüsse lassen sich mit diesen Aufgaben einüben? 8 Mittwoch, 30. November 16 Organisation von Diskussionen Methodische Perspektive Welches Parallelogramm hat den größten Flächeninhalt? Standpunkte einnehmen: Eckenzuweisung „rot“, „grün“, „gelb“, „alle gleich“ Diskussion organisieren: Argumente sollen gehört und geprüft werden. Redestabmethode! M. Kramer: Mathematik als Abenteuer, Band I Mittwoch, 30. November 16 9 Aus: Blum et al., Bildungsstandards Mathematik konkret, 2006 Aufgabe: Begründen Sie auf möglichst viele verschiedene Arten! Seien Sie ruhig kreativ dabei. (5 min) 10 Mittwoch, 30. November 16 Begründungsmöglichkeiten Aus: Blum et al., Bildungsstandards Mathematik konkret, 2006 präformal formal präformal-visuell 11 Mittwoch, 30. November 16 inhaltlich-argumentativ präformal-induktiv Aus: Blum et al., Bildungsstandards Mathematik konkret, 2006 12 Mittwoch, 30. November 16 Ein Zwischenfazit Meyer, M., Prediger, S. Warum? Argumentieren, Begründen, Beweisen, Vorversion des in PM, Heft 30 erschienenen Artikels. Praxis der Mathematik in der Schule 51(30), S. 1-7. Lerntheoretisch vollzieht sich die Entwicklung einer Beweis- bzw. Begründungsfähigkeit in Stufen (angelehnt an Piagets Entwicklungsstufen): • zunächst schließen von einzelnen Beispielen oder Objekten auf eine allgemeine Gesetzmäßigkeit • allmähliche Klassifikation von Objekten und Abstraktion durch Begriffsbildung (Objekte werden unter einem Begriff gefasst) • formal-deduktives Schließen 13 Mittwoch, 30. November 16 Beispiel: Der Innenwinkelsatz für Dreiecke Lehrplan Sachsen Gymnasium, Klasse 5 Lehrplan Sachsen Mittelschule, Klasse 6 14 Mittwoch, 30. November 16 Den Innenwinkelsatz entdecken - verschiedene Möglichkeiten Zeichne ein beliebiges Dreieck, miss die Innenwinkel und addiere die Winkelgrößen. Vergleiche dein Ergebnis mit dem deines Nachbarn. Was stellt Ihr fest? Wettbewerb: Wer findet das Dreieck mit der größten Innenwinkelsumme? Mathematik heute, Schroedel 15 Mittwoch, 30. November 16 Erkenntnisfindung und Erkenntnissicherung Den Innenwinkelsatz entdecken und begründen Warum ist das Ecken-Abreißen selbst als visuellpräformaler Beweis nicht ausreichend? 16 Mittwoch, 30. November 16 Mathematik heute, Schroedel Lokales Ordnen - eine wichtige Tätigkeit im Geometrieunterricht Vollständiger (axiomatischer) Aufbau der Geometrie ist im durchschnittlichen Unterricht in Deutschland kaum möglich und auch nicht wünschenswert (in der Geschichte: vorläufiger Abschluss eines langen Erkenntnisprozesses.) • Verständnis der gegenseitigen Abhängigkeit von Begriffen und Sätzen ist dennoch wünschenswert. ➡„Lokales Ordnen“ als Herstellung eines Beziehungsgefüges innerhalb eines überschaubaren Feldes. • „Es blieb eben nichts anderes übrig, als die Wirklichkeit zu ordnen, Beziehungsgefüge herzustellen und sie bis zu einem Horizont der Evidenz zu führen, der nicht genau festgelegt und recht variabel war. Ich habe diese Tätigkeit die des lokalen Ordnens genannt.“ (H. Freudenthal (1963) in „Was ist Axiomatik, und welchen Bildungswert kann sie haben?“) Mittwoch, 30. November 16 Mittwoch, 30. November 16 Winkelsummensatz im Viereck Mittwoch, 30. November 16 Beweisbedürftigkeit wecken - ein oft schwieriges Problem • Oft gegebene allgemeine Empfehlung für die Sek I: Nur solche Aussagen beweisen, die für die Schüler/innen tatsächlich problematisch erscheinen • H. Winter empfiehlt beispielsweise die rationale Aufklärung optischer Täuschungen oder kognitiver Konflikte durch deduktive Argumentation • Ungelöst bleibt: Ein durch Messung gefundener Innenwinkelsatz wird für die Schüler/innen durch einen Beweis i.a. nicht sicherer H.N. Jahnke, S. Ufer in Handbuch der Mathematikdidaktik, S. 331 ff., 2010 20 Mittwoch, 30. November 16 Beweisbedürftigkeit wecken - ein oft schwieriges Problem • Grundsätzliche Funktion und Rolle des Beweisens in der Mathematik aufdecken und reflektieren (wissenschaftstheoretische Grundlagen!) • Selbstverpflichtung auf Argumentations- und Begründungsregeln anregen H.N. Jahnke, S. Ufer in Handbuch der Mathematikdidaktik, S. 331 ff., 2010 21 Mittwoch, 30. November 16 Allgemeinbildende Aspekte reeller Zahlen 22 Mittwoch, 30. November 16 Ein paar Aussagen/Erfahrungen aus verschiedenen Perspektiven Schule • „Reelle Zahlen sind für die Schulmathematik irrelevant. Ich habe dafür keine Zeit und sehe auch keine Motivation dafür.“ (Mathematiklehrerin einer Sekundarschule, 2014) • „Frau Hoffkamp, kann ich 1+√2 weiter vereinfachen?“ (Schülerin im Grundkurs Mathematik nach Anwendung der pq-Formel, Gymnasium, 2012) • „Was soll ich denn für ∏ einsetzen?“ (Schüler Klasse 9 einer Sekundarschule bei der Verwendung der Formel zur Berechnung der Oberfläche eines Zylinders, 2014) • „Aber das ist doch keine Zahl!“ (Schüler Klasse 9 einer Sekundarschule nach Eingabe von √2 in den Taschenrechner) Mittwoch, 30. November 16 Hochschule • „Vergiß alles, was Du auf der Schule gelernt hast, denn Du hast es nicht gelernt. [..] indem meine Töchter [..] schon mehrere Semester studieren (Chemie), schon auf der Schule mehrere Semester Differential- und Integralrechnung gelernt zu haben glauben und heute noch nicht wissen, warum x·y=y·x ist.“ (E. Landau im Vorwort zu „Grundlagen der Analysis“, 1929) • „Den Studenten muss genau gezeigt werden, warum man mit reellen Zahlen rechnen kann.“ (Professor für Analysis, 2012) Erkenntnistheoretische Herausforderung und gleichzeitig allgemeinbildende Erkenntnis Fachphilosophische Perspektive Die Einführung der reellen Zahlen lässt sich nicht aus praktischen Messaufgaben rechtfertigen. In realen Situationen (insb. Messungen) treten irrationale Zahlen niemals direkt auf. Der Übergang von den rationalen zu den reellen Zahlen ist eine aus theoretischen Gründen zweckmäßige Erweiterung des Zahlbereiches. Durch sie wird gesichert, dass für gewisse geometrische und algebraische Probleme (Diagonalenlänge eines Quadrats, Kreisumfang) anschaulich vorhandene Lösungen auch in der Theorie als wohlbestimmte Objekte existieren. (A. Kirsch (1997): Mathematik wirklich verstehen, S.90) Mittwoch, 30. November 16 Ein Überblick über die reellen Zahlen Zahlbereichserweiterung: Warum reicht ℚ nicht aus? Konstruktion der reellen Zahlen Existenz von Wurzeln Dezimalzahlen x2 = 2 Inkommensurabilität Intervallschachtelungen Cauchy-Folgen d:a= p 5+1 = 1, 618 . . . 2 Analysis: z.B. Monotoniekriterium, Zwischenwertsatz würden sonst nicht gelten Mittwoch, 30. November 16 Dedekindsche Schnitte Leitidee: Vollständigkeit von ℝ Äquivalente Formulierungen! Fachliche Dimension Alternative Axiomsysteme: (ℝ,+,·,<) ist ein archimedisch Axiomatischer Standpunkt geordneter Körper mit ℕ⊆ℝ, und es gilt (a) (Vollständigkeitsaxiom) Jede beschränkte Teilmenge besitzt ein Supremum, oder (b) (CF-Vollständigkeit) Jede Cauchy-Folge in ℝ konvergiert, oder (c) (Intervallschachtelungsaxiom) Der Durchschnitt jeder monoton fallenden Folge abgeschlossener beschränkter Intervalle ist nichtleer. Die Entdeckung irrationaler Zahlen Entdeckung als inkommensurable Strecken (Strecken ohne gemeinsames „Maß“) Zwei reelle Zahlen a,b heißen kommensurabel, wenn es eine reelle Zahl c gibt, so dass a = m · c und b = n · c, (m, n 2 Z) a m = =x2Q b n Das Pentagramm als Wahrzeichen der Pythagoreer 26 Mittwoch, 30. November 16 Historische Perspektive Die Entdeckung irrationaler Zahlen Historische Perspektive Hippasos von Metapont (6.-5. Jh. v. Chr.): d und a im regelmäßigen Fünfeck sind inkommensurabel Entdeckung des Goldenen Schnitts p als Verhältnis d:a = 52+ 1 = 1, 618... https://de.wikipedia.org/wiki/Goldener_Schnitt Rolle in Kunst, Natur und Architektur Von Stadt Leipzig - Bericht des Hochbauamtes über den Umbau des alten Rathauses und der alten Börse in den Jahren 1906bis 1909 (Verwaltungs-Bericht des Rates der Stadt Leipzig. Hochbauamt), Leipzig 1909, PD-alt-100, https://de.wikipedia.org/w/index.php?curid=8162374 27 Mittwoch, 30. November 16 Methode der Wechselwegnahme: Es gibt kein gemeinsames Maß für die Diagonale und Seite des regelmäßigen Fünfecks. Beweis per Widerspruch c gemeinsames Maß für a und d, also a=mc und d=nc. Dann auch c gemeinsames Maß für alle ai und di. In jedem Schritt nehmen die Längen um mehr als dir Hälfte ab, werden also irgendwann kleiner als c. „Grundlagenkrise“ des pythagoreischen Weltbildes oder Geheimnisverrat? („Strafe der Götter“: Hippasos ertrank im Meer.) aus: Danckwerts, Vogel: Analysis verständlich unterrichten, 2006. 28 Mittwoch, 30. November 16 Erinnerung: Phänomenologischer Standpunkt und arithmetische Beschreibung der reellen Zahlen Man betrachte die reellen Zahlen als etwas Gegebenes auf der Zahlengeraden [...] (H. Freudenthal (1977): Mathematik als pädagogische Aufgabe) Unendlicher nicht periodischer Dezimalbruch Abb. aus: Padberg, Dankwerts, Stein (1995): Zahlbereiche - Eine elementare Einführung Wir können uns die Folge der Nachkommaziffern als immer genauere Angabe der Zahl vorstellen. Jede dabei entstehende Zahl ist selbst wieder rational – der „Grenzwert“ aber nicht unbedingt. Mittwoch, 30. November 16 Fachdidaktische Dimension Fachliche Dimension Hineingezoomt Approximation Lückenlosigkeit der Zahlengeraden Geometrische Vorstellung von ℝ Vollständigkeit Grenzwert Identifikation von Dezimalzahlen mit den Punkten der Zahlengeraden Abb. aus: Padberg, Dankwerts, Stein (1995): Zahlbereiche - Eine elementare Einführung Mittwoch, 30. November 16 Zusammenfassung in Schulbüchern Mittwoch, 30. November 16 Anwendungen von Intervallschachtelungen in der Sekundarstufe I • Neunerperioden • Definition der allgemeinen Potenz ar • Der Flächeninhalt eines Rechtecks Die anderen sind nachzulesen in: Büchter & Henn (2010): Elementare Analysis - Von der Anschauung zur Theorie, Spektrum Verlag, S. 123 ff. Mittwoch, 30. November 16 Die Idee des Messen - Erweiterung nach dem Spiralprinzip Erinnerung: Auslegen mit Plättchen bei ganzzahligen Seitenlängen siehe auch: Zech (1997), Grundkurs Mathematikdidaktik, S. 100 33 Mittwoch, 30. November 16 Rationale Seitenmaßzahlen in Klasse 6 Krauter : Methodik und Didaktik des Geometrieunterrichts, 2008 1. Streckenteilung 2. Raster mit kongruenten MessRechtecksflächen, von denen genau 3·7=21 Stück das Normquadrat von 1 m2 ausfüllen. 3. Eine Messrechtecksfäche misst also 1/21 m2. 4. 2·5=10 Messrechtecke ergeben einen Flächeninhalt von 10/21 m2. Fazit: Unsere Formel A=a·b gilt also auch für rationale Zahlen! Mittwoch, 30. November 16 Irrationale Seitenmaßzahlen Spiralprinzip bzw. fachlich aufbauendes Lernen aus: Büchter, Henn (2010): Elementare Analysis - Von der Anschauung zur Theorie Grundschule: 3x4 Einheitsplättchen Mittwoch, 30. November 16 6. Klasse: Bruchzahlen Prinzip des Messen Einheitsplättchen zerlegen in Plättchen mit Maß 1/6 9. Klasse: Reelle Zahlen Intervallschachtelung Ohne reelle Zahlen keine Analysis oder: keine „richtige“ Analysis auf Q Vollständigkeit der reellen Zahlen: unverzichtbare Voraussetzung für fundamentale Sätze der Analysis und damit für die Rechtfertigung nahezu aller in der Schulanalysis (u. a. bei Kurvendiskussionen) auftretenden Schlüsse. Nullstellensatz von Bolzano (Spezialfall des Zwischenwertsatzes): Wechselt eine in einem abgeschlossenen Intervall I stetige Funktion dort ihr Vorzeichen, so hat sie in I wenigstens eine Nullstelle. In Q gilt dieser Satz nicht. Gegenbeispiel: I = [1; 2], f (x) = x2 2. Monotoniekriterium: Eine auf einem Intervall I differenzierbare Funktion mit überall auf I positiver Ableitung ist dort überall streng monoton wachsend. In Q gilt auch dieser Satz nicht. Gegenbeispiel: I = [1; 2], f (x) = A. Filler 1 x2 2 Didaktik der Analysis und der Analytischen Geometrie/ Linearen Algebra, Teil 2 36 Mittwoch, 30. November 16 . Folie 15 / 15 37 Mittwoch, 30. November 16 Ein Überblick über die reellen Zahlen Zahlbereichserweiterung: Warum reicht ℚ nicht aus? Konstruktion der reellen Zahlen Existenz von Wurzeln Dezimalzahlen x2 = 2 Inkommensurabilität Intervallschachtelungen Cauchy-Folgen d:a= p 5+1 = 1, 618 . . . 2 Analysis: z.B. Monotoniekriterium, Zwischenwertsatz würden sonst nicht gelten Mittwoch, 30. November 16 Dedekindsche Schnitte Leitidee: Vollständigkeit von ℝ Äquivalente Formulierungen! Fachliche Dimension Alternative Axiomsysteme: (ℝ,+,·,<) ist ein archimedisch Axiomatischer Standpunkt geordneter Körper mit ℕ⊆ℝ, und es gilt (a) (Vollständigkeitsaxiom) Jede beschränkte Teilmenge besitzt ein Supremum, oder (b) (CF-Vollständigkeit) Jede Cauchy-Folge in ℝ konvergiert, oder (c) (Intervallschachtelungsaxiom) Der Durchschnitt jeder monoton fallenden Folge abgeschlossener beschränkter Intervalle ist nichtleer.