Kernfragen des Glaubens - Evangelische Akademikerschaft

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Kernfragen des Glaubens
Zusammengestellt und formuliert vom
theologischen Arbeitskreis der Evangelischen Akademikerschaft
Stand 15.8.12.
Zum Inhaltsverzeichnis
Der Glaube verändert sich, auch der christliche: Es gibt neue Gottesvorstellungen und
andere Arten zu beten, die Bibel zu verstehen und Jesus als Sohn Gottes zu sehen.
Einiges ist nicht mehr so wichtig, anderes ist gefragt.
Viele Begriffe und Inhalte des christlichen Glaubens werden nicht mehr als zeitgemäß
empfunden und entsprechen nicht mehr der heutigen spirituellen Realität und Praxis.
Fragen wie „Was ist heute Kirche?“ oder „Wie verhalten sich Naturwissenschaft und
Glauben zueinander?“ lassen sich nicht mehr zufriedenstellend und angemessen nur mit
Sätzen aus Luthers Katechismus beantworten.
Das (apostolische) Glaubensbekenntnis wird anders als früher interpretiert. „Ich glaube an
Gott, den Allmächtigen...., .... an die Auferstehung der Toten und das ewige Leben.“ Das
sprechen manche Gottesdienstbesucher nicht mehr mit. Brauchen wir ein neues, anderes
Bekenntnis? Die christlichen Kirchen gehen auf solche Fragen nicht ausreichend ein.
Wir brauchen Besinnung auf und Nachdenken über das Wesentliche des Glaubens als
Sinngebung unseres Lebens.
Zwar gibt es neue theologische Literatur und moderne religiöse Praxis. Aber nötig wäre
„Theologie von unten“. Selber verständlich davon reden (und danach fragen!) zu können,
was Sache ist beim Glauben – an Gott, an Jesus, an die Kirche, an das Jenseits und das
Ewige Leben. Gibt es da Neues? Anderes? Es geht nicht nur um Kritik an der Tradition,
sondern um eine grundlegende gemeinsam zu findende und zu definierende Erneuerung.
Wir – das sind Mitglieder eines theologischen Arbeitskreises der Evangelischen
Akademikerschaft – haben damit angefangen, unser Verständnis von einigen Kernfragen
des christlichen Glaubens aufzuschreiben, zu diskutieren und aus eigener Sicht zu
beantworten. Wir wollen, kurz gesagt:
1. Neues Glaubensverständnis prüfen und, wenn nötig und möglich, inhaltlich und
praktisch konkretisieren und weiter entwickeln.
2. Möglichkeiten der Verbindung von traditionellen Glaubensformen mit neuen
theologischen Ansätzen prüfen und vermitteln.
3. Innerhalb und außerhalb der Evangelischen Akademikerschaft dazu anregen, dass
neues Glaubensverständnis und neue Glaubensformen in der Kirche anerkannt und
aufgenommen werden, ohne dass bisher praktizierte und bewährte Glaubensweisen
dadurch beeinträchtigt werden.
Wir halten es auch in der Kirche für notwendig und möglich, Glauben neu zu verstehen
und zu praktizieren. Deshalb laden wir hiermit auch andere Gemeinschaften und
Menschen in unserer Gesellschaft zur Mitwirkung an der Suche nach Antworten auf
„Kernfragen des christlichen Glaubens“ ein. Was ist Ihnen am Glauben neu, wesentlich
1
oder noch offen? Schicken Sie uns Ihre Zustimmung und Kritik, Ihre Fragen und
Antworten, Ihre Versuche und Ihre Erfahrungen mit dem Glauben in der heutigen Zeit.
Ihre Beiträge werden, wenn Sie es erlauben, auf unserer Internetseite .... Adresse ..
veröffentlicht und bei einer weiteren Auflage der „Kernfragen des Glaubens“ einbezogen.
Machen Sie mit! Ihr Beitrag und Ihre Meinung zählen!
Internetadresse: noch einzurichten
eMailadresse für Beiträge: Günter Hegele [email protected]
Postadresse: Günter Hegele, Ahornstr. 5, 76829 Landau
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Inhalt:
Erweitertes Inhaltsverzeichnis am Ende der Kernfragen
Was ist Glaube?
Glaube und Wissen
Naturwissenschaft und Glauben
Kommunikation mit Gott
Gott in der Mystik finden
Das Gebet als Kommunikation mit Gott
Jesus – wer war und wer ist das?
Meine Kirche ?
Schuld / Sünde / Vergebung
Auferstehung der Toten, Jüngstes Gericht, Ewiges Leben
Hoffen über den Tod hinaus?
Der andere Gott – damals und heute
Theodizee – Gott entschuldigen?
Erweitertes Inhaltsverzeichnis am Ende der Kernfragen
Anlagen zu den Kernfragen des Glaubens (mit eigenem Inhaltsverzeichnis)
Hinweise zum Text:
Anführungszeichen im Text können Zitate (auch ohne oder mit pauschalen
Quellenangaben) oder Beiträge von Arbeitskreisteilnehmenden sein, die sich
der Arbeitskreis zu eigen gemacht hat.
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Was ist Glaube?
Vom Verständnis dessen, was mit „Glaube“ gemeint ist, hängt auch sein Inhalt ab: Ist es
eine besondere Erkenntnisform, die weiter reicht als Gefühl und Verstand? Oder eine
Grundhaltung, die das Handeln bestimmt? Worin liegt der Unterschied von Glauben und
Wissen, von Religion und Naturwissenschaft? Wie kommen Menschen zum Glauben und
welche Veränderungen sind festzustellen, zu wünschen? Anerkennung des Glaubens
anderer auch bei erheblichen Unterschieden.
Glaube ist Offenheit für MEHR : Hilfe, Helfen, Kraft, Verstehen. Gott.
Glaube ist Offenheit für MEHR: Für die größere Wirklichkeit, für die Existenz Gottes. Von
daher kommen Gaben und Aufgaben: Mit dem Verstand erkennen wir, durch Arbeit
schaffen wir, mit Gefühl empfinden wir: Schönes und Bedrohliches. Mehr oder weniger.
Auf- oder abgeblendet. Ein Glaube an die größere Wirklichkeit verhilft zu einem Leben in
größerem Zusammenhang: Mehr als in dem Namen Gott enthalten ist. Es darf ruhig noch
MEHR als das sein. War im Wort zum Sonntag am 21.1.12 zu hören.
Nach religiösem Verständnis bedeutet das Tätigkeitswort „glauben“ vertrauen auf ..., sich
verlassen auf, ..Rückbindung an eine höhere Wirklichkeit....... Sich-richten-nach, Offensein
für ... Offenbarung, Übernatürliches, Transzendentes.
Als Substantiv (Glauben) bezeichnet das Wort meist bestimmte (Lehr-)Inhalte einer
Religion, also z.B. ein Verständnis von Gott, Jesus oder der Kirche. In einem Glaubensbekenntnis sind solche wesentlichen Inhalte zusammengefasst, zur eigenen
Vergewisserung, aber auch gegenüber „Andersgläubigen“: „Ich glaube an Gott, den Vater,
den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde.“
In Theologie und Glaubenspraxis äußern sich Unterschiede bei Glaubensinhalten
einerseits in der Hervorhebung von besonderen Inhalten (z.B. Monotheismus, den
Glauben an nur einen Gott, in den „Buchreligionen“ Judentum, Christentum und Islam).
Andererseits wird der eigene Glaube oft mit Hilfe von Negationen erklärt, also durch
Abgrenzungen gegenüber anderen Auffassungen (oder von Teilen derselben). Dann
glaubt jemand sozusagen etwas anderes als der andere. Die unzureichende Sprache des
Glaubens wird durch Deutungen, wie „im übertragenen Sinne, nicht wörtlich zu verstehen“,
Chiffren und Bildern ergänzt.
Einen grundlegenden Lebenssinn hat wohl jeder Mensch. Auch wenn dieser sich nicht in
Worten ausdrücken kann, zeigt er sich doch im Verhalten. „Woran dein Herz hängt, das ist
dein Gott“ schreibt Luther. Der Glaubende findet seinen Lebenssinn im Kontakt mit der
größeren Wirklichkeit, mit Gott. Dadurch öffnet er sich auch anderen Menschen, für die er
in liebender Zuwendung Verantwortung übernimmt: “Liebe Deinen Nächsten wie Dich
selbst“. Das Leben des einzelnen, aber auch der Gemeinschaft bekommt eine neue
Qualität.
Inhalte und Formen des Glaubens .
Die heutigen Inhalte und die Formen des Glaubens an Gott haben sich geschichtlich
entwickelt. Sie beruhen auf Einsichten aus religiösen Erfahrungen, die Menschen gemacht
und beschrieben haben. Persönlich sind sie von sozialisationsbedingtem Erleben und
dessen deutender Verarbeitung in der jeweiligen Zeit geprägt.
Neben dem Glauben existieren die im Laufe der Geschichte angesammelten religiösen
Traditionen.
Wenn andere anderen Glauben haben
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So gibt es in derselben (evangelischen oder katholischen) Kirche sehr verschiedene Arten
des Glaubens. In dem Buch „Der Junge, der aus dem Himmel zurückkehrte“ („Eine wahre
Geschichte“ von Kevin und Alex Malarkey) wird die Wunderheilung eines 10-jährien
Knaben geschildert, der nach eigener detaillierter Aussage und Darstellung seines Vaters
nach einem Autounfall während eines zweimonatigen Komas und danach im Himmel war.
Dort begegnete er Gott, Jesus und vielen Engeln und sprach mit ihnen (was sich auch in
der Rekonvaleszenz fortsetzte). Die Heilung der Trennung des Kopfes von der
Wirbelsäule wurde als übernatürliches Wunder der Kraft vieler Gebete zugeschrieben, so
wie auch erstaunliche Hilfen, die die Familie von anderen Menschen empfing. Bibelstellen
– wie etwa die Aussage Jesu: „bei Gott sind alle Dinge möglich“ (Mt 19,26) – werden
wörtlich verstanden und als Erklärung für viele unwahrscheinliche Ereignisse
herangezogen. Auch in den Gebeten findet der Glaube an die Allmacht und Güte des
persönlich erfahrenen Gottes seinen Ausdruck.
Diese Glaubensform findet auch bei vielen jungen Menschen volle Zustimmung.
Andere Gläubige verstehen viele Bibelworte und Berichte über das direkte Eingreifen
Gottes oder von Jesus Christus in den Geschehensablauf mehr in einem übertragenen
Sinn. Wenn es sich um Beschreibungen von Ereignissen handelt, die im Widerspruch zu
gesicherten naturwissenschaftlichen Erkenntnissen stehen (oder diese, weil transrational
wie z,B. „Himmel“, transzendieren), fragen sie nach der Absicht und nach dem Sinn, dem
Wesentlichen solcher Erzählungen (der sich meistens auch finden lässt).
Die Einstellungen zu den jeweils anderen Glaubensweisen sind meist mehr oder weniger
kritisch oder abwertend. Die Erfahrung von Hilfe von Gott, Jesus oder – für Katholiken –
auch von Maria wird von Kritikern als altertümlich, Einbildung oder sogar als Aberglauben
abgelehnt. Wundergläubige mit direkter, persönlicher Gotteserfahrung dagegen sehen
Wesentliches des Glaubens aufgegeben, wenn Aussagen der Bibel nicht mit allen
Einzelheiten wörtlich verstanden werden – was den Ausschluss vom ewigen Heil zur Folge
haben kann.
Erfreulicherweise nimmt aber die Bereitschaft zu, anderen Menschen ihre eigenen
Glaubensformen zuzugestehen und sich trotzdem mit ihnen im Glauben verbunden zu
fühlen. Die Frage nach der Wahrheit eines Glaubensinhalts führt bei ihnen nicht zur
Aufgabe oder zum Ausschluss von Gemeinschaft, sondern zu gegenseitigem Respekt und
Interesse. Wenn Glaube als Geschenk (Gottes) verstanden wird, kann auch bei großen
Unterschieden das Wesentliche z.B. des christlichen Glaubens bei anderen als vorhanden
und wirksam vorausgesetzt und gesehen werden. Dabei ist auch daran zu erinnern, dass
in vielen Religionen und auch im christlichen Glauben nicht die Wahrheitsbehauptung für
eine Lehre das Wichtigste ist, sondern die Liebe (nach Paulus) im Vergleich zu Glaube
und Hoffnung die größte!
Wenn das beachtet wird, können sowohl die Rechtgläubigen wie auch die Offenen für
neue Glaubensformen ihre eigenen Auffassungen nicht nur selbstbewusst praktizieren
und vertreten, sondern dürfen diese durchaus auch Anhängern anderer Glaubensformen
zeigen und erklären – ohne allerdings deren Überzeugungen herabzusetzen. Das zu
vermeiden bringt auch für die eigene Glaubensform Fortschritte. (Ausprobieren lohnt sich!)
Das Entstehen von Glauben ist Geschenk
Glaube ist eine menschliche Fähigkeit, transzendente Wirklichkeiten zu erahnen, zu
erkennen und danach zu handeln.
Das Wort „Glaube“ wird in den meisten Aussagen und Texten unseres Kulturkreises ganz
selbstverständlich verstanden als Glaube an den christlichen Gott, als sein Geschenk. Es
gibt Berichte und Erklärungen von eigener Entscheidung zum Glauben: Bei einer in der
Bibel berichteten Dämonenaustreibung kommt der Vater des kranken Jungen nach der an
Jesus gerichteten Bitte „.... hilf meinem Unglauben!“ zum heilenden Glauben. Und der
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Ausruf Jesu „Ihr ungläubiges Geschlecht, wie lange soll ich bei euch sein, wie lange soll
ich euch ertragen?“ klingt vorwurfsvoll. Dass ein Mensch zum Glauben kommt, ist also
nicht selbstverständlich, sondern hängt von seiner Offenheit dafür ab. ( Andacht Glaube ist
Geschenk).
Aber nicht nur in der Geschichte von der Heilung eines Kranken durch Jesus kommt der
Glaube als Geschenk, auch in vielen anderen Bibelstellen und nicht zuletzt bei Martin
Luther ist das so: „Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus
Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann .......“
Gott hat per definitionem vor menschlichen Möglichkeiten zu glauben existiert. Demgemäß
verdanken die meisten „Gläubigen“ ihren Glauben nicht der eigenen Anstrengung,
Begabung oder Findigkeit, sondern er ist ihnen zugekommen. Darin wird persönliche und
individuelle Zuwendung und Fürsorge Gottes erfahren. Diese kann unter anderem in der
Erziehung, der Begegnung mit dem Nächsten, auch in besonderen Erlebnissen gesehen
werden. Zunehmend wird aber heute die Entscheidung für oder gegen die Annahme bzw.
Beibehaltung eines religiösen Glaubens vom einzelnen Menschen selbst getroffen.
Der eigene Glaube unterscheidet sich wie das Gesicht eines Menschen von allen
anderen. Ist es nicht so, dass das Neugeborene durch die Eltern Vertrauen lernt - das von
glaubender Einstellung geprägt sein kann? Auf diesem Fundament begegnet es der
Umwelt und findet seinen Platz in der Welt: behütet oder verloren „je nach seinem
Glauben“ im selbstzentrierten Denken oder im Erkennen des anderen, Nächsten. Aber
viele gehen schon früh eigene Wege und werden anders, mehr oder weniger gläubig als
ihre Eltern.
Wenn es Veränderungen beim Glauben gibt, kommt das auch von weiter her, im positiven
Fall aus der größeren Wirklichkeit Gottes. Also nicht nur von innen, vom Ich. Von vielen
Seiten, in vielen Formen, in vielen Zumutungen. Gott eröffnet neue Möglichkeiten des
Glaubens, indem er sich selbst verändert und damit uns, nicht erst mit dem Auftreten
Jesu, nicht nur in der Vergangenheit, sondern bis heute. Gott ist jener Vertrauensraum, in
dem Menschen wachsen und gedeihen können, weil sie sich von der Macht des Lebens
selbst getragen, gehalten und bejaht fühlen.
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Glaube und Wissen
In welchem Verhältnis stehen Glaube und Wissen? Nicht erst seit der Aufklärung werden
Wissenschaft und Wissen als die überlegene Erkenntnisform gegenüber dem Glauben
angesehen. Wissenschaft und insbesondere Naturwissenschaft wird für den besten Weg
zur Erkenntnis der Wirklichkeit gehalten, auch weil er zur Verbesserung der menschlichen
Lebensbedingungen beiträgt. Wird der Glaube demgegenüber zu gering eingeschätzt?
Woher lassen sich heute und in Zukunft Lebenssinn und Wertbewusstsein empfangen?
Es ist notwendig, Glaube und Wissen zutreffend zu unterscheiden und eine Vermischung
zu vermeiden.
In der Umgangssprache wird „glauben“ meistens im Sinne von vermuten, erwarten,
meinen, für wahr halten gebraucht. Kritiker setzen das Wort gerne gleich mit „Nichtwissen“.
Nach religiösem Verständnis bedeutet glauben (als Verb) vertrauen auf ..., sich verlassen
auf, ... Sich-richten-nach, Offensein für ... Offenbarung, Übernatürliches, Transzendentes
....
Als Substantiv (Glauben) bezeichnet das Wort meist bestimmte (Lehr-)Inhalte einer
Religion, also z.B. ein Verständnis von Gott, Jesus oder der Kirche. In einem Glaubensbekenntnis sind solche wesentlichen Inhalte zusammengefasst, zur eigenen
Vergewisserung, aber auch gegenüber „Andersgläubigen“: „Ich glaube an Gott, den Vater,
den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde.“
Wissen ist das Bewusstsein (die Kenntnis, die Berücksichtigung) von Fakten, Theorien
und Regeln und wird auch als Substantiv für deren Dokumentation verwendet.
Qualifiziertes Wissen wird als nachweisbar wahre und gerechtfertigte Meinung definiert
und unterscheidet sich von Begriffen wie Überzeugung und Glauben.
Der Inhalt von Wissen kann wahr oder falsch sein. Dabei gründet eine wissenschaftlich
„wahre“ Erkenntnis auf den definierten Axiomen, der internen Widerspruchsfreiheit, der
Wiederholbarkeit im Experiment und der Überprüfbarkeit (verifizierbar oder falsifizierbar).
Vieles im menschlichen Leben ist entsprechend seiner Eigenart nicht (oder jedenfalls nicht
ganz) als Wissen zu erfassen, so z.B. der Sinn des Lebens, der Tod, das Gefühl, Gott und
das Jenseits.
Glauben und Wissen sind voneinander zu unterscheiden, was bei Aussagen des
Glaubens und des Wissens schwierig, aber notwendig ist, um ihre Vermischung zu
vermeiden.
Wissenschaft strebt durch eine hochentwickelte Theoriebildung und Methodik den
größtmöglichen Grad von objektiver Wahrheit in ihren Aussagen und
Untersuchungsergebnisse frei von Widersprüchen an. Das gilt für alle
Wissenschaftszweige, also für Geisteswissenschaften, Naturwissenschaften und
Sozialwissenschaften. Auch die Theologie arbeitet mit wissenschaftlichen Methoden und
hat ihre eigenen Vorgaben. Notwendig (wenn auch nicht immer leicht) ist die
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Unterscheidung zwischen den verschiedenen Wissenschaftsgebieten.
Wissen hat auch eine individuelle Dimension. Nach gedanklicher Beschäftigung mit
wichtigen Fragen glaubt man für sich in Wissen, Konzepte erarbeitet zu haben , die icht
objektivierbar zu sein brauchen, aber für einen selber verbindlich sind.
Glauben steht auch in einer dynamischen Beziehung zum Unterbewusstsein, in dem
Gefühle, Wünsche, Vorstellungen, Ideen verarbeitet und dann in unser Bewusstsein
gehoben werden.
Das Verhältnis von Glauben und Wissen, aber auch von Wissen und Glauben verändert
sich dauernd sowohl individuell als auch generell. Dabei kann es abwechselnd und mehr
oder weniger stark von Widersprüchen, Gegensätzen, Ergänzung oder analoger
Übereinstimmung bestimmt sein.
Ken Wilbers unterscheidet zwischen prärationalen und transrationalen religiösen
Erfahrungen (zitiert in Küstenmacher u.a. „Gott 9.0“). Beide sind nicht-rational,
entsprechen also nicht dem Bewusstsein aufgeklärter Vernunft. Im Bereich prärationaler
Erfahrung kann es sich um Mythen, Animismus, Magie, Aberglauben oder auch um den
einfachen „Kinderglauben“ handeln, die nicht in rationales Verstehen integriert oder damit
verbunden sind, (aber keineswegs durch die kritische Vernunft wertlos oder sinnlos
gemacht werden, wie z.B. der Religionskritiker Feuerbach meinte). Transrational sind
dagegen Erfahrungen, die über die Grenzen rationaler Erkenntnis hinausreichen. Sie
werden auch von Christen in kontemplativer Spiritualität, Mystik und Offenheit für
Transzendenz erlebt.
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Naturwissenschaft und Glauben
Gibt es eine Konkurrenz zwischen Naturwissenschaft und Glauben? Haben manche
naturwissenschaftliche Erkenntnisse Vorstellungen des Glaubens verdrängt – wie z.B.
beim Verständnis der Entstehung der Welt und des Lebens? Sind naturwissenschaftliche
Erkenntnisse mit einem Eingreifen Gottes in den Geschehensablauf zu vereinbaren? Oder
ist vielmehr das Verhältnis der beiden Erkenntnisformen neu zu bestimmen? Können sie
sich gegenseitig ergänzen und fördern? Unterschiede sollen nicht verwischt werden. Aber
es gibt Berührungspunkte zwischen Naturwissenschaft und Glauben, die bis zur
gegenseitigen Ergänzung führen können. Die Begrenztheit beider Erkenntniswelten ist
offenkundig. Keine kann einen berechtigten Anspruch auf die Erfassung der
Gesamtwirklichkeit erheben.
Von großer Bedeutung für den Glauben ist heute sein Verhältnis zu den
Naturwissenschaften. Ist es das einer Konkurrenz oder ergänzen sich beide gegenseitig?
Die Natur ist der Gegenstand der Erforschung durch die Naturwissenschaften. Unter Natur
versteht man alles, was mit den Mitteln und den Messgeräten der Naturwissenschaften
beobachtet, gemessen und beschrieben werden kann. Beobachtungen, die beliebig oft
und von jedermann in gleicher Weise reproduziert werden können, werden mit Hilfe der
Mathematik in Form von Gesetzen beschrieben. So wurde, ausgehend von der
Beobachtung eines fallenden Apfels und der Bewegungsbahnen der Gestirne, mit Hilfe
von Messungen fallender Gegenstände das Gravitationsgesetz abgeleitet.
Alle einmaligen (historischen) Prozesse können nicht reproduziert werden und entziehen
sich somit einer physikalischen Untersuchung. Die Entstehung des Kosmos und seine
Entwicklung sind ein Beispiel hierfür. Modellvorstellungen über die Entstehung des
Kosmos werden aber die Gültigkeit der Naturgesetze berücksichtigen, um nicht von
vornherein unglaubwürdig zu sein.
Mit Hilfe der naturwissenschaftlichen Gesetze sind Vorhersagen von Ereignissen in der
Zukunft und rückblickende Beschreibungen von Ereignissen in der Vergangenheit
möglich.
Gegenstand der Naturwissenschaften ist die Beschreibung der Gegenstände und
Ereignisse und von Beziehungen wie Ursache und Wirkung, nicht der Versuch einer
Sinnfindung oder Sinngebung. Wenn logisch aus der Erkenntnis, dass alles „zeitlich“
geschieht, folgt, es gäbe generell nur „historische“ Feststellungen, werden auch alle mit
streng naturwissenschaftlichen Methoden gewonnenen Ergebnisse relativiert. Mit der
antiken Weltinterpretation (nach Heraklit und Platon): „Man kann nicht zweimal in
denselben Fluss steigen“ ist auch die Grenze jedweder „Wissenschaft“ markiert. Alles Sein
ist demnach nicht statisch, sondern im ewigen Wandel als dynamisch zu denken.
Theologie ist (nach überwiegendem Selbstverständnis) die durch göttliche Offenbarung
begründete Lehre von Gott. Sie befasst sich mit der wissenschaftlichen Analyse der
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Inhalte von Glaubensdokumenten und der praktischen Ausübung einer Religion und ihrer
Unterschiede zu anderen Glaubensrichtungen.
Theologie kann dem Ganzen der Evolution einen Sinn zuschreiben. Sie kann die Evolution
als Schöpfung interpretieren.
Jeder Mensch kann aufgrund von religiösen Erfahrungen und mithilfe verschiedener
Wissenschaften seinen Glauben entwickeln.
Zwischen Naturwissenschaft und Glauben gibt es keinen Widerspruch (mehr).
Die Naturwissenschaften sind heute frei von Theologie. Sie machen keine Aussagen über
Gott. Und die Theologie formuliert keine Naturgesetze und steht in ihren Aussagen in
keinem Widerspruch zu den plausiblen und reproduzierbaren Aussagen der
Naturwissenschaften. Es handelt sich lediglich um verschiedene Erkenntniswege, die von
uns je einzeln wahrgenommen und nicht nur akzeptiert, sondern fruchtbar für unser Leben
in Verbindung gebracht werden sollten.
„Dass es zwischen Naturwissenschaft und Glauben keinen Widerspruch gibt, ist die
wichtigste Aussage in unserer Diskussion: Die naturwissenschaftliche Welt des
experimentellen Wissens und die religiöse Welt des Glaubens können sich per
definitionem nicht widersprechen, weil sie es mit zwei verschiedenen Bereichen und
unterschiedliche Erkenntnismethoden zu tun haben.“
Mit keiner der beiden Erkenntniswelten allein, mit keiner einzelnen Wissenschaft allein
kann die existierende Wirklichkeit hinreichend erklärt werden. Ihre jeweiligen
Beschränktheiten sind offenkundig. Zum Beispiel beim Hören von Musik von Bach, der
auch der fünfte Evangelist genannt wird, obliegt der Physik und Technik die Konstruktion
der Instrumente, die Steuerung der Erzeugung und die Weiterleitung der Schallwellen, die
Erzeugung der Schwingungen im Trommelfell und Signalübertragung in das Gehirn. Das
eigentliche Hören der Musik und die damit verbundenen Empfindungen werden auf diese
Weise aber nicht erfasst. Hier werden Wahrnehmungen angestoßen, die über die
materiellen Abläufe hinaus gehen. Das wahrnehmende Hören mit seinen
Sinnesassoziationen ist ebenso Teil der Wirklichkeit, wie auch die den Ton abstrahlende
schwingende Saite oder eine Orgelpfeife. Erst die messbaren Abläufe und die
emotionalen Empfindungen zusammen ergeben die Realität der Musik.
Aussagen in der Bibel, die scheinbar im Widerspruch zu unserer Naturerfahrung stehen,
sind keine streng historischen oder gar naturwissenschaftlich beschreibende
Darstellungen, sondern reine Glaubensbezeugungen in der Sprache der damaligen Zeit.
Zum Beispiel heißt es in der Bibel bei Lukas in der Geburtsankündigung (Lk 1,35): „Der
heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten;
darum wird auch das Heilige, das von dir geboren wird, Gottes Sohn genannt werden.“
Nach antikem Glauben wurden Herakles und Alexander durch Zeus’ „göttlichen Geist“
gezeugt und somit zu Gottessöhnen. Eine Frau konnte durch „Besehen“ eines Gottes
schwanger werden. Die Mutter des vergöttlichten Kaiser Nero trug den Titel
Gottesgebärerin.
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Wie in der griechisch-mythologische Sprache, in der zur Zeit der Entstehung des Neuen
Testaments über Gottessöhne und deren Mütter würdigend und anbetend gesprochen
wurde, beeinflusst auch modernes Denken, wenn es sich mit unterschiedlichen
Gottesvorstellungen befasst.
Dementsprechend wird die Besonderheit Jesu nicht (mehr wie früher weithin verbreitet) in
einer Schwangerschaft ohne männlichen Zeugungsakt gesehen, sondern in seinem
unvergleichlichen engen Verhältnis zu Gott, von dem er mehr und anders erfüllt und
bestimmt geglaubt wurde als andere Menschen; weshalb er auch mit einem schon
damals gebräuchlichen Ausdruck „Gottes Sohn“ genannt und als solcher verehrt wurde.
Es gibt keinen Widerspruch zwischen Naturwissenschaften und Glauben, auch wenn sie
sich der gleichen Sprache bedienen, die im Spiegel der jeweiligen Zeit verstanden
werden muss. Naturwissenschaften und Theologie befassen sich mit unterschiedlichen
Aspekten der Wirklichkeit, die für sich genommen keinen berechtigten Anspruch auf die
Erfassung der Gesamtwirklichkeit dieser Welt erheben können. Erst das Zusammenwirken
beider Bereiche in Kenntnis ihrer jeweiligen Begrenztheit bringt uns weiter im Verstehen
und Gestalten unserer Lebenswirklichkeit.
Diese Unterscheidung von Naturwissenschaft und Glaube ermöglicht (und fordert!) es,
Aussagen wie die über Weltentstehung und Schöpfung sowie von Evolution und Leben
als Gabe Gottes, eigenständig mit den jeweils anerkannten Methoden zu erfassen und
nach den Grundprinzipien der eigenen Betrachtungsweise zu interpretieren. .“ Wer sich
für den Glauben an Gott entscheidet, gewinnt nach Hans Küng eine Art archimedischen
Punkt, von dem aus grundsätzliche Antworten auf die drei Fragen Kants gesucht werden
können: Was können wir wissen? Was sollen wir tun? Was dürfen wir hoffen? (vgl. Hans
Küng Kapitel 4 , Jam Ende der Stellungnahme zu Polkinghorne.)
Der Physiker und Theologe J. Polkinghorne verbindet Glauben und
Naturwissenschaft. (Link zum Herunterladen der Stellungnahme des theol Arbeitskreises
zu J. Polkinghorne)
Die metaempirische, philosophisch-theologische Betrachtung ist gleichberechtigt mit der
naturwissenschaftlichen. Eine Monopolisierung im Sinne der Erkenntnis auf Seiten der
Naturwissenschaften oder der Religionen führt zur Verabsolutierung von Teilwahrheiten,
zu Intoleranz und zur Einschränkung der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten.
Gibt es ein Einwirken Gottes auf das Weltgeschehen?
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Die Physik denkt in nachweisbaren Ursachen und Wirkungen. Die Ursachen bewirken
gemäß den Naturgesetzen die Wirkungen, und die Wirkungen lassen sich zurückführen
auf Ursachen. Dass das immer so sein muss, kann nicht bewiesen werden, entspricht
aber der Erfahrung und behält seine Gültigkeit bis zum Auftreten einer Wirkung ohne
Ursache. Somit glauben die Physiker an dieses Wechselwirkungsprinzip. Auf Grund
dieses „Glaubens“ sind sie nicht bereit, eine Wirkung, deren Ursache sie nicht kennen, als
Wirkung ohne Ursache anzuerkennen oder einen nicht physikalischen Wirkgrund, wie ein
Eingreifen Gottes, zu akzeptieren. Dies würde sie in ihrer Erforschung der Welt nicht
weiter bringen.
Hingegen hat der „Glaube“ an die allgemeine Gültigkeit des Wechselwirkungsprinzips eine
Vielzahl von neuen Erkenntnissen gebracht.
Der Naturwissenschaftler Jürgen Schnackenberg hält ein Gottesbild, das die Vorstellung
eines von außen auf unsere Welt einwirkenden Gottes enthält, für unvereinbar mit dem
Wechselwirkungsprinzip, also mit einer elementaren, bis jetzt empirisch zweifelsfrei
begründeten physikalischen Aussage. „Wer dennoch ein solches, traditionelles Gottesbild
zu einem integralen Bestandteil des christlichen Glaubens erklärt, nötigt damit die ohnehin
kleine Minderheit von Naturwissenschaftlern, die sich überhaupt noch zu einem
christlichen Glauben bekennen, ihren Glauben aufzugeben oder ihr Bewusstsein in einen
christlichen und einen wissenschaftlichen Teil zu spalten oder gar eine elementare
Aussage ihrer eigenen Wissenschaft nicht mehr ernst zu nehmen.“
Die bescheidene, aber präzise Antwort des Physikers auf die Frage in der Überschrift
dieses Abschnitts lautet also: Nein! Mit dem Zusatz. Dieses Nein gilt, es sei denn, wir
könnten das Wirken Gottes im Experiment objektiv und reproduzierbar nachweisen.
Im übertragenen Sinne des Wortes „Einwirken“ gibt es gar vielfältige Möglichkeiten, das
Verhältnis Gottes zur Welt zu beschreiben. Der Physiker Albert Einstein war von der
Einfachheit der die Natur beschreibenden Gesetze überzeugt, denn Gott, der die Welt
erschaffen hat, sei ein großer Physiker. „Gott würfelt nicht.“ Diese Gottesüberzeugungen
haben seine Forschung beflügelt und auch gehemmt.
Viele Menschen glauben wie Albert Einstein auf Grund ihrer Erfahrungen in dieser Welt,
der Begegnung mit dem Nächsten, des Erlebens des Entstehens von neuem Leben, der
Vielfalt der entstehenden Gedanken und durchlebten Emotionen, dass Gott die Welt
erhält.
Die Antwort dieser Menschen auf die Frage in der Überschrift lautet „Ja. Ich erlebe immer
wieder, dass ich mich im Glauben an das Wirken Gottes beschützt und geborgen fühle.
Für mich ist dies eine Gewissheit.“
Leider kann diese subjektive Gewissheit nicht so objektiviert werden, dass sie im Prinzip
für jedermann/jedefrau, zu jeder Zeit, an jedem Ort im Großen oder Kleinen
nachempfunden werden könnte. Der Glaube bleibt ein Geschenk, das man sich weder
erarbeiten, erkämpfen oder beschaffen , das man aber immer wieder erneut erbitten
kann. (Aber wen man darum bittet, glaubt man ja doch schon....)
Auch für den Theologen Hans Küng stellt sich (vgl. sein Buch „Was ich glaube“) auf dem
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Hintergrund seiner Kenntnis der Naturwissenschaften die Frage: Können wir in dieser Welt
der Evolution überhaupt noch an Wunder durch Eingreifen Gottes in den
Geschehensablauf glauben? Die Bibel ist voll davon, von Anfang bis Ende. Wie bringe ich
diese Wundergeschichten mit dem streng kausalen Entwicklungsprozess zusammen,
wenn da elementare Naturgesetze durch “Naturwunder” durchbrochen werden?
H. Küng hat „selbstverständlich Verständnis dafür, dass auch heute noch Menschen, die
von den Ergebnissen der Naturwissenschaft wenig berührt sind, solche biblischen
‚Naturwunder’, die den lückenlosen Kausalzusammenhang verletzen, wortwörtlich nehmen
wollen. .... Doch aufgeklärte Gottgläubige brauchen Erzählungen von ‚Naturwundern’ nicht
wörtlich zu nehmen oder gekünstelte naturwissenschaftliche Erklärungen dafür zu suchen.
Schon die Ergebnisse der modernen Bibelwissenschaft bieten andere
Verständnismöglichkeiten im übertragenen Sinn. Wunder sind in den Evangelien als
Modellgeschichten für das Verhältnis von Jesus zu den Menschen und zur Welt erzählt.
Diese Zeichen sind heute im übertragenen Sinn verständlich: so zum Beispiel die
Wunderheilungen als gelebte Nächstenliebe oder die Auferstehung Jesu als Beginn und
Erscheinungsform seines Weiterwirkens nach seinem Tod bis heute (was ja auch nicht
weniger als ein „Wunder“ ist!).
Link zum Download der Stellungnahme des theol Arbeitskreises zu Hans Küngs
Gottesverständnis
Kann Gott in der Zukunft wirken?
Die Physik kann nur über Vergangenes berichten. Da gibt es Erklärtes und Unerklärtes.
Göttliches kommt nicht vor, weder im Experiment noch in der Theorie. Die Physik ist frei
von Theologie. Der Erkenntnisweg der Physik hat aber die Begrifflichkeit der Kausalität
eingeführt, die die offene Zeit voraussetzt. Was in dieser offenen Zeit passieren kann,
darüber kann die Physik keine Aussage machen. Der Theologe sieht hier aber deutliche
Hinweise auf ihr Welt- und Gottesverständnis und auf die Offenbarungsschriften. Im
Vertrauen auf Gottes Wirken und seiner Gegenwart wendet sich der Beter an ihn mit der
Bitte, das Beste für sie/ihn zu schaffen, ihr/ihm zu neuen Möglichkeiten und Einsichten zu
verhelfen und ihn schützend zu begleiten. Dies sollte nicht als ein Gottesbeweis
missverstanden werden, sondern als Verdeutlichung, dass es zwischen
Naturwissenschaften und Religion keinen Widerspruch gibt. Sie vertreten zwei
unterschiedliche Erkenntniswege einer Wirklichkeit. Zwei Wege, die sich hier im Zeitbegriff
begegnen.
Fügung oder Zufall?
In der Physik ist der „Zufall“ ein Ereignis, das eintreten kann, weil die Randbedingungen
nicht hinreichend eng gewählt oder bestimmt worden sind. Die hochgeworfene Münze fällt
auf „Wappen oder Zahl“, wenn der Wurf diese Möglichkeiten zulässt. Man möchte z.B.
durch eine Zufallsentscheidung die Platzwahl am Beginn eines Fußballspiels treffen.
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Wenn ich aber die Versuchsbedingungen so wähle, dass die Münze immer nur auf eine
Seite fallen kann, dann ist der Zufall weg. Auch der experimentelle Aufbau entscheidet
z.B. über die Erscheinungsform des Lichtes als Welle oder Korpuskel.
Den Begriff der Fügung gibt es in der Physik nicht, wohl aber in der Religion. Wenn
Ereignisse, die an sich unabhängig von einander sind, in einen Sinnzusammenhang
gebracht werden oder als auf ein Ziel gerichtet eingeordnet werden, dann spricht man von
Fügung. Fügung passiert nicht objektiv, sie wird subjektiv entdeckt und entspricht einem
Deutungszusammenhang, der auf Gottes Eingreifen bezogen sein kann.
Zwischen Naturwissenschaft und Religion gibt es Berührungspunkte
Kann die Frage nach dem Einwirken Gottes in die physikalisch-naturwissenschaftliche
Weltvorstellung dadurch beantwortet werden, dass man in der Quantentheorie,
Chaostheorie oder den Zufällen der Evolution für Gottes Eingriff nach „Fugen“ sucht?
Unzweifelhaft üben die heutigen Naturwissenschaften und die auf ihnen fußende Technik
einen dominierenden Einfluss auf unser Leben aus. Das darf aber nicht zu dem
Trugschluss führen, dass wir mit dem naturwissenschaftlichen Weltbild die ganze
Wirklichkeit oder die wichtigsten Teile davon erfasst hätten. Wir leben nicht nur in
derjenigen Welt, die wir durch naturwissenschaftliche Methoden untersuchen und
beschreiben. Da gibt es die erfahrbare Welt der Musik, der Poesie, der Schönheit, der
Grausamkeit, usw., in der naturwissenschaftliche Untersuchungsmethoden versagen. Die
eigentliche Frage ist: welche Wirklichkeit haben wir bei der naturwissenschaftlichen
Erforschung dieser Welt erfasst?
Eine Antwort ist, dass eine innerhalb der methodischen Grenzen erworbene
Welterkenntnis herauskommt, die vor allem für technische Verwertungszusammenhänge
bedeutsam ist. Die Folgerung lautet, dass dieses Ergebnis nicht im Widerspruch zu einem
Schöpfer-Gott steht, denn die Erkenntnisse des Glaubens basieren zwar auf anderen,
aber ebenso legitimierten Sinnerfahrungen.
Die Naturwissenschaften befassen sich per definitionem nicht mit der Erforschung von
Gott. Aber es gibt naturwissenschaftliche Inhalte, die aus nichtnaturwissenschaftlicher
Sicht beschrieben und gedeutet wurden. Beim Erkenntnisfortschritt der
Naturwissenschaften wurden hier Abgrenzungen und Klarstellungen von naturwissenschaftlicher und z.B. theologischer Aussage vorgenommen.(Schöpfung, Erde im Zentrum
des Kosmos, Körper/Seele)
Es gibt Begriffe, die in den Naturwissenschaften und in der Theologie (und in anderen
Geisteswissenschaften) benutzt werden, als ob ihre Bedeutungen identisch wären. Die
Diskussion der Reichweite und Bedeutung der jeweiligen Begriffe in ihrem Bezugsrahmen
dient der Klärung von Missverständnissen und der Schaffung von Einsichten. Dies ist das
Feld des Dialoges zwischen der Theologie und den Naturwissenschaften (Begriffe wie:
Zufall, Wirklichkeit, Zeit, Wahrheit, Kausalität, Gesetz, usw.)
Neben der Welterfassung gibt es immer die Frage nach dem Sinn des Lebens in jedem
Menschen, wenn man akzeptiert, dass es keinen areligiösen Menschen gibt. Diese
13
Trennlinie zwischen Denken in dem wissenschaftlichen Bereich und dem emotionalen
Wirklichkeitsverständnis tritt nicht immer klar zu Tage und existiert Seite an Seite.
Eine Vermischung zwischen Naturwissenschaft und Glauben passiert zwar immer, denn
selbstverständlich gleicht jeder Mensch, bewusst oder unbewusst, sein Welt- und sein
Gottesbild, aufeinander ab. So besteht nicht nur die Gefahr von Vermischung, nein: ein
bestimmter Grad von Vermischung ist gar nicht zu vermeiden.
Denn der Biologe denkt wie andere Wissenschaftler selbstverständlich auch über sein
Fachgebiet hinaus über die Voraussetzungen nach, die hinter dem Wissen seines Faches
liegen.
Und der Theologe denkt selbstverständlich auch über sein Fachgebiet hinaus die Dinge
mit, die hinter den Glaubens-Inhalten seines Faches liegen.
Beides muss erlaubt bleiben, ohne dass es als Legitimation für Spekulationen mit
Gültigkeits- oder Wahrheitsanspruch dienen darf.
Wenn Theologen jenseits ihres Fachgebiets in der Naturwissenschaft nach Beweisen für
ihre Vorstellungen suchen und diese Beweise entweder über Analogien oder über
hypothetische Behauptungen oder über beides konstruieren, kann der Verdacht
entstehen, dass sie dies tun, um ihre Nicht-Naturwissenschaft wissenschaftlich aussehen
zu lassen.
Näheres zu dieser Frage in der Stellungnahme des Arbeitskreises zu J. Polkinghorne
Download.
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Kommunikation mit Gott
Ist es möglich, Verbindung mit Gott aufzunehmen – ihm etwas mitzuteilen oder etwas von
ihm zu empfangen? Für betende Gläubige ist das selbstverständlich. Aber nicht nur im
Blick auf neuere naturwissenschaftliche Erkenntnisse ist zu fragen, was mit „Offenbarung“
gemeint ist und mit der Bezeichnung der Bibel als „Gottes Wort“. Auch in der Theologie
verändert sich die Kommunikation mit Gott, wenn es von ihm auch andere Vorstellungen
gibt als die einer – wie einen Menschen anzusprechenden – Person . Wie wirkt es sich in
der Kommunikation mit Gott aus, wenn mehr als früher daran gedacht wird, dass Gott
größer und anders ist als unsere Vorstellungen von ihm? Ist er dann auch anders und auf
verschiedene Weise ansprechbar?
Wenn Gott nicht nur (wie vom frühaufklärerischen Universalgelehrten G.W. Leibniz) als ein
Uhrmacher dargestellt wird, der die Welt mit Raum und Zeit geschaffen hat – sie läuft
seitdem, ohne dass er eingreift, von selbst – , dann gibt es auch verschiedene und
wechselnde Verbindungen zu ihm. Die häufigste Art der Kommunikation mit Gott ist das
Gebet. Aber auch das Denken an ihn, besondere Erfahrungen (z.B. als „Offenbarung“)
oder Rituale und Symbole können mehr oder weniger intensive Kontakte mit Gott
14
vermitteln. Die Erwähnung Gottes in täglicher Rede („Ach du lieber Gott...“) ist zwar fast
immer nur noch eine entleerte Formel, enthält aber doch einen Bezug zu der damit
bezeichneten größeren Wirklichkeit (obwohl sie gegen das Gebot „Du sollst den Namen
Gottes nicht missbrauchen“ verstößt). .
Die Welt, wie wir sie mit dem Verstand und naturwissenschaftlichen Methoden erkennen
können, lässt die Dimension der Transzendenz meist unbeachtet. Fragen nach dem Sinn
des Lebens sind aber nur beantwortbar, wenn auch der spirituelle Zugang anerkannt wird.
Kommunikation mit Gott kann direkt oder indirekt, bewusst oder unbewusst stattfinden. Ihr
Verständnis ergibt sich aus den Aussagen von Gläubigen. Danach ist eine Kommunikation
mit Gott in allen Glaubensformen möglich. Die Form und der Inhalt sind abhängig von dem
Gottesbild des oder der Gläubigen. Aktuelle Aussagen über Gott (und seinen Willen, seine
Hilfe, seine Wertungen, Pläne, Warnungen) erwecken oft den Eindruck, dass sie in
besonderer Kommunikation mit Gott begründet sind.
Eine Kommunikation mit Gott ist für viele selbstverständlich und unbedingt erforderlich, sei
es mit einem persönlichen Gott oder mit einem non-theistischen Gott oder „Urgrund allen
Seins“. Sie ist besonders notwendig und oft auch hilfreich in schweren Lebenslagen,
besonders wenn man auf frühe religiöse Prägungen zurückgreifen kann.
Viele Namen und Vergleiche für Gott legen es nahe, von ihm unter Verwendung des
Feldbegriffs zu sprechen. Kommunikation mit Gott wird dann als mehrfache Beziehung
wahrgenommen. Das Wort Feld deutet auf den Zusammenhang des Wirkens von Gott als
Geist und Kraft hin. Es reicht weit über das kleine Umfeld von einzelnen Menschen und
Gruppen hinaus und kann eine Metapher für die überpersönliche All-Gegenwart Gottes
Gottes/der größeren Wirklichkeit sein. In den Naturwissenschaften wurde ein Feldbegriff
entwickelt, der Erkenntnisse generiert, die ein Zusammenwirken von geistigen und
physikalischen Kräften möglich erscheinen lassen.
Gott wird auch oft als Kraft erlebt, erfahren und benannt. Das kann das verbreitete
Gottesverständnis als Person ergänzen und erweitern.
Nach M. Kroeger ist Gott „eine Kraft, die schafft, beschenkt, fordert, vernichtet, zu der
anbetendes In-Beziehung-Treten ohne Festlegung auf wie auch immer geartete
theologische oder philosophische Begriffe möglich und lebensdienlich ist.“
Gott als Person erfahren
Christen sehen sich in der Beziehung zu Gott, der ihren letzten Grund des Seins darstellt.
Ganz überwiegend wird Gott im Glauben als Ansprechpartner erlebt, der menschliche
Züge trägt, der (einzelne und viele, alle!) Menschen hört, sieht, ihnen antwortet, hilft, zürnt.
Dabei wird selbstverständlich das „Du“ auf der anderen Seite vorausgesetzt. Jede/r
Gläubige kann ihrer/seinerseits in einer ganz persönlichen Beziehung (mit all den Details
der individuellen Situation) zu Gott stehen.
„Es ist der Gott, mit dem ich in meiner Sprache, mit der ich auch mit Menschen
kommuniziere, in Gebet und Meditation sprechen kann. Allein oder mit anderen
zusammen. Laut oder nur in Gedanken. Ich werde es mit Worten tun, die Respekt und
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Ehrfurcht ausdrücken. In der Not und in der Verzweiflung werde ich das vergessen und
hoffen, dass Gott mich trotzdem hören will. Ohne dass ich mir ein persönliches Gegenüber
vorstelle, werden mir die rechten Worte fehlen. Von klein auf habe ich immer nur mit
einem persönlichen Gegenüber geredet und dabei auch gelernt, was Bitten, was
Vertrauen, was Enttäuschung und allein gelassen bleiben heißt.“
Wir sind immer angewiesen auf andere. Wir benennen die Dinge und Personen. Damit
setzen wir uns immer in Beziehung zu einem Gegenüber. Und wie immer Menschen sich
das Göttliche vorstellen, sie sprechen es an als Gegenüber.
Wer aber glaubt – und vom Glauben sollten wir nur reden, wenn der Glaube an „Gott“/ an
eine größere Wirklichkeit gemeint ist, denn der Glaube ist diese „Offenheit für MEHR“ –
der vertraut darauf, von diesem verborgenen Gegenüber gehört zu werden in Gebet und
Meditation. Und er vertraut oder hofft darauf Antwort zu erfahren, deren Ausbleiben der
Glaubende angstvoll als Gott-Verlassenheit deutet.
Die Mystik vertritt das Ineinander von persönlichen und überpersönlichen Zügen Gottes.
Gott ist größer und anders als unsere Vorstellungen von ihm
Gott ist für viele christliche Gläubige eine ansprechbare Person, für manche eine alle
menschliche Vorstellungen und Namen überschreitende größere Wirklichkeit. „Nontheistisch“ (d.h. anders als Gott-Person mit vergleichbar menschlichen Eigenschaften
verstanden) bedeutet nicht ein „Weniger von Gott“, als vielmehr das ehrfürchtige Staunen
vor dem unfassbar großen Geheimnis des Seins, vor der allumfassenden Macht, die mit
dem Urwort „Gott“ gemeint ist. Diese Macht, dieses Geheimnis ist nicht nur als
supranaturale „Gottperson“ mit gesteigerten menschlichen Eigenschaften angemessen
beschrieben. Sie kann auch mit Namen wie Kraft, Feld, Grund des Seins, Das Unbedingte,
größere Wirklichkeit bezeichnet und angesprochen werden. (Die Verwendung personaler
Gottesnamen ist weiterhin möglich, sie werden – wie schon bisher alle anderen
symbolischen und bildhaften Namen für Gott – im übertragenen Sinn gebraucht.)
Auf diese Weise kann versucht werden zu vermeiden, dass eigene Vorstellungen von Gott
zu dem Glauben verleiten, Gott sei wirklich und ganz genau so, wie das Bild von ihm, das
wir uns machen, etwa das eines Übermenschen im Himmel.
Unser Vorstellungsvermögen kann Gott aber nicht fassen. Menschen haben
Schwierigkeiten, sich etwas vorzustellen, was sie aus unserer Umwelt nicht schon kennen.
Die Vorstellungskraft reicht nur so weit, dass sie beschreibt und neu zusammensortiert, was
wir irgendwo schon einmal gesehen oder erlebt haben.
Der Mensch redet von Gott und setzt dabei, bewusst oder unbewusst, ständig seine
eigenen Verhältnisse und Möglichkeiten voraus. Somit wird jedes Bild, das wir uns von
Gott machen, falsch, denn Mensch bleibt Mensch. Es mag ärgerlich und beunruhigend
sein, dass unsere menschlichen Möglichkeiten, nicht ausreichen, um uns Gott
vorzustellen. Vielleicht ist es aber auch ein gutes Gefühl, dass Gott so ganz anders ist als
alles, was wir einordnen können.
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Gott ist auf verschiedene Weise ansprechbar, nicht nur wie eine Person.
„Es ist durchaus möglich, verschiedene Gottesvorstellungen abwechselnd zu gebrauchen,
z.B. auch mal beim Zähneputzen danke zu sagen, ohne Gott anzusprechen – er oder sie
oder es umgibt mich ja von allen Seiten und ist in allen Zusammenhängen als größere
Wirklichkeit da: Das kann Anlass sein, mehr und anderes von Gott zu erleben und zu
entdecken, als bei einer stark anthropomorph bestimmten Vorstellung.
Dank kann z.B. auch mal gedacht werden, wenn das Korrekturprogramm im Computer so
super findig und fähig ist; da muss schon viel und von weiter her zusammenkommen an
Geist und Liebe zur Sache. Das kann man mit Du und Gott (Vater, Herr) ansprechen oder
nicht – oder einfach wie in Facebook die geistige Taste „Gefällt mir“ antippen und sich
etwas MEHR dabei zu denken als sonst – es gibt viele ungewohnte und neue Formen und
Möglichkeiten für den Gottesglauben: Offenwerden für größere Wirklichkeit und das
Ganze – für das „Wunder“ des Lebens und der Welt, im Kleinen, Nächstliegenden, und im
weiten Raum.“
„Das Bekenntnis zum Einen Gott in „drei Personen“ übersteigt zudem einen allzu
gegenständlichen Personbegriff.“
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Gott in der Mystik erfahren?
Mystische Glaubensformen finden zunehmendes Interesse. Bieten sie andere,
tiefergehende Erfahrungen an als die traditionelle kirchliche Frömmigkeit? Lässt sich
durch besondere Arten von Meditation ein Einswerden mit Gott erreichen? Wie verändert
sich das Gottesbild durch mystische Glaubenspraxis? Gelingt es, „das Unsagbare zu
sagen“?
Mystik vertritt das Ineinander von persönlichen und überpersönlichen Zügen Gottes. Gott
kommt nahe: Im Alltäglichen gibt es ein Leben in der Gegenwart Gottes. Er ist ebenso
radikal immanent wie transzendent. Gott „in uns“ und „über uns“ gehören zueinander.
Aber auch kritische Fragen sind zu stellen: Ist die Überschreitung eines personalen
Gottesbilds möglich, ohne Christus als „Angesicht“ des unsichtbaren Gottes aufzugeben?
Zahlreiche Methoden der Kontemplation bieten auch den Interessierten Zugang zu
mystischer Erfahrung, die sich nicht gerade besonders begabt dafür fühlen. Einige davon
werden kurz in der Anlage aufgeführt.
Die neue Faszination
Themen der Mystik sind populär geworden. Fast sieht es nach einer vor kurzem kaum
vorstellbaren Mystik-Mode aus. Wohl hatte der katholische Theologe Karl Rahner (19041984) schon vor 1970 vermutet: „Der Fromme von morgen wird ‚ein Mystiker’ sein.“
(Gesammelte Schriften 7,22) Aber das klang damals, nicht nur für protestantische Ohren,
fast verwegen. Die evangelische Theologie vor allem des deutschen Sprachraums blieb
sich lange „weitgehend einig, dass Protestantismus und Mystik unvereinbar seien.“(Volker
17
Leppin 2007,118) Pioniere des mystischen Weges galten als Außenseiter. Heute scheinen
die konfessionellen Vorbehalte, außerhalb der universitären Theologie, so gut wie
verschwunden. Wer sich in Buchhandlungen umschaut, trifft auf gut gefüllte Religions- und
Esoterik- Abteilungen, mit einer Fülle von Mystik-Titeln. Digitale Portale öffnen
unabsehbare religiöse Weiten.
Woher diese enorme Anziehungskraft rührt, verdient eine gründliche Untersuchung. Hier
seien nur einige Andeutungen gewagt. Längst sind Europäern im Zug der wirtschaftlichen
Globalisierung auch andere religiöse Welten nahe gekommen. Touristen nehmen Tänze
moslemischer Derwische wahr; in Thailand treffen sie auf buddhistische Tempel, in Indien
auf die komplexe religiöse Welt der Hindus. Jüdische und moslemische Gemeinden
gehören zur Nachbarschaft im eigenen Land. Dabei stellt sich heraus, dass „Mystik“
keineswegs bloß ein christliches Phänomen ist. Das Themenheft „Mystik“ in „evangelische
aspekte“ hat sich schon 2006 weiten Horizonten geöffnet. Die großartige Ausstellung in
Zürich „MYSTIK- Die Sehnsucht nach dem Absoluten“ rückte 2011/2012 mystische
Welten im Christentum, Judentum und Islam, aber auch in Hinduismus, Buddhismus und
Daoismus gleichermaßen ins Blickfeld.
Aber nicht nur die Nahbegegnung religiöser Kulturen trägt zu dem neuen Mystik-Interesse
bei. Wichtig ist auch der offensichtliche Schwund profilierter christlicher Inhalte und
biblisch fundierter Lehre. Mystik verspricht eine Weite, die von traditioneller Dogmatik
frei ist. Gerade diese Unbestimmtheit erweckt Zutrauen bei vielen, denen fixierte
Glaubensbekenntnisse fragwürdig geworden sind. Ja, Mystik erscheint als anschlussfähig
für eine postreligiöse Kultur und manche Formen des Atheismus. Denn hier scheint eine
Verwurzelung, eine Beheimatung angeboten, die keine Kirchenbindung und keine
konfessionelle Festlegung abverlangt.
Für Christen hat die Attraktivität der Mystik mit der Chance eines neuen Gottesbilds zu
tun. Die „Sehnsucht nach dem Absoluten“, so scheint Mystik zu versprechen, muss nicht
in die Gefangenschaft
begrenzter oder metaphysischer Gottesvorstellungen
hineinführen. Aber wer ist „der Gott der Mystik“? Dieser Leitfrage folgt die hier vorgelegte
Skizze. Sie geht von den Erscheinungsformen christlicher Mystik aus. Die knappe
Übersicht „Christliche Mystik“ von Volker Leppin (2007), aber auch Dorothee Sölles Buch
„Mystik und Widerstand“ (1997) haben dazu angeregt; auch das Werk „Gott 9.0“ von
Marion und Werner Küstenmacher (2010, 3.Auflage 2011) soll mit bedacht werden.
Einige Grundzüge mystischer Spiritualität im Christentum
In der christlichen Tradition tritt das Substantiv „Mystik“ erst als „Kunstwort“ im Frankreich
des 17.Jahrhunderts in Erscheinung. (Leppin 7) Gewiss sind das Verbum „Myein“
(schließen) und das Adjektiv „Mystikos“ schon in der griechischen Antike geläufig. Damit
sind erste Anhaltspunkte geboten. Mystisch leben bedeute: die Augen schließen vor
einem Gewirr der Sinneseindrücke, sich sammeln, um so dem inneren Lebenszentrum
näher zu kommen. Und: Mystik hat es mit den Geheimnissen zu tun, mit dem, was sich
dem Augenschein und dem Hörensagen des Alltags entziehen
Aber was christliche Mystik in den Jahrhunderten des ersten und zweiten Jahrtausends
besagte, kann nicht aus dieser Sprachherkunft herausgesponnen werden. Es führt weiter,
auf einige der mystischen Lehrerinnen und Lehrer vor der Reformation zu blicken, die sich
als maßgebend und stilbildend eingeprägt haben. Volker Leppin verweist im Osten auf das
18
Werk des Unbekannten, der sich als „Dionysius“ vom Areopag vorstellt (Apostelgeschichte
17,34) und doch erst ins 5. Jahrhundert gehört; dann auf die geistlichen Meister von
Evagrius Pontikus bis zu Gregorius Palamas (1296-1359). Im Westen Bernhard von
Clairvaux, dann die Franziskaner wie Bonaventura, Dominikaner wie Meister Eckhart und
Johannes Tauler und Heinrich Seuse. Nicht zu vergessen die Frauen seit Hildegard von
Bingen, Mechthild von Magdeburg und Margarete Porete. Doch der „mystische Strom“
(Otto Karrer) geht weiter durch alle Jahrhunderte der Neuzeit. Auch Edith Stein (18911942), Dag Hammarskjöld (!905-1961), Roger Schutz (1915-2005) gehören zu ihnen,
wenn „Mystik“ nicht prinzipiell von „Spiritualität“ abgehoben werden soll. Gibt es
gemeinsame Züge, die diese geistlichen Gestalten mystischer Provenienz verbindet?
Ihnen allen geht es um die innige Verbundenheit und Gemeinschaft mit dem, der Ziel ihrer
Sehnsucht ist: mit der Wirklichkeit Gottes, der Nähe Jesu Christi, der Lebenskraft des
Geistes. Aber Verbundenheit sagt noch zu wenig: die Mystiker meinen eine reale Einheit,
eine wirkliche Vereinigung mit der Wirklichkeit Gottes. Sie ist kein Ergebnis
leidenschaftlicher Suche. Zuerst und zuletzt bedeutet Gott suchen die Entdeckung: von
Ihm gefunden sein. Also pures Geschenk, Gnade für die in Widersprüche verstrickte
Menschenseele. Die Mystik bezeugt: das Heilsziel der Gottesgemeinschaft wird schon auf
dem Weg geschenkt. Psalm 63,9 heißt es von dieser Gemeinschaft: „Meine Seele hängt
an dir; deine rechte Hand hält mich.“ Und Christus, auf den wir zu hoffen wagen, kommt
unvorstellbar nahe. „Christus lebt in mir“. (Galater 2,20)
Was die Mystiker zur Sprache bringen, erscheint ihnen als unfassbares Geschenk. Aber
sie sehen darin kein Privileg. Weder was ihren sozialen Stand angeht, noch ihre
persönliche Bildung. Gott auf Wegen der Mystik begegnen, schließt niemanden aus.
Immer deutlicher wird in der Geschichte der Christenheit: der mystische Weg ist nicht den
Klöstern vorbehalten. Neben der monastischen Mystik wird schon bei der franziskanischen
und dominikanischen Bewegung immer stärker die weltliche Christusnachfolge wichtig.
Die Reformation, aber auch katholische Erneuerungsbewegungen knüpfen seit dem
16.Jahrhundert daran an. Und vor allem: in der patriarchalischen Gesellschaft kommen
ganz unverwechselbar Frauen zu Wort, eine weibliche Mystik mit ihren eigenen
Erlebniswelten. Die Mystik rüttelt an den festgefügten hierarchischen und ständischen
Ordnungen.
Erfahrungen auf dem Weg führen in das Zentrum der Mystik
Zentral gehört zur Mystik das Thema der Erfahrung. Bernhard von Clairvaux sprach
geradezu von der „Lehrmeisterin Erfahrung“, „magistra experientia“ (6. Predigt zum Hohen
Lied). Martin Luther rühmt die „sapientia experimentalis“ einer Erfahrungs-Weisheit.
(Anmerkung zu Tauler 1516). Die Mystiker wissen sich auf einen unabsehbaren Weg,
eine Lebens-Fahrt geschickt. Das biblische Grundbild der Wüsten-Wanderung Israels
steht dabei ebenso im Hintergrund wie das Weg-Motiv in den Evangelien, besonders beim
Evangelisten Lukas. Bei anderen geistlichen Lehren dominiert das Bild der „Leiter“ oder
das der Treppe.. Neun „Stufen“ stellt
Küstenmacher dar. Johannes Klimakus
(7.Jahrhundert) zeigte in seiner „scala paradisi“, der „Leiter zum Paradies“, dreißig Stufen
auf. Äußere Erkenntnisse des Glaubens können kein Ziel festlegen. Erfahrung bedeutet:
auf weitere individuelle Wege gefasst bleiben, aber auch: das Äußere ins Innere, ins
„Herz“ hineinwirken lassen. Ekstase und Unmittelbarkeit gehören zu diesem Weg.
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Innen die Mitte finden
Erfahrungen der Mystik führen nach innen. Sie lassen einen weiten Innenbereich
entdecken, eine Seelenwelt. Es geht darum, die Mitte zu finden, den „Grund“ der Seele,
„das Herz“, das „Gemüt“. Ohne die innerliche Resonanz führen alle Außen- Erfahrungen
nicht vorwärts. Es bedarf der inneren „Vertiefung“ oder „Versenkung“. Das bedeutet keine
Gleichgültigkeit gegenüber der Welt und den andern Menschen. In authentischer Mystik
lässt sich Kontemplation nicht von Arbeit und Ethos trennen. Aber Innerlichkeit gehört zur
Erfahrung des Weges. Darum hat auch das Gebet eine zentrale Bedeutung: nicht nur als
Bitte, Lob oder Klage. Sondern auch als „Herzensgebet“, das der Gegenwart Gottes im
Herzen inne wird und bleibt. Luther hat das Jesus-Wort Lukas 17,20 übersetzt: „das Reich
Gottes ist inwendig in euch.“ Darauf haben sich mystische Autoren evangelischer
Herkunft immer wieder berufen.
Damit wird keineswegs das vorfindliche Ego mit seinen triebhaften und süchtigen Seiten
sanktioniert. Eines der zentralen Worte heißt Wandlung. Die Mystik ist angetrieben von
dem Verlangen, das oberflächliche Ich überwinden zu lassen. Es gilt, das Herz zu
reinigen, die Augen der Seele zu läutern, um empfänglich zu werden für die schöpferische
Einwirkung und Anrede von oben. Ohne schmerzliche Selbsterkenntnis, ohne
Konfrontation mit den eigenen Schatten und Süchten, bleibt alle vermeintliche Erhebung
zu Gott nichts als Illusion. Der Prozess solcher Wandlung kommt dabei niemals zum
Abschluss. Wann immer die Seligkeit der Gottesgemeinschaft erfahren wird, – die Schau
des „Taborlichtes“ – , Mystikerinnen und Mystiker wissen dann um den befristeten und
vorläufigen Charakter. Es gilt, immer neu vom Berg der Verklärung herabzusteigen und
den Aufgaben am Fuße des Bergs standzuhalten. (Matthäus 17).
Unsagbares sagen
Schließlich treffen wir in den mystischen Texten auf eine gewagte Sprache. Sie versuchen
Zeugnis zu geben von dem, was eigentlich die übliche Verständigung übersteigt. Sie
sprechen vom Unsagbaren. Darum gehen sie ständig über die konventionelle
Kirchensprache hinaus. Sie verirren sich dabei in Paradoxien: ein „stilles Geschrei“, „ein
namenloses Nichts“. Meister Eckhart meint: „Da hörte ich ohne Laut, da sah ich ohne
Licht, da roch ich ohne Bewegen, da schmeckte ich das, was nicht war, da spürte ich das,
was nicht bestand“. Eine ekstatische, entrückte, zuweilen wie stammelnde Rede. Das
zeigt sich auch in der Präsenz einer gewagten „Liebessprache“, die sich vor allem am
Hohen Lied Salomos entzündet. Diese Sammlung irdischer Liebeslieder lesen Mystiker,
seit Origenes (gestorben 254), auch als Zwiegespräch Gottes mit seinem Volk, ja der
einzelnen Seele. Bernhard von Clairvaux hat darüber 86 Predigten gehalten und kam
dabei nur bis zum Beginn des dritten Kapitels des Hohen Lieds. Mechthild von Magdeburg
(1210-1282) und Johannes vom Kreuz (1542-1591) bezeugen eine Vitalität solcher
Liebespoesie. Sie findet immer neue Sprachgestaltungen bis zur Gegenwart.
Wandlungen im Gottesbild
Was kann Mystik bedeuten für eine Erneuerung des Gottesbildes? Das ist eine riskante
Frage. Gehört es doch zu den Grundgeboten Israels: „Du sollst dir kein Bildnis noch irgend
ein Gleichnis machen.“ (2. Mose 20,4) Die Rede von „Gottesbildern“ scheint so durch die
zehn Gebote von vorneherein in Frage gestellt. Der Gott, der Mose am Dornbusch
anredet, entzieht sich mit seinem „Ich werde sein, der ich sein werde“ aller bildhaften
20
Fixierung. (2. Mose 3,14) So geht durch das alte Testament selber, in der Tora wie bei den
Propheten, ein „Bildersturm“, der die menschlichen Wunschbilder als „Götzen“ entlarvt und
kritisiert. Die frühe Christenheit folgt dieser bildkritischen Spur. Sie lässt sich eher als
„atheistisch“ schmähen als dem religiösen Kaiserkult zu folgen. Auch die Aufnahme der
kritischen Philosophie der Griechen dient der Überwindung anthropomorpher Gottesbilder.
Das Bekenntnis zum Einen Gott in „drei Personen“ übersteigt zudem einen allzu
gegenständlichen Personbegriff.
Auf der andern Seite spricht die Bibel in einer Vielzahl von Bildern von Gott. Gerade die
Propheten bringen den unverfügbar heiligen Gott in Gleichnissen zur Sprache. Jesus lehrt
in seinem Grundgebet, den Gott des Himmels als unsern „Vater“ anzusprechen. Im
apostolischen Glaubensbekenntnis werden wir ermutigt, den „Schöpfer des Himmels und
der Erde“ als „Gott den Vater“ zu verehren. Die orthodoxe Kirche hat nach langen
Kämpfen, auch im Gegenüber zum Islam, 787 das Recht der Ikonenverehrung
ausdrücklich verteidigt.
So finden wir in der Geschichte der Christenheit ein komplexes Miteinander von Bilderkritik
und Bildgebrauch. In der frühen Neuzeit widersetzt sich Luther weniger den äußern
Bildern und Skulpturen in den Kirchenräumen. Um so radikaler trifft seine Kritik die inneren
Angstvorstellungen eines fordernd-strafenden Gottes, der den Menschen von seinen
religiösen Leistungen her betrachtet; dagegen setzt er von neuem den Gott der
bedingungslosen Gnade. Die Provokationen der Aufklärung führen auch in der christlichen
Theologie zu einer neuen Vorsicht gegenüber unbedachten Gottesbildern. Schleiermacher
zeigt, wie im frommen Selbstbewusstsein „das eigne Sein und das unendliche Sein Gottes
Eines sein kann.“(Der christliche Glaube,1830, §32) Die Theologien Karl Barths, Rudolf
Bultmanns, Paul Tillichs lassen sich als Versuche lesen, der neuzeitlichen Bildkritik am
Gottesglauben überzeugend zu antworten. So wäre es eine Preisgabe theologischer
Erkenntnis, wenn erst von mystischer Gottesbegegnung der entscheidende Durchbruch zu
einem verantwortbaren Gottesbild erwartet würde. Trotzdem wird die Fragestellung künftig
noch dringlicher werden: Welchen besonderen Beitrag kann die Mystik zur Rede und zum
Bild von Gott hinzufügen?
Mystik vertritt das Ineinander von persönlichen und überpersönlichen Zügen
Gottes.
Ein wichtiger Beitrag ist vor allem, dass die Mystik das Ineinander von persönlichen und
überpersönlichen Zügen Gottes vertritt. Gott ist nie nur das väterlich-mütterliche Du,
sondern begegnet auch in der Metaphorik von Licht und Feuer, von Quelle und Meer, von
Grund und Abgrund. Das lässt sich sogar bis in Lieder verfolgen, die in unser Gesangbuch
Eingang gefunden haben: „Luft, die alles füllet, drin wir immer schweben, aller Dinge
Grund und Leben,/ Meer ohn’ Grund und Ende, Wunder aller Wunder: ich senk mich in
dich hinunter.“(Gerhard Tersteegen EG 165,5) Aber die variantenreiche nichtpersonale
Bilder-Symbolik muss überstiegen werden. Schon „Dionysius“ konnte herausarbeiten,
dass Gott über die direkten Bildaussagen hinaus treibt: auf eine “via negationis und
„eminentiae“.
„Mystiker sind Tiefseetaucher des Bewusstseins“.(Küstenmacher in Gott 9.0) Gewiss sind
solche Weiterführungen immer wieder auch Erkenntnisse der Theologie geworden, auch
in den großen Entwürfen des 20.Jahrhunderts. Doch die Zeugen der Mystik haben ihre
21
Erkenntnis mit dem Gewicht und der Leidenschaft eigener Erfahrung sozusagen
beglaubigt.
Die mystische Erfahrung spricht von der Gegenwart, der puren Präsenz Gottes und von
dem „Heute“ Christi. Der Zeitabstand zwischen dem Glauben heute und den biblischen
Zeugnissen damals hat keine letzte Beunruhigung. „Es kommt ein Schiff geladen bis an
sein höchsten Bord“. So heißt es in einem Lied in der Tradition Johannes Taulers.
(Evangelisches Gesangbuch 12) „Der garstige Graben“ zwischen Vergangenheit und
Gegenwart, der Lessing quälte, ist für das mystischen Bewusstsein immer überwindbar.
Der wahre Gott muss nicht mühsam aus vergangenen Erzählungen verbürgt werden; er
lässt sich immer im Heute, im Jetzt, im Alltäglichen erfahren. Der gegenwärtige Augenblick
wird zum Tor für die Wirklichkeit Gottes. Zugleich hat diese Gegenwart einen „räumlichen“
Sinn. Gott lässt sich nicht erst in einer himmlischen Überwelt, sondern ganz nahe, in den
gewöhnlichen Dingen, in nächster Nähe erfahren. So ermuntern die Mystiker zu einem
Leben in der Gegenwart Gottes..
Sie sind es, die einerseits mit der radikalen Transzendenz der Gottheit ernst machen und
an der ebenso radikalen Immanenz festhalten. Gott entzieht sich den höchsten
Zuschreibungen und kann doch in nächster Nähe erspürt werden. Dort, wo alle Bilder
versagen und die schönsten Vorstellungen zerbrechen, halten die Mystiker dem
„unbekannten,“ dem „dunklen“, dem „verborgenen“ und „sich entziehenden“ Gott die
Treue. In einer Liebe, die nichts für sich selber profitieren will, in einem “Umsonst”, das
aber radikal dem “Umsonst” der Liebe Gottes Recht gibt. Dem entspricht auch der Primat
des Gotteslobs, der Rühmung Christi, über alle erlittenen und auferlegten Kalamitäten
hinweg. Die Karmelitin Therese von Lisieux (1873-1897) wiederholte bis zu ihrem frühen
Sterben den Satz: „Ich bereue es nicht, mich der Liebe ausgeliefert zu haben.“. Ja: In der
Spannung von Liebe und Macht Gottes, zwischen Erbarmen und heiliger Souveränität
halten sich die Mystiker an den Primat der Liebe und des Erbarmens. Das zeigt nicht nur
die Dominanz einer riskanten Liebessprache, die sich vor den erotischen Bildern des
Hohen Liedes nicht scheut. Gerade die Bereitschaft, Gott „in allen Dingen“ zu suchen,
macht nicht nur die Freude, sondern auch das unverständliche Leiden zum Ort möglicher
mystischer Erfahrung. (Sölle)
Die Einheit mit Gott, mit Christus, die Mystiker ersehnen und erfahren, stellt das
Gegenüber von menschlichem Ich und göttlichem Du in Frage. Sie widerspricht einer
„Objektivierung“, einer Vergegenständlichung Gottes. Gott „in uns“ und „über uns“
.gehören zueinander. Die menschliche Seele „in Gott“ glaubt sich in die göttliche Sphäre
hineingezogen, erlebt sich als „gottfarben“ oder „gottförmig“. Ja, noch mehr: In den
mystischen Texten begegnen Aussagen, die nach einer teilweisen Identifikation von Gott
und Mensch klingen. Gott scheint sich von der Zuneigung des Menschen abhängig zu
machen. Angelus Silesius formulierte: „Ich weiß, dass ohne mich Gott nicht ein Nu kann
leben./ Werd ich zunicht, er muss vor Not den Geist aufgeben.“ Das muss nicht als
blasphemisch abgewehrt werden. Man darf darin eine ungeheure Aufrichtung und
Erhöhung des Menschen sehen.
Gefahren und Rückfragen
Wer dem mystischen Zeugnis offen begegnet, muss Fragen nicht unterdrücken. Immer
wieder waren im Mittelalter mystische Bewegungen unter Verdacht gestellt. Meister
22
Eckhart wurde verurteilt, Margarete Porete gar hingerichtet. Solche Widerstände haben in
der Moderne die Mystik eher aufgewertet. Aber auch eine reformatorisch orientierte
Theologie richtete an die mystische Gottesrede kritische Fragen. Auch dann, wenn eine
Nähe zur Mystik ganz offenkundig bestand. Luther selber war von mystischen Anliegen,
besonders in seiner Frühzeit, durchdrungen. Er war fasziniert von den Predigten Johannes
Taulers; selbst das Bild von „Braut und Bräutigam“ konnte er in seinem Freiheitstraktat von
1520 positiv aufgreifen. Um so gewichtiger werden seine Anfragen an eine Mystik mit
Zügen der „theologia gloriae“. Auch Schleiermacher ist die Mystik bei Novalis nahe
vertraut. Trotzdem vertrat er eine radikale Neu-Reflexion des Glaubens. Karl Barth kannte
eine liberale Erlebnisfrömmigkeit, die er kritisch vom Wort Gottes in Frage stellte,
durchaus aus der Nähe.
Fragen können an alle Grundthesen mystischer Spiritualität gerichtet werden:
 Kann wirklich auf dieser Erde die bleibende Gott-Vereinigung versprochen werden?
 Genügt es, auf eigene Erfahrung zu bauen, statt im Glauben auch gegen die Erfahrung
auszuharren?
 Reicht der Rekurs auf die individuelle Innerlichkeit aus, ohne die geschichtlichen
Vorgaben des Glaubens zu achten?
 Bedeutet der Wandlungsweg einen eindeutigen Aufstieg, der die vorher durchlaufenen
Stufen entbehrlich macht?
 Kann das Wagnis einer riskanten Liebessprache den vernünftigen Diskurs und die
argumentative Verantwortung ersetzen?
Solche Fragen verschärfen sich gerade bei den Beiträgen, in denen von der Mystik eine
Erneuerung des Gottesbildes erwartet. Jörg Zink, der so hilfreich die Offenheit zu andern
mystischen Erfahrungen vertritt, betont gleichwohl: „Es ist Gott. Der Heilige, der Ferne,
der unendlich Nahe, der nie mit mir zusammenfließt, auch wenn er ‚in mir wohnt’. Der Krug
wird nie zu Wasser. Er kann mit Wasser gefüllt und von Wasser umgeben sein, er wird nie
etwas anderes sein als der Krug.“ (Die goldene Schnur, 2008,237) Kann die prinzipielle
Überschreitung eines personalen Gottesbilds möglich sein, ohne Christus als „Angesicht“
des unsichtbaren Gottes, als Zentrum und Quelle aufzugeben? Und kann die Erfahrung
des „Christus in uns“, der “Vereinigung mit Gott“ jemals den Unterschied von Schöpfer und
Geschöpf, von Versöhner und Sünder preisgeben?
Neue Chancen mystischen Glaubens
Mit solchen nur angedeuteten Rückfragen ist die mystische Bewegung keineswegs
beiseite geschoben. Im besten Sinn verstanden hilft sie, die überlieferten Gottesbilder zu
entlasten, zu läutern und neu zu entdecken. Das sei in vier Thesen knapp zur Diskussion
gestellt.
•
Mystik bewahrt davor, sich in einen Aktivismus des Glaubens zu verlieren.
Erst aus innerer Ruhe und einer gründlichen Gott-Verbundenheit heraus kann christliches
Handeln der Selbstüberforderung und dem Leerlauf entgehen- Ohne dem Auftrag zur
Arbeit an der politischen Befreiung abzuschwören, nimmt D. Sölle „Mystik“ zum
Widerstand hinzu, ja deutet „Mystik“ als Kraft des gebotenen Widerstands. Damit bleibt die
Mystik auch sehr nahe bei dem, was die Reformation, gegen alle Leistungsgerechtigkeit,
23
neu ans Licht brachte: die Rechtfertigung aus Gnade. Mystik ermutigt „Gelassenheit“ und
ein „Gebet der Ruhe“. So hat es eine tiefe Bedeutung, dass das ostkirchliche
„Herzensgebet“ im Westen so weite Verbreitung findet.
• Mystik kann aber auch davor schützen, dass die notwendigen Klärungen im Gottesbild
an der intellektuellen Oberfläche bleiben.
„Der Mensch soll sich nicht genügen lassen an einem gedachten Gott; denn wenn der
Gedanke vergeht, so vergeht auch der Gott.“ (Meister Eckart, Reden der Unterweisung,
Quint S.60) Es ist eine der anregendsten Seiten in dem Buch „Gott 9.0“, dass es die
Stufen gewandelter Gottesbilder in Kontakt hält mit mystischen Erfahrungen und
Zuständen. Neben die neun Stufen solcher Gottesbilder werden vier Zustände der
Selbsterfahrung in „Achtsamkeit“, „Meditation“, „Kontemplation“ und „Verklärung“ gestellt
und das Ziel des Buches wird auf die Formel gebracht: „Religiös aufgeklärt dank Stufen,
spirituell erfahren dank Zuständen“. Die geistige, die theologische Debatte um tragfähige
Gottesbilder bleibt unentbehrlich; die Mystik gibt ihnen das Gewicht der eigenen
Erfahrung. Dabei bleibt der Mystik mehr, als Küstenmacher u.a. zeigen, bewusst, dass
frühe Stufen des Gottesbildes nicht einfach überholbar sind. Das Grundvertrauen und die
Allverbundenheit des kleinen Kindes bleiben in gewandelter Form auch für den kritischen
erwachsenen Gottesbezug wesentlich. Darauf deutet ein mehrfach bezeugtes Wort
Jesu:„Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht
hineinkommen.“(Markus 10,15) Ein erwachsener Glaube hat es nicht nötig, die
Geborgenheit im „Grund des Lebens“ zu verleugnen.
•
Mystik erinnert an die dem Menschen geschenkte Hoheit und Würde.
Was kann größer sein, als mit dem vereinigt sein, der Quelle und Grund alles Lebens ist?
Was führt höher hinauf als zu vertrauen: „Christus lebt in mir“? Was alle als Ziel des
Glaubens erhoffen und ersehnen, wird Mystikerinnen und Mystikern schon auf dem Weg
geschenkt: die Gegenwart der „Verklärung“, der innersten Ruhe und Stille. Freilich nicht
ohne schmerzhafte Wandlungs- und Umkehrprozesse, die gerade in der besonders
glaubhaften Mystik nicht aufhören. Insofern gibt authentische Mystik nichts anderes als
was F. Steffensky „Schwarzbrot Spiritualität“ nennt. Johannes Tauler bleibt denen nah, die
sich mit den Widrigkeiten auf dem Weg plagen und immer wieder in „getrenge“
hineingeraten. Luther setzt bei seinen Weisen des Bibelumgangs nach „meditatio“ und
„oratio“, gegen alle übliche Tradition, an die höchste Stelle nicht „contemplatio“, sondern
„tentatio“, die Anfechtung, die Bedrängnis. Mystik hält es aus, mit dem „unbegreiflichen“,
dem „dunklen“ Gott zu leben.
• Mystik ist eine Schule der Weitherzigkeit, der religiösen Toleranz.
Hier war bisher vor allem von christlichen Traditionen der Mystik die Rede. Hier sind
Schätze zu entdecken, die immer noch weithin nicht bekannt sind. Sie können im
21.Jahrhundert neu gehoben werden. Aber wer die mystische Dynamik im christlichen
Glauben kennen lernt, wird auch frei und unvoreingenommen den mystischen
Bewegungen in andern Religionen begegnen. Er wird Ähnlichkeiten entdecken und nicht
voreilig abstreiten, dass der Gott Israels derselbe ist, den Christen als Vater Jesu Christi
bekennen. Gerade den östlichen Religionen gegenüber gilt es aber auch, behutsam zu
sein mit der Behauptung einer identischen Erfahrung. Der in interreligiöser Spiritualität so
erfahrene Benediktiner Emmanuel Jungclaussen fasst zusammen: „Ich glaube, dass wir
24
zu einem überraschend großen Kernbestand an Gemeinsamkeiten vordringen können.“ Er
meint aber auch: „die Besonderheit des Christentums darf dabei nicht auf der Strecke
bleiben...wo keine Reibung entsteht, kann auch kein Funke überspringen. Und das
herausstechende Merkmal des Christentums ist für mich die Gestalt Jesu Christi.“ (Der
Strom des Lebens, 2010,217) Den christlichen Glauben bis zur Inhaltslosigkeit entwerten,
wird keine Vision für die Zukunft sein. Aber ein Weg, der uns lehrt, Gott „in allen Dingen“
zu suchen, in der Gestalt Jesu Christi als Liebe zu finden, wird auch imstande sein, Ihn in
andern Religionen zu suchen und für Ihn offen zu werden. Der interreligiöse Dialog
braucht den Austausch der Spiritualität, der mystischen Wege.
Wege und Methoden zu mystischer Erfahrung
Mystik ist keine Lehre, sondern Praxis und Zustand. Wahrscheinlich auch deshalb
gelangen nur wenige Gläubige in die Nähe mystischen Erlebens, weil die Methoden der
Kontemplation und Meditation schwer zu erlernen und zu praktizieren sind und vil Zeit
kosten. Sie sind aber keineswegs auf Klöster und Räucherstäbchen beschränkt. Diese
Glaubensform steht nicht in der Gefahr, zu einer exklusiven Esoterik zu werden. Vielmehr
gibt es zahlreiche Methoden und Wege zu mystischer Erfahrung, die auch ohne
einschlägige Begabung ausprobiert werden können. Und die auch der sonstigen
Lebensgestaltung neue Impulse geben können. Sie dienen (nach Berichten
praktizierender Mystiker) der Selbstwahrnehmung und Gotteserfahrung und lassen höhere
Wahrheit unmittelbar erfahren. Mystische Praxis vermittelt Bewusstseinserweiterung und
Ahnung höherer Wirklichkeit, die über die Grenzen des Denkens hinausreicht. Sie ergänzt
das rationale Bewusstsein und die traditionelle Gläubigkeit. Genannt werden häufig
Methoden der “Meditation”, der “Entspannung”, “Verwunderung und Staunen”, “innere
Bilder erfahren”, “den inneren Spiegel reinigen”, die “Bilderlose Schau”, “Nicht-Gott und
Nicht-Bild erfahren”, “Das Ich verschwindet”, “Gottes Auge ist ei Auge”, “Einssein in
Christus”.
In einer Anlage Zur Praxis mystischer Erfahrung wird versucht, diese und weitere
Methoden aus der mystischen Praxis kurz darzustellen. Dafür werden (stark verkürzt, ab
Seite 272) Auszüge und Zitate von Mystikern aus dem schon mehrfach benutzten Buch
„Gott 9.0“ zusammengestellt, die dazu beitragen können, etwas von den vier genannten
Chancen mystischen Glaubens zu realisieren (oder wenigstens etwas Information darüber
zu bieten.)
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25
Funktionen und Wirkungen des Betens
Gerade weil es so viele unterschiedliche Arten, Formen und Bewertungen des Betens gibt,
ist es wichtig, eine Definition des Gebets zu versuchen. Auch nach den (zahlreichen!)
Funktionen und Auswirkungen des Gebets ist zu fragen. Dazu gehören auch die
Rückwirkungen des Gebets auf das Individuum und auf eine Gemeinschaft. Zu welchem
Gott wird gebetet? Die Antwort darauf fällt bei Kindern anders aus als bei Erwachsenen
und alten Menschen. Die Berücksichtigung der Kritik am Gebet muss das Beten nicht
erschweren oder verhindern, sondern kann es bewusster werden lassen. Dafür gibt es
einen Praxisvorschlag.
Was ist ein Gebet?
Hier zunächst der Versuch einer kurzen beschreibenden Antwort, danach noch zu einigen
religiösen Aspekten etwas ausführlicher:
Gebet gibt es in allen Religionen, zu Gott, Göttern oder zu jenseitig gedachten Personen
(z.B. Heiligen, Maria, Jesus); auch ohne Ansprechen eines Gegenübers.
Grundlage des Gebetes ist der Glaube, dass der Mensch mit Gott, das heißt mit einer
größeren Wirklichkeit lebt, in der er aufgehoben ist und die ihm helfen kann. Betende
glauben, dass Gott sie hört und auf das Gebet reagiert.
Im Gebet überschreitet der Mensch sein Ich und die Grenzen seines Verstehens. Es ist
Ausdruck von Freiheit, Offenheit und Verantwortung für mein Tun und Lassen.
Einzelheiten des Lebens werden im Gebet erinnert und in den Zusammenhang des
Glaubens gebracht.
Durch Beten gewinnen Gläubige Abstand von sich selbst und vom Druck der Situation. Sie
sammeln Kraft und pflegen auf diese Weise langfristig Wünsche und Bedürfnisse, die
auch ziemlich häufig zunächst unerfüllbar erscheinen (z. B. Frieden, Gerechtigkeit).
Betende finden sich nicht mit der Wirklichkeit ab, sondern glauben, dass sie veränderbar
ist.
So dient das Gebet auch der Vorbereitung, Ausrichtung und Reflexion des Handelns.
Gebet ist realistisch, weil der Mensch darin unterscheidet zwischen dem, was er selbst tun
kann, und dem, was nicht in seiner Macht steht.
Jesus hat zum Gebet ermutigt ("Bittet, so wird euch gegeben", Matthäus 7,7). Aber daraus
lässt sich kein Anspruch auf Erfüllung aller Gebete ableiten. Ohnmacht wird weniger als
vernichtend, sondern durch Beten als erträglich erlebt.
An den Gebeten eines einzelnen oder einer Gruppe lässt sich erkennen, wonach das
Leben ausgerichtet wird, am Erwerb von persönlichem Besitz, beruflichem Erfolg oder an
humanitären Werten .
26
Gebet kann viele Formen haben, von der kurzen, spontan selbstformulierten Bitte (früher
"Stoßgebet" genannt) bis hin zu längeren und durch Gebrauch bekannten Gebeten, still für
sich oder in Familie, Kirche und Gruppen, laut und allein oder zusammen mit anderen.
In feststehenden Formeln können Betende sich mit anderen treffen und sich selbst mit
ihren eigenen Anliegen einbringen. Auch Meditation, Gesang und Plakate bei
Demonstrationen sind oft Gebete.
Zum (Anlass und) Inhalt des Betens kann fast alles werden: Bitte um kleine und große
Dinge, für andere und für alle, Dank, Gedenken, Klage, Bekenntnis, Frage, Antwort,
Zugeben von Schuld, Staunen, Lob, Anerkennung (nicht aber Anweisung oder Belehrung).
Als Vorlage für Gebete dienen das Vaterunser, Psalmen und Liederverse, Bücher mit
Gebeten für besondere Situationen und Altersstufen, vom einfachen Kindergebet bis zur
kunstvollen Dichtung.
Die Fähigkeit zu beten wird am besten zusammen mit anderen (z.B. den Eltern) als Kind
gelernt, aber auch später kann es eingeübt und auch von jemandem probiert werden, der
sich Gott nicht als Person vorstellt. Feste Zeiten oder Regeln haben sich als hilfreich
erwiesen (z.B. am Morgen oder Abend, beim Essen oder zu Beginn einer Reise). Aber
ihre Einhaltung ist ebenso wenig wie Händefalten oder Knien ein sicheres Kennzeichen für
christliches Beten. Dieses muss sich vielmehr immer wieder neu aus dem ergeben,
woraus der Glaube lebt.
Wer den Wert des Gebetes für sich erfahren hat, wird andere dazu einladen oder
teilnehmen lassen.
Zu welchem Gott wird gebetet?
Jede Überlegung zum Gebet muss die Gottesvorstellung dahinter klären. Gott wird oft
als Ansprechpartner verstanden, der menschliche Züge trägt. Aber Gott ist auch die
Macht, die außerhalb. Jedoch zugleich in dieser Welt als letztverantwortliche Instanz
existiert. Unsere Vorstellungskraft, unsere Gedanken, können Gott nicht fassen.
Mit dem Wort Gott wird die Überzeugung bezeichnet, dass eine größere Wirklichkeit weit
über unser Denken und Tun hinaus existiert. An sie richten sich unsere Erwartungen,
unser Glaube, dass er/sie Möglichkeiten der Hilfe, Ergänzung und Erkenntnis bereithält.
Das hat dann praktisch zur Folge, dass man sich auch wirklich auf seinen Glauben
einlässt. Diese Funktion des Gebetes ist jedenfalls nicht in erster Linie davon abhängig,
ob das Wort Gott in der Anrede gebraucht wird oder nicht.
Die Sprache des Gebets mit dem Urgrund, der abgründigen Liebe, dem Umgreifenden
und wie die Versuche alle lauten mögen, das Unsagbare zu benennen, ist uns noch gar
nicht gegeben. Wir kennen nur die Sprache des Gebets in Worten, mit der wir auch
untereinander als Personen kommunizieren. Kann eine Bitte wie „Und erlöse uns von dem
Bösen“ an einen „Urgrund“ gerichtet werden, ohne ins Bodenlose zu fallen? Manche tun
das bereits und erfahren bei diesem Wunsch, dass zu seiner Erfüllung mehr helfen muss –
27
und hilft! – als das im eigenen Lebenskreis da ist. Das muss nicht im Gegensatz und
Widerspruch zur Kommunikation mit Gott als einem persönlichen Wesen stehen.
Wie immer Menschen sich das Göttliche, die größere Wirklichkeit vorstellen, sie sprechen
es an als Gegenüber und vertrauen darauf, von diesem verborgenen Gegenüber gehört
zu werden v.a. in Gebet und Meditation. Und sie hoffen darauf Antwort zu erfahren – und
erleben dies auch.
Unsere Sprache ermöglicht uns die persönliche Kommunikation. Wir erlernen sie als
Kinder im Aufnehmen persönlicher Beziehung. Das prägt auch unsere vertrauende
Kommunikation mit der Gottheit und legt uns ein Bild von ihr als Person nahe, die sich um
jeden einzelnen Menschen kümmert und in das Geschehen eingreift. „Den
Kindheitsglauben verlieren“ kann darum einem wirklichen Verlust gleichkommen, weil uns
die natürliche erworbene Sprache versagt, sich an ein Gegenüber zu wenden, das wir uns
als unpersönlich vorstellen wollen. Das Idiom dafür erwerben wir nicht wie die
Muttersprache, sondern müssen es wie eine Fremdsprache erlernen, wenn nicht sogar der
Vergleich mit der Sprache der Mathematik angebracht sein sollte. Haben wir dieses Idiom
schon so perfekt erlernt, dass wir als Glaubende uns darin glaubwürdig ausdrücken
können? („Kinderglaube“ kann aber auch Erkenntnisfortschritte verhindern. Er wird aber
normalerweise nicht „verloren“, sondern in das erwachsene Verständnis „aufgehoben“.)
Kann eine Bitte wie „Und erlöse uns von dem Bösen“ an einen „Urgrund“ gerichtet werden,
ohne ins Bodenlose zu fallen? Manche tun das bereits und erfahren bei diesem Wunsch,
dass zu seiner Erfüllung mehr helfen muss – und hilft! – als das was den eigenen
Lebenskreis ausfüllt. Das muss nicht im Gegensatz und Widerspruch zur Kommunikation
mit Gott als einem persönlichen Wesen stehen. (In manchen Stufen der Mystik
verschmelzen die Grenze zwischen dem Ich und Gott als Gegenüber.)
Beten als Ausdruck des Glaubens – meines Glaubens
Das Gebet ist für Gläubige ein Sprechen zu Gott, Gespräch mit Gott. Alles darf gesagt
werden. Gott hört.
Ein Gebet kann eine Bitte oder ein Wunsch sein, aber ist das alles? Ein Gebet kann alles
sein: Ein Lied, eine Anrede, festgefügte oder freie Worte, sogar das ganze Leben kann ein
Gebet sein. Es kommt auf die Haltung, auf die Einstellung zum Leben an. Glaube ich
alleiniger Manager meines Lebens zu sein und verstehe ich mich als autonome,
selbstgenügsame Entität, dann wird es mir schwer fallen zu beten. Wenn ich mein Leben
jedoch als Geschenk verstehe, entsteht ein Gefühl der Dankbarkeit. Ich will dem danken,
der es mir geschenkt hat. Ich setze damit Gott voraus, egal wie ich ihn mir vorstelle.
Es gibt unterschiedliche Auffassungen darüber, was ein Gebet ist. Das wirkt sich auf die
Praxis des Beten aus.
Der einzelne Mensch oder die Gemeinschaft setzt sich in Beziehung zu Gott, dem letzten
Grund des Seins. Die Rede zu Gott setzt das, „Du“ auf der anderen Seite voraus. Gott
wird dabei häufig menschlich gedacht. Er wird als Gesprächspartner verstanden, der auch
28
um entsprechende Reaktionen gebeten werden kann. Dieses eng geführte personale
Gebetsverständnis hat jedoch häufig zu Missverständnissen geführt. Für die Leistung
eines Gebetes erwarten viele genau die Gegengabe, die man sich wünscht. Ein Gebet ist
aber kein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Denn Gott, den wir mit dem Gebet auffordern oder
bitten, dass er uns etwas gibt oder sich bei uns etwas ändert, ist ja auch der Geber der
Situation, die wir verändern wollen. Auch das, was der Betende unangenehm erlebt und
‘wegbitten’ will, ist nicht ohne Gott zu denken. Wenn wir beten, verlassen wir uns auf Gott.
Vielleicht können wir sowohl die Erfüllung der Bitte als auch die Nichterfüllung als Aufgabe
im Leben annehmen. Das Gebet hat uns dann dabei gestärkt und die Richtung für unser
Denken und Handeln gezeigt.
Im Gebet suchen wir die persönliche Nähe zu Gott beispielsweise in den Worten des
Vaterunsers. Hier wird Gott als der Schöpfer, der Vater des Lebens angesprochen. Wir
können aber auch zu Jesus beten. In ihm, dem Sohn, zeigt sich die menschliche Seite
Gottes. In beiden Fällen ist jedoch die direkte Beziehung zu Gott entscheidend für den
Glauben.
Arten und Formen des Gebets
Arten des Gebets
Es gibt beim Gebet die Bitte, den Dank, die Fürbitte und das Lob, die Anbetung, aber
auch die Klage..
Die Bitte setzt (mehr oder weniger selbstverständlich) voraus, dass Gott daraufhin etwas
tut, in den Geschehensablauf eingreift, etwas ändert. Es wird nach Erklärungen gesucht,
wenn das nicht der Fall ist oder zu sein scheint.
Das Dankgebet bringt zum Ausdruck, dass viele Ereignisse, Lebensinhalte, Menschen
und Dinge in ihrem Dasein und Wert Gabe und Geschenk Gottes sind, aus einer größeren
Wirklichkeit heraus entstanden und keineswegs vom Betenden selbst gemacht oder
geschaffen ist.
Fürbitte ist ein mitfühlendes Gedenken an andere Menschen mit dem Wunsch, dass Ihnen
aus dem größeren Zusammenhang des Glaubens heraus Hilfe, Hoffnung und Gutes
zukommt und zuteil wird.
Das Gebet wird zur Klage über vermeintlich oder tatsächlich als unzumutbar erfahrenes
Leid in der Zuversicht, dass auch im Leiden die Verbindung zur größeren Wriklichkeit, zu
Gott nicht abreißen muss (wie es vor allem auch Jesus selbst gezeigt hat.).
Anbetung ist Wahrnehmung und Anerkennung der Größe und Macht Gottes, aber auch
seiner Schöpfung und seiner Liebe. Dank für eigenes Wohlergehen und Schicksal, Bitte,
eigene Wünsche und Fürbitte treten dabei in den Hintergrund.
29
Das Gebet hat Rückwirkungen auf die Betenden. So zeigt sich z.B. an den Gebeten einer
Gemeinschaft, worauf es ihr ankommt, was ihr wichtig ist.
Zum Beispiel wird beim Tischgebet bewusst, erkannt und anerkannt, dass Essen und
Lebensbedingungen von weiter her kommen und durch einen größeren Zusammenhang
bedingt sind (vielleicht fällt dann auch manche Kritik am Essen oder am Personal anders
aus).
Außerdem wird angedeutet, dass Essen, Aufnehmen und Annehmen auch einen Zweck
haben: Kraft zu bekommen für die eigenen Aufgaben und dazu auch einen Beitrag zur
Erschließung der größeren Wirklichkeit zu leisten und diese damit selbst zu finden:
„Segne, Vater, diese Speise, uns zur Kraft und dir zum Preise". Das heißt übersetzt: Wie
ist eigentlich das zu bewerten, was wir aus den uns zur Verfügung stehenden
Lebensmitteln machen? Natürlich haben wir dafür gearbeitet — aber Dankbarkeit und
Offenheit für den größeren Zusammenhang lässt noch MEHR erkennen. Das Essen wird
durch das Gebet zum Modell; die hier angefangene Offenheit kann auf viele andere
Stellen übertragen werden, z. B. wenn man sich nach dem Essen wieder in das Auto setzt,
eine Maschine bedient oder einkaufen geht.
Bei Feiern und Festen repräsentiert das Gebet die Offenheit für den größeren
Zusammenhang. Man muss dafür nicht unbedingt die gewohnte Form des Gebetes, also
die ausdrückliche Anrede Gottes, wählen. Wer bei der Vorbereitung der üblichen
Ansprachen daran denkt, welche Aussagen In Gebeten vorkommen und wie sie auch hier
entsprechend berücksichtigt werden können, der bietet den Zuhörern möglicherweise
Anlass zu tieferer Erkenntnis und Empfindung.
Formen des Gebetes:
Wie die Inhalte so sind auch die Formen des Gebetes vielfältig. Um nur einige zu nennen:
Es gibt das Freie Gebet, allein oder mit anderen, nach Vorlagen (aus der Literatur, der
Bibel, in der Liturgie), im Lied, in Kunstwerken, in Gesten und Demonstrationen.
In der Liturgie des Gottesdienstes hat das Gebet einen festen Platz. Das wird bei positiver
Wertschätzung von Gebet und Gottesdienst etwa so gesehen:
„Zu Beginn des Gottesdienstes im Eingangsgebet spiegelt sich die Kirchenjahreszeit und
ich werde persönlich aus meinem Alltag zu Gott geholt.
Der anschließend gebetete Psalm beheimatet mich in der biblischen Gebetstradition mit
den festgefügten Worten und Bildern.
Das Fürbittengebet, nach der Predigt, verbindet mich mit meinen Nächsten und der
ganzen Welt, ich bete mit anderen für Andere.“
Funktionen des Gebets:
Hier ist zu unterscheiden zwischen möglichen Wirkungen von Gebeten auf den
Adressaten, auf die Beter selbst oder auf deren Umgebung.
30
In der Religions- und Kirchengeschichte wurden zwar häufig Ereignissen im
politischen, gesellschaftlichen und individuellen Bereich auf die Bitten an Gott
zurückgeführt. Die Erwartung konkreter Hilfe Gottes durch Einwirken auf den
Geschehensablauf als Reaktion auf Gebete ist aber nicht das Hauptkennzeichen und
Motiv des christlichen Gebetes. Sie wird zudem auch durch die zunehmenden
naturwissenschaftlichen Erkenntnisse verdrängt.
Dagegen lassen sich aber sehr wohl Wirkungen des Gebets auf die Beter selbst und
deren Umgebung nennen:
Entlastung
Das Gebet hilft im Alltag. Es entlastet und ist Lebensbewältigung. Das Gebet kann
dazu dienen, schwer überschaubare Situationen, Hoffnungen und Befürchtungen
auszusprechen. Es wirkt dann entlastend. Ein lautes oder stilles Vortragen verworrener
oder schwieriger Gedanken ermöglicht Distanz zu sich selbst und verhindert nutzloses
Grübeln. Ordnung der Gedanken wird geschaffen. Im Gebet kommt es zu einem
inneren Klärungsprozess, indem neue Handlungsalternativen gesehen werden können.
Es eröffnet eine neue Welt.
Im Gebet kann ich auch das eigene Ich zurücktreten lassen. Ich kann mir deutlich
machen, dass fast alles, was geschieht, nicht von mir selbst gemacht wird.
Durch Beten bekommt man Distanz zum Alltag und zu seinen Sorgen und Problemen.
Es gelingt, innerlich einen Schritt aus diesem Alltag herauszutreten und ihn aus einer
Außenperspektive zu betrachten. Damit verliert er die Macht uns zu vereinnahmen.
Handlungshilfe
Das Gebet befähigt zum Handeln. Es wird erzählt, dass zwei Bauern mit vollgeladenen
Karren einher kamen. Die Wege waren verschlammt und beide Karren fuhren sich fest.
Einer der beiden Bauern war sehr fromm, er fiel sofort im Schlamm auf die Knie nieder
und begann, Gott zu bitten, ihm zu helfen. Er betete und betete ohne Unterlass. Der
andere schimpfte entsetzlich über das Unglück, versuchte aber, den Karren aus dem
Dreck zu ziehen. Er betete leise, Gott möge ihm die Kraft geben, den Karren
herauszuziehen. Er suchte sich Zweige und Blätter und Erde zusammen und
versuchte, den Karren herauszuziehen. Da stieg ein Engel aus der Höhe nieder. Zur
Überraschung der beiden, ging er zu dem Menschen, der geschimpft und gearbeitet
hatte. Darauf wendete der andere verwirrt ein: ,,Entschuldige, das muss ein Irrtu5m
sein! Ich habe dich doch hernieder gebetet, komm mir zu Hilfe!" Aber der Engel sagte:
,,Nein - die Hilfe gilt dem anderen. Gott hilft dem, der betet und arbeitet." Das Gebet
ersetzt das eigene Handeln nicht.
So können Gläubige im Gebet ihr Handeln planen, korrigieren und an den Maßstäben
und Erfordernissen einer größeren Wirklichkeit orientieren.
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Dialog
In der Psychologie wird die Bedeutung des „inneren Dialogs“ insbesondere bei Kindern
hervorgehoben. Gebete können den „inneren Dialog“ verstärken und inhaltlich füllen.
Die persönliche Werteorientierung und das Selbstbewusstsein wird durch solche
Reflexionen entscheidend gefördert.
Aneignung
Das Gebet bietet den Gläubigen die Möglichkeit, die aus der Predigt oder sonstiger
Verkündigung aufgenommenen Worte auch selbst zu verwenden und sich damit bis zu
einem gewissen Grad anzueignen. Dadurch wurde es zur einer der wichtigsten
Übungen des (z. T. allerdings nur mitvollziehenden) Formulierens und Verbalisierens
von Glaubensinhalten, die es in früheren Zeiten ohne Bücher, Zeitungen und
Massenmedien gab.
Bewusstseinssteigerung
Das Gebet ist somit eine umfangreiche, exemplarische Hervorhebung und
Bewusstmachung von Ereignissen, Gedanken und Möglichkeiten. Wenn dabei auch
eine Auswahl getroffen werden muss, so gibt es doch grundsätzlich nichts, worum und
wozu nicht gebetet werden könnte.
Schließlich vertieft und variiert das Gebet Erfahrungen, Ereignisse und Gedanken.
Dadurch werden sie auch für zukünftige Verwendung bereitgestellt.
Besonders deutlich wird das beim Dankgebet. Die Funktion des Dankes ist ja auch bei
den zwischenmenschlichen Beziehungen nicht nur darin zusehen, dass dadurch gute
Beziehungen zur Außenwelt durch Lokalisierung der Herkunft und Anerkennung des
Empfangenen gepflegt werden. Vielmehr erlaubt Dankbarkeit auch eine bewusste und
unterscheidende Aufnahme der Ereignisse und Erfahrungen, um sie richtig
einzuordnen. Dafür ist die Bewertung, also der Stellenwert im individuellen
Orientierungssystem, besonders wichtig. Wenn nicht nur die physische Existenz des
Individuums oder seine Wirkungen in der Umwelt, sondern die Differenzierung und
damit Erweiterung des Bewusstseins als oberster Wert und Ziel angesehen werden,
dann ist das Verhaltensmuster Dank ein hervorragendes Mittel, um dieses zu
erreichen.
Abstand durch Gebet
Das Gebet ermöglicht dem Menschen auch einen gewissen Abstand zu seiner
Situation. Er wird von dem darin entstehenden Handlungs- und Ambivalenzdruck
entlastet, indem er einiges davon sozusagen Gott zuschiebt. Das mag in manchen
Fällen als eine Flucht vor der Realität in Verantwortungslosigkeit und Untätigkeit
(Quietismus) erscheinen. Man sollte aber nicht übersehen, welche Bedeutung Beten —
Händefalten! — in einer Zeit hatte, in der die Menschen unter einem ungeheuren
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Leistungsdruck standen und unter der „Lebensnot, die bedeutet, dass der
Existenzkampf in einer Welt vor sich geht, die zu arm ist, um die menschlichen
Bedürfnisse ohne ständige Einschränkungen, Verzichte und Verzögerungen zu
erfüllen.“
Man kann das Beten mit der Arbeit eines Ballonfahrers vergleichen. Will er an Höhe
gewinnen, muss er Ballast abwerfen. Und genau das können wir im Gebet tun: Ballast
abwerfen! Alles loslassen: Alle Bilder, alle Gedanken, alles, was uns heute geschehen
ist, können wir loslassen, abgeben, zu Gott hin. Dann werden wir frei: Die Gedanken,
die Erlebnisse von gestern können unseren Geist nun nicht mehr besetzen, so wie sie
das immer getan haben.
Realismus
Wenn ein Mensch betet, dann unterscheidet er damit zunächst einmal zwischen dem,
was er selbst tun kann und dem, was nicht in seiner Macht steht. Das ist im Grunde
nichts anderes als Realismus und nüchterne Sachlichkeit. Es ist schon viel gewonnen,
wenn das Unverfügbare im Gebet wenigstens benannt und abgegrenzt ist.
Im Gebet wird jedenfalls — wie in der Wissenschaft — die Grenze dessen, was völlig
unmöglich erscheint, sehr weit hinausgeschoben. Wenn Bitten an Gott gerichtet
werden, so beziehen sie sich in der Regel auf etwas, das der Mensch nach
vernünftiger Einschätzung der Lage mit den ihm zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln
zur Zeit oder auf lange Sicht hin nicht realisieren kann, was er aber auch nicht
aufgeben will.
Willensbildung und Entscheidungsvorbereitung
Wird im Zusammenhang mit wichtigen Entscheidungen gebetet, so kommt dies einer
längeren Offenhaltung gleich, was die Einbeziehung weiterer Aspekte ermöglicht.
Wenn für Notleidende gebetet wird, so wirkt das als Selbstverpflichtung auf die
Betenden zurück. Das Fürbittengebet für Kranke und Gefangene zeigt und verstärkt
die durch den Glauben begründete Gemeinschaft. „Das Gebet bereitet den Menschen
darauf vor, die Verantwortung für seine Welt zu übernehmen"Wenn das Beten helfen würde.....
Hoffnung auf Hilfe ist immer noch ein starkes religiöses und psychologisches Motiv des
Betens. Das Gebet ist in vielen Notlagen die einzige Möglichkeit, wenigstens etwas zu
tun, wenn es auch nicht sofortige Abhilfe zur Folge hat. Hier wird Gott verstanden als
einer, der mehr oder weniger direkt in den Ablauf der Geschehnisse eingreift.
Für den christlichen Glauben ist aber, wie oben schon erwähnt, die Hoffnung auf
Erfüllung von Wünschen nicht das Hauptmotiv für das Beten. Es gibt andere
gleichwertige und überzeugende Funktionen.
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So ist das Gebet eine Möglichkeit, Form und Übung, von sich selbst weg zu denken,
sich zu öffnen und offenzuhalten für den größeren Zusammenhang und die größere
Wirklichkeit. Als Verhaltensweise ist das Gebet weitgehend unabhängig von äußeren
Anlässen und Ereignissen und zu jeder Zeit und fast unter allen Umständen
praktizierbar. Der Mensch gewinnt darin einen Abstand von sich selbst und von der
Situation, in der er sich befindet. Auf dem Umweg über das Gebet sieht der Mensch
sich selbst im größeren Zusammenhang. Es hat für ihn die Wirkung eines religiösen
archimedischen Punktes. Jederzeit und ohne Begrenzung kann so mit einem
unendlichen Gesprächspartner geredet werden, dass jede Bewertung von Ereignissen,
jede konkrete Situation und jedes eigene Empfinden in einem anderen Licht erscheint.
Dadurch entsteht Freiheit.
Der Betende wendet sich in seinem Bewusstsein und Reden dem zu, was jenseits
seiner Grenzen liegt, was seinem Wesen nach nicht objektivierbar ist.
In der christlichen Gebetspraxis kommt deutlich zum Ausdruck, dass das Gebet
vielfach auch Reaktion auf etwas Erfahrenes, Gehörtes oder Gelesenes ist. Es stellt
also eine Wechselbeziehung zur Außenwelt her und institutionalisiert sie geradezu.
Rückwirkungen des Gebetes auf eine Gemeinschaft
Zu beachten (und zu beobachten!) ist, dass das Gebet Rückwirkungen auf die
Betenden hat. So zeigt sich z.B. an den Gebeten einer Gemeinschaft, worauf es ihr
ankommt, was ihr wichtig ist.
Zum Beispiel wird beim Tischgebet bewusst, erkannt und anerkannt, dass Essen und
Lebensbedingungen von weiter her kommen und durch einen größeren
Zusammenhang bedingt sind (vielleicht fällt dann auch manche Kritik am Essen oder
am Personal anders aus).
Außerdem wird angedeutet, dass Essen, Aufnehmen und Annehmen auch einen
Zweck haben: Kraft zu bekommen für die eigenen Aufgaben und dazu auch einen
Beitrag zur Erschließung der größeren Wirklichkeit zu leisten und diese damit selbst zu
finden: „Segne, Vater, diese Speise, uns zur Kraft und dir zum Preise". Das heißt
übersetzt: Wie ist eigentlich das zu bewerten, was wir aus den uns zur Verfügung
stehenden Lebensmitteln machen? Natürlich haben wir dafür gearbeitet — aber
Dankbarkeit und Offenheit für den größeren Zusammenhang lässt noch MEHR
erkennen
7. Beten mit Kindern – warum und wie
Mit Vorschlägen für die Praxis in der Anlage
Beim Beten erlebt das Kind, dass es außer den Erwachsenen noch jemanden gibt, der
in ihrem Leben wichtig ist. Dem man alles anvertrauen kann - gute und schlechte
Erlebnisse. Das kann Kindern im Leben helfen und entlastet sie. Gott ist sogar jemand,
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zu dem man reden kann, wenn einen kein Erwachsener versteht. Durch Beten erleben
Kinder die Gewissheit, nie alleine zu sein: Gott ist da, zu ihm kann ich beten, mit ihm
kann ich reden, ihn kann ich mit ins Leben hinein nehmen.
Erwachsene, die mit ihren Kindern beten, vermitteln ihnen eine Geborgenheit, die das
ganze Leben tragen kann. Gleichzeitig erziehen sie ihre Kinder aber auch zur
Selbstständigkeit, denn das Gebet kann zu einem Ort werden, an dem sich das Kind
eigenständig und unabhängig von den Erwachsenen fühlt.
8. Kritik am Gebet
Folgende Argumente werden in der Kritik am Gebet häufig genannt:
Durch das Gebet kann eine Flucht vor der Realität versucht werden. Man findet sich
allzu leicht damit ab, dass die Welt nicht verändert werden kann. Das Gebet wird dann
zur Ersatzhandlung.
Das Gebet ist eine Minderung des Kräftepotentials, das für die Bewältigung
anstehender Aufgaben verfügbar ist. Selbst ein möglicher psychologischer Erfolg
entspricht nicht dem dafür notwendigen Aufwand.
Durch das Vertrauen auf die Hilfe Gottes wird möglicherweise die Entwicklung von
Wissen und Erkenntnis behindert, bis hin zum Beharren auf abergläubischen
Vorurteilen (z. B. dass Gott direkt in den Ablauf des Naturgeschehens eingreifen könne
bzw. wolle).
Durch vorformulierte Gebete wird eine vorgeformte Wertordnung übernommen und
damit die geltende Herrschaftsstruktur anerkannt und verfestigt. Extreme Beispiele:
Fürbitte für Diktatoren und Bitte um Kriegsgewinn.
Durch die im Gebet vorausgesetzte Haltung der Demut und Unterordnung wird der
Mensch in seiner individuellen und sozialen Entfaltung gehindert.
Durch die Fixierung auf das Gebet werden keine anderen, zeitgemäßen Ausdrucksund Verhaltensformen entwickelt, welche ähnliche Funktionen wie das Gebet haben
könnten.
Diese Kritik ist für Christen ein willkommener Anlass, Theorie und Praxis des Gebetes
immer wieder kritisch zu überprüfen. Das Gebet hat zu sehr den Charakter des
Sakralen, Intimen und deshalb Nicht-kritisierbaren bekommen. Aber ebenso wenig wie
der Glaube nicht nur Sache eines einzelnen Menschen sein kann, so auch nicht das
Gebet. Worum gerade gebetet wird und werden kann, muss zur Diskussion gestellt
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werden oder sich aus der umfassenden (und deshalb notwendig auch gemeinsamen)
Orientierung des Glaubens ergeben.
Andererseits kann darauf hingewiesen werden, dass die kritisierten Folgen einer
bestimmten Gebetspraxis auch bei anderen, vergleichbaren Verhaltensformen
auftreten können. Der Besuch eines Filmes kann Flucht vor der Realität und
Ersatzhandlung sein, ebenso die Lektüre einer Zeitung oder das unverbindliche
Gespräch in einer Gesellschaft.
9. Die Zukunft des Gebetes
Die Zukunft des Gebetes ist offen: Hat das Gebet unter diesen Aspekten eine
unaufgebbare Bedeutung für den Glauben und eine Chance für die Zukunft? Die
Zukunft des Gebetes ist—wie das Gebet selbst – offen
Vielleicht werden sich auch die Funktionen des Gebetes zum Teil auf andere Formen
und Möglichkeiten verteilen. So erlauben z. B. Telefon und Verkehrsmittel oder auch
soziale Netze heute die Wahl eines realen und passenden Gesprächspartners, wo der
Mensch früher auf sich selbst zurückgeworfen war (die Qualität der Offenheit kann
ebenso in einem Gebet wie in einem Gespräch mit einem anderen Menschen
bestimmend sein; der Glaube rechnet ja damit, dass Gott uns im Menschen begegnet).
Tatsächlich ist festzustellen, dass es heute Menschen gibt, die den christlichen
Glauben bejahen ohne ausdrücklich zu beten. Und Menschen, die beten und dem
Christentum skeptisch gegenüberstehen.
Gebetet wird heute außer individuell und in Gruppen auch öffentlich, (bei
Einweihungen, Gedenkfeiern u,ä., meist aber in der Kirche und bei kirchlichen Feiern.
Auch in Zukunft?
10. Praktischer Vorschlag:
In einer Gruppe aus den folgenden Karten, von denen jede/r ein Päckchen bekommt,
jeweils eine für Zustimmung oder Ablehnung auswählen und darüber diskutieren
1. Gebet ist Ausdruck für den
Glauben, dass über mich selbst und
andere Menschen hinaus eine
größere Wirklichkeit da ist, in der ich
aufgehoben bin.
7. Beten verhilft zu einer
intensiven Erlebnis- und
Bewusstseinssteigerung. Die
zurückliegenden Ereignisse werden
darin noch einmal vergegenwärtigt,
in ihrem Wert erkannt und fester in
36
der Erinnerung verankert.
2. Gebet ist vergleichbar mit der
Erfahrung, dass, so wie das überall
vorhandene und wirksame
Magnetfeld der Erde die Nadel eines
Kompasses an einem konkreten Ort
beeinflusst und ausrichtet, auch eine
größere Wirklichkeit existiert an der
Menschen ihr Leben ausrichten
können und sollen.
8. Das Gebet hilft, Einzelerfahrungen und -probleme in den
Zusammenhang des Glaubens zu
bringen. Auf diese Weise dient es
auch der Einheit der Persönlichkeit.
3. Wer betet, denkt von sich weg
und über das hinaus, was ihm
bekannt ist und möglich erscheint.
9. Vorformulierte Gebete sind ein
Rahmen, der zum Eintragen eigener
Erfahrungen und Gefühle anregt.
4. Beten ist Ausdruck von
Realitätssinn, weil es hilft zu
unterscheiden zwischen dem, was
ein Mensch selbst tun kann und
dem, was nicht in seiner Macht
steht.
10. Gemeinsames Gebet ist
Anlass und Ausdruck der
Willensbildung einer Gruppe. Es
zeigt, woran einer Gemeinschaft
liegt, wofür sie sich einsetzt.
5. Wer betet findet sich nicht mit
der Welt so ab, wie sie ist, sondern
versteht sie als veränderbar.
12. Das Gebet hilft, Abstand von
sich selbst und vom Druck einer
Situation zu gewinnen.
11. Das Gebet kann Wünsche
und Wertungen korrigieren, weil sich
durch die Beziehung auf Gott und
den Zusammenhang des Glaubens
der subjektive Stellenwert der
Wünsche verändert. Gegenüber Gott
kann nach dem christlichen Glauben
nicht egoistisch gebetet werden.
13. Das Dankgebet hält offen für
die Tatsache, dass der überwiegende Teil meines Lebens von
außen kommt und nicht aus meiner
eigenen Leistung. Es ist lebenswichtig, sich darauf immer wieder
einzustellen. Die Qualität des
Lebens liegt darin, dass es nicht
selbstverständlich ist.
14. Eine Gefahr des Gebetes
kann darin liegen, dass es Flucht vor
der Wirklichkeit sein kann und die
eigenen Anstrengungen vermindert.
15. Formulierungen von vielen
Gebeten orientieren sich an
überholten Weltordnungen (z.B.
Obrigkeitsdenken, Glauben an
Wunder).
16. Man kann auch ohne Gebet
ein guter Christ sein.
17. Die Möglichkeit zu beten ist
nicht abhängig von der Anrede bzw.
Annahme einer persönlichen Gottes.
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37
Jesus – wer war und wer ist das?
Woher kommt das eigene Verständnis von Jesus? Es gibt Romane und historische
Darstellungen über ihn, Filme, Musik, und das Neue Testament in der Bibel, nicht zu
vergessen die vielen Abbildungen und Kreuze in den Kirchen und die kirchliche Lehre.
Aus all dem kann ausgewählt und das eigene Jesusbild geformt werden, das von „Jesus
der Mensch“ bis hin zu „Gottes Sohn“ und Weltenrichter am Ende der Zeit reicht. Welche
Bedeutung hat Jesus für den Glauben in dieser Zeit? Ist hauptsächlich seine Lehre und
das Vorbild seines Lebens wichtig oder sein Tod als Opfer zur Vergebung der Sünden und
seine Auferstehung als Beginn neuen Lebens?
Jesus der Mensch
Jesus war der Sohn von Maria und Josef, er hatte vier Brüder und einige Schwestern, sein
Leben und Sterben sind historisch belegt. Er war Jude und wurde während der letzten
Regierungsjahre Herodes’ des Großen geboren, in den Jahren 7 - 5 unserer Zeitrechnung.
Er war von Beruf Bauarbeiter. Er kam in Kontakt mit der Taufbewegung (26/28 n. Chr.)
und ließ sich taufen. Dieses Ereignis kam für ihn einer Berufung gleich. Er wirkte ca. 3
Jahre und wurde vermutlich im Jahr 30 gekreuzigt.
Jesus wurde als Lehrer, Wundertäter, Heiler gesehen. Er hat viele Menschen nachhaltig
beeindruckt und beeinflusst. Er brachte den Menschen die Nähe Gottes und die
Grundsätze seines Willens (beides zusammen wird auch als „Reich Gottes“ bezeichnet).
Jesus, der Mensch, stand in einer besonderen, einzigartigen Beziehung zu Gott, er stand
Gott nahe. („Gesicht“ Gottes, Konzil von Chalcedon (im Jahre 451 n.Chr.)) Er war ein von
der Urmacht Gottes erfüllter, ein geistgefüllter Mensch.
Er ließ erkennen, wie gutes, gottgefälliges Leben für Menschen aussieht und möglich ist.
Wie Gott ganz in einem Menschen da sein und wirken kann.
Viele haben damals seine Botschaft nicht aufnehmen können und wollten. Heute würde
man von Überforderung sprechen. Seinen Gegner machte sie Angst.
Jesus ging davon aus, dass die Gottesherrschaft (Lk 17,20f) schon begonnen hat und ihre
endgültige Durchsetzung kurz bevor stand. Er hat sich wohl als Repräsentant des Gottes
Reiches verstanden. Menschen spürten dies, weil sie in seiner Nähe Heilung und Heil
erfuhren. Er behandelte Frauen und Kinder gleichwertig. Er setzte sich mit Frauen über
Glaubensfragen auseinander (Maria und Martha). Seine Hinwendung zu Ausgegrenzten
(Zachäus, der Steuereinnehmer) verwirrte viele, die das mit erlebten. Seine Nähe war für
viele heilsam. Die Menschen erlebten, was es heißt, geliebte Kinder Gottes zu sein. Das
bedeutete gleichzeitig, dass die Menschen sich untereinander als Geschwister
annahmen. Sich gegenseitig helfen, wenn Not ist, sich beistehen, wenn einer scheitert
(Gleichnis verlorener Sohn), war jetzt das angemessene Tun.
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Das Reich Gottes ist mit Jesus auf der Welt angebrochen. Es bringt Gottes Nähe und
seinen Willen. Das bedeutet, dass der Mensch wichtiger ist als die Einhaltung von
speziellen Gesetzen. Jesus verteidigte das Ährenraufen (d.h. arbeiten) am Sabbat, weil
die Jünger Hunger hatten. Er heilte am Sabbat um der Menschen willen. Diese Haltung
macht außer der Kritik an menschenfeindlichen Gesetzen deutlich, was gute Gesetze
bewirken sollen, nämlich, dass sie dem Menschen nützen und dienlich sind. Die
Gesetzesbeachtung war im damaligen Judentum durch rigides Buchstabenverständnis
verfälscht worden.
Das Besondere und Einzigartige an Jesus war, dass er Leben und Welt als Geschenk und
Gnade verstand und dies besonders den Armen und Benachteiligten verkündete.
Bezeichnungen für Jesus wie z.B. „Sohn Gottes“ sowie „Messias“ und „Christus“ sind
Hoheitstitel, die die Menschen Jesus gegeben haben, um seine Würde und Bedeutung für
die Gläubigen hervorzuheben. Nicht alle hat Jesus selbst gebraucht. Mit „Christus“ und
„Messias“ wurde die Hoffnung auf einen neuen und gerechten König, einen neuen David
verbunden. Der Titel „Sohn Gottes“ ist analog den Würdetiteln im alten Orient zu
verstehen, dort u.a. in Ägypten wurden die Herrscher so bezeichnet.
Jesu Tod
Der gewaltsame Tod Jesu war die Konsequenz seines gottgeleiteten und gotterfüllten
Lebens. Für die einen war er ein neuer irdischer Herrscher, für andere der
Hoffnungsträger einer Revolution. Einer vorwiegend gottlosen Welt wird der Spiegel
vorgehalten. Menschen, die das tun, leben gefährlich, weil die Welt, die Menschen, nicht
wirklich wissen wollen, wie sie sich verhalten.
Jesus ist nicht für, sondern an den Menschen gestorben. Aber Gott gab dem Tod nicht
das letzte Wort. Die tödliche Kraft in den Menschen, die Jesus umgebracht hat, ist nicht
das Letzte. Gottes Handeln ist größer als alles endgültige Tun der Menschen. Jesus
scheitert an der Macht des Bösen. Das lässt Gott nicht zu, Jesu Scheitern wird zum
Triumph des Lebens über den Tod und das Böse. „Der Tod am Kreuz ist die Offenbarung
realer Menschlichkeit: so sind wir; so gehen wir miteinander um.“ (Joachim Kunstmann,
Die Rückkehr der Religion, S. 265)
Jesus bleibt bis in den Tod hinein dabei, dass Gott selbst hinter ihm steht und sich in
Verbindung mit seiner Person den Menschen zeigt. Wie sich schon in seinem Leben die
Kraft und die Liebe Gottes zeigte, so ist im Scheitern und Sterben Jesu eine einzigartige
Nähe Gottes zum Menschen hergestellt worden. Im Glauben an Jesus erkennen die
Menschen Gott, wie er für sie in Jesus ihr eigenes Schicksal erleidet. Die größtmögliche
Solidarisierung Gottes mit Menschen geschieht für sie im Sterben Jesus. Weil Jesu
Scheitern, sein Tod aber kein Scheitern bleibt, erfährt der Mensch in der Auferweckung
Jesu eine nicht fassbare Intensität der Gottesnähe. Die Menschen haben sie als Heiligen
Geist beschrieben.
Jesu Tod ist kein Opfer für die Menschen, wie sie in antiken Religionen bezeugt sind.
Trotzdem ist Jesu Tod in diesem Verständnis ein Tod für die Menschen, kein Opfer, weil
39
den Menschen eine neue Dimension über den Tod hinaus eröffnet wurde. Damit geschieht
eine Neubewertung des Todes, die einer Überwindung gleichkommt.
Weil in der größeren Wirklichkeit Gottes dem Tod Jesu nicht das letzte Wort gegeben wird,
behält auch die Macht des Bösen im Menschen und in seiner Welt nicht das letzte Wort.
Jesus ist nicht für die Menschen gestorben. Gott vergibt den Menschen, dass Jesus an
ihnen starb. Sie waren nicht in der Lage, seine Botschaft zu verstehen und aufzunehmen.
Die Auferweckung besagt, dass es weitergeht mit Gott und den Menschen, er versöhnt
sich mit ihnen. Das wurde von den Christen in der Kirche als gleichbedeutend mit
Erlösung und Vergebung von Schuld aufgenommen.
Die Auferweckung (Entrückung)
Die Auferweckung Jesus ist nicht als historisches Ereignis zu verstehen. Die Jünger und
Jüngerinnen, seine Anhänger haben den Tod Jesu schmerzlich erlebt und erfahren
gleichzeitig aber seine wirkmächtige Gegenwart gespürt: Er ist tot – doch er lebt! Wie kann
mit dieser Erfahrung umgegangen werden? Man kann eine der Erfahrungen bestreiten,
man kann versuchen, diesen Widerspruch rational aufzulösen. Oder die eigene
Wirklichkeit und das Wirklichkeitsverständnis verändern sich. Es wird vereinbar, was
unvereinbar erscheint, weil der Glaubende sich als Teil des Geschehens, das Gott wirkt,
versteht.
Im Neuen Testament werden überwältigende Erfahrungen mit Jesus nach seinem Tod
geschildert. Zur Glaubwürdigkeit dieser Berichte trägt bei, dass Jesus nicht nur Menschen
begegnet, die schon zu glauben angefangen hatten, sondern auch denen, die sich von
ihm abgewandt hatten. Die Auferweckung Jesu ist ein alles übergreifendes und über sich
hinausweisendes Ereignis, er ist nicht in dieses geschichtliche Leben, sondern in ein
anderes, größeres Leben hinein auferweckt worden. . Dies zeigt sich vor allem an der
Kraft seiner zuvor wankelmütigen und schwachen Anhänger (Petrus), die unerschütterlich,
ja freudig ihren römischen und anderen Verfolgern standhielten.
Nach Jesu Lebens-Zeit ging es weiter – bis zur Gegenwart
Ab der zweiten Generation der Christen zeigten sich neue Wahrnehmungen und Formen
der Offenbarung Gottes. Gott ist im weitererzählten Zeugnis von Jesus präsent. Jesus ist
trotz Leiden und Tod nicht gescheitert, im Heiligen Geist begleitet er bis heute seine
Gemeinde. Der Heilige Geist ist die Kraft Gottes, die die Weiterexistenz Jesu auf der Erde
garantiert. Ein Grund, an die Überwindung des Todes durch Gott zu glauben.
Ein Gedicht dazu:
Passion
Dem Leiden und Sterben Jesu hilflos ausgesetzt,
fragten sie nach dem Wozu und Warum.
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Wo ist der Sinn?
So starb er, wie sie meinten: Für unsre Sünden,
Er litt für uns, anstelle von uns,
versöhnte Gott.
War das der Gott Jesu?
Der Gott, den er Abba, Papi nennt?
Dem er vertraute?
Unergründlich: Warum und Wozu.
Viel erklärt und wenig gewusst.
Und doch: er hat durchlitten,
alles, was einem Menschen blühen kann,
bis in die finsteren Tiefen des Todes.
Wozu und Warum? Unergründlich?
In ihm aber zeigte sich der Grund
Im Grund des anderen Gott zu sehen.
(Heiderose Gärtner)
Dazu als Beispiel ein persönliches Theologisches Statement von Arbeitskreismitglied
Reinhard Craemer in der Anlage
„Meine“? Kirche
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Auch das Verständnis der Kirche hat sich gewandelt. Ist das eine Organisation, eine von
Jesus gegründete (Lebens-? Glaubens-?)Gemeinschaft, die Verwalterin göttlicher Gnade
oder die Vertreterin und Interpretin des göttlichen Willens hier auf Erden? Für die eigene
Antwort auf solche Fragen sind nicht nur die Kirchengeschichte, die kirchliche Lehre und
das christliche Glaubensbekenntnis zu berücksichtigen, sondern auch die Kritik an der
Kirche und das zunehmende Auftreten anderer Religionen. Ist auch die Frage „Was habe
ich von einer Mitgliedschaft in der christlichen Kirche?“ berechtigt? Welchen Wert hat die
Lebensbegleitung der Kirche (u.a. mit Taufe, Konfirmation, Eheschließung, Bestattung)?
Das Nachdenken darüber kann das eigene Verhältnis zu dieser Organisation bewusster,
ergiebiger und aktiver werden lassen.
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Viele Begriffe und Inhalte des christlichen Glaubens scheinen heute nicht mehr zeitgemäß
und nicht mehr der spirituellen Realität und Praxis zu entsprechen. Die Frage „Meine
Kirche?“ lässt sich nicht mehr zufriedenstellend und angemessen nur mit Sätzen aus
Luthers Katechismus beantworten.
Deshalb muss neu über die Funktion und die Struktur von Kirche heute nachgedacht
werden.
Kirche: Gemeinschaft im Glauben
Meine Kirche, unsere, evangelische, christliche Kirche: Am einfachsten lässt sie sich als
„Gemeinschaft im Glauben“ benennen – dann aber bleiben viele andere Bezeichnungen
von Kirche außen vor: Kirche Jesu Christi, Kirche von unten, Volkskirche, Amtskirche, etc.
Dazu kommen noch viele Etiketten, in denen das Wort Kirche gar nicht vorkommt, in
denen es aber drinsteckt: Gemeinde, Gottesvolk, Gottesdienst, Konfession, Ökumene;
oder in Verbindung mit anderen Namen steht und mit diesen zusammen den Begriff Kirche
erweitert: Kirchentag, Kirchenjahr, Kirchengeschichte, Kirchensteuer. Schwer zu sagen
also, was Kirche (für mich!) istTrotzdem, sprechen wir von „Kirche“, ganz einfach so. Von dem, was wichtig ist zum
Verständnis von Kirche – auch ganz persönlich: von meiner Kirche. Meiner? Einige der
folgenden Abschnitten sprechen – meist am Anfang nach einer Überschrift – in der IchForm. Sie sprechen damit aber doch auch für andere mit. (Vielleicht wollen Sie mal
ausprobieren, ob und wie sie sich mitsprechen und mitdenken lassen?)
Von Jesus ging es aus.
„Diese Kirche – ich bewundere sie wie ein Wunderwerk. Nur Religion läßt Derartiges
wachsen. Dabei hat für mich die christliche Religion etwas Besonderes, ja Einzigartiges:
ihre Schöpfungsfreude, ihre Menschennähe und ihre Zukunftshoffnung. Es war ein weiter
und langer Weg von Palästina zu ‚meiner Kirche’ gegenüber. “
Jesus, ein Wanderprediger in Palästina, hatte geredet und gehandelt als einer, der Gott
den Menschen nahebrachte („offenbarte“). Dabei meinte die Bezeichnung „Gott“ den Gott
Israels, dem sich ein kleines Volk im Vorderen Orient anvertraut hatte, von dem es über
tausend Jahre geführt wurde und dessen Willen – ständig aktualisiert – in heiligen
Schriften niedergelegt war.
Jesus sammelte „Jünger“, Frauen gehörten auch dazu. Die Schar wurde die von Jesus
überzeugte, ihm vertrauende Lebensgemeinschaft. Jesus wollte etwas Bestimmtes,
nämlich den Willen des Gottes Israels „erfüllen“ und das Gottesreich bauen. Er wurde von
seinen Leuten als Inkarnation dieses Gottes, als „Christus“ gesehen, als der langerwartete
Befreier, Lehrer und Heiler des Gottesvolkes. In seinem Geist kam es zu einer neuen
Gemeinschaftsbildung inmitten des jüdischen Umfeldes, aus dem diese Minderheit der
Christus-Leute ausgegrenzt wurde. Für sie wurde im Anschluss an die Bezeichnung des
Volkes Israel der Name „Ekklesia“ gebräuchlich – das profan-griechische Wort der
Volksversammlung. Die Herausgerufenen. Dieses Wort steckt in „Kirche“.
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Diese Gruppe hatte vom Jesusgeist den universellen Auftrag übernommen, die ethnische
Grenze zu durchbrechen. So war die Christus-Gemeinschaft, die christliche Kirche, von
Anfang an international globalisiert. Ihre Gründungsgeschichte von Pfingsten ist die einer
charismatischen Verkündigung, die von einer die ethnischen und sprachlichen Grenzen
durchbrechenden Verständigung erzählt.
Ein kleiner Samen wuchs zu einem weitverzweigten Baum.
Für „Kirche“ – Gottesvolk und Christus-Gemeinschaft – finden sich in der Bibel viele
Bildworte oder Umschreibungen, die Facetten des Wesentlichen aufgreifen:
 das geistliche Haus, auf Petrus-Bekenntnis-Fels gebaut,
 der Leib Christi, die Heiligen,
 Versammlung im Namen Jesu (synagoge), Später sagte man auch
 Familie Gottes, Liebesgemeinschaft, civitas dei –
 im Bekenntnis ausgesprochen als die eine, heilige, katholische (allgemeine /
christliche) und apostolische Kirche.
Für die Reformation formulierte der Artikel 7 des Augsburger Bekenntnisses:
Es müsse allezeit eine christliche Kirche sein und bleiben, „die die Versammlung aller
Gläubigen ist, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut
dem Evangelium gereicht werden. Denn das genügt zur wahren Einheit der christlichen
Kirche [...] Und es ist nicht zur wahren Einheit de christlichen Kirche nötig, dass überall die
gleichen, von den Menschen eingesetzten Zeremonien eingehalten werden [...]“ Wort und
Sakrament, verstanden als Gottes Handeln, begründet und erhält die Kirche.
Manche Texte der Gesangbuchlieder sind für das Kirchenverständnis der Laien
nachhaltiger als die der universitären Theologie, allerdings gegenüber neuzeitlichem
Glaubensverständnis oft veraltet.
Der unterschiedliche Sprachgebrauch von „Kirche“ ist zu beachten: „Kirche“ kann sowohl
den Gesamtkörper als auch seine Teile, also die Einzelgemeinde und Teile der
Organisation meinen. Man sagt „Zur Kirche gehen“ und meint damit die Teilnahme an
allem Gottesdienstlichen, das Verhältnis zur Einzelgemeinde. Man sagt auch: „Zur Kirche
gehören“ und meint das in welcher Form auch immer geäußerte Bekenntnis zur
Mitgliedschaft, das Verhältnis zur christlichen Religion. Doch bedenke: „Kirche“ in der
Einzahl gibt es heutzutage nur in der Glaubenswirklichkeit. Ansonsten reden wir von
Kirche gewöhnlich im Sinne von unserer Kirche, die sich immer nur als eine Teilgruppe
verstehen kann oder ganz allgemein von dieser Gemeinschaft und Organisation.
Kirche kommt also von weit her, in und mit der Tradition. Dies prägt sie und wird sie auch
in Zukunft prägen trotz der berechtigten Aufforderung zu Aktualität
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Wechselnde Geschichte, Entwicklung zur Organisation und Institution
„Ich habe gelernt, dass die Kirche einer wechselvollen Geschichte ausgeliefert war und
immer ist. Sie zeigt diverse Schwächen, sogar Abscheulichkeiten, beweist aber auch eine
erstaunliche Wandlungsfähigkeit und Erneuerungsstärke.“
Schon in den Anfängen ist in den Christengemeinden erkennbar, wie festere Strukturen
wachsen. In den folgenden drei Jahrhunderten und im Kampf um ihre Legitimation
gegenüber dem Judentum und der hellenistischen Umwelt bildete sich aus Orts- und
Regionalkirchen eine allgemeine Kirche aus, deren Führung Rom übernahm. Aus
unterschiedlichem Kontext sind uns aus der Anfangszeit die Paulusbriefe, die vier
Jesusgeschichten, die Apostelgeschichte und andere Briefen und Schriften überliefert, die
Einblick in die Entstehung der Urgemeinden geben. Es sind auch Schriften erhalten, die
die Existenz von Gruppen mit spezieller Überlieferung beweisen, doch in der größeren
Kirchengemeinschaft keine Anerkennung fanden. Die Großkirche einigte sich auf eine
Gruppe von Schriften, den „Kanon“, der das „Neue Testament“ genannt wurde. Das wurde
die Grundlage des Glaubensbekenntnisses. Bibeltexte wurden oft als „Wort Gottes“
bezeichnet; sogar die Erklärungen einzelner Stellen in Predigten wurden so genannt. Das
Wertbewusstsein der eigenen Tradition steigerte sich bis hin zu der Aussage, dass es
außerhalb der Kirche kein Heil gebe. (Cyprian, ca 200 – 258 n.Chr,)
Die Auffassung des Neuen Testaments bildete auch die Auslegungskriterien für das
jüdische Alte Testament, das nach christlichem Verständnis fest an das „Neue“ gebunden
ist. Diese „Bibel“ erlangte Verbindlichkeit, sie formte die christliche Identität; sie
ermöglichte auch eine differenzierte Vielfalt der Jesusauslegung.
So entstand die Kirche als ausgeformte Institution, die aber innerlich charismatischspirituell von der Jesusinterpretation bestimmt war. Gemeinsam war allen der Glaube an
den Jesus, der gekreuzigt und auferstanden war und seinen Gruppen einen universalen
Auftrag zur Mission hinterlassen hatte.
Historisch sind die Lebensringe der wachsenden Kirche zu erkennen: die Urgemeinde, die
Kirche vor der konstantinischen Anerkennung, die Staatskirchen in Rom und Byzanz, die
Kirchen der Reformationen, charismatische Gemeinschaften der Neuzeit. Nicht zu
übersehen ist, wie die Kirchen durch politische bzw. gesellschaftliche Kräfte geprägt
wurden; schon in der Frühzeit passte sich die Kirche an die Umwelt an. Das heutige
Gesicht bekam die Kirche im Zusammenhang mit der Aufklärung, der Säkularisierung und
der Postmoderne.
„Wie viel Kirche braucht der Staat“ lautete der Titel eines Vortrags von Kirchenpräsident
Christian Schad (Speyer) Anfang Juli 2012. In unserem Zusammenhang hier könnte sie
lauten: Wie viel Geschichte, wie viel Jesus braucht die Kirche? Oft haben Kirchenleute mit
Berufung auf die Tradition und die Quellen der Glaubensgemeinschaft versucht, (nach
ihrem eigenen Verständnis aber, immerhin) durch Erinnerung an die Geschichte die
Kirchenmitglieder zusammen und beim Wesentlichen zu halten. Das geschah leider nicht
selten mit Gewalt und mit wenig Offenheit für neue Entwicklungen. Wie viel und welche
Kirchengeschichte und Berufung auf die Tradition braucht die Kirche? – Das muss eine
ständig neu zu stellende Frage bleiben.
44
Von der Einheit der Jesusgemeinschaft hin zur konfessionellen Vielfalt
„Mich schmerzt, dass die Einheit der Jesusgemeinschaft nicht gehalten hat. Aber ich
verstehe mehr und mehr, dass eine in allen Weltteilen existierende Gemeinschaft
schwerlich in irgendeiner monarchischen, organisierten Weise zusammengehalten werden
kann. Einheit ist auch in der Vielfalt möglich. “
Der kritische Wahrheitsdrang (auch im Blick auf Fehlentwicklungen in der Kirche wie
Ablasshandel, Inquisition, Hexenverfolgung Missionierungseifer, Kriegsunterstützung,
usw.) , die Erfahrungen und die Erfordernisse in unterschiedlichen Situationen äußerten
sich in konfessioneller Differenzierung und in einer Vielfalt, in der der eine Geist als
schöpferisch tätig gesehen werden kann. Die Entfaltung des Christentums sollte als Stärke
anerkannt werden, so schmerzlich oder ärgerlich sich Trennungen oder Spaltungen
vollzogen.
Die mittelalterliche Spaltung in eine Ost- und eine Westkirche hatte politische, aber auch
theologisch-spirituelle Gründe. Aus den Großkirchen heraus entstanden Freikirchen.
Mennoniten, Methodisten, Baptisten, Adventisten, Pfingstkirchen zeigten, wie Kirchenkritik
und Wahrheitsüberzeugungen Lebensformen bildeten. Was anfangs sektenähnlich
aussah, konnte zu großer Bewegung werden. Mit ursächlich für die großen europäischen
Auswanderungswellen (z.B. in die USA) gelangten sie zu großer politischer und
gesellschaftlicher Bedeutung. Andere, wie „Die Kirche Jesu Christi der Heiligen der
Letzten Tage“ (die Mormonen) vertreten ernsthaft trennende Sondermeinungen.
Man wird das als Folge des Zeitgeistes verstehen müssen. Das Patchwork-Phänomen ist
zwar beschwerlich, andererseits haftet dem oft und lebhaft geäußerten Einheitsbedürfnis
im Grunde etwas Unrealistisches an. Ist eine Kirche mit mehr Einheit glaubwürdiger als
eine Vielzahl sich mehr oder weniger gegeneinander abgrenzender „Konfessionen“? Das
kommt doch hauptsächlich darauf an, wie man miteinander umgeht! Der Glaube kann
viele Formen haben (Joh. 14,1).
Die Eine Kirche ist in ihrem Grund verbunden durch ihren im Wesentlichen gleichen einen
Glauben. Der Einheitsbitte Jesu gehorsam zu sein und Trennung zu überwinden, hat nicht
zuletzt auch ein tieferes Wahrheitsverständnis ermöglicht. Der christlichen Einheit zu
entsprechen, hat zur Ökumenischen Bewegung und in unseren Breiten zu einem
verheißungsvollen ökumenischen Bewusstsein geführt. Auf der Ebene der Ortsgemeinden
geschieht viel Ermutigendes, was „Oben“ noch nicht statthaft ist.
Was im Großen geschieht, zeigt sich auch im Kleinen. Auch innerhalb der Einzelkirchen ist
Platz dafür, links oder rechts, orthodox/fundamentalistisch oder liberal orientiert zu sein.
Im Bemühen um mehr ökumenische Einheit brauchen wir den konservativen Kirchen nicht
hinterher zu laufen. Eher liberale Kirchen können es aushalten, von anderen als nicht voll
„Kirche“ eingestuft zu werden. Verbote der Kommunikation werden schon umgangen (z.B.
bei der Zulassung zum katholischen Abendmahl) , Gehorsam und „Fraktionszwang“
stehen nicht mehr hoch im Kurs. Die unsichtbare („unsere“! geglaubte) Kirche aller
Gläubigen ist schon und immer noch da und wird erlebt und erfahren. Allerdings:
45
Heutige Probleme der Kirche
„Bei den Problemen, die die Kirchen heute zu tragen und vor allem zu lösen haben, sehe
ich eine zeittypische Undeutlichkeit des Kirchenbildes.“
In einer Ecke ist „Kirche“ eine verdächtige Einrichtung: staatsabhängig, mit
Machtcharakter, verhärtet dogmatisch denkend. In einer anderen wird beklagt, dass
„Kirche“ an Autoritätsverlust leidet, Mitglieder verliert, religionsarm erscheint. An dritter
Stelle sieht man „Kirche“ im Modernisierungsbemühen Fronten zurücknehmend,
Wesentliches opfernd. Anderswo zeigt sich „Kirche“ konservativ, kämpferisch
entschlossen, keinen Fußbreit der Tradition aufzugeben.
Dazu kommt das Problem der Verbürgerlichung, was mehr bedeutet als den Verlust des
Kontakts zur Breite der Bevölkerung. Die heute schwer herzustellende Verbindung der
Jugend mit der Kirche droht zu einem Traditionsabbruch zu führen. Zu schwach gegen die
Vorherrschaft der Medien auf Lebensstil und Konsum haben es die Kirchen schwer mit
ihren Denkanforderungen und Riten. Selbst bei den noch funktionierenden
Amtshandlungen gelingt es nicht, vorhandenes religiöses Bedürfnis in intellektuelle
Überzeugung zu verwandeln.
Auch wenn Zeitgenossen es oft fordern – Kirche kann nicht untadelig sein und für alles die
perfekten Rezepte vorweisen. Dazu ist sie zu menschlich, dazu hinkt die roße
Organisation immer hinter den Veränderungen der Lebenswirklichkeit her.
Vom Auftrag Jesus’ her ist die Kirche als Arbeitsgruppe zu verstehen, die Gerechtigkeit,
Frieden und Erhaltung der Schöpfung zum Ziel hat. Diese ethisch-soziale Dimension ist
verbunden mit der vertikalen des Gottesglaubens. Beide zeigen sich im lebendigen
Gottesdienst, der weithin als das Kernstück der Kirche angesehen wird. In spirituellen
Ausdrucksformen wie Lob Gottes, Dank und Bitte im Gebet, Wort und Sakrament, hält sich
Kirche offen für Wirkungen des Gottesgeistes.
Damit präsentiert Kirche ihren Gott als belebende Macht in der Öffentlichkeit. Im
demokratischen Gefüge Westeuropas verfügt sie dank Mitgliederstärke und dem
ethischem Potenzial (Zehn Gebote und Bergpredigt) über einen erheblichen politischen
Einfluss. Als Institution oder mit der Stimme einzelner Christen mischt sie sich ein. Ihre
politische Verantwortung kann sie in Parteien, aber auch gegen die herrschende political
correctness wahrnehmen. Persönliche Erbauung, Sinnfindung und Sinnpflege ist ihre
Sache, die ebenso dem inneren Halt der Gesellschaft wie auch den oft Vereinzelten dient.
Die in der Gesellschaft stark verankerten sogen. Amtshandlungen bieten
Lebensbegleitung (deren Form und Verständnis sind stark erneuerungsbedürftig). Die
Kirche ist, stabilisierend oder kritisch, eine dienstleistende Einrichtung für individuelle und
kollektive Bewusstseinorganisation – nicht nur für Mitglieder (die in der Sprache des
Glaubens „Glieder“ genannt – also als lebendiger Organismus gesehen werden). Die
diakonische Arbeit ist weitgefächert und immer noch bzw. immer wieder auch im Blick auf
die elementarsten Nöte in den Krisengebieten aller Welt einer der wichtigsten Dienste, die
Kirche in unserer Gesellschaft leistet.
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Religiöser Pluralismus – gut für die Kirche. Und ihre Mitglieder.
„Neu herausgefordert werden die Christen und die christlichen Kirchen durch die anderen
Weltreligionen, in unserem Land nicht nur durch das Judentum und der Islam.“
Der Buddhismus gewinnt Freunde, der Hinduismus auch. Der Konfuzianismus wird
kommen. Ist der Missionsauftrag dialogisch möglich? Das Wahrheitswissen hat sich
gewandelt, und die Bibelforschung erklärt die Behauptung von der Exklusivität des
Christusanspruchs als einen Versuch (unter vielen), von Gott zu reden. In ihrer Sprache
und ihrem Anspruch wird die Kirche sich deswegen bescheidener und vorsichtiger
verhalten.
Mit Hoffnung und Interesse ist zu beobachten, dass sich in der Kirche selbst neue Formen
von Glaubenserfahrung und –ausdruck entwickeln. Es geht auch ohne mythologische und
sehr menschlich gedachte Gottesvorstellungen; neue religiöse Lieder sind entstanden, es
gibt Gottesdienste für Motorradfahrer. Kirche ist in Facebook, Twitter und Internet präsent
und Konfirmanden lernen, was Kirche ist, nicht mehr über auswendig hergesagte
Katechismusstücke, sondern (auch) in Praktika z.B. in diakonischen Einrichtungen
kennen. Das erscheint vielen ungewohnt, ist aber eine Bereicherung, Anregung und
Einübung, Pluralität auch außerhalb der Kirche wahrzunehmen und wertzuschätzen.
Beziehungen zu Kirche
„Ich halte die Frage „Was habe ich von der Kirche?“ für durchaus berechtigt. Sie kann zu
einem weiterführenden Verständnis ihres Wesens führen und eine Verbesserung der
Qualität kirchlicher Arbeit bewirken.“
Das Verhältnis von Individuen und Gruppen zu Kirche ist schwer zu bestimmen. Es ist
zunächst danach zu fragen, ob Kirche (theologisch) als geistiges Großsystem oder als
Einzelorganisation (Denomination) verstanden wird. Zur Klärung der eigenen (mehr oder
weniger formalen) Beziehung zu Kirche ist dann zu unterscheiden zwischen Formen der
Zugehörigkeit und den damit verbundenen Rechten und Pflichten bzw. Nutzen und
Abhängigkeiten. Beziehungen zu Kirche kommen auf unterschiedliche Art zustande
(Tradition, Taufe, Erziehung, Theologie, Information, Bildung, Eintritt, u.a.) und bestehen
aktuell in Teilnahme an kirchlichen Aktivitäten, Bekenntnis, Kritik, materieller
Unterstützung, u.a. . Die Frage „Was habe ich von der Kirche?“ ist durchaus berechtigt
und führt zu einem weiterführenden Verständnis ihres Wesens (zu dem auch die religiöse
Dimension gehört, die sich nicht in Kategorien wie Nutzen und Nachteil erfassen lässt).
Wenn sie in der kirchlichen Praxis ausführlicher vorkommen würde, könnte das auch eine
Verbesserung der Qualität kirchlicher Arbeit bewirken und eine gute Werbung für aktive
Beteiligung sein.
An neue und verschiedene Formen der Beziehung zur Kirche ist zu denken wie z.B.
Teilmitgliedschaften, zeitliche und/oder inhaltliche Begrenzung, Kooperation mit anderen
Gruppen oder Angehörigen anderer Religionen.
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In der geistigen Beziehung zur geglaubten Kirche sind mehr individuelle
Verständnisweisen möglich als früher. Bei entsprechender Offenheit, Toleranz und
Verständigung würden sie kreativ wirken.
„Kirche begegnet den Menschen als Raum. Als weiter, offener Raum der größeren
Wirklichkeit.“
Für das Verständnis von Kirche war in den Großkirchen immer der Gemeinderaum
wichtig. In der Öffentlichkeit steht der Kirchenbau als städtebauliches Zeichen.
Architektonisch geprägt von der Praxis des Gottesdienstes, der Liturgie, bildet der
Versammlungsort „Kirche“ nicht nur in den Groß-Städten einen öffentlich zugänglichen
Ort, der zwanglos eine Gegenwelt der Stille und inneren Konzentration anbietet. Erinnernd
und bergend ist er Schutzraum, dessen künstlerische Innengestaltung den Worten der
Kirche eine Sprache eigener Art verleiht. Die Kosten dafür wurden und werden
aufgebracht, auch wenn die Kirchen heute viele neue Räume und praxisorientierte
Raumformen dazu bekommen haben (nicht nur sog. Gemeindehäuser).
Vielversprechend, manchmal auch problematisch ist der vor allem in den neuen
Bundesländern unternommene Versuch, herkömmliche Kirchen gemeinsam mit der
Ortsgemeinde (z.B. als Rathaus) und Verbänden bzw. Vereinen zu nutzen und dafür
umzubauen.
Im übertragenen Sinn eröffnet die Kirche nicht nur ihren Mitgliedern „Raum“ in
Betätigungsfeldern, in denen (insbesondere ehrenamtlich) viel Hilfreiches geleistet werden
kann.
Aber auch Ämter gibt es in der Kirche als Organisation und großer Arbeitgeberin („danke,
für meine Arbeitsstelle“ heißt es in einem vielgesungenen Lied). Manchmal werden sie,
dem Verständnis der Kirche entsprechend, Dienste genannt, auch wenn es sich um
Leitungsaufgaben handelt. Bei deren Ausübung wird nicht immer (ausreichend) daran
gedacht, dass auch Priester und Oberkirchenräte meine Brüder sind und die Bischöfin
meine Schwester ist. Das Amtsverständnis der katholischen Kirche ist ziemlich exklusiv
(nur der Priester kann die Eucharistie gültig darbringen), aber glücklicherweise nicht
überall.
„Die Außensicht auf Kirche ist zu beachten!“
„Ich sehe Kirche auch selbst oft von außen: Historisch, soziologisch, rechtlich,
organisatorisch, politisch, ... Aus der Distanz. Kritisch. (Das mag und kann nicht jede/r).
Auch aus dieser Sicht zeigt sich mir Wesentliches und Liebenswürdiges, und MenschlichAllzumenschliches. Ich nehme mit in die Kirche hinein, was ich von außen sehe.“
Soziologisch ist Kirche eine stark strukturierte Organisation mit Personal von beamteten
und freien Mitgliedern, Pastoren und Laien, mit einer Hierarchie, mit Machtgefälle,
Kirchensteuer, Kirchenzucht, unterschiedlichen Betätigungsfeldern, Mitgliederbewegung.
Politisch-gesellschaftlich wird sie kritisch als Machtrelikt verdammt oder als Wertegeberin
anerkannt und gerne für Eigeninteressen instrumentalisiert (Thron und Altar).
48
Über „Kirche“ wird je nach Kontext und Interesse geredet. Ein Liebhaber redet anders von
ihr als ein Feind oder einer, der sie kühl analytisch untersucht.
Das Reden von „der“ Kirche bedarf also jeweils genauer Beobachtung. Die Ortskirche ist
abhängig von dem Bild, das die Gesamtkirche abgibt. Man tritt aus „der“ evangelischen
Kirche aus, weil einem der Papst missfällt... Der Austritt ist ein Indiz für die
Bindungsschwäche der Ortsgemeinde und weist auf Bildungslücken hin.
Mitglied einer Kirche ist, bleibt oder wird man nicht nur oder hauptsächlich wegen der
Zustimmung zu ihrem Glaubensbekenntnis, sondern zur Fortsetzug der Tradition, um der
Kasualien willen (Bestattung!) und der Kinder wegen. Die Wertschätzung ihrer
Dienstleistung (Seelsorge, Stärkung der Spiritualität, ethisches Engagement, Diakonie) ist
nicht nur bei den aktiven Mitgliedern hoch.
Kritik an der Kirche wird zunehmend Ernst genommen, führt aber kaum zu
entsprechenden Veränderungen.
Hauptargumente der gegenwärtigen Kritik an der Kirche sind u.a.:
 Lehre und Predigt der Kirche seien veraltet und weltfremd.
 Die Dienstleistungen der Kirche werden von vielen Menschen nicht mehr in
Anspruch genommen, weil sie durch Wissenschaft und Technik überholt und z. T.
von anderen Organisationen übernommen worden sind.
 Die Kirchen haben Kriege nicht verhindert und statt dessen Waffen gesegnet.
 Die Kirchen mischen sich zuviel in Politik ein.
 In manchen Gruppen: In den Großkirchen ist die reine Lehre nicht mehr in Geltung
„Gründe für und gegen einen Austritt aus der Kirche
zeigen viel vom Verständnis der Kirche als einer religiösen und weltlichen Organisation.“
(Nachfolgend auch einige, die seltener genannt werden):
Gründe für einen Austritt
Gründe gegen einen Austritt
 Einsparung der Kirchensteuer.  Der
Kirchenaustritt
bedeutet
 Was geglaubt werden soll isst zwangsläufig auch eine Absage
an die von der Kirche vertretenen
intellektuell obsolet.
Werte und Ziele.
 Ehrlichkeit, die innere Einstellung auch durch formale  Die Leistungsfähigkeit der Kirche
dadurch
verringert,
Konsequenzen zum Ausdruck wird
möglicherweise
soweit,
dass
zu bringen.
wesentliche Funktionen für den
49
 Freie Verfügung über den
bisher gezahlten Betrag der
Kirchensteuer für ähnliche
Zwecke z. B. auf lokaler Ebene.
einzelnen und für die Gesellschaft
unterhalb
einer
gewissen
Größenordnung überhaupt nicht
mehr erfüllt werden können.
 Druck auf die Kirche, um 
Reformen und Anpassung an
die gesellschaftlichen Veränderungen zu erreichen.
Verlust der wirksamen Vertretung
religiöser, ethischer Aussagen
und Fragen auf lange Sicht. Es
besteht
die
Gefahr,
dass
bestimmte Werte und Ziele von
einer
mitgliederreduzierten
Kirche nicht mehr wirksam
vertreten werden können.
 Verringerung des kirchlichen
Einflusses auf Gebieten, wo er
für hinderlich gehalten wird (z.
B. in der Erziehung).
 Eine Inanspruchnahme der  Verlust einer Beziehung zu dieser
Kirche erscheint auch ohne Gemeinschaft.
Mitgliedschaft möglich und  Verlust
des
Anrechtes
auf
gerechtfertigt.
Amtshandlungen.
 Demonstration der Abwendung 
vom christlichen Glauben bzw.
seinen
Ausprägungen
als
Hinweis auf die Notwendigkeit
neuer Orientierungsformen, die
der veränderten Situation entsprechen.
Die bisher von der Kirche
erbrachten
Leistungen
auf
sozialem
und
gesellschaftspolitischem Gebiet (Erziehung,
Diakonie)
müssten
unter
erheblichem Aufwand von der
Gesellschaft
übernommen
werden.
 Zu wenig Möglichkeiten für
direkte Mitarbeit im Entschei-  Verantwortung für das Personal
dungsbereich. Man will nicht und die Einrichtungen der Kirche.
immer nur Konsument sein.
Unterstützung der Fortschrittlichen
oder der Konservativen, wenn
 „Glaube Ja, Kirche Nein!“
man als Vertreter einer der beiden
 Die Kirche wird nicht mehr Positionen in der Kirche bleibt.
gebraucht.
 Die jetzige Krise der Kirche kann
 Die Kirche ist alles andere als vorübergehend sein. Erneuerung
eine
„Gemeinschaft
der ist möglich. Man traut sich zu, an
Heiligen“.
der Erneuerung mitzuarbeiten.
 Die Vor- und Nachteile der
jetzigen Kirche sind bekannt, die
einer anderen Organisationsform
ähnlicher Größe nicht.
 Die Kirche ist noch nicht genügend auf eine Mitgliederreduktion
vorbereitet.
50
Kirche zwischen Tradition und Vision
„Kirche, die Gemeinschaft der Glaubenden, ist im Blick auf die Vergangenheit wichtig als
Hüterin ihrer beachtlichen Tradition, im Blick auf die Gegenwart als Reservoir von
Lebensnotwendigem und Lebensdienlichem, im Blick auf die Zukunft als Schlüssel für
Hoffnung und Glück.“
Sie agiert als Gruppe, mit der Gott sich im Spiel hält – er als Quelle und Licht (Ps 36),
erneuernd, aufklärend und so eine Ethik lehrend, die Gerechtigkeit und Vergebung
anmahnt. In ihrem Ritus feiert sie Gott und die Gemeinschaft mit ihm. Hier ist das Band
der Gemeinsamkeit zu pflegen, in „Wort und Sakrament“, in Grundtexten, Liedern und
dem Raum, der Gott- und Selbstfindung bietet. Dabei wird heute der Spitzensatz „Wort
und Sakrament“ nicht mehr exklusiv christologisch verstanden. Entdeckt wird und Gehör
findet die Sprache des Schöpfers in der Natur. Die Kunst, besonders die Musik und das
Bild, hatten immer eine unmittelbare Beziehung zur Gottesnähe. Der moderne Mensch mit
seiner Sehnsucht lebt aus verschiedenen Zugängen zum Religiösen. Indem die Kirche
diese zum Teil diffusen Eindrücke aufnimmt und bearbeitet, erweitert sie ihren
Deutungsbereich erheblich.
Die Tradition darf die Offenheit für Erneuerung nicht einschränken. Visionen sind
überlebensnotwendig für die Kirche als Organisation und Gemeinschaft von Glaubenden.
Neues in der Kirche gibt es – in der Gemeinschaft des Glaubens
„Kirche ist eine Gemeinschaft, in der es vor allem anderen um den Glauben und die ihm
entsprechende Lebensgestaltung geht. Im Glauben erfahre ich sowohl die Nähe Gottes
als auch seine Fremdheit. Glaube geht oft gegen mein eigenes Wünschen und Meinen.“
„Ich glaube an Gott“ heißt: Ich glaube ein Paradox. Denn Kreuz und Auferstehung haben
im Kern etwas, das uns gegenüber quer steht. Glaube zielt auf das kommende „Reich“,
doch das schließt den Wüstenmarsch ein. Wir tun vielleicht nichts Gutes, wenn wir dem
von Glaube und Kirche distanzierten modernen Menschen das Christliche leichter machen
wollen. Die traditionellen Antworten auf die Gottesfrage mögen abgegriffen scheinen, doch
neue sind schwer zu geben, wenn sie denn die Fremdheit Gottes nicht verlieren wollen.
Die Folgen von entgegenkommender Vereinfachung sind nicht abzusehen. Die Kirche nur
als Humanitätspflegerin des 21. Jahrhunderts zu sehen, greift zu kurz.
Welcher Zukunft die Kirche – in welcher Form immer – entgegengeht, ist ungewiss.
Religion wird es immer geben, das Offensein für eine Transzendenz ist ein Existential, ihre
Existenz in der Gestalt heutiger Kirchen jedoch nicht. Aber „christliche Religion ohne
Kirche“ erscheint religionspsychologisch als unwahrscheinlich. In der Jesus-Botschaft
steckt soviel Salz und Licht, dass an dem Bestand nicht gezweifelt werden muss. Nur: Der
Ausprägung von Kirche als öffentlich anerkannter Gruppierung stehen viele Kräfte
entgegen, und verheißen ist den Christen diese Lebensform nicht.
Letzten Endes wird sich die Weiterexistenz der Kirche daran entscheiden, ob sie dem, was
Jesus Christus in Rede und Tat lebte, treu bleibt und Jesu Gottesglauben verständlich und
glaubhaft ihrem Umfeld mitteilen kann. Das ist ein Sprach-, aber vor allem ein
Haltungsproblem.
51
„Ist Träumen erlaubt? Von Christen verschiedener Berufe und jeden Alters, die gegen
die Vereinzelung der Moderne angehen, sich in einem Stadtviertel konzentrieren und
locker eine Wohngemeinschaft praktizieren. Es ist der Versuch, das Christentum im
21. Jahrhundert deutlicher zu leben. Der Mut zu einer gewissen Entweltlichung gehört
dazu. Aus sozialistischen oder Ordensmodellen nahmen sie Realisierbares, vielleicht
ist der Kibbuz ein brauchbares Beispiel, aus dem Beamtensystem der Großkirche
haben sie sich freundlich ausgeklinkt. Ihr Lebensstil ist weltoffen und partizipativ,
keinesfalls ghettoartig, doch sind sie erkennbar. Sie haben eine Insel gegründet, nicht
mehr, die aber über Brücken zugänglich ist.“
Nur ein gelebtes Christentum ist überzeugend, weshalb auch von christlichen Märtyrern
oder gar „Heiligen“ zu erzählen ist. Die simple Frage: „Was habe ich von (der
Mitgliedschaft in) einer Kirche“ braucht eine einfache Antwort, die die
Kirchengemeinschaft, aber mehr noch die einzelnen Christen zu geben in der Lage sein
sollten, auch auf die Zweifel und die Kritik, und das nicht zuletzt beim Thema „Kirche“.
Dafür brauchen wir wieder Versuche, die den eigenen Glauben zeitgemäß formulieren.
(Die Texte dieser „Kernfragen des Glaubens“ wollen dazu beitragen). Die Schärfe der
Gebote und das Befreiende der Jesusbotschaft brauchen nachsprechbare
Formulierungen. Eins sollte dabei deutlich gemacht werden: Jeden Kirchenaustritt
respektiert die Kirche. Aber sie sieht ihn nicht als unwiderruflich an.
Die Kirche lebt von Jesusinterpretationen, seien sie kanonisch oder nicht. So ist das
christliche Wahrheitsangebot zu verstehen. Grundsätzlich ergibt das nur Vorläufiges. Das
jedoch als Schwäche oder Unsicherheit einzuschätzen, wäre falsch. Die Vorläufigkeit hat
eine eigentümliche Stärke: sie ist offen für den Dialog und ermöglicht Lernfähigkeit. Die
Unmöglichkeit, das Jesusbild scharf zu stellen, macht es kommunikativ. Unsere
hergebrachte Dogmatik mit den fixierten Bekenntnisformeln hat uns das gemeinsame
Glauben schwer gemacht. Wir brauchen Toleranz, müssen Unterschiede aushalten,
Grenzen verhandeln.
Eine neue Art von Kirchengemeinschaft muss sich durchsetzen, die eine breite Vielfalt
erlaubt, weil sie Individuation respektiert. So global sie zu denken versteht, so
persönlichkeitsbezogen ist sie lokal. Ihre „Gemeinden“ sind offene Gemeinschaften. Das
Missverständnis, nur eine private religiöse Sekte zu sein, wird dann nicht aufkommen.
Ihre Verantwortung ist bei allem, Brückenbau zu betreiben, nach innen und nach außen.
Dies ist in ihrer Verkündigung, ihrer Seelsorge, ihrer Diakonie und ihrer ökumenischen
Einstellung auszuarbeiten und einzuüben. Ihr Wesen aber hält in ihr eine positive
Grundhaltung aufrecht, die fröhliche Überzeugung ihres Glaubens. Das heißt also, wie
schon immer, ihre Orientierung an Jesus, dem Weg in eine neue Zukunft auch für die
Kirche.
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52
Schuld / Sünde / Vergebung
Für den Stand und die Entwicklung der gesellschaftlichen Schuldkultur ist das
Verständnis der Begriffe Schuld, Sünde und Vergebung grundlegend. Sowohl eine
Definition wie auch das Verhältnis der Begriffe zueinander ist schwierig. Es stellen
sich u.a. folgende Fragen:

Wie gehen wir verantwortungsvoll mit unserem täglichen Schuldigwerden um?

Was bringt die Ausweitung des Schuldbegriffs auf das religiöse
Sündenverständnis?

Welchen Wert hat und was bewirkt Vergebung?

Wie bringen wir die Bereitschaft auf, Schuld anderer zu verzeihen?

Kann der persönliche Glaube dabei helfen?

Welche Rolle kommt für Christen bei dieser Frage Jesus zu ?
Eine Vertiefung beim Verständnis von Schuld und Sünde kann zu mehr Gerechtigkeit
führen und neue Chancen auch bei schwerer Schuld eröffnen.
Schuld zugeben? Um Gottes willen!
Brauchen wir eine neue Schuldkultur?
Alle Menschen wurden, sind oder werden in ihrem Leben schuldig.
(Dagegen wird oft gesagt: „Ich bin mir keiner Schuld bewusst.“)
Größe und Art von Schuld sind oft schwer zu bestimmen.
Sie wird meist nicht, nur teilweise und ungern zugegeben, weil das Nachteile und
Strafe bringt.
Von Christen wird Schuld auch als Sünde gegen Gottes Liebe und Gebote
verstanden.
Schuld und Sünde kann vergeben werden.
Schuld – was ist das?
Subjektiv ist Schuld das Gefühl und die Einsicht, etwas Falsches, Unerlaubtes,
Schädliches (Schändliches) getan oder Pflichten versäumt zu haben.
Objektiv ist Schuld die feststellbare Vorwerfbarkeit von und die Verantwortung für
moralisch oder gesetzlich Verbotenes. In Politik und Wirtschaft werden oft Fehler
den Verursachern als Schuld zugerechnet.
Das Wort wird auch für finanzielle und juristische Leistungsverpflichtungen
verschiedener Art gebraucht („Anderen etwas schuldig bleiben“).
Für menschliche Gemeinschaft ist es lebensnotwendig, Schuld möglichst zu
vermeiden und zu regulieren, wenn sie eingetreten ist oder besteht.
53
Gründe für die Feststellung oder das Empfinden von Schuld ergeben sich aus der
Vernunft (z.B. im Blick auf die Folgen eines Verhaltens), aus den in einer
Gesellschaft geltenden Regeln und aus dem Glauben an Gott. Die Bewertung
von Schuld und der Umgang damit ist weitgehend klar geregelt, aber doch im
einzelnen oft sehr schwierig. Es ist häufig strittig, was als Schuld angesehen wird
und wie schwer sie wiegt („Ich bin mir keiner Schuld bewusst.“)
So problematisch die Feststellung und damit Abgrenzung von Schuld auch ist, so
hat sie doch den Vorteil, dass zwischen dem Menschen und seiner Schuld
unterschieden werden kann. Kein Mensch ist ganz schlecht.
Schuldgefühle können Menschen erheblich belasten und werden deshalb oft in
das Unbewusste verdrängt. Schuldzuweisung soll die Verantwortlichkeit für
verbotenes oder auch nur unerwünschtes Verhalten feststellen, um durch
entsprechende Strafen eine Wiederholung zu verhindern oder, wenn möglich,
eine Wiedergutmachung herbei zu führen.
Schuldfeststellung wird aber nicht nur rückwärts wirksam, sondern sie zeigt eine
Richtung für die beabsichtigte oder geforderte weitere Entwicklung auf. Als
schuldhaft bewertetes Handeln soll in Zukunft vermieden werden. Diesen Sinn
hat auch die oft gebrauchte Formel "Entschuldigung" .
Sünde ist Schuld aus der Sicht des Glaubens
Das Wort Sünde stammt aus religiösem Sprachgebrauch und wird heute
neben dem Bezug auf Gott auch benutzt, um einen Frevel gegenüber
der Natur oder der Menschlichkeit zu benennen Es bezeichnet einen
Verstoß gegen Gebote bzw. Verbote Gottes, die über menschliches
Recht und Gesetz hinausgehen. Das Verständnis einer Handlung oder
eines Unterlassens als Sünde macht eine größere Dimension bewusst
als durch Moral oder Rechtsprechung erfasst wird. Darüber hinaus
sehen und fühlen sich viele Christen (wie vor fast 500 Jahren Martin
Luther) in einem dauernden und totalen Zustand des Sündig- oder
Sünder-Seins gegenüber Gott.
Umgangssprachlich wird oft als „Sünde“ bezeichnet, was zwar verboten, aber
doch verlockend ist.
Sünde ist im religiösen Sinn aber ein ziemlich umfassendes Wort. Es bezeichnet
in der christlichen Religion nicht nur die einzelne Übertretung eines (göttlichen)
Gebotes, sondern die Aufhebung der Gemeinschaft mit Gott. Der Mensch will
sein Leben ganz allein in seine Hand nehmen. Der Mensch wird schuldig, weil er
selbst "sein will wie Gott", er weist Gottes Liebe zurück und missachtet seine
Gebote. Diese können religiös-ethischer oder kultisch-ritueller Art sein. In anderen
Religionen (ohne Glauben an einen persönlichen Gott) entsteht religiöse Schuld
auch durch Verletzung von Tabu-Gesetzen oder durch die Störung einer Ordnung.
54
Sünde bedeutet, dass Menschen ohne Verbindung und Übereinstimmung mit der
größeren Wirklichkeit sind, der sie ihr Leben verdanken: ohne ihren Schöpfer,
entfremdet der Natur und im Kampf aller gegen alle.
In der Bibel und in der Theologie wird unter Sünde im umfassenden Sinn die
Trennung von Gott verstanden, die Abwendung des Geschöpfes von seinem
Schöpfer und die Absage des Menschen an den ihn liebenden Gott.
Das Verständnis von Sünde und Schuld als Tat und Übertretung bzw.
Unterlassung findet meist in der personalen Form und Dimension der Beziehung
zu Gott seinen Ausdruck. Das grundlegende menschliche Verhältnis oder NichtVerhältnis zu Gott als dem Leben und der Liebe, der Wahrheit und Gerechtigkeit
lässt sich aber auch mit nicht-personalen Begriffen ansprechen, obwohl das noch
sehr ungewohnt ist (s.u. und Kommunikation mit Gott).
Auch wenn heute bei Fehlverhalten nicht mehr oder nicht hauptsächlich an Sünde
gegenüber Gott gedacht wird, haben die meisten heutigen Gesellschaften doch
eine hochentwickelte Schuldkultur. Weit über die Rechtsprechung hinaus gibt es
zahlreiche Bereiche, in denen man sich nach Regeln richten und mit Sanktionen
rechnen muss, wenn man dagegen verstößt. Rechtsprechung, Moral, die Medien
und die Modetrends richten darüber, wie akzeptiert jemand bzw. seine
Handlungen sind.
Heute ist vieles, was früher als Sünde galt, liberalisiert (z.B. Homosexualität), und
wahrscheinlich war das in christlich geprägten Gesellschaften nur möglich, weil
und seitdem dafür kein direkter Bezug mehr auf Gott angenommen wurde. Das
Bewusstsein, dass unser Verhalten und Sosein weitere Auswirkungen und Folgen
hat als wir erkennen und überblicken, ist aber nach wie vor relevant und offen.
Und sei es nur die Ahnung davon, dass ein Gerichtsurteil oder die Beurteilung
einer moralischen Schuld nicht die letzte Bewertung gebracht hat. Die „Goldene
Regel“, anderen gegenüber alles zu vermeiden, was man selbst nicht will, ist als
Ideal anerkannt. Aber schwer zu verwirklichen.
Der christliche Glaube hilft durch die Beziehung der Schuld auf Gott dazu, einen
größeren Zusammenhang ins Bewusstsein zu bringen. (Spinoza hat einmal das
Böse als "Auflösung des Zusammenhangs" bezeichnet). Wenn Gott als der
Richter bezeichnet und geglaubt wird, so muss damit gerechnet werden, dass ein
Schuldiger ganz anders beurteilt werden kann, als ein Mensch oder ein Gericht
das tut.
55
Macht die christliche Lehre von der Sünde den Menschen schlecht?
Der Mensch erscheint im Licht der früheren kirchlichen Sündenlehre überwiegend
als das Bild eines schuld- und sündenbeladenen Wesens – obwohl er
andererseits bei seiner Erschaffung als das Ebenbild Gottes bezeichnet wird.
Wir haben es beim christlichen Sündenverständnis mit der Unterscheidung von
zwei Ebenen zu tun, mit dem weltlich, juristisch-moralischen Schuldverständnis
und seiner Begrenzung auf „Fehler“, die Menschen machen, und der größeren
Dimension, wenn Sünde auf Gott bezogen wird.
Dazu gehört dann auch, was wir anderen Menschen schuldig bleiben, z.B. den
unterentwickelten Völkern oder Katastrophenopfern – und den kommenden
Generationen! Durch Sünden kommen andere Mitmenschen selbst immer direkt
oder indirekt zu Schaden. Aber auch der „Sünder“ wird in seiner Persönlichkeit
beschädigt und beeinträchtigt. Seine Beziehung zu anderen Menschen und damit
auch zu der größeren Wirklichkeit erscheint gestört.
Die Metapher „Jüngstes Gericht“ ist ein Symbol für die weitreichenden Wirkungen
von Fehlverhalten, z.B. Umweltzerstörung, Verschwendung.
Auch das Denken und Wollen wird der Prüfung auf Sünde unterzogen und das
nicht nur deshalb, weil darin Motive zu schuldhaftem Tun entstehen. Vielmehr
geht es dabei um die gesamte Qualität eines Individuums oder einer
Gemeinschaft. Dabei kam es besonders bei der Sexualität zu negativen
Bewertungen, während z.B. nationalistisches Denken und Fremdenhass erst
neuerdings als Sünde gelten.
Die Aussage „Gott sieht alles“ (wie im „Wort zum Sonntag“ an 15.1.2012) wurde
früher insbesondere bei der Erziehung von Kindern als Angst machende Drohung
dazu benutzt, unerwünschtes Verhalten zu verhindern. Nach neuerem
Gottesverständnis wird Gott nicht (mehr) als allgegenwärtiger Aufpasser
gebraucht, der jeden einzelnen Gedanken eines Menschen bewertet. Beim Blick
auf Völkermorde, unfassbare Holocaust-Gräueltaten und mehr als 55 Millionen
Tote im 2. Weltkrieg kann man auf das Böse schließen, das im Menschen steckt,
auch wenn er Jahrzehntelang ganz friedlich und bürgerlich lebt; je mehr Böses
ihm zugetraut wird, desto realistischer sollten alle Möglichkeiten der Vermeidung
von Sünde und Schuld bedacht werden – gerade auch mit der Offenheit für die
größere Dimension Gottes. Zu der auch das Staunen über die Schönheit und den
Reichtum des Lebens gehört.
Altertümliche Vorstellungen von Sünde als Symbole interpretieren
Einige biblische und altertümliche Vorstellungen von Sünde – wie Sündenfall,
Erbsünde und Sünde als Ursache des Todes – sind heute nur noch von ihrem
Symbolgehalt her zu verstehen.
56
Wer sich für die Annahme des christlichen Glaubens und damit für Offenheit
sowohl der eigenen Schuld gegenüber wie für den größeren Zusammenhang der
Gerechtigkeit Gottes entschieden hat, muss auch mit dem Problem fertig werden,
dass heute viele Kriterien der Schuldfeststellung inadäquat werden oder sich im
Nachhinein in bestimmter Hinsicht als falsch oder als überflüssig herausstellen.
Als Beispiele in rechtlicher Hinsicht sind hier die Reform des Ehescheidungs- und
Familienrechtes sowie die Paragraphen über die Homosexualität oder die
Abtreibung zu nennen, aber auch ein verändertes nationales Selbstbewusstsein,
Einstellung zu Minoritäten und das Wirtschafts- und Arbeitsrecht. Neue Kriterien
werden für den Umweltschutz und für Kriegsverbrechen und Völkermord
entwickelt.
Der „Sündenfall“
Nimmt man die Schöpfungserzählung der Bibel wörtlich, so verstieß das erste
Menschenpaar in einem Urzustand gegen das Gebot Gottes, nicht von den
Früchten des Baumes der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen. Es wurde
deshalb aus dem als „Paradies“ verstandenen „Garten Eden“ ausgestoßen. Die
Geschichte soll erklären, wie das Böse in die Welt kam. Es ist lebensbedrohlich.
Deshalb ist die Unterscheidung zwischen Gut und Böse für die Entwicklung des
Lebens und das Überleben grundlegend und lebenswichtig. Etwas ausführlicher
soll an diesem Beispiel eine Fehlentwicklung des christlichen Glaubens
dargestellt werden:
Es ist ein bedauerliches, in der frühen Kirchengeschichte entstandenes Missverständnis, dass die Geschichte von der Versuchung zum Abfall von Gott, also zur
Sünde, irgendetwas mit sexuellen Bedürfnissen zu tun habe. Gilt doch in der
jüdischen Tradition Sexualität als hohes Gut, als gute Gabe des Schöpfers. Ein
zölibatär lebender Rabbi ist für das Judentum eine unmögliche Vorstellung.
Sexualität zu leben, gehört sogar mit zur Feier des Sabbats.
Selbstverständlich kann Sexualität missbraucht werden. Je kostbarer das
Geschenk, desto schmerzlicher sein Missbrauch. Aber das allein kann nicht der
Grund sein für die katastrophale Fehlinterpretation von Genesis 3 in der
christlichen Tradition. Schließlich steht in Gen. 3,5 expressis verbis: „Gott weiß:
An dem Tag, da ihr davon esset … werdet ihr sein, wie Gott.“
Das ist Sünde: Mehr sein zu wollen, als endlicher und darum gefährdeter
Mensch, der gerade seines Gefährdetseins wegen – was bekanntlich Angst
macht - den Traum von Omnipotenz und ewigem Leben träumt. Diese Hybris
also: das ist Sünde!
Diese Deutung des Sündenfall-Mythos wird bestätigt durch den Mythos vom Bau
des Turms zu Babel. Dort, in Gen. 11,4, heißt es: “Wohlauf, lasst uns eine Stadt
und einen Turm bauen (Sicherheitsbedürfnis!), dessen Spitze bis an den Himmel
57
reicht (Sein wollen wie Gott!), „denn wir werden sonst zerstreut in alle Länder.“
Also wieder die Angst um die eigene Existenz im Gegensatz zum Vertrauen auf
die uns tragende Kraft Gottes. Mit anderen Worten: Glaube oder Unglaube.
Damit ist der Begriff „Sünde“ eindeutig definiert: Aus der Angst um sich selber
erwächst die Versuchung, sich zu sichern aus eigener Kraft und damit die Hybris,
sein zu wollen wie Gott.
Dieser Glaube, nur durch Leistung, Kraft und Stärke der eigenen Existenz
Geltung, Anerkennung und damit Sicherheit geben zu können – mit anderen
Worten, seinem Leben durch eigene Kraft Sinn geben zu müssen, hat unzählige
Katastrophen über die Menschheit gebracht:



Aus Angst um sich selber, der Angst nämlich, gegenüber seinem Bruder vor Gott
zu kurz zu kommen, hat Kain seinen Bruder Abel erschlagen.
Aus Angst voreinander haben der Osten gegen den Westen und der Westen
gegen den Osten die Welt bis an den Abgrund des gemeinsamen Untergangs
atomar aufgerüstet.
Aus Angst um die eigene Größe („Volk ohne Raum“) hat das
nationalsozialistische Deutschland gesungen: “Heute gehört uns Deutschland,
morgen die ganze Welt!“ - und mit Kriegen unermessliches Leid über die Welt
gebracht.
Erbsünde
Sündig sein und sündigen wird im früheren Gottesverständnis zur totalen
Disposition des Menschen: „… mein Sünd mich quälte Tag und Nacht, darin ich
war geboren. Ich fiel auch immer tiefer drein, es war kein Guts am Leben mein,
die Sünd hat mich besessen.“ (Luther im Lied EG 341, 2).
Diese (aus religiöser Sicht) bei allen Menschen wirksame Grundeinstellung wurde
als von Eltern „vererbt“ auf Kinder und Kindeskinder verstanden. Niemand kann
sich dem Verhängnis entziehen, schuldig zu werden und niemand kann sich in
eigener Kraft aus Schuld befreien. Dadurch ergab sich eine Bedürftigkeit für
Gnade und Erlösung des Menschen. Das vollzieht sich aber nicht durch
natürliche Vererbung.
Sünde als Ursache des Todes?
In der Schöpfungsgeschichte (1.Buch Mose Kap. 3) und bei Paulus (Der Tod ist
der Sünde Sold. Röm 6,23) wird die Sünde urgeschichtlich als Ursache des
Todes aufgefasst; sie hat damit prinzipiell lebensfeindliche Konsequenzen.
Neuere theologische (!) Kritik an der christlichen Sündenlehre lehnt die damit
meist verbundene Überbetonung der Verdorbenheit und Schlechtigkeit des
Menschen ab. Immerhin haben Menschen durch die „Vertreibung aus dem
Paradies“ durch die Evolution auch die Erkenntnismöglichkeit des Guten und
nicht nur des Bösen mitbekommen. Die vor allem durch das Gedankengut der
58
Aufklärung in vielen Verfassungen, insbes. auch im deutschen Grundgesetz
verankerte Betonung der Würde des Menschen hat eine positivere Sicht des
Menschen hervorgebracht, die auch die christliche Auffassung vom Charakter
des Menschen nicht unverändert gelassen hat. Insbesondere in der Erziehung
hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass es darum geht, alle guten und
positiven Anlagen des Kindes zur Entfaltung zu bringen und damit negativen
Einflüssen und Entwicklungen von vornherein den Boden zu entziehen, ohne
aber gegenüber möglichen Fehlentwicklungen blind zu sein.
Vergebung gegen Schuld und Sünde
Die Abgrenzung, Feststellung und Annahme individueller oder gemeinsamer
Schuld geschieht bei Christen in der Hoffnung bzw. Gewissheit, dass es in der
größeren Wirklichkeit Gottes neuen Anfang und weiterführende Bewertungen gibt.
In dem wohl bedeutsamsten Gebet Jesu heißt es: „Und vergib uns unsere
Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Er hat selbst noch am
Kreuz denen vergeben, die ihn getötet haben.
Vergebung ist als Verzicht auf Rache und Vergeltung (nicht nur von
Machthabern!) ein Zivilisationsfortschritt. Es gibt sie auch in anderen Religionen.
Sie wurde schon in der antiken Philosophie hoch bewertet.
Es soll und kann nicht behauptet werden, dass die Möglichkeiten und
Zielsetzungen der Vergebung nur aus dem christlichen Glauben kommen können.
Aber sie können und sollten aus dieser Grundeinstellung konsequenterweise
folgen und auch praktiziert werden.
Vergebung kann auch aus der Perspektive der Rechtfertigung von schuldigen bzw.
sündigen Menschen betrachtet und erlebt werden. „Wie kriege ich einen gnädigen
Gott?“ war eine existenzielle Glaubensfrage Martin Luthers, die er mit „Aus Gnade,
nicht für Leistung und Werke“ beantwortete. Da geht es dann nicht mehr um Schuld
und Sünde im Einzelfall, sondern um das gesamte Verhältnis von Menschen zu Gott.
In diesem Zusammenhang wird die Gewährung von Vergebung mit Gnade
begründet. Das widerspricht aber nicht der Beachtung von Formen der Erfahrung
von Vergebung, wie sie in den folgenden Voraussetzungen für den Empfang von
Vergebung dargestellt werden. (Die dafür von der Kirche entwickelte detaillierte
Praxis der Gnadenverwaltung brachte allerdings viele Menschen in eine mit dem
christlichen Glauben unvereinbare Abhängigkeit. Martin Walser hat in seinem 2010
erschienenen Buch „Rechtfertigung“ gezeigt, dass die Rechtfertigung auch ohne
einen Glauben an Gott im traditionellen Sinn ein elementares humanes Problem ist).
-> Hoffnung über den Tod hinaus, Neuzeitliche Verstehensansätze
Voraussetzungen für den Empfang der Vergebung.
59
Erkenntnis der Schuld bzw. der Sünde
Schuld und Sünde werden erkennbar durch die Beachtung der Gebote (Gottes),
der „Goldenen Regel“ oder durch den Einfluss anderer vorbildlicher Personen,
insbesondere des Jesus von Nazareth, oder durch Begegnung mit Gott (wie es in
einem Bekenntnis der Baptisten enthalten ist: „In der Begegnung mit Jesus
Christus erfahren wir das Böse in uns und in gesellschaftlichen Strukturen als
Sünde gegen Gott.“ (zit. nach Wikipedia).
Wenn es auch meist schwer fällt, das anzunehmen, so ist Erkenntnis von Sünde
und Schuld auch aus der von Mitmenschen geübten Kritik zu entnehmen. Schuld
lässt sich als Ursache für schädliche Wirkungen erkennen.
Ohne Reue keine Vergebung
Reue ist das Gefühl und/oder die Erkenntnis, falsch gehandelt zu haben,
Unzufriedenheit, Abscheu, Schmerz und Bedauern über das eigene fehlerhafte
Tun und Lassen, verbunden mit dem Bewusstsein von dessen Unwert und
Unrecht sowie mit dem Willensvorsatz zur (wenn möglich) Wiedergutmachung
und Besserung.
An vielen Bibelstellen ist aber von Reue als Voraussetzung zur Vergebung nicht
ausdrücklich die Rede. Sie wird in frühchristlicher Zeit in der Annahme der Taufe
ihren Ausdruck erhalten haben. (Petrus antwortete ihnen: Kehrt um und jeder von
euch lasse sich auf den Namen Jesu Christi taufen zur Vergebung seiner
Sünden; dann werdet ihr die Gabe des Heiligen Geistes empfangen.“
Apostelgeschichte 2,38)
Durch die Reue wird die Schulderkenntnis in den größeren Zusammenhang des
Glaubens gestellt.
Psychologisch gesehen kann langes und stark empfundenes Bedauern einer als
schuldhaft bewerteten Tat oder Unterlassung zu erheblichen
Persönlicheitsstörungen führen.
Im rechtlichen Bereich kann gezeigte (insbesondere „tätige“) Reue das Strafmaß
verringern.
Reue wird eingeschränkt oder verhindert durch die Neigung schuldig gewordener
Menschen, sich zu ihrer Entlastung zu „entschuldigen“, indem sie das Vergehen
als nicht so schlimm, teilweise berechtigt oder gar nicht als Schuld anerkennen.
Sehr oft wird auch auf eine Mitschuld des Opfers bzw. eines schuldhaft
Geschädigten, z.B. bei sexuellem Missbrauch, hingewiesen (was oft zu großen
seelischen Problemen bei den Opfern führt).
60
Im Bewusstsein größerer Wirklichkeit gibt es die Bitte um Vergebung für Schuld
und Sünden, die auch Gläubigen nicht bewusst sind oder nicht erkannt werden
(„Jeder ist an allem schuld“ lautet ein Ausspruch des Dichters Dostojewski).
Vergebung empfängt nur wer selbst anderen vergibt.
„..und vergib uns unsere Schuld, ... wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“
heißt es im Vater-Unser-Gebet Jesu.
Voraussetzung für den Empfang von Vergebung von Gott ist, dass ein Mensch
selbst auch anderen vergibt, die an ihm/an ihr oder anderen oder an der Umwelt
schuldig geworden sind.
Formen des Empfangs von Vergebung
Nach evangelischem Verständnis wird in der Feier des Abendmahls Vergebung
empfangen. Das zeigen die sog. Einsetzungs-Worte: „...für euch gegeben und
vergossen zur Vergebung der Sünden.“ Dazu Luther in seinem Katechismus:
„Und wer diesen Worten glaubt, der hat, was sie sagen und wie sie lauten,
nämlich: Vergebung der Sünden.“
Es ist also kein (notwendigerweise öfters erfolgender) Akt Gottes nötig, der nach
einer Prüfung, ob die Reue ausreichend ist oder nicht, über die Gabe der
Vergebung im Einzelfall entscheidet.
Diese kann vielmehr auch in der Zusage eines Christen oder eines Amtsträgers
(z.B. bei einer Beichte oder Abendmahlsfeier, im Gespräch) oder durch
unmittelbare Erfahrung von Gottes Zuwendung in Gebet und Kontemplation
empfangen werden.
Auch durch das Lesen entsprechender Stellen in der Bibel kann die Gewissheit
entstehen, Vergebung von Sünden zu empfangen.
Gläubige können Vergebung für alle Sünden, für alle Schuld und alle Menschen
für möglich halten, obwohl es für menschliche Erkenntnis viel „Unentschuldbares“
gibt. Sie sehen eigene und fremde Sünde und Schuld im größeren
Zusammenhang der Wirklichkeit Gottes „aufgehoben“, auch wenn ihnen das im
Einzelfall (und besonders bei großen Verbrechen) nur in kleinen Ansätzen und
Schritten möglich ist.
Die Frage, wie Schuld und Sünde zu beurteilen (und damit zu leben!) ist wenn sie
vergeben und bestraft worden sind, wird heute mehr in Talkshows behandelt als
in der Kirche und Theologie. Das ist anzuerkennen, weil dadurch Möglichkeiten
der Reflexion und Verarbeitung von Schuld bekannt werden und dabei meistens
sowohl die Schuldigen wie auch die „Opfer“ zu Wort kommen. Zuschauer können
sich im Abstand als Unbeteiligte eigene Gedanken zu diesem schwierigen Thema
machen und Anregungen zu einem verantwortungsbewussten Umgang mit
eigener Schuld mitnehmen.
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Von der vergangenheitsorientierten Einstellung zu neuen Wegen
Vergebung bedeutet die Zurückstellung einer ichbezogenen, vergangenheits- und
normorientierten Einstellung, auch dort, wo sie im Augenblick berechtigt
erscheint. Vielmehr wird eine offene, zukunftsbezogene und
zusammenhangorientierte Sachlichkeit angestrebt, die sich gemeinsam mit
dem/den anderen um die Lösung der anstehenden Probleme bemüht, indem
neue Wege gesucht und soviel Hindernisse wie möglich ausgeschaltet werden.
Christen lassen es nicht nur bei Bestrafung und Wiedergutmachung bewenden.
Das ist allerdings eine sehr anspruchsvolle Einstellung, die viel Gedankenarbeit
erfordert und sicher auch oft enttäuscht wird und erfolglos bleibt.
Der sündige Mensch ist nach diesem Verständnis nicht als ganzer schlecht, d.h.
nicht mit seiner Schuld identisch. Das kommt auch in zahlreichen Worten der
Bibel für Vergebung von Schuld zum Ausdruck, z.B. waschen, reinigen,
abwaschen, bedecken, wegnehmen, wegschaffen). Der allgemeine Begriff der
Schuld erlaubt in der Anwendung auf den Einzelfall vielfache Differenzierungen.
In der Offenheit des Glaubens für MEHR und größere Wirklichkeit wächst die
Fähigkeit und die Bereitschaft, Fehler zuzugeben und zu korrigieren, weil und
wenn es nicht nur um die eigene Person geht. Den größeren Zusammenhang
sehen – das ist schon ein Schritt im gelebten Glauben an Gott. Ob man es so
nennt oder nicht.
Auf gegenseitiges Aufrechnen von Schuld verzichten
Der christliche Glaube geht davon aus, dass wir vielen anderen im Vergleich zu
unseren Gaben und Möglichkeiten etwas schuldig bleiben und sie uns.
Der Glaube als Offenheit bringt aber auch die Möglichkeit, das gegenseitige
Aufrechnen der größeren oder kleineren Schuld aufzugeben, weil er die Konflikte
in einem größeren Zusammenhang sieht. Eine Verständigung braucht nicht mehr
daran zu scheitern, dass die Schuld des oder der anderen als etwas größer als
meine eigene angesehen wird.
Vergebung ist eine konstruktive soziale Methode
Vergebung ist die Erfahrung in der Offenheit des Glaubens, dass es einen
Ausweg aus dem keine kreative weiter führende Lösung erlaubenden Zwang der
Normen und Gesetze gibt. Durch Aussprache, Bereuen und Vergeben in
versöhnlicher, friedlicher Weise wird zur Konfliktlösung beigetragen, bis hin zur
praktizierten Feindesliebe. In vielen Gleichnissen Jesu (z.B. Mt. 18,21 ff, Lk.
15,11) ist die Möglichkeit dieses Verhaltens in Bildern und Modellen beschrieben.
Jesus hat die Möglichkeit der "Vergebung" vertreten bis zu der Konsequenz, dass
er nicht verstanden und getötet wurde. Mit Jesus ist ein Anfang gemacht, der
vielen Menschen dieses Verhalten der Solidarität und Vermittlung ermöglicht. Es
ist keine herablassende Überlegenheit damit verbunden ("Ich vergebe dir..."),
vielmehr entspricht der Vergebung die sachlich und menschlich begründete Wahl
einer weiterführenden, konstruktiven, sozialen Methode, zu der auch andere
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eingeladen werden (in einem Lexikon-Artikel wird sie als "Strategie" bezeichnet.
Diese kann u.a. unterstützt werden durch die Methode der Mediation).
Schuld zugeben – nur wenn es gar nicht anders geht?
Der christliche Glaube befähigt zum Zugeben von Schuld
Die Zusage der Vergebung Gottes erleichtert gläubigen Christen das Zugeben
von Schuld – oder sollte das umso mehr dann tun, wenn die anderen Beteiligten
auch Christen sind. (Stattdessen wurden aber lange Zeit unter Christen
Schuldvorhaltungen im Übermaß produziert. )
Durch den exemplarischen Vollzug allgemeiner Schuldfeststellung im
entspannten Feld der Gemeinde bzw. des Gottesdienstes kann das Zugeben von
Schuld im Einzelfall und sogar gegenüber dem Gegner vorbereitet und erleichtert
werden.
Für die wissenschaftliche Arbeit ist das Eingeständnis von Fehlern und das
"Umdenken" hochbewertete Voraussetzung, in der Praxis des Alltags (und bei
kirchlichen Auseinandersetzungen!) ist es allerdings immer noch selten. Deshalb
ist es Aufgabe der Kirche, den Funktionswert des Zugebens von Schuld
allgemein und im Einzelfall aufzuzeigen, nicht zuletzt auch durch das eigene
Beispiel. Das Zugeben von Schuld kann eine Aggressionshemmung beim
Gegner, Freund und „Bruder" bewirken. Das bringt meist auch eine
Versachlichung des Problems, welches durch das Zugeben der eigenen Schuld
besser in den Blick kommt. Bei anderen kann sich auch ein Interesse für die
Grundhaltung entwickeln, aus der heraus Schuld zugegeben wird (und werden
kann!). Wer das Zugeben von Schuld geübt hat und das deshalb auch bei
anderen nicht als Blöße ausnutzt, wird nicht aggressiv oder angstvoll, sondern mit
Interesse und offen reagieren, wenn er auf eigene Schuld angesprochen wird. Er
oder sie wird gar nicht mit sich selbst allein abmachen w o l l e n , was eigene
Schuld ist und wie sie verarbeitet oder getilgt werden kann, weil durch die
Offenheit des Glaubens größere Zuammenhänge erkennbar werden. Schwere
Schuld ist allerdings ein harter Prüfstein für die Solidarität, Gemeinschaft und
Kommunikation mit anderen, auch wenn Vergebung ausgesprochen wird.
Die Frage nach der ethischen Disposition des Menschen für gutes und böses
Handeln wird aber zunehmend ohne Bezug auf die „theologische Dimension Gott“
gestellt. Dies steht im Zusammenhang mit dem Vorwurf, gerade das Christentum
habe eine Schuldkultur entwickelt, die nicht zuletzt der Kirche durch Erzeugung
von übermäßigem Schuldbewusstsein zu einer ihr nicht zukommenden Macht
über die Menschen verholfen habe.
Vergebung ist nicht abhängig von Gegenleistung
Es ist eine wesentliche Besonderheit der christlichen Vergebung, dass der
Glaube an diese Möglichkeit und die Wahl des entsprechenden eigenen
63
Verhaltens nicht von der Bereitschaft der Konfliktpartner, ein Gleiches zu tun,
abhängig gemacht wird. Vielmehr rechnet der Christ damit, dass eine erhebliche
Vorgabe eigenen Einsatzes in dieser Richtung notwendig ist, um bei der meist
tiefgehenden normativen Fixierung menschlichen Handelns auch bei anderen
eine Veränderung des Verhaltens zu ermöglichen. Dieses Verhalten entspricht
der Zusage, dass die Vergebung Gottes ohne Bedingungen oder Gegenleistung
gewährt wird.
Auf dem Weg zu einer neuen Schuldkultur
Schuld zugeben – wer tut das schon gerne, wenn Nachteile damit verbunden
sind?
Schuldigwerden und Sündhaftigkeit gegenüber Gott war früher ein Hauptthema
des Glaubens. Heute wird es fast immer auf Mitmenschen, auf andere, auf den
Nächsten, auf die Gesellschaft bezogen, neuerdings aber auch auf die Natur, auf
unsere Erde.
Viele stellen sich u.a. folgenden Fragen:






Wie gehen wir verantwortungsvoll mit unserem täglichen Schuldigwerden
um?
Welchen Wert hat und was bewirkt Vergebung?
Wie bringen wir die Bereitschaft auf, erlebte Schuld anderer zu verzeihen?
Kann der persönliche Glaube dabei helfen?
Kann man Vergebung anderer mit dem Hinwieis auf deren hohe
Bewertung im christlichen Glauben erbitten?
Welche Rolle kommt für Christen bei dieser Frage Jesus zu?
„Der Begriff Sünde“ bringt einen größeren Zusammenhang ins Bewusstsein als
der Begriff „Schuld“. Mit Schuld bezeichnet man in der Regel ein konkretes
Fehlverhalten in einer bestimmten Situation, mit Sünde einen Zustand der
Gottferne, der Isolation vom größeren Zusammenhang.
Der christliche Glaube trägt durch die Beziehung der Schuld auf Gott dazu bei,
einen größeren Zusammenhang ins Bewusstsein zu bringen. Wenn Gott als der
Richter bezeichnet und geglaubt wird, so muss damit gerechnet werden, dass ein
Schuldiger ganz anders beurteilt werden kann, als ich das tue oder ein Gericht.
Wenn zum Beispiel durch falsches Überholen auf der Autobahn ein schwerer
Unfall passiert und die Autobahn für Stunden blockiert ist, so wird der/die
Schuldige strafrechtlich und zivilrechtlich zur Verantwortung gezogen. Der Verlust
der fast tausend Wartenden an Zeit, verabredeten Begegnungen, Geschäften
oder Erfahrungen wird dadurch nicht erfasst und meist nicht einmal bedacht.
Schuldig auch ohne Sünde
Auch wenn heute bei Fehlverhalten häufig nicht mehr an Sünde gegenüber Gott
gedacht wird, spielen in den meisten modernen Gesellschaften
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Schuldzuweisungen doch eine große Rolle. Vor allem die Medien sind die
Rechercheure und Ankläger, die Stammtische und Talkshows sind die
gnadenlosen Richter. Schuldbekenntnisse und Rücktritt lassen das Strafmass
erkennen. Meist gibt es keine mildernden Umstände. Viele in Ungnade Gefallene
sind aber nach kurzer Zeit wieder da und obenauf. Man hat ja seinen Spass
daran. Wem sind schon größere Zusammenhänge zugänglich? Christen werden
jedenfalls danach fragen und daran denken dass es sie gibt, auch wenn sie mur
im Ansatz zugänglich sind.
Emotionale Abwertung der Gegenseite und Vergeltung vermeiden
Wahrscheinlich sind es nicht so sehr die objektiven Schwierigkeiten der durch
Konflikte oder Schuld entstehenden Probleme, sondern die Fixierung auf
Schuldprojektionen, die eine für alle Beteiligten günstige gemeinsame Lösung
verhindern.
Emotionale Abwertung von (tatsächlich oder vermutlich) "Schuldigen" bewirkt
meist auch eine Ablenkung von der Erkenntnis neuer Möglichkeiten und Wege.
Auch die Vergeltung kann nicht als konstruktive Problemlösung angesehen
werden. (Das zu glauben und zu realisieren fällt besonders angesichts großer
und schrecklicher Verbrechen immer wieder schwer, insbesondere gegenüber
dem Terrorismus in den letzten Wochen. Was wäre nach dem 2. Weltkrieg aus
Deutschland geworden, wenn von den Siegermächten nur Vergeltung geübt
worden wäre?)
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Auferstehung der Toten, Jüngstes Gericht, Ewiges Leben
Können wir aus dem Glaubensbekenntnis Passagen auslassen, nur „weil es uns
heute schwer fällt, an Auferstehung und Ewiges Leben zu glauben?“ Ist ein
christlicher Glaube auch ohne Auferstehung der Toten, Jüngstes Gericht, Ewiges
Leben und Jenseits möglich? Es wird zwar heute weitgehend auf bildhafte
Vorstellungen zu diesen Glaubensinhalten verzichtet (wie z.B. in „Hoffen über den
Tod hinaus?“), aber positive Aussagen und Interpretationen dazu sind selten. Die
folgende zum Thema „Jüngstes Gericht“ versucht eine Erklärung auch ohne
„Jenseits“.
Viele neue Formulierungen des Glaubensbekenntnisses lassen die Auferstehung der
Toten und das Ewige Leben bewusst aus.
Können wir aus dem Glaubensbekenntnis Passagen auslassen, nur „weil es uns
heute schwer fällt, an Auferstehung und Ewiges Leben zu glauben?“
Viele, die den Glauben an Auferstehung und ewiges Leben unverändert beibehalten
wollen, sehen in der Frage, ob „heute noch“ an dies oder jenes geglaubt werden
kann oder nicht, keine für den Glauben relevante Kategorie.
Denn „es ist sehr wohl möglich, und kommt vor, dass die Vergangenheit sich einer
Wahrheit bewusst war, die von der Gegenwart vergessen wurde – und die trotzdem
wahr bleibt. Ganz abgesehen von dem, was in einem kollektiven Unterbewussten
wirksam aufbewahrt sein mag.
Wenn die Sünde oder das Böse heute unpopuläre und fast unverständlich
gewordene Begriffe sind, beschreiben sie gleichwohl wesentliche Realitäten, die
einer anderen Beschreibung nicht einfach zugänglich sind. Wenn das Heute nichts
mehr mit ihnen anfangen kann, umso schlimmer für das Heute.“
Versuche mit einer neueren Interpretation der Glaubenssätze zu „Auferstehung der
Toten“ und „Ewigem Leben“ sind auch dadurch erschwert, dass darin eine
Infragestellung der leiblichen Auferstehung Jesu gesehen wird. Das fällt dann unter
das Verdikt des Apostels Paulus: „Wenn aber Christus nicht auferweckt worden ist,
dann ist unsere Verkündigung leer und euer Glaube sinnlos.“
Auferstehung, Ewiges Leben und auch das „Jüngste Gericht“ können aber durchaus
so in einem übertragenen Sinn interpretiert werden, dass das Wesentliche des
Glaubens erhalten bleibt und aktualisiert wird.
In der Frage nach dem ewigen Leben waren Antike und Judentum weithin
illusionslos von der Vergänglichkeit und der Sterblichkeit alles Irdischen überzeugt
(nicht aber das alte Ägypten, das ausgeprägte Jenseitsvorstellungen hatte und von
dem sicher Einflüsse auf das Christentum ausgingen) und setzten keine Hoffnung
auf die allenfalls schattenhafte Existenz in einer Unterwelt. Trotzdem suchen viele
auch heute nach einen Sinn des Lebens, der durch die Sterblichkeit nicht zunichte
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gemacht wird. Ein solcher ist wohl nur zu finden, wenn ein Bezug zum Ewigen als
dem wichtigsten Prädikat Gottes bzw. einer größeren Wirklichkeit gesehen wird.
An Auferstehung und Ewiges Leben zu glauben ist für ein gutes Leben in der Welt
des Glaubens und des Vertrauens nicht nötig, aber auch nicht hinderlich.
Wer Todesängste durch den Glauben an Auferstehung und ewiges Leben
besänftigen kann, hat damit ein wirkungsvolles Instrument gegen derartige
Erfahrungen.
Die Chance und Möglichkeit zur (Selbst-)Reflexion ist ein weiteres Instrument.
Bilder für das Ewige?
Der protestantische Theologen und Religionsphilosoph Paul Tillich (1886-1965)
definiert Spiritualität möglichst weit und umgreifend als das, »was auf das höchste
Anliegen eines Menschen verweist und das, was uns unbedingt angeht«. Das Wesen
der Religion besteht nach Tillich darin, dass sie sich mit dem Ewigen befasst .
Das Wort (oder der Wortteil) „Ewig“ ist dabei nicht nur unreflektiert als Zeitdauer und
Zeit- und Raumüberschreitendes zu verstehen und zu gebrauchen, sondern als
Bezeichnung einer anderen Dimension, des Lebens, Denkens und Fühlens. Für den
christlichen Glauben ist Gott „ewig“, durch ihn gibt es die über unser Zeitempfinden
hinaus gehende „Ewigkeit“. Weil Zeit- und Raumloses nicht vor- und darstellbar ist,
sind Bilder für das damit Gemeinte entstanden, wie Jenseits, Auferstehung der
Toten, Jüngstes Gericht, Himmel, Hölle und ewiges Leben. Sie werden (außer z.T.
im Glaubensbekenntnis und im Vaterunser, in Gottesdiensten und bei Bestattungen),
kaum oder gar nicht mehre gebraucht, lassen sich aber, zumindest in ihrer früheren
Funktion, erklären. Das Jenseits und die Bewertung der Lebensführung wurde von
vielen Menschen sowohl als Hoffnung wie auch als Bedrohung empfunden, sehr
häufig auch als ganz reales Geschehen , bzw. zu Erwartendes. Sie glauben, dass es
über, hinter den Räumen des alltäglichen Lebens (im „Jenseits“) noch eine andere,
höhere Dimension von Zeit und Raum gibt, die zwar für Menschen unzugänglich und
nicht verstehbar ist, aber die doch schon Verbindung mit dem jetzigen Leben hat.
In dieser Sammlung von „Kernfragen des Glaubens“ wird an zwei Beispielen gezeigt,
wie die im Glaubensbekenntnis stehende Aussagen „... wird er kommen, zu richten
die Lebenden und die Toten“ und ..“Auferstehung der Toten und das ewige Leben.“
heute verstanden werden können.
Das Jüngste Gericht – die größere Wirklichkeit
Bei einer Reise der Evangelischen Akademikerschaft durch Südburgund waren
mehrfach an den Eingängen romanischer und gotischer Kirchen Darstellungen des
Jüngsten Gerichts zu sehen: Jesus, dem Gott nach der Bibel das am Jüngsten Tag
stattfindende Gericht über alle Lebenden und Toten übertragen hat, sitzt oder steht
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erhöht. Unter ihm zur Rechten diejenigen, die zur ewigen Seligkeit bestimmt sind,
zur Linken, schon in den Fängen schrecklicher Ungeheuer, die Verdammten. Alle
waren beeindruckt und dachten daran, dass Jesus zu den Ungerechten sagt: „Geht
weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer“. Dagegen dürfen die Gerechten in
das ewige Leben eingehen (nach Matthäus 25).
Man freute sich über die Erklärung, dass im Tympanon der Kirche in Autun unten auf
der rechten Seite mehr Platz für Gerechte war als auf der höllischen Linken, und
schmunzelte bei der Erinnerung daran, unter den Verdammten
Foto: E. Uthke
auch schon mal einen Mann mit Bischofsmütze gesehen zu haben.
Aber kaum jemand unter den Reiseteilnehmern wird heute noch ein Weltende dieser
Art erwartet haben. Welche Bedeutung hat die Vorstellung vom Jüngsten Gericht
noch für Gläubige unserer Zeit? Ist der Jüngste Tag der Übergang in die Ewigkeit?
Wir rechnen nicht mehr oder kaum noch (wie viele Menschen im Altertum und z.T. im
Mittelalter) mit einem bald bevorstehenden Weltuntergang, verbunden mit dem
Ereignis einer Wiederkunft Christi zum Gericht.
Zwar wird niemand ausschließen wollen, dass etwa nach voraussichtlich langer Zeit
durch eine Explosion der Sonne der Planet Erde zerstört und damit alles Leben
unmöglich wird. Aber ein damit verbundenes reales Ende der Zeit für alles Dasein
(am „Jüngsten Tag“) mit dem Beginn einer „Ewigkeit“ ist schon begrifflich
unvorstellbar (wenn mit den Bezeichnungen ein verstehbarer Sinn verbunden
werden soll). Welche Bedeutung könnten also Vorstellungen wie das „Jüngste
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Gericht“ und „Ewigkeit“ für uns haben? (Es gibt Mythen vom Weltende mit mehr oder
weniger apokalyptischer Ausgestaltung auch in anderen Religionen, wie z.B. im
Koran).
Lange Zeit hatte der Glaube an das Jüngste Gericht die Wirkung, dass die dadurch
erzeugte Angst Menschen mehr oder weniger dazu zwang, sich nach den Geboten
und Werten ihrer Religion zu richten. Die offensichtliche (und z.B. in den Psalmen
beklagte) Tatsache, dass Bösewichte oft keine Strafe oder negative Folgen ihrer
Übeltaten erfahren, auch dass gute Menschen oft (oder meistens?) keine Belohnung
für ihre Rechtschaffenheit erhalten, wird durch einen Ausgleich im Jenseits oder am
Ende aller Tage erträglicher und hilft zum Bewahren des Glaubens an Gott (den
Christen zum Festhalten an der Lehre Jesu).
Gott und Jesus haben das letzte Wort. Sie urteilen über jeden einzelnen Menschen
aufgrund ihrer umfassenden Kenntnis aller seiner Gedanken und Taten. Weil es
schwer fiel zu glauben, dass der liebende und gnädige Gott Menschen wegen
sogenannter Tod-Sünden zu einer ewigen Verdammnis verurteilt, gab es durch die
Vorstellung eines Fegefeuers Abmilderungen (deren Käuflichkeit mit ein Anlass zu
Luthers Reformation war). Als problematisch wurde auch die zeitweise vertretene
religiöse Lehre empfunden, dass manche Menschen von vornherein zur ewigen
Verdammnis prädestiniert sein könnten. Kritiker des christlichen Glaubens bzw. der
kirchlichen Lehre (das letzte Gericht über „die Lebenden und die Toten“ und die
Ewigkeit – das ewige Leben – stehen immerhin im allgemeinverbindlichen
apostolischen Glaubensbekenntnis) sehen in solchen Glaubensinhalten
hauptsächlich ein Instrument kirchlicher und religiöser Macht.
Neuere Auffassungen von Gott
(wie sie auch in einem theol.
Arbeitskreis der Evangelischen
Akademikerschaft geprüft
werden, Grundgedanken dieses
Beitrags stammen von daher)
führen zu vertretbaren und
lebensdienlichen Interpretationen auch solcher Glaubensformen und -lehren. Darin
werden Bilder und Metaphern
mit ihren (zwar unangemessenen, aber kaum vermeidbaren) jenseitigen Zeit- und
Raumvorstellungen auf ihren
wesentlichen Gehalt hin
interpretiert.
Montceaux-l'Étoile: Tympanon im Eingangsfries Foto: H. Holler
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Gott als Richter – das bedeutet dann; alles kann auch anders beurteilt werden, selbst
wenn ich das Urteil nicht kenne (sozusagen die Möglichkeit einer religiösen
Revision).
Allein schon dieses Denken an die Möglichkeit einer anderen Beurteilung nach anderen
Kriterien kann das eigene (Vor-!)Urteil relativieren und offen halten. Auch bei
moralischen, religiösen oder Gerichtsurteilen, natürlich auch bei ästhetischem und
politischem Ermessen. Manches Urteil würde dann nicht nur anders ausfallen, sondern
auch der Umgang miteinander wäre wahrscheinlich menschenfreundlicher.
Das kommt in den Blick, wenn mit einem „Mehr“ gerechnet wird, von dem schon im
Textteil „Was ist Glauben“ (Kap.1) die Rede war: wenn der Glaube sich für den mit
Gott vorgegebenen größeren Zusammenhang und seine größere Wirklichkeit öffnet.
Das Symbol des Jüngsten Gerichts kann bewusst machen, dass unser Verhalten,
Tun und Denken sowohl zeitlich wie qualitativ-geistig (weitaus!) größere und längere
Auswirkungen hat als wir erkennen können. Glauben wäre dann eine erhöhte
Offenheit dafür, wohl wissend, dass ich und wir nur einen sehr kleinen Teil davon
realisieren können.
Durch die Beziehung der Schuld auf Gott hilft der christliche Glaube dazu, einen
größeren Zusammenhang ins Bewusstsein zu bringen.
Wenn Gott als der Richter bezeichnet, dargestellt und geglaubt wird, so muss damit
gerechnet werden, dass Schuldige ganz anders beurteilt werden können, als ich das
tue oder ein Gericht geurteilt hat. Wenn zum Beispiel durch falsches Fahren auf der
Autobahn ein schwerer Unfall passiert und die Autobahn für Stunden blockiert ist, so
wird der/die Schuldige strafrechtlich und zivilrechtlich zur Verantwortung gezogen.
Der Verlust der tausend Wartenden an Zeit, verabredeten Begegnungen, Geschäften
oder Erfahrungen wird dadurch nicht erfasst und meist nicht einmal bedacht. Das
religiöse Schuldwissen reicht schon hier (ansatzweise) in eine weitere Dimension,
auch zeitlich. Sie wird u.a. auch durch die Metapher „Gott ist der Richter“ und das
Bild des Jüngsten Gerichts ins Bewusstsein gebracht.
In diesem Sinn bemühen sich die Gerichte, bei Straftaten möglichst viel vom
Hintergrund und Entstehungszusammmenhang einer Straftat zu erheben, was oft
schon bei der Rechtspflege zu „mildernden Umständen“ führt.
Bei einem tragischen Unfall während der Loveparade in Duisburg 2010 würden aus
dieser Sicht nicht nur die Stadtverwaltung, der Veranstalter und die Polizei als
möglicherweise Schuldige in Betracht gezogen, sondern auch die Gesellschaft, die
Liebe und Lebensfreude (auch in den Medien) so feiert, dass Massen dabei in
Ekstase und Panik geraten. Andererseits kann die große Zahl von Menschen, die
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Liebe, Lebenskraft und Lebenslust zusammen feiern wollen, auch dankbar
gegenüber dem tieferen Grund dafür stimmen.
Auch bei der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko (2010) wird bei Offenheit für
größeren Zusammenhang nicht nur (berechtigt) an die Schuld der Ölfirma oder der
amerikanischen Verwaltung gedacht, die die Bohrung mit zu geringen
Sicherheitsauflagen genehmigt hat, sondern auch an den Druck, der von einer
verschwenderisch mit Treibstoff umgehenden Gesellschaft ausgeht. Auch hier
kommt Staunen und Dankbarkeit für den großen Reichtum an „Lebensmitteln“ in den
Blick, den wir in unserer Welt vorfinden. Für uns entstanden? Ein sparsamer
Gebrauch wäre der angemessene und geforderte Umgang damit, der nicht erst am
jüngsten Tag belohnt wird.
Aus diesem Verständnis folgt ja auch, dass nichts Gutes vergeblich geschieht, auch
wenn es unerkannt im Verborgenen und erfolglos bleibt. Das gilt leider auch für das
Böse „bis in das dritte und vierte Glied“ (1. Mose 20) und wohl noch weiter. Es gibt
eine höhere und größere Wirklichkeit, in der das alles weit über unsere Erkenntnis
hinaus aufgehoben und wirksam ist und bleibt. Christen und manche Religionen
nennen sie Gott. Sie glauben an einen Gesamtzusammenhang, in dem und aus dem
heraus das Leben erhalten bleibt und gegen alle Schuld immer wieder neu beginnen
kann. Hierzu gehört auch die Ahnung von einer anderen Zeitdimension als die
Endlichkeit der Uhrenmessung und der Natur, die von Gläubigen Ewigkeit genannt
wird.
Natürlich müssen und dürfen wir urteilen und dementsprechend handeln. Und es
kann auch hinderlich sein und skrupulös verunsichern, ständig mit der Möglichkeit
der Aufhebung des eigenen Urteils zu rechnen. Aber die Offenheit für größere
Zusammenhänge hat bei wesentlichen Lebensfragen doch lebensdienliche
Wirkungen. Vor allem dann, wenn die Maßstäbe für das Urteilen berücksichtigt
werden, die Jesus gepredigt und gelebt hat, im Bild gesprochen: Wenn Jesus im
Gericht sitzt.
Die Frage ist allerdings, ob solche „Übersetzung“ von Metaphern wie „Jüngstes
Gericht“ und „Ewigkeit“ nicht zu umständlich ist, um die genannten Wirkungen zu
erzielen, weil diese zu stark mit bildhaften Assoziationen verbunden sind – wie mit
den schönen Skulpturen an den romanischen und gotischen Kirchen in Burgund.
Manche verzichten deshalb lieber auf religiöse Vorstellungen zum Verständnis von
Schuld und Vergebung und vom Leben überhaupt.
Können wir auf die Entstehung neuer Symbole, Begriffe, Bilder und Vorstellungen für
das Bewusstsein größerer Wirklichkeit und weiteren Zusammenhang beim Urteilen
über sich selbst und andere hoffen, wenn die bisher und lange gebrauchten unserem
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Wirklichkeitsverständnis nicht mehr entsprechen? Bisherige Versuche machen Mut
zu eigenen Gedanken und Aussagen in dieser Richtung, (auch wenn es bis jetzt nur
einige wenige (brauchbar erscheinende) sind. Vielleicht kommen wir auch in Zukunft
mit weniger (ganz wenig?) Begriffen aus, um Diesseits und Jenseits
zusammengefasst zu benennen (so wie auch die Physiker auf der Suche nach der
Weltformel sind –TOE als theory of everything). Im nachfolgenden Beitrag „Hoffen
über den Tod hinaus?“ wird in diesem Sinn das Wort „Liebe“ verwendet, das in der
Bibel sogar als Bezeichnung für Gott gebraucht wird. (1. Johannesbrief 4,16). Liebe
kommt auch im Tod nicht an ihre Grenze.
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Hoffen über den Tod hinaus?
Für eine Hoffnung über den Tod hinaus gibt es viel Ermutigung und Zeugnis.
Erstaunlich, wie viel früher Kirche, Gläubige und Künstler über das Leben nach dem
Tod wussten. Wird das heute noch akzeptiert? Als Begründung hierfür wird die
Berufung auf Jesus und seine Auferstehung herangezogen; aber doch auch gefragt,
ob solche antiken Formulierungen des Bekenntnisses noch die Hoffnung in Moderne
und Postmoderne leiten kann. Und wer will schon zu einem Endgericht auferstehen
(und jetzt schon Angst davor haben), in dem das eigene Bestehen höchst ungewiss
ist?
Trotzdem hat die christliche Botschaft den Mut und die Zuversicht zu einer größeren
Hoffnung, indem sie an das Gebot der Liebe anknüpft: Lieben heißt einem
Menschen sagen: du wirst immer dasein. Die Hoffnung über die Todesgrenze hinaus
wurzelt in der Zusage: „Gott ist Liebe“.(1Joh 4,16)
Überlieferte Hinweise
„Auferstehung der Toten und das ewige Leben.“ In diese doppelte positive
Hoffnungsaussage mündet das apostolische Glaubensbekenntnis in seinem dritten
Artikel. Gegen alle Ängste ist ein großes Hoffnungsziel aufgerichtet.
Aber was ist damit gemeint? Missverständnisse drängen sich auf. Die „Auferstehung
der Toten“: besagt sie etwas anderes als eine körperliche Fortsetzung der hiesigen
Existenz im Jenseits? Und das „ewige Leben“: heißt das eine endlos gedehnte
irdische Zeit, eher öde als wirklich wünschbar?
Das Bekenntnis verlangt danach, im Ganzen gedeutet zu werden; im Gespräch mit
den biblischen Aussagen, die zu ihrem Sinnhorizont gehören. Dann zeigt sich bald:
ein wörtlich-äußerliches Verständnis der Hoffnung wird hier schon im Grunde
aufgebrochen.
Das ewige Leben: Die Hoffnung der Christen beruft sich auf den lebendigen Gott des
ersten Artikels. Er selber heißt biblisch der Ewige.(1 Mose 21,33) Das meint mehr als
eine unendliche Zeitdauer. Der ewige Gott ist der Lebendige, der Schöpfer des
Himmels und der Erde, der Abraham beruft und sein Volk durch Mose aus der
Knechtschaft führt, einen Bund schafft und seine Gebote anvertraut. Dieser ewige
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Gott des Lebens gibt Zukunft. Er bricht seine Beziehung nicht ab im Tod. Nicht die
Beziehung zu seinem Volk. Seine Treue bewahrt er, wie in den Psalmen immer
gewisser bekannt wird, auch gegenüber dem Einzelnen. „Wenn mir gleich Leib und
Seele verschmachtet, so bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein
Teil“. (Psalm 73,26) Ewiges Leben: das meint schon im apostolischen Bekenntnis die
Gemeinschaft mit dem ewigen Gott. Diese Gemeinschaft ist durchaus diesseitig, an
ein jenseitiges ewige Leben zu glauben, beinhaltete dies nicht – wenngleich solche
Überzeugungen tröstend sein können.
Die Auferstehung der Toten:
Das Neue Testament nimmt die Hoffnungs-Linien Israels auf und verknüpft sie mit
Jesus Christus. Der Weg des Gottessohnes prägt den zweiten Artikel des
apostolischen Bekenntnisses. Jesus verkündet den Anbruch und die Nähe von
Gottes Herrschaft. Er spricht in seinen Heilungen, seinen Seligpreisungen dieses
Reich gerade den Bedrängten und Verstörten zu. Er weicht den Konflikten nicht aus
und geht einen Passionsweg, der mit dem Tod am Kreuz endet. Dieser getötete
Jesus kehrt nicht ins irdische Leben zurück. Er ist von den Toten auferstanden; das
meint anderes als die Rückkehr in ein zeitliches Dasein. Der Auferstandene erweist
sich als gegenwärtig und wirklich aus Gottes Leben. „Der Gekreuzigte lebt für immer
bei Gott- als Verpflichtung und Hoffnung für uns! (H. Küng, Ewiges Leben? 140) So
wird Ostern zur Quelle christlicher Hoffnungsbotschaft. „Christi Auferstehung ist für
mich das Zentrum nicht nur der Ostergeschichte, vielmehr konzentrieren sich in ihr
alle biblischen Texte zur Frohen Botschaft.“ (Gabriele Wohmann, Eine gewisse
Zuversicht, 2012,157) An Christi Auferstehung orientiert sich alles, was mit
‚Auferstehung der Toten’ für die Gemeinde Christi gemeint sein kann. Schon das
Glaubensbekenntnis als verdichteter Glaube öffnet die Einzelaussagen zu neuen
Sinneinheiten.(vgl. auch die „Meditation zu Ostern“ von W. Grau in Persönl. Beiträge)
Neue Verstehensansätze
Dennoch muss radikaler gefragt werden: Lässt sich eine solche Tod-übersteigende
Hoffnung heute mit vollziehen? Können die antiken Formulierungen des
Bekenntnisses noch die Hoffnung in Moderne und Postmoderne leiten? Gewiss,
schon in der Welt Homers und der epikureischen Richtung war das volle Leben auf
das Diesseits zwischen Geburt und Tod beschränkt. Die Überzeugung einer
Unsterblichkeit der Seele, wie sie die platonische Philosophie entwickelte, teilten
vielleicht eher Minderheiten. Schon die frühchristliche Verkündigung traf auf
Widerstand und Missverständnis. Und doch inspirierte der Christusglaube mit seiner
Hoffnungsdynamik viele Generationen.
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Kein Velangen nach ewigem Leben
Inzwischen hat eine andere Epoche begonnen. Die Beschränkung auf das hiesige
Leben zwischen Geburt und Tod hat sich in Europa, spätestens seit der Renaissance
und der Aufklärung, in immer neuen Wellen ausgeprägt. Heute ist sie noch viel
selbstverständlicher präsent in einem verbreiteten (nach-) religiösen Lebensgefühl.
Die neuzeitliche Hinwendung zu den Schönheiten und Aufgaben dieser Erde, der
Kampf gegen soziales und psychisches Elend drängt, im Bewusstsein vieler, alle
Jenseits-Orientierungen zurück. Die Überlebenden der Tsunami- Katastrophen und
Erdbeben brauchen zunächst nichts als diesseitige Hoffnung. So gilt auch von der
Hoffnung, was Bonhoeffer im Mai 1944 von allen großen christlichen Worten
niedergeschrieben hat: „... wir selbst sind wieder ganz auf die Anfänge des
Verstehens zurückgeworfen.“(Widerstand und Ergebung, 1977, 327)
Im Europa von heute fällt zusätzlich die enorm gestiegene zeitliche Lebenserwartung
ins Gewicht: hier gilt das Verlangen nach ewigem Leben als unnötig, vielleicht als
undankbar. Ist es nicht Glück genug, die geschenkten Jahre mit sinnvollen Aufgaben
und menschlichen Beziehungen zu erfüllen? Dann beruhigt es am Ende, zu wissen,
dass man ‚alt und lebenssatt’ von diesem Dasein einmal abtreten darf. Was quälen
kann, ist eher das verlängerte, unabsehbare Sterben, aber nicht der Tod und ein
Danach. Die Hoffnung richtet sich eher auf einen gnädigen Abschied von dieser
Erde, ohne körperliches, geistiges Siechtum, ohne andere durch eigene
Gebrechlichkeit zu überfordern. Und niemand will zu einem Endgericht auferstehen
(und jetzt schon Angst davor haben), in dem das eigene Bestehen höchst ungewiss
ist.
Neu nach christlicher Hoffnung fragen
So ist neu zu fragen: wie kann die urchristliche Hoffnungs-Weite heute noch
nachvollziehbar werden und für heute fruchtbar gemacht werden? An welche
Interessen und Erwartungen kann sie anknüpfen? Ohne dass Christen sich einem
Wunsch-Egoismus überlassen?
Was die Hoffnung herausfordert, sind die schmerzhaften Abschiede und Verluste, die
uns ereilen. Marie Luise Kaschnitz schrieb ihre Hoffnungs-Meditationen nach dem
Tod ihres Mannes. Eltern, die ein Kind durch Krankheit oder einen Unfall verlieren,
alle Opfer von Gewalt reißen die Frage auf: was können wir für sie hoffen?
Für die Liebe wirst du immer dasein
Die christliche Botschaft von der größeren Hoffnung knüpft an das Gebot der Liebe
an. Lieben heißt einem Menschen sagen: du wirst immer dasein. Du wirst immer
wichtig bleiben. Nicht nur die Lust, wie Nietzsche schrieb, auch die Liebe will
Ewigkeit. Aber wir, selbst gebrechliche Menschen, können solche Ewigkeit der Liebe
nicht verbürgen. Die Gewissheit, dass die Liebe soweit reicht, kann nur aus dem
Glauben an den Gott kommen, der selber Liebe ist und in Christus daran teil gibt. Die
Hoffnung über die Todesgrenze hin aus wurzelt in der Zusage, die im 1.
Johannesbrief so zusammengefasst wird: „Gott ist Liebe“.(1Joh 4,16)
74
Die Hoffnung hat, mit der Liebe, immer auch einen Antrieb in der Sehnsucht nach
Solidarität, nach Gerechtigkeit. “Selig sind, die hungern und dürsten nach der
Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden.“ (Matthäus 5,6) Christliche Hoffnung
nimmt das Verlangen nach Gerechtigkeit auf. Gerechtigkeit gerade für alle, denen in
diesem Leben Missachtung, Plage, Demütigung zuteil wird. Sollte das ein ewiges
Schicksal bleiben? Gerechtigkeit für die Lebenden, Gerechtigkeit für die Toten,
denen Recht auf dieser Erde nicht widerfahren ist. So verweist auch das Verlangen
nach Gerechtigkeit auf den Gott, der in Jesus Christus zusagt, den Hunger nach
Gerechtigkeit zu erfüllen. Wohl wird diese Leben schaffende Gerechtigkeit in
Christus schon offenbart. (Römer 1,17) Als soziale Wesen, die weder vollkommene
Gerechtigkeit noch unverbrüchliche Liebe sichern können, bleiben wir auf die
größere Hoffnung angewiesen, die über den Tod hinausreicht.
Aber auch wir selber, als Einzelne, mit unserer einzigartigen Geschichte von
Gelingen und Misslingen, von großen Träumen und begrenzten Erfüllungen,
bekommen es mit Verheißungen der Bibel zu tun. Paulus spricht vom hiesigen Leben
als Bruchstück. Unser Wissen ist ‚Stückwerk’, sogar alles prophetische Reden bleibt
‚Stückwerk’ (1 Kor 13,8). Alles Stückwerk aber verweist die Glaubenden auf ein
künftiges Ganzes. ‚Wenn aber kommen wird das Vollkommene, wird das Stückwerk
aufhören.’ (1 Kor 13,9) Darauf lässt sich hoffen.
Aber es geht nicht nur um ‚Stückwerk’, es geht um reales Scheitern: Zurückbleiben
hinter Erwartungen, eigenen und anderen, die Schuldgeschichte, die jedes Leben
durchzieht und bedroht. Hier entspringt die Suche nach einer Anerkennung, die allen
eigenen Widersprüchen zum Trotz, ein wahrhaftiges und gnädiges Ja sagt zur
eigenen Existenz. Gefragt ist Gottes Vergebung, die letzte Rechtfertigung des
Sünders, der sich nicht auf seine eigenen Leistungen berufen kann. Der Glaube ist
offen für die Verheißung der Gnade.
Wird aber so die Hoffnung und der Glaube nicht dem Verdacht einer infantilen, einer
illusionären Wunscherfüllung ausgeliefert? Die Einwände von Philosophen (z.B.
Ludwig Feuerbach) und Psychologen (z.B. Sigmund Freud) haben misstrauisch
gemacht gegen die Anknüpfung an anthropologische Interessen. Eine kritische
Überprüfung, eine Läuterung allzu ichbezogener Wünsche und Träume ist immer
neu aufgetragen. Genau das geschieht in den biblischen Hoffnungsschriften: sie
erweitern und hinterfragen, sie entgrenzen und verwandeln die mitgebrachten
Erwartungen. Jesus selber nimmt die umlaufenden Jenseitserwartungen so auf, dass
er sie korrigiert und zugleich übersteigt. Denen, die eine knifflige Frage nach der
Heirat in der anderen Welt vorbringen, gibt er zur Antwort: „Ihr irrt, weil ihr weder die
Schrift kennt noch die Kraft Gottes“.(Markus 12,24) Die allzu irdischen Bilder gehen
ins Leere. Aber wie könnte der Gott, der sich den Verlorenen zuwendet, sie wieder
75
ins Abseits des Todes fallen lassen? So entsteht mit dem Reich Gottes, mit der
Lebensmacht des Auferstandenen eine neue große Erwartung: Es kommt noch
MEHR und anderes. (s. - Auferstehung im Text Jesus)
Dabei treffen wir auf eine Polarität, die sich bis zum Kontrast steigern kann.
Denn das ewige Leben, das Leben jenseits des Todes beginnt keineswegs erst nach
dem eigenen körperlichen Sterben. Die Ewigkeit kommt nicht erst nach der Zeit, sie
wirkt in der Zeit, in die Zeit hinein. Das Reich Gottes ist schon mitten unter uns.
(Lukas 17,20) Mit Tod und Auferstehung Jesu hat eine neue Zeit begonnen. In
Christus ist die Zeit der end-gültigen Gnade angebrochen. (Römer 5). Mit dem
Heiligen Geist wird schon ein Stück der erhofften Vollkommenheit Wirklichkeit: Liebe,
Friede, Freude, tatsächlicher Trost. Gerade die johanneischen Schriften legen ein
großes Gewicht auf die Gegenwart ewigen Lebens. Sie verkündigen das Leben, das
ewig ist, das beim Vater war und uns erschienen ist. (1 Joh 1,3) Das ist im Grunde
schon neuzeitliches mehrdimensionales Denken. Auch die Metapher der
„Wiedergeburt“ legt die Präsenz des Erhofften nahe. Gott hat uns bereits
„wiedergeboren zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi
von den Toten.“ (1 Petrus 1,3) Das bedeutet aber auch: christliche Hoffnung hat sich
zu bewähren in einer Arbeit für das Diesseits. „Und wenn morgen die Welt
unterginge, so würde ich doch heute ein Apfelbäumchen pflanzen.“ Diese Luther
zugeschriebene Sentenz bringt treffend die Verpflichtung zu den irdischen Aufgaben
zum Ausdruck. Dietrich Bonhoeffer konnte gerade angesichts des drohenden Todes
in der Haft 1944 „die tiefe Diesseitigkeit“ des christlichen Glaubens entdecken.
Die christliche Hoffnung ist aber keine „Vertröstung aufs Diesseits“.(Paul Zulehner)
Der Apostel Paulus besteht darauf, dass die Erlösung erst in der Gestalt der
Hoffnung geschenkt ist. „Wir sind zwar gerettet, doch auf Hoffnung“. (Römer 8,26)
Das ‚Schon’ einer Gegenwart des Heils lässt sich nicht trennen von einem realen
‚Noch nicht’. Das gegenwärtige ‚Jenseits’ bedarf der Erfüllung in einem kommenden
‚Jenseits’. So hält Luther, aller Bejahung des irdischen Lebens zum Trotz, die
Hoffnung auf „den lieben Jüngsten Tag“ ungeschmälert fest. In seinem „Sermon von
der Bereitung zum Sterben“ vergleicht er das Sterben mit einer neuen Geburt. “...es
gehet hie zu, gleichwie ein Kind aus der kleinen Wohnung seiner Mutter Leib mit
Gefahren und Ängsten geboren wird in diesen weiten Himmel und Erden, das ist auf
diese Welt.. Also im Sterben auch muss man sich der Angst erwehren und wissen,
dass darnach ein großer Raum und Freud sein wird.“ (Münchner Ausgabe, 1, 356 f.).
Diese Geburtsschmerzen können auch allen Glaubenden im Sterben noch
bevorstehen. Wer Sterbende begleitet, wird dieser Erfahrung immer neu begegnen.
Die große Hoffnung widersteht einer Verdrängung des Todes.
Bilder des Kommenden
„Auferstehung der Toten und das ewige Leben“. Wie dieses Jenseits des Todes
vorzustellen ist, darüber sind undurchdringliche Schleier gebreitet. „Glauben Sie
76
fragte man mich/ An ein Leben nach dem Tode/ Und ich antwortete :ja/ Aber dann
wusste ich/ Keine Auskunft zu geben/ Wie das aussehen sollte/ Wie ich selber/
Aussehe/ Dort...“ (Marie Luise Kaschnitz, Ein Leben nach dem Tode) Auch die vielen
Hoffnungsbilder des Neuen Testaments können diese Undeutlichkeit nicht zur
eindeutigen Klarheit bringen.“ Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild“.
(1 Kor 13,12) Auch die Erfahrung mit Sterbenden enthält keine allgemein gültige
Wahrheit. Anderseits: „Anders als in Bildern lassen sich die Inhalte der Hoffnung gar
nicht in Worte fassen, denn es wird unter den Bedingungen des Anschaulichen in
Raum und Zeit von dem gesprochen, was diese Anschaulichkeit bei weitem
übersteigt.“(Marie Luise Kaschnitz, Unsere Hoffnung auf das ewige Leben, 2006,
108)
Wichtig erscheint es, dass diese Undeutlichkeit nicht in eine freudlose Resignation
hinein treibt. Die Liebe Gottes, die uns in Christus begegnet, wird am Ende nicht
ärmlicher und geringer sein als jetzt. Er will uns ja mit ihm alles schenken.(Römer 8,
32) Wohl verzichtet das Neue Testament auf breite Jenseits-Gemälde. Aber es lässt
Gläubige auch nicht in eine ‚Nacht der Bildlosigkeit’ versinken. Ähnlich wie Jesus in
einer Vielzahl von Gleichnissen vom unvorstellbaren Gottesreich redet, so entdecken
wir auch eine Vielzahl von Jenseits-Gleichnissen. Die Wahrheit der erfüllten
Hoffnung begegnet uns in einer poetischen Sprache. Sie ist darum nicht weniger
wesentlich wie die reflektierte Sprache.
Einerseits treffen wir auf Schöpfungs-Bilder, auf Bilder der „neuen Erde“, eines
neuen, anderen Lebens.
Wir erfahren von der großen Lebens-Ernte.(Markus 4,29)
‚Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.“(Lukas 23,43)
Ein Strom lebendigen Wassers wird die Lebens-Bäume tränken.(Offenbarung 22,1-2)
Es fehlt aber auch nicht an sozialen Bildern, die die Erfüllung in einem neuen
Gemeinwesen, in einer erlösten Kommunikation mit anderen anvisieren. Darin führt
das ewige Leben in das himmlische Gemeinwesen und ist bergende Heimat.
(Philipper 3,21) Am Ziel kommen wir in die Ruhe des „Sabbat“ und in das
Miteinander gemeinsamen Lobes. Vom neuen Jerusalem ist die Rede, von der
himmlischen Gottesstadt. (Hebräer 12,22) Dem entspricht die Schau eines Fest- und
Freudenmahls (Lukas 14), bei dem alle Fülle, Freude und Genüge finden werden.
Diese Bilder haben in der langen Geschichte der Kirche viele Gläubige erfreut und
erfüllt. Ihre Vielfalt lässt durchaus Freiheit auch für eine persönliche Sprache,
vielleicht auch für neue eigene Sprachbilder.
Die Identitäts-Bilder persönlicher Vollendung sind charakteristisch für die Sprache
der Hoffnung. Einen neuen Himmel und eine neue Erde erwarten, vernichtet
77
keineswegs die Hoffnung für das eigene Leben. Auch die individuellen Bilder sperren
sich gegen ein gegenständlich-buchstäbliches Verständnis. Wohl wird es in der
Erfüllung um eine „Identität“ der Personen gehen, aber doch über eine radikale
„Wandlung“ hindurch, die Paulus in 1 Korinther 15 umkreist, wenn er von einem
„geistlichen Leib“ spricht und betont: „wir werden aber alle verwandelt werden“. (1
Kor,44.51)
Bedeutsam erscheint: die Gleichnisse aus der Natur und aus dem sozialen
Miteinander sind eng verbunden mit der Erfüllung in Gottes Leben selber. Die
Sehnsucht des Gebets „Wann werde ich dahin kommen, dass ich Gottes Angesicht
schaue?“ (Psalm 42, 3) wird gestillt werden. Die Seligpreisung der Herzens-Reinen
weist darauf hin: „Selig sind, die reines Herzens sind; denn sie werden Gott schauen“
(Matthäus 5,8) Den schauen, an den wir irdisch nur glauben können; seiner Fülle
begegnen, die wir (wenn überhaupt, dann nur) im Glauben erfahren. „Gott allein
genügt“ (Dios basta): so Teresa von Avila.
Diese Konzentration auf Gott selber als Erfüllungsziel aller Hoffnung begegnet
zugleich als Aussage in Bezug auf Christus. Paulus fasst diese Hoffnung im ersten
Brief nach Thessalonike einfach (bildhaft räumlich) so zusammen: “und so werden
wir bei dem Herrn (dem Herrn und Kyrios Jesus) sein.“(1 Thessalonicher 4,17) Noch
im späten Philipperbrief bleibt sein Hoffnungsziel „bei Christus zu sein“.(Philipper
1,23) Diese elementare Hoffnung, die alle Sehnsucht in die Gottes- und
Christusgemeinschaft münden lässt, bewahrt vor allzu irdischen und sinnlichen
Hoffnungsinhalten. Die sozialen und naturhaften Bilder halten indessen fest, dass
auch Christen nicht „allzu übersinnlich“ hoffen brauchen, und der neue Himmel
zusammengehört mit einer neuen Erde, so unvorstellbar uns diese Zukunft bleiben
mag. (Küng, Ewiges Leben, 1981, 277)
‚Ich lasse mich überraschen’. Mit dieser Kurzformel hat mancher Christ seine
Hoffnung zusammengefasst. Die einzelnen Hoffnungsinhalte mögen zurücktreten.
Christlich hoffen heißt: darauf vertrauen, dass uns am Ende keine böse
Überraschung erwartet. Sondern eine freudige Überraschung, die alle kühnsten
Erwartungen übertrifft. „An der Stelle der vielen Hoffnungen die eine Hoffnung
festhalten...Was wir Tod nennen, ist die Rückseite einer ganz anderen Art von
Leben, und wir werden beim Überschritt dort hinüber mit einer uns hier nicht
vorstellbaren Klarheit uns selbst und die größere Welt zu Gesicht bekommen...hinein
in ein von Gottes Geist erfülltes Dasein ohne Raum und Zeit. Was uns tragen wird,
wird der Wind sein, den wir den Geist Gottes nennen.“(Jörg Zink, Ufergedanken,
2007, 145)
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78
Der andere Gott – damals und heute
In der Bibel und in menschlichen Erfahrungen zeigt sich Gott auch anders als im
alltäglichen Glaubensleben: Als gewalttätig, rätselhaft, verborgen, strafend, feindlich.
Was ist das für ein „guter Gott“, der von einem Vater das Opfer seines Sohnes
verlangt (Abraham und Isaak im Alten Testament) und dem rechtschaffenen Hiob
ohne Grund alles wegnimmt?
Steht das im Widerspruch zu dem Gottesbild Jesu, der oft von Gott als dem guten
Vater spricht und ihn so auch im „Vaterunser“ anspricht? Christliche Verkündigung
kann von einem evolutionär verstandenen Gottesbild aus auf das Gottesverständnis
Jesu hinführen und nach heutigen Formen der Rede von Gott fragen. (vgl. auch die
Entwicklung der Gottesvorstellungen in „Gott 9.0“)
In der Bibel und in menschlichen Erfahrungen zeigt sich Gott auch anders als im
alltäglichen Glaubensleben: Als gewalttätig, rätselhaft, verborgen, strafend, feindlich.
Leid und Tod versuchen die Menschen zu ertragen, aber der „andere“ Gott zeigt sich
als über alles Maß zerstörerisch, widersprüchlich und unglaubhaft. Kein „guter Gott“,
der von einem Vater das Opfer seines Sohnes verlangt (Abraham und Isaak im Alten
Testament) und dem rechtschaffenen Hiob ohne Grund alles wegnimmt.
Die Bezeugungen und Berichte von diesem bedrohlichen Wesen sind überwiegend
in den Frühzeiten des Glaubens entstanden, in denen Gott wie eine Naturgewalt
oder willkürlich wie andere Götter damals erlebt wurde. In den Zeiten der
Ausbreitung des Monotheismus treten die widersprüchlichen Züge im Gottesbild
zurück; aber der Tod Jesu am Kreuz wurde in der ersten Zeit des Christentums auch
als grausames Opfer verstanden, das zur Erlösung der Menschheit notwendig war.
Jesus selbst hatte ein anderes Glaubensbild von Gott: Auch als er sich am Ende von
Gott verlassen fühlte, konnte er immer noch beten „Mein Gott, ....“. Sein Gott war und
blieb „Vater“, von allem und allen, ohne die allzu menschliche Begrenzung dieses
Begriffs. Umfassend nahe allen, die ihn brauchen. Wirkend (auch und vor allem) in
denen, die ausgegrenzt sind und denen mit Opfern nicht zu helfen ist. Dieser Gott
eröffnet größere Zusammenhänge als frühere Geschichten von ihm. Er lässt auch in
dem, was verloren ist, Neues finden. Er ist noch im Kommen. Auch Christen sind frei,
Gott anders und neu zu finden – auch wenn das herkömmliche Gottesbilder
unzureichend werden lässt.
Wer an Gott als allmächtiges Wesen glaubt, wird es auch für möglich halten
(müssen), dass er Menschen so auf die Probe stellt wie Abraham mit einer Tötung
seines einzigen Sohnes Isaak, oder wie Hiob. Das steht zwar im Widerspruch zu
anderen Wesenszügen Gottes wie der Liebe zu seinem Geschöpfen, Erhaltung des
Lebens durch seine Gebote und Vergebung von Schuld, aber insbesondere der Gott
des Alten Testaments ist niemandem Rechenschaft schuldig. Auch nicht in extremen
Fällen wie in der aus der Frühzeit des Gottesglaubens stammenden Geschichte von
der von Jahwe persönlich befohlenen Opferung Isaaks durch Abraham. Juden,
79
Christen und Muslime, die sich dieser Tradition des Gottesglaubens verbunden
fühlen, haben nach Erklärungen gesucht. Diese sind z.T. auch in der Religionsgeschichte zu finden, nach der sich der Gottesglaube erheblich verändert und
entwickelt hat. Nicht einmal Tieropfer sind heute noch üblich, und („verdienstvolle“)
Opfer gibt es nur noch im übertragenen Sinn. Läßt sich am Beispiel der aus grauer
Vorzeit stammenden Abraham-Geschichte heute noch unbedingter Gehorsam
gegenüber Gott als Vorbild predigen?
Es geht darin ja auch um die Zukunft und das Wachstum des nach jüdischem
Glauben von Gott auserwählten Volkes Israel, die Gott zwar versprochen hatte, die
aber doch oft (von ihm zugelassen?) elementar gefährdet waren. Der Zugang zum
Verständnis dieser symbolischen Formen, sich an solche Gefährdungen und
Bewahrungen in der gemeinsamen und individuellen Geschichte zu erinnern und
(sicher nur von ferne) nachzuempfinden, ist für heutige Menschen wohl verstellt. Um
Erfahrungen und Bewährungsmöglichkeiten in Problem- und Krisensituationen zu
reflektieren und aufzuarbeiten gibt es andere Methoden.
Christliche Predigt wird sicherlich von einem evolutionär verstandenen Gottesbild aus
(wie G. Weßler in einer Predigt über die von Gott zur Probe Abraham befohlene
Opferung Isaaks) auf das Gottesverständnis Jesu hinführen und nach heutigen
Formen der Rede von Gott fragen – wenn denn dieser Text überhaupt noch für
einem Sonntagsgottesdienst vorgegeben wird.
Der damalige Gott war ein personal verstandener Gott, der wie andere Götter die
Menschen belohnen und bestrafen konnte, sich also um sie kümmerte, viel von ihnen
forderte und (im Alten Testament) einen gnadenlosen Alleinvertretungsanspruch
durchzusetzen befahl.
Auch der christliche Glaube rechnet mit (auch harten) Strafen Gottes, wobei die
Interpretation von persönlichen und überindividuellen Ereignissen als Strafen stark
davon abhängt, vom wem sie vorgenommen wird und welches Sündenverständnis
zugrunde liegt.
Heute gibt es von Gott zahlreiche unterschiedliche Vorstellungen. Sie zeigen, dass
sich das Gottesbild in den Religionen und auch im Christentum geändert und
entwickelt hat. Das ist Chance und Anregung für Glaubende, das eigene Gottesbild
zu überprüfen. Insbesondere die Frage, warum Gott so viel Böses bei und durch
einzelne Menschen und Völker zulässt, führt oft zu einseitiger Profilierung des
Gottesbildes. Der Theologe Matthias Kroeger weist darauf hin, dass auch Martin
Luthers Gottesbild dunkle Seiten hat, er aber Gott weder für ungerecht noch für
willkürlich handelnd hielt. „ Erst in Schaffen und Vernichten, in Gnade und Schicksal
ist die ganze helle und dunkle, gnädige und schwere Wahrheit des Göttlichen
begriffen, die wir nicht nur lieben, sondern „fürchten und lieben’ sollen.“ (vgl. auch
den folgenden Text „Gott entschuldigen?“ Das Problem der Theodizee.)
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80
Theodizee – Gott entschuldigen?
Menschen fragen bei Verbrechen, großen Übeln, Katastrophen und schwerem Leid:
Warum trifft es gerade mich? Meine Angehörigen? Warum gibt es Leid und Böses in
der Welt, warum so viel? Ist es eine Strafe (Gottes)?
Philosophie und Theologie haben sich ausführlich und seit langem mit diesen Fragen
beschäftigt, die starke Zweifel am Glauben an Gott auslösen können.
Ergebnis: Die Antworten sind unbefriedigend (s. auch „Der andere Gott“). Muss man
sich dann eben damit abfinden, dass es eine dunkle, verborgene Seite Gottes gibt,
in der das Böse seinen Grund hat? Christen sollen sich im Glauben an den Gott der
Liebe halten. (Luther)
Nach nichtpersonalem Verständnis öffnet die größere Wirklichkeit Gottes den Blick
für die Verbundenheit aller Menschen: Die Opfer von Katastrophen und
Unglücksfällen, die Kranken und Behinderten sind in einem größeren
Zusammenhang miteinander verbunden und wurzeln im gleichen Seinsgrund.
Daraus folgt Verantwortung füreinander, Bereitschaft und Fähigkeit zu
gemeinsamem Leben und gegenseitiger Hilfe.
Menschlich ist es, sich bei Verbrechen, großen Übeln, Katastrophen und schwerem
Leid die Frage zu stellen: Warum trifft es gerade mich? Meine Angehörigen? Warum
gibt es Leid und Böses in der Welt, warum so viel? Ist es eine Strafe (Gottes)?
Philosophie und Theologie haben sich ausführlich und seit langem mit diesen Fragen
beschäftigt, die starke Zweifel am Glauben an Gott auslösen können.
Für eine Mitwirkung Gottes bei Bösem und bei Leid werden meist folgende
Möglichkeiten genannt:
A) Gott ist gerecht: Er schickt das Böse als Strafe.
B) Gott ist nicht allmächtig: Er kann das Böse nicht verhindern.
C) Gott hat dem Menschen die Freiheit gegeben, auch für das Böse.
D) Gott ist nicht nur gütig und nicht gerecht; er will (auch) das Böse und schickt
Katastrophen nach für Menschen nicht erkennbaren Absichten.
E) Gott hat mit dem Gang der Welt nichts mehr zu tun (Uhrmacher-Modell).
F) Es gibt gar keinen Gott: Katastrophen als Argument für den Atheismus.
Das biblische Buch Hiob ist eine Beispielgeschichte für die Klage von Menschen,
denen ohne Verschulden großes Leid widerfährt, die aber weder von Freunden noch
von Gott zufriedenstellende Antworten erhalten.
Die oben genannten sechs Möglichkeiten, das Böse in der Welt ohne Widerspruch
zu Eigenschaften Gottes wie allmächtig und gerecht zu verstehen, wurden in vielen
Versuchen zu einer Theodizee (Rechtfertigung Gottes) aufgenommen. Sie sind nach
81
überwiegender Meinung von Theologen und Philosophen nicht oder nur zu einem
geringen Teil stichhaltig, denn

sie führen entweder zu der Überzeugung, dass das Entstehen des Bösen und
des Leids mit der Güte, Gerechtigkeit und Macht Gottes unvereinbar, also sein
Geheimnis sei.

oder kommen zu der Aussage: In der von Gott geschaffenen und nur durch ihn
wirklichen Welt ist in der Freiheit zur Evolution auch das moralisch Böse und
das naturhaft Lebensschädliche mit angelegt.
Zur Überwindung des Widerspruchs zwischen Gottes Güte und Allmacht und dem
Auftreten von Übel und Leid wird auch argumentiert:

Gott selbst leidet in seinem Sohn Jesus am Kreuz. Das Leid ist nun in Gott
aufgehoben. (Bonhoeffer und Moltmann)

Das Böse hat auch seine guten Seiten (Augustin)

Es gibt eine dunkle, verborgene Seite Gottes, in der das Böse seinen Grund
hat. Christen halten sich im Glauben an den Gott der Liebe. (Luther)

Gott ist keine Person, die der Mensch für Böses verantwortlich machen könnte.
Er ist Urgrund des Seins und Urmacht des Lebens – zu seiner Schöpfung
gehört sowohl das (für Menschen) Böse als auch das Gute. Das Universum ist
(bis jetzt) lebens- und menschenfreundlich („anthrop“).
Der liebende Gott ist eins mit dem verborgenen, unergründlichen Gott. Damit entfällt
die Vorstellung von einem allmächtigen, allgütigen, allwissenden Gott. Gott als
Urgrund umfasst den „guten“ Gott und den „bösen“ Gott. In diesem Zusammenhang
sind auch die für uns und die Umwelt zerstörerischen und leidvollen Ereignisse und
Anlagen „aufgehoben“.
Aus dieser Sicht ergeben sich weitgehende praktische Konsequenzen:
„Leiden kann auch ohne einen personal gedachten, mehr oder weniger willkürlich
(und kritisch gesehen sogar despotisch) handelnden „Gott“ ein besonderer Ort der
Lebensfindung und Wahrheits- ("Gottes"-) Erfahrung sein und werden.“
Individuelles Leiden ist nach diesem Verständnis keine Strafe Gottes, auch wenn es
offensichtlich individuell oder gesellschaftlich verursacht wurde. Krankheiten und
Fehlentwicklungen sind meist biologisch erklärbar durch die Mutation von Zellen
verursacht, die auch zur Evolution des Lebens beigetragen hat. Die davon
Betroffenen erleiden stellvertretend mehr als andere die Nachteile dieser Offenheit
für Entwicklung und Wachstum, was sich durch anerkennende und helfende
Gemeinschaft mit weniger Betroffenen zwar nicht ausgleichen, aber doch erträglicher
machen lässt.
82
Auch Erdbeben und Vulkanausbrüche sind keine Gottesstrafen, sondern natürlich
erklärbare Erscheinungen der Erdentwicklung, denen in Zukunft durch erdbebensichere Bauweise, Tsunamiwarnungen u.ä in internationaler Zusammenarbeit
entgegengewirkt werden kann. Das Gleiche gilt auch für Hungersnöte und
Epidemien, selbst dann, wenn ihre Bekämpfung noch in den Anfängen steckt.
Nach nichtpersonalem Verständnis öffnet die größere Wirklichkeit Gottes den Blick
für die Verbundenheit aller Menschen: Die Opfer von Katastrophen und
Unglücksfällen, die Kranken und Behinderten sind in einem größeren
Zusammenhang miteinander verbunden und wurzeln im gleichen Seinsgrund.
Daraus folgt Verantwortung füreinander, Bereitschaft und Fähigkeit zu
gemeinsamem Leben und gegenseitiger Hilfe. Daraus folgt auch ein aktives
Verhindern von Aktionen (z.B. Krieg), die vorhersehbar Leiden erzeugen. Die Opfer
des Bösen und die Leidenden sind nicht Abgesonderte und defizitäre Sonderfälle,
sondern haben das volle Leben mit gemeinsamem Nehmen und Geben, einbezogen
und gleichwertig, wie es ja schon mit Behinderten praktiziert wird und dem
Verständnis Gottes als einem großen verbindenden „Reich“ entspricht.
In der von Gott geschaffenen Welt ist in der Freiheit zur Evolution auch das Böse und
Lebensschädliche als Möglichkeit mitangelegt.
Weil das doppelte Verständnis des christlichen Gottes fast unvermeidlich ist – der
liebende, lebensfreundliche Gott ist auch der Strafende, Zerstörende – gilt es, die
Gottesbilder nach heutigem Wissensstand zu prüfen. Deshalb der Versuch einer
Interpretation des „anderen Gottes“ – damals und heute.
83
Erweitertes Inhaltsverzeichnis der „Kernfragen des Glaubens mit Anlagen
Was ist Glaube?
3
Glaube und Wissen 6
Naturwissenschaft und Glauben 8
Zwischen Naturwissenschaft und Glauben gibt es keinen Widerspruch (mehr). ............... 9
Gibt es ein Einwirken Gottes auf das Weltgeschehen? ............................................................... 10
Zwischen Naturwissenschaft und Religion gibt es Berührungspunkte................................ 13
Kommunikation mit Gott
14
Gott als Person erfahren ........................................................................................................................ 15
Gott ist größer und anders als unsere Vorstellungen von ihm ............................................... 16
Gott ist auf verschiedene Weise ansprechbar, nicht nur wie eine Person. ......................... 17
Gott in der Mystik erfahren?
17
Die neue Faszination ............................................................................................................................... 17
Einige Grundzüge mystischer Spiritualität im Christentum .................................................... 18
Erfahrungen auf dem Weg führen in das Zentrum der Mystik ................................................ 19
Innen die Mitte finden ............................................................................................................................ 20
Unsagbares sagen..................................................................................................................................... 20
Wandlungen im Gottesbild ................................................................................................................... 20
Mystik vertritt das Ineinander von persönlichen und überpersönlichen Zügen Gottes.
......................................................................................................................................................................... 21
Gefahren und Rückfragen .................................................................................................................... 22
Neue Chancen mystischen Glaubens ................................................................................................ 23
Funktionen und Wirkungen des Betens 26
Was ist ein Gebet? .................................................................................................................................... 26
Zu welchem Gott wird gebetet? ........................................................................................................... 27
Beten als Ausdruck des Glaubens – meines Glaubens .............................................................. 28
Arten und Formen des Gebets ............................................................................................................. 29
Funktionen des Gebets:.......................................................................................................................... 30
7. Beten mit Kindern – warum und wie ........................................................................................... 34
8. Kritik am Gebet .................................................................................................................................... 35
9. Die Zukunft des Gebetes.................................................................................................................... 36
Jesus – wer war und wer ist das?
38
Jesus der Mensch ...................................................................................................................................... 38
„Meine“? Kirche
41
Kirche: Gemeinschaft im Glauben ...................................................................................................... 42
Schuld / Sünde / Vergebung
53
Schuld zugeben? Um Gottes willen! Brauchen wir eine neue Schuldkultur? ..................... 53
Schuld – was ist das? ............................................................................................................................... 53
Sünde ist Schuld aus der Sicht des Glaubens .................................................................................. 54
Vergebung gegen Schuld und Sünde.................................................................................................. 59
Voraussetzungen für den Empfang der Vergebung. .................................................................... 59
Von der vergangenheitsorientierten Einstellung zu neuen Wegen ......................................... 62
Schuld zugeben – nur wenn es gar nicht anders geht? ............................................................... 63
Auf dem Weg zu einer neuen Schuldkultur .................................................................................... 64
Emotionale Abwertung der Gegenseite und Vergeltung vermeiden ........................................ 65
Auferstehung der Toten, Jüngstes Gericht, Ewiges Leben
66
Bilder für das Ewige? .............................................................................................................................. 67
Das Jüngste Gericht – die größere Wirklichkeit............................................................................ 67
84
Hoffen über den Tod hinaus?
72
Überlieferte Hinweise ............................................................................................................................ 72
Neue Verstehensansätze........................................................................................................................ 73
Bilder des Kommenden.......................................................................................................................... 76
Der andere Gott – damals und heute
79
Theodizee – Gott entschuldigen? 81
Anlagen
87
Gott im „Himmelreich“ und auf dem „Feld“
Alle Vorspanne
87
Was ist Glaube?
87
87
Glaube und Wissen .................................................................................................................................. 87
Naturwissenschaft und Glauben ......................................................................................................... 88
Kommunikation mit Gott....................................................................................................................... 88
Gott in der Mystik erfahren? ................................................................................................................ 88
Funktionen und Wirkungen des Betens .......................................................................................... 88
Jesus – wer war und wer ist das? ........................................................................................................ 89
„Meine“? Kirche......................................................................................................................................... 89
Schuld / Sünde / Vergebung ................................................................................................................. 89
Auferstehung der Toten, Jüngstes Gericht, Ewiges Leben ......................................................... 89
Hoffen über den Tod hinaus? ............................................................................................................... 90
Der andere Gott – damals und heute ................................................................................................. 90
Theodizee – Gott entschuldigen? ........................................................................................................ 90
Gott im „Himmelreich“ und auf dem „Feld“
Gott als „Kraft“
91
96
„Wort zum Sonntag“ 15.1.12
98
Der andere Gott – damals und heute
Predigt 102
Gottes Bild im Werden, in: Gott 9.0 von W. und M. Küstenmacher 107
Einzelzuweisungen. ...............................................................................................................................110
Versuch einer Bewertung....................................................................................................................120
Darf’s ein bisschen mehr sein? Wort zum Sonntag 21.1.12 121
Mit Kindern beten – warum und wie? Mit Vorschlägen für die Praxis
123
Kinder brauchen das Gebet ................................................................................................................123
Praxisteil ...................................................................................................................................................126
Glaube ist ein Geschenk 129
Methoden und Wege zu mystischer Erfahrung 133
Inhalt der Anlage „Wege und Methoden zu mystischer Erfahrung“: ..................................133
Verwunderung und Staunen ..............................................................................................................134
Ein „zweiter Zustand mystischer Versenkung“ lässt „Innere Bilder und subtile
Phänomene erfahren“. .........................................................................................................................134
Ins Herz der Bilder eindringen .........................................................................................................135
Zeuge-Bewusstsein: Der Geist bezeugt unseren Geist ..............................................................135
„Die Bilder zerschmelzen lassen ......................................................................................................135
„Dritter Zustand mystischer Versenkung: ........................................................................................136
Formlose Zustände erfahren - die bilderlose Schau ..................................................................136
„Das Leeren der Bilder“ .......................................................................................................................136
Nicht-Gott und Nicht-Bild erfahren .................................................................................................137
„Die inwendige Gottesschau ...............................................................................................................137
85
Das letzte Hindernis ..............................................................................................................................138
Vierter Zustand mystischer Versenkung .......................................................................................138
Gottes Auge ist mein Auge ...................................................................................................................138
„Eingefaltetsein .......................................................................................................................................139
Einssein in Christus ...............................................................................................................................139
„Wohin nach der nondualen Erfahrung? .......................................................................................140
Persönliche Beiträge von Mitgliedern des theol. Arbeitskreises
141
Von Reinhard Crämer, E. Hirschler, H. Gärtner-Schultz, W. Grau .........................................141
Betrachtung zum Arbeitskreis-Thema „Das Gottesbild heute“ von Eberhard Hirschler
.......................................................................................................................................................................142
Passion. Ein Gedicht von Dr. Heiderose Gärtner.........................................................................143
Meditation zu Ostern. Von Dr. Werner Grau ................................................................................144
Anmerkungen zu „Gott 9.0“
147
86
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Anlagen zu „Kernfragen des Glaubens“ lt. Verzeichnis:
Die Anlagen werden durch Klicken auf den Titel angezeigt.
Zurück zur vorigen Kursorposition mit den Tasten alt+ctrl+z, wenn nicht anders
eingestellt.
Alle Vorspanne
Anlagen zum Bild Gottes
Gott im „Himmelreich“ und auf dem „Feld“
Gott als Kraft
„Wort zum Sonntag“ 15.1.12
Der andere Gott – damals und heute
Predigt
Gottes Bild im Werden, in: Gott 9.0
Darf’s ein bisschen mehr sein? Wort zum Sonntag 21.1.12
Anlagen zum Glauben
Mit Kindern beten – mit Praxisvorschlägen
Glaube ist ein Geschenk
Methoden und Wege zu mystischer Erfahrung
Persönliche Beiträge von Mitgliedern des theol. Arbeitskreises
Alle Vorspanne
Was ist Glaube?
Vom Verständnis dessen, was mit „Glaube“ gemeint ist, hängt auch sein Inhalt ab: Ist
es eine besondere Erkenntnisform, die weiter reicht als Gefühl und Verstand? Oder
eine Grundhaltung, die das Handeln bestimmt? Worin liegt der Unterschied von
Glauben und Wissen, von Religion und Naturwissenschaft? Wie kommen Menschen
zum Glauben und welche Veränderungen sind festzustellen, zu wünschen?
Anerkennung des Glaubens anderer auch bei erheblichen Unterschieden.
Glaube und Wissen
In welchem Verhältnis stehen Glaube und Wissen? Nicht erst seit der Aufklärung
werden Wissenschaft und Wissen als die überlegene Erkenntnisform gegenüber dem
Glauben angesehen. Wissenschaft und insbesondere Naturwissenschaft wird für
den besten Weg zur Erkenntnis der Wirklichkeit gehalten, auch weil er zur
Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen beiträgt. Wird der Glaube
demgegenüber zu gering eingeschätzt? Woher lassen sich heute und in Zukunft
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Lebenssinn und Wertbewusstsein empfangen? Es ist notwendig, Glaube und
Wissen zutreffend zu unterscheiden und eine Vermischung zu vermeiden.
Naturwissenschaft und Glauben
Gibt es eine Konkurrenz zwischen Naturwissenschaft und Glauben? Haben manche
naturwissenschaftliche Erkenntnisse Vorstellungen des Glaubens verdrängt – wie
z.B. beim Verständnis der Entstehung der Welt und des Lebens? Sind
naturwissenschaftliche Erkenntnisse mit einem Eingreifen Gottes in den
Geschehensablauf zu vereinbaren? Oder ist vielmehr das Verhältnis der beiden
Erkenntnisformen neu zu bestimmen? Können sie sich gegenseitig ergänzen und
fördern? Unterschiede sollen nicht verwischt werden. Aber es gibt Berührungspunkte
zwischen Naturwissenschaft und Glauben. Die Begrenztheit beider Erkenntniswelten
ist offenkundig. Keine kann einen berechtigten Anspruch auf die Erfassung der
Gesamtwirklichkeit erheben.
Kommunikation mit Gott
Ist es möglich, Verbindung mit Gott aufzunehmen – ihm etwas mitzuteilen oder etwas
von ihm zu empfangen? Für betende Gläubige ist das selbstverständlich. Aber nicht
nur im Blick auf neuere naturwissenschaftliche Erkenntnisse ist zu fragen, was mit
„Offenbarung“ gemeint ist und mit der Bezeichnung der Bibel als „Gottes Wort“.
Auch in der Theologie verändert sich die Kommunikation mit Gott, wenn es von ihm
auch andere Vorstellung gibt als die einer – wie einen Menschen anzusprechenden
– Person . Wie wirkt es sich in der Kommunikation mit Gott aus, wenn mehr als
früher daran gedacht wird, dass Gott größer und anders ist als unsere Vorstellungen
von ihm? Ist er dann auch anders und auf verschiedene Weise ansprechbar?
Gott in der Mystik erfahren?
Mystische Glaubensformen finden zunehmendes Interesse. Bieten sie andere,
tiefergehende Erfahrungen an als die traditionelle kirchliche Frömmigkeit? Lässt
sich durch besondere Arten von Meditation ein Einswerden mit Gott erreichen? Wie
verändert sich das Gottesbild durch mystische Glaubenspraxis? Gelingt es, „das
Unsagbare zu sagen“?
Mystik vertritt das Ineinander von persönlichen und überpersönlichen Zügen Gottes.
Gott kommt nahe: Im Alltäglichen gibt es ein Leben in der Gegenwart Gottes. Er ist
ebenso radikal immanent wie transzendent. Gott „in uns“ und „über uns“ gehören
zueinander.
Aber auch kritische Fragen sind zu stellen: Ist die Überschreitung eines personalen
Gottesbilds möglich, ohne Christus als „Angesicht“ des unsichtbaren Gottes
aufzugeben?
Zahlreiche Methoden der Kontemplation bieten auch den Interessierten Zugang zu
mystischer Erfahrung, die sich nicht gerade besonders begabt dafür fühlen. Einige
davon werden kurz in der Anlage aufgeführt.
Funktionen und Wirkungen des Betens
Gerade weil es so viele unterschiedliche Arten, Formen und Bewertungen des
Betens gibt, ist es wichtig, eine Definition des Gebets zu versuchen. Auch nach den
(zahlreichen!) Funktionen und Auswirkungen des Gebets ist zu fragen. Dazu
gehören auch die Rückwirkungen des Gebets auf das Individuum und auf eine
88
Gemeinschaft. Zu welchem Gott wird gebetet? Die Antwort darauf fällt bei Kindern
anders aus als bei Erwachsenen und alten Menschen. Die Berücksichtigung der
Kritik am Gebet muss das Beten nicht erschweren oder verhindern, sondern kann es
bewusster werden lassen. Dafür gibt es einen Praxisvorschlag.
Jesus – wer war und wer ist das?
Woher kommt das eigene Verständnis von Jesus? Es gibt Romane und historische
Darstellungen über ihn, Filme, Musik, und das Neue Testament in der Bibel, nicht zu
vergessen die vielen Abbildungen und Kreuze in den Kirchen und die kirchliche
Lehre. Aus all dem kann ausgewählt und das eigene Jesusbild geformt werden, das
von „Jesus der Mensch“ bis hin zu „Gottes Sohn“ und Weltenrichter am Ende der Zeit
reicht. Welche Bedeutung hat Jesus für den Glauben in dieser Zeit? Ist hauptsächlich
seine Lehre und das Vorbild seines Lebens wichtig oder sein Tod als Opfer zur
Vergebung der Sünden und seine Auferstehung als Beginn neuen Lebens?
„Meine“? Kirche
Auch das Verständnis der Kirche hat sich gewandelt. Ist das eine Organisation, eine
von Jesus gegründete (Lebens-? Glaubens-?)Gemeinschaft, die Verwalterin
göttlicher Gnade oder die Vertreterin und Interpretin des göttlichen Willens hier auf
Erden? Für die eigene Antwort auf solche Fragen sind nicht nur die
Kirchengeschichte, die kirchliche Lehre und das christliche Glaubensbekenntnis zu
berücksichtigen, sondern auch die Kritik an der Kirche und das zunehmende
Auftreten anderer Religionen. Ist auch die Frage „Was habe ich von einer
Mitgliedschaft in der christlichen Kirche?“ berechtigt? Welchen Wert hat die
Lebensbegleitung der Kirche (u.a. mit Taufe, Konfirmation, Eheschließung,
Bestattung)? Das Nachdenken darüber kann das eigene Verhältnis zu dieser
Organisation bewusster, ergiebiger und aktiver werden lassen.
Schuld / Sünde / Vergebung
Für den Stand und die Entwicklung der gesellschaftlichen Schuldkultur ist das
Verständnis der Begriffe Schuld, Sünde und Vergebung grundlegend. Sowohl eine
Definition wie auch das Verhältnis der Begriffe zueinander ist schwierig. Es stellen
sich u.a. folgende Fragen:
Wie gehen wir verantwortungsvoll mit unserem täglichen Schuldigwerden um?
Was bringt die Ausweitung des Schuldbegriffs auf das religiöse Sündenverständnis?
Welchen Wert hat und was bewirkt Vergebung?
Wie bringen wir die Bereitschaft auf, Schuld anderer zu verzeihen?
Kann der persönliche Glaube dabei helfen?
Welche Rolle kommt für Christen bei dieser Frage Jesus zu ?
Eine Vertiefung beim Verständnis von Schuld und Sünde kann zu mehr Gerechtigkeit
führen und neue Chancen auch bei schwerer Schuld eröffnen.
Auferstehung der Toten, Jüngstes Gericht, Ewiges Leben
Können wir aus dem Glaubensbekenntnis Passagen auslassen, nur „weil es uns
heute schwer fällt, an Auferstehung und Ewiges Leben zu glauben?“ Ist ein
christlicher Glaube auch ohne Auferstehung der Toten, Jüngstes Gericht, Ewiges
Leben und Jenseits möglich? Es wird zwar heute weitgehend auf bildhafte
Vorstellungen zu diesen Glaubensinhalten verzichtet (wie z.B. in „Hoffen über den
Tod hinaus?“), aber positive Aussagen und Interpretationen dazu sind selten. Die
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folgende zum Thema „Jüngstes Gericht“ versucht eine Erklärung auch ohne
„Jenseits“.
Hoffen über den Tod hinaus?
Für eine Hoffnung über den Tod hinaus gibt es viel Ermutigung und Zeugnis.
Erstaunlich, wie viel früher Kirche, Gläubige und Künstler über das Leben nach dem
Tod wussten. Wird das heute noch akzeptiert? Als Begründung hierfür wird die
Berufung auf Jesus und seine Auferstehung herangezogen; aber doch auch gefragt,
ob solche antiken Formulierungen des Bekenntnisses noch die Hoffnung in Moderne
und Postmoderne leiten kann. Und wer will schon zu einem Endgericht auferstehen
(und jetzt schon Angst davor haben), in dem das eigene Bestehen höchst ungewiss
ist?
Trotzdem hat die christliche Botschaft den Mut und die Zuversicht zu einer größeren
Hoffnung, indem sie an das Gebot der Liebe anknüpft: Lieben heißt einem
Menschen sagen: du wirst immer dasein. Die Hoffnung über die Todesgrenze hinaus
wurzelt in der Zusage: „Gott ist Liebe“.(1Joh 4,16)
Der andere Gott – damals und heute
In der Bibel und in menschlichen Erfahrungen zeigt sich Gott auch anders als im
alltäglichen Glaubensleben: Als gewalttätig, rätselhaft, verborgen, strafend, feindlich.
Was ist das für ein „guter Gott“, der von einem Vater das Opfer seines Sohnes
verlangt (Abraham und Isaak im Alten Testament) und dem rechtschaffenen Hiob
ohne Grund alles wegnimmt?
Steht das im Widerspruch zu dem Gottesbild Jesu, der oft von Gott als dem guten
Vater spricht und ihn so auch im „Vaterunser“ anspricht? Christliche Verkündigung
kann von einem evolutionär verstandenen Gottesbild aus auf das Gottesverständnis
Jesu hinführen und nach heutigen Formen der Rede von Gott fragen. (vgl. auch die
Entwicklung der Gottesvorstellungen in „Gott 9.0“)
Theodizee – Gott entschuldigen?
Menschen fragen bei Verbrechen, großen Übeln, Katastrophen und schwerem Leid:
Warum trifft es gerade mich? Meine Angehörigen? Warum gibt es Leid und Böses in
der Welt, warum so viel? Ist es eine Strafe (Gottes)?
Philosophie und Theologie haben sich ausführlich und seit langem mit diesen Fragen
beschäftigt, die starke Zweifel am Glauben an Gott auslösen können.
Ergebnis: Die Antworten sind unbefriedigend (s. auch „Der andere Gott“). Muss man
sich dann eben damit abfinden, dass es eine dunkle, verborgene Seite Gottes gibt,
in der das Böse seinen Grund hat? Christen sollen sich im Glauben an den Gott der
Liebe halten. (Luther)
Nach nichtpersonalem Verständnis öffnet die größere Wirklichkeit Gottes den Blick
für die Verbundenheit aller Menschen: Die Opfer von Katastrophen und
Unglücksfällen, die Kranken und Behinderten sind in einem größeren
Zusammenhang miteinander verbunden und wurzeln im gleichen Seinsgrund.
Daraus folgt Verantwortung füreinander, Bereitschaft und Fähigkeit zu
gemeinsamem Leben und gegenseitiger Hilfe.
zurück zum Inhaltsverzeichnis der Anlagen
I. Anlagen zum Verständnis Gottes
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Gott im „Himmelreich“ und auf dem „Feld“
Viele Namen und Vergleiche für Gott legen es nahe, von ihm als einem Feld zu
sprechen, in dem er wirkt. Das Wort Feld deutet auf den Zusammenhang des
Wirkens von Gott als Geist und Kraft hin. Es reicht weit über das kleine Umfeld von
einzelnen Menschen und Gruppen hinaus und kann eine Metapher für die
überpersönliche Alll-Gegenwart Gottes und seine größere Wirklichkeit sein. Nach
neueren naturwissenschaftlichen Erkenntnissen ist darin ein Zusammenwirken von
geistigen und physikalischen Kräften möglich.
Das Gleichnis vom Feld
Mit dem Himmelreich verhält es sich wie mit einem Kraftfeld.
Wir sehen es nicht und können es auch sonst nicht sinnhaft wahrnehmen. Aber
dennoch ist es da. So existiert es im Mikrokosmos - im subatomaren Bereich. Und so
breitet es sich auch überall im großen Kosmos aus - in der schieren Unendlichkeit
des Weltalls.
Nur wenn Teilchen und Testkörper sich in ihm bewegen, zeigt sich eine Wirkung.
Und man erkennt seine Natur und kann seine Kräfte messen.
Die Wirkungen aber sind unterschiedlich.
Das Gleichnis spricht vom Reich Gottes. Und es beschreibt eine Analogie: „Mit dem
Himmelreich verhält es sich wie ....". Was dann folgt, ist nicht das Himmelreich
selbst. Das Himmelreich ist nicht deckungsgleich mit einem physikalischen Kraftfeld
oder dem subatomaren Bereich oder dem Kosmos. Und die Parameter der Physik
sind nicht zur Beschreibung des Reiches Gottes anzuwenden. Ja, es geht
nicht einmal um die Statik oder Struktur| dieses gleichnishaften Feldes, das dem
Himmelreich ähnlich sein könnte. Vielmehr liegt der wesentliche Akzent auf
Bewegung, auf Dynamik und Wirkung.
So wäre also auch eine topologische Beschreibung des Himmelreiches, hätte man
sie tatsächlich vorliegen, ebenfalls umgekehrt nicht als Bild für ein abstraktes
physikalisches Feld geeignet - also auch nicht für die Schöpfung, die man ja auf
solche Felder reduzieren kann.
Dieses Gleichnis macht es nicht anders als die berühmten Gleichnisse Jesu vom
Reich Gottes: es nimmt beschreibend« Elemente aus unserer erfahrbaren
Wirklichkeit, stellt Beziehungen her und konstruiert ein Geschehen. Und aus dieser
Gesamtheit leiten sich Erkenntnisse ab, die ähnlich oder analog sind Ereignissen, die
mit dem Reich Gottes zu tun haben. Auf diese Weise bekommen wir also eine
Ahnung vom unsichtbaren Himmelreich.
All diesen biblischen Bildern gemeinsam ist, dass es sich nicht um eine statische
Beschreibung handelt - etwa: das Himmelreich befindet sich an einem bestimmten
Ort fernab in den Tiefen des Weltalls oder gar jenseits von unserer Welt; oder: es ist
ab einem geschichtlichen Zeitpunkt t in der Zukunft zu erreichen; oder es ist auf
diese oder jene Art eingerichtet. So redet Jesus nicht, und deshalb lässt sich das
Himmelreich auch nur schwer bildlich darstellen. - Nein, das Reich Gottes wird durch
eine Dynamik beschrieben. In den Gleichnissen geht es immer um Bewegung, um
eine Handlung, um Aktion. Es geschieht etwas. Das Reich Gottes ist nicht das
91
Senfkorn, sondern der Vorgang des Wachsens aus dem Samen; es ist nicht die
Ähre, sondern der Vorgang der Vervielfältigung des einen Korns. Ähnlich ist es mit
den Handlungen zwischen den Figuren, zwischen Herr und Knecht,
Weinbergsbesitzer und Arbeiter usw. Aus dem Ablauf des Geschehens selbst
entwickelt sich ein Kraftfeld zwischen Gott und uns - sein Reich. Es ist sozusagen im
Hintergrund immer da und realisiert sich jedes Mal wieder neu zwischen Gott und
uns oder zwischen unseren Nächsten und uns - je nachdem, ob wir es annehmen
oder nicht.
Das hier konstruierte „Gleichnis vom Feld" besteht aus nur vier Versen. Zu Anfang
steht eine Grundaussage, eine Behauptung: „Mit dem Himmelreich verhält es sich
....". Der Grundbezug ist hergestellt: es wird etwas über das Reich Gottes folgen.
In den Versen 2 und 3 findet eine Qualifizierung der Gleichniselemente
statt, ähnlich wie oben angedeutet. Seine grundsätzlichen Qualitäten werden
erwähnt: unsere Möglichkeiten es zu erkennen und sein Wirkungsbereich. Und im
vierten und letzten Vers schließlich wird dahin geführt, worauf es eigentlich ankommt:
„Die Wirkungen". Kernaussagen sind die Verse 1 und 4 in ihrem gegenseitigen
Bezug aufeinander und ihrer Verknüpftheit untereinander.
Die zentralen Begriffe, die zur Illustration gebraucht werde| sind: Himmelreich,
Kraftfeld, Kosmos, Teilchen / Testkörper, Bewegung, Wirkung, Natur, Kraft. Bis
auf das Wort „Himmelreich“ findet sich kein einziger dieser Begriffe in irgendeinem
Gleichnis Jesu. Seine Begriffswelt entstammt der alten agrarischen und
Handelsumgebung seiner Zeit. Dennoch soll dasselbe Reich Gotte gleichnishaft mit
den Vokabeln der Gegenwart erschlossen werden Deshalb ist das Wort
„Himmelreich" dafür auch einzig dasselbe geblieben.
Anfragen und Analogien
Im Feldgleichnis wird eine technisch-wissenschaftliche Welt gleich im ersten Vers
dem Transzendenten, dem Himmelreich oder Reich Gottes gegenübergestellt.
Gleichsam als Aufforderung, aus der nachfolgenden Präzisierung Analogien für
Elemente des Himmelreichs zu erschließen. Der Name Gottes kommt nicht vor.
Christen wissen jedoch, dass - wenn vom Himmelreich die Rede ist - sich an diesem
Ort Gott erfahren lässt. Insofern ist Gott auch im ersten Vers implizit genannt.
Daraus kann gefolgert werden: Gott erzeugt so etwas wie ein Kraftfeld. Das will der
Text gleich zu Anfang sagen. Oder anders ausgedrückt: Es gibt ein Himmelreich; und
dieses lässt sich wie durch eine Kraft erfahren. Sie existiert.
Ein Gemeinsames hat das Himmelreich auf jeden Fall mit physikalischen
Kraftfeldern: so wie sie Entfernungen überbrücken, bleiben sie zunächst unsichtbar
für den Beobachter. Bis zu dem Zeitpunkt, wo aus dem passiven Beobachter ein
aktiv Beteiligter wird. Das gilt auf jeden Fall für Felder der Physik. Diese haben die
Eigenschaft, dass sie erst real werden, wenn durch aktive Beobachtung eine
Veränderung an ihnen vorgenommen wird. Und das ist aber zugleich auch ein
Nachteil. Denn das bedeutet, dass sie niemals ungestört wahrgenommen werden
können. Erst durch das Hinzufügen einer Dynamik, die von einer
Versuchsanordnung ausgeht, werden Eigenschaften des Feldes sichtbar gemacht.
Das Schöne an unserem Gleichnis ist, dass für das Himmelreich Gleiches gilt. Wie
wir sehen werden, ist es erfahrbar erst durch Intervention, durch handelnde Akteure sozusagen im Rahmen einer beschreibbaren Versuchsanordnung. Somit gibt es also
92
vom Grundsatz her Entsprechungen zwischen physikalischer Welt und Himmelreich.
- Oder sogar Überlappungen, Interferenzen, Rückkopplungen?
Wir nähern uns über eine neuzeitliche Interpretation, einer „feldtheoretischen
Analyse", uralten Manifestationen und Beobachtungen.
Und schon stellen sich Unsicherheiten ein. Wie wir wissen bietet die Physik vier
verschiedene Wechselwirkungen an, die durch Felder beschreibbar sind:
Gravitation
Elektromagnetismua
Schwache und starke Wechselwirkung.
Welcher Art könnte nun die gültige Bezugsebene für uns Gleichnis sein? Oder gibt
es gar beim Himmelreich auch verschiedene „Wechselwirkungen" zu
berücksichtigen? Wirkt das Reich Gottes als Feld immer und überall oder nur an
bestimmte Orten zu bestimmten Zeiten? - Lassen wir das im Augenblick noch offen.
Vers (1) spricht nicht von einem Feld allgemein, sondern ganz konkret schon von
einem Kraftfeld. Bewusst ist das mystische Wort von der „Kraft" hier eingebracht
worden. Es soll auch als Einstieg in die im Folgenden zu entwickelnden Analogien
dienen. Was sagt di« Heilige Schrift zur „Kraft"?
Paulus schreibt im Epheserbrief: „Wie überschwänglich groß ist seine Kraft an uns,
die wir glauben, weil die Macht seiner Stärke bei uns wirksam wurde."
Paulus gebraucht in seinem Schreiben drei Begriffe, die nach unserem
Sprachgebrauch anscheinend austauschbar sind: Kraft, Macht und Stärke: „wie
überschwänglich groß (ist) seine Kraft an uns,
weil die Macht seiner Stärke bei
uns wirksam wurde ...."
Diese Begriffe finden wir auch sonst in der Bibel an vielen Stellen, insbesondere in
den Psalmen. Aber auch im Vaterunser: „dein ist die Kraft und die Herrlichkeit". Es
läuft alles auf die eine große universale Wirksamkeit Gottes hinaus, auf die Kraft
Gottes, die alles zusammenhält und alles bewegt: die Kraft, die schon ganz am
Anfang wirksam war, und durch welche die Feste zwischen den Wassern errichtet
wurde, um das Chaos der Urflut zu bannen, damit ein Lebensraum für die Schöpfung
geschaffen werden konnte. Die Kraft, durch die Christus gewirkt hat und mit der er
vom Tode erweckt wurde. Eine Kraft, die die Grenze zwischen Leben und Tod öffnen
oder schließen kann. Die gleiche Kraft, die in den Menschen Resonanz finden kann
zur Stärkung des eigenen Glaubens. Diese Kraft, diese Wechselwirkung, im Feld des Himmelreichs. Transzendent und
gleichzeitig wirksam in der Gegenwart unserer Welt. Das unendlich Kleine und das
kosmische Große umfassend.
Wie sieht dann die Versuchsanordnung zur Messung, zur aktiven Störung des
Feldes „Reich Gottes" aus? - Um diese Frage zu beantworten, müssen wir einige
unverzichtbare Komponenten identifizieren - Komponenten, die gleichzeitig
Anordnung und Einbezogene beschreiben. Wie es sich für eine typische
Feldsituation gehört:
Da ist auf der einen Seite Gott. Und da ist ein Mensch, ein einzelner Mensch, auf der
anderen Seite. Das ist die Minimalkonfiguration. Notwendig für das
Zustandekommen für eine Wechselwirkung. Die Kraft geht von Gott aus, der Mensch
registriert sie, wenn er seine Antennen eingeschaltet hat, bzw. wenn Gott des
Menschen Antennen so stimuliert hat, dass diese auf Empfang geschaltet sind.
93
Entfernungen spielen keine Rolle. Sie können unendlich oder gleich Null sein - also
nichts mit „umgekehrt proportional zum Entfernungsquadrat". Aber durchaus auch
physikalisch denkbar wie eine Wechselwirkung.
Hier haben wir also die Möglichkeit, das Potenzial für einen Austausch über „göttliche
Feldquanten" zwischen Gott und den Menschen. In dieser statischen
Ausgangssituation bleibt das Reich Gottes jedoch unsichtbar.
Im nächstmöglichen Schritt schiebt sich zwischen Gott und den Menschen ein
weiterer Mensch. Jemand dringt in das Kraftfell des Himmelreiches ein und erzeugt
sozusagen eine Turbulenz in dem bis dahin relativ homogenen Feld. Eine
Komplexität entsteht durch das Zusammenwirken von drei separaten Kraftquellen.
Und jetzt ist alles völlig offen. Denn wir wissen nicht, ob der dritte Partner zunächst
auf Gott zugehen möchte, ob Gott ihn anspricht, oder ob er nur einmal mit seinem
Mitmenschen kommunizieren möchte.
Der „Neue" agiert so ähnlich wie ein Testpartikel, welches in ein existierendes
Kraftfeld hineingeschoben wird - wie eine Messsonde. Und die Messergebnisse
hängen genauso von den existierenden Feldeigenschaften ab wie von den
Qualitäten des Testkörpers. Die konkrete Wechselwirkung ist anfangs offen.
Ähnlich verhält es sich, wenn anfänglich nur zwei Menscher beieinander sind. Ihre
Interaktion kann durchaus banal sein. Sie kann aber höchste Energien mobilisieren,
wenn durch irgendeinen Umstand Gott ins Spiel kommt. Das kann geschehen, ohne
dass Gott überhaupt benannt wird. Sein Feld wirkt beispielsweise in jedem Akt der
unvoreingenommenen Barmherzigkeit und der Nächstenliebe. So wird Gottes
Gerechtigkeit, durch die er sich dem Einzelnen zuwendet, als menschliche
Gerechtigkeit weitergegeben. So leitet sich das zweite Liebesgebot aus dem ersten
ab. So wie ein Kraftfeld wirkt. Das Himmelreich.
Wir halten fest: in einer statischen Feldkonstellation zwischen Gott und Mensch oder
Mensch und Mensch oder Gott und Mensch und anderen Menschen baut sich ein
Potenzial auf, welches zunächst noch wertneutral erscheint. Erst durch eine
Bewegung, eine Initiative, wird etwas angestoßen, das dann in eine ganz bestimmte
Richtung läuft. Erst dann wird entschieden, wohin die Reise geht. Vorher ist alles
unsichtbar.
Uns fehlen neben der alles beherrschenden Kraft noch einige weitere Analogien, z.
B. Energien. Aber darüber haben wir schon etwas erfahren: das gerade genannte
Potenzial innerhalb der Gott-Mensch-Versuchsanordnung.
Und Felddichte, Schwankungen von Kraftkonzentrationen über Fläche und Raum.
Gottes Kraftfeld, sein Reich, ist entfernungsunabhängig. Grade deshalb kann es
gleichzeitig im unendlich Kleinen und unvorstellbar Großen wirken. Wichtig ist das
Zusammenkommen der handelnden Personen. Oder die Bereitschaft des Einzelnen,
mit Gott in Kontakt zu treten. Oder Gottes Ruf selbst. Die Beobachtung zeigt, dass es
tatsächlich Schwankungen in der Intensität der Wirksamkeit des Reiches Gottes gibt.
Faktoren, die hierbei eine Rolle spielen, sind z. B. Störelemente aus der Welt, die
einen guten Empfang der Zuwendung Gottes erschweren, Ablehnung einzelner
Menschen, mit Gott oder miteinander in positive Beziehung zu treten. Hier kommen
menschliche Entscheidungsfreiheiten ins Spiel.
Gott ist von keinem Zahlensystem abhängig, und somit gibt es auch keine
quantitativen Feldkonstanten - höchstens die Aussage Gottes selbst, dass er immer
zu seinem Wort steht und seinen Bund hält. Und dass Christus das letzte Wort war
und ist und somit immerwährende Garantie: Konstanten. Mathematische
94
Formulierungen gibt es dafür nicht. Gäbe es solche, wären sie Teil des Gleichnisses
selbst und damit sowohl nicht erkennbar als auch nicht notwendig zu wissen.
Insofern können wir auf die Herleitung von Vektoren, Gradienten, Integrale usw.
verzichten. Ebenso auf komplexe Gleichungssysteme. Und auf eine Unterscheidung
nach Arten der Wechselwirkung: Gottes Kraftfeld - sein Reich - ist einfach und jedem
Menschen ohne irgendeine Voraussetzung zugänglich und erlebbar. Nicht
Mathematiker haben es zuerst erfahren, sondern Kleinviehhirten.
Das kommt also zum ersten Mal aus einer Zeit von vor vielleicht 4000 Jahren. Und
ist geblieben bis heute. Und bleibt bestehen darüber hinaus. Denn .... Gott wirkt.
Seine Kraft ist da - in der Welt, auch heute. Und sie ist in uns. Die Kraft, durch die die
Welt geschaffen wurde, die sie zusammenhält, und die Jesus Christus vom Tode
auferweckt hat. Wir können sie erspüren, wenn wir nur empfänglich dafür sind.
Wenn wir sie erkennen wollen. Unser Trost ist, dass Gott seine Macht in einem
zerrissenen Umfeld beweisen kann. Unsere Ermutigung ist, dass Umkehr
möglich ist. Unsere Vergewisserung ist: Gott wirkt beständig fort. Unsere
Befreiung ist, dass wir außerhalb der uns vorgegebenen Lebensumstände
existieren können.
Kommentare aus dem Arbeitskreis
In seiner systematischen Theologie Band 2 (erschienen 1991) hat der Theologe
Wolfhart Pannenberg an die altphilosophische Herkunft des Begriffs „Feld“ erinnert
und ihn mit Bezug auf heutige Physik neu in das theologische System einbezogen:
Um Bewegung und Veränderung zu beschreiben, hat die Physik den Begriff der Kraft
oder Energie entwickelt, die auf Körper einwirkt und so deren Bewegungen hervorbringt. Newton rechnete im Unterschied zu Descartes auch mit nichtmateriellen
Kräften, die analog zur Bewegung des Körpers durch die Seele wirken. Als eine
solche Kraft betrachtete er auch die Gravitation, die ihm als Ausdruck der Bewegung
des Universums durch Gott vermittels des Raumes erschien.
Kräfte wirken nach M. Faraday in raumfüllenden Feldern über Distanzen hinweg.
Er hoffte, daß sich alle Kraftfelder auf letztlich ein einziges, umfassendes Kraftfeld
zurückführen lassen.
Pannenberg sieht in den immer weiter ausgreifenden Feldtheorien der modernen
Physik eine theologische Relevanz, die auch durch die metaphysische Herkunft des
Feldbegriffs nahegelegt wird. Insofern der Feldbegriff den alten Pneumalehren entspricht, liegt es von der Begriffs- und Geistesgeschichte her recht nahe, die
Feldtheorien der modernen Physik zur christlichen Lehre von der dynamischen
Wirksamkeit des göttlichen Pneuma in der Schöpfung in Beziehung zu setzen, z.B.
bei der Interpretation der überlieferten Rede von Gott als Geist.
Charakteristische Verschiedenheiten gegenüber ihrer naturwissenschaftlichen
Verwendung sind aber zu beachten. Die prinzipiellen Differenzen zwischen
physikalischer und theologischer Betrachtungsweise bei der Beschreibung der
Weltwirklichkeit verbieten es allerdings, physikalische Feldtheorien direkt theologisch
zu interpretieren.
Die Rede von einem Kraftfeld des künftig Möglichen als Ursprung aller Ereignisse
steht zwar in einem Zusammenhang mit physikalischen Feldbegriffen, erweitert sie
aber. Die Dynamik des göttlichen Geistes, die als Macht der Zukunft in allem
Geschehen schöpferisch wirksam ist, steht in einer ausweisbaren Beziehung zu
grundlegenden naturwissenschaftlichen Gegebenheiten.
95
WG: Kann man den Feldbegriff der Physik als Metapher für Gott und sein Wirken in der
Welt gelten lassen? Ich selber habe diesen Gedanken immer sehr attraktiv gefunden. Gott ist
Geist, den wir im Geist und in der Wahrheit anbeten sollen. Für eine den Raum prägende
Kraft, die über Distanzen wirkt, sind in der Physik die Begriffe des Feldes und der
Wechselwirkungs-Bosonen eingeführt. Eine Analogie zum Geist und seinem Wirken liegt
nahe.
Freilich wollte ich darin immer mehr als eine Metapher sehen, und ich habe mich gefragt, wie
denn diese Kraft, dieses Feld, im Vergleich mit den von der Physik kanonisierten
Grundkräften beschaffen sei und wo der Schnittpunkt der Wechselwirkung mit den
materiellen Dingen liege. Eine Ähnlichkeit mit den vom wissenschaftlichen Außenseiter R.
Sheldrake postulierten „morphogenetischen Feldern“ deutet sich an.
Anscheinend können aber nur die komplexesten adaptive Systeme, Organismen wie der
Mensch, Sonden für dieses Gottes-Feld sein, und das auch nur im Fall besonderer Sensitivität,
die keineswegs vielen Menschen eignet. Mystiker sind bis heute (und besonders heute) die
Ausnahme, so wie auch Menschen mit besonderen „medialen“ Fähigkeiten. Vor Zeiten mag
es mehr Aufnahmefähigkeit für die Schwingungen des göttlichen Geistes gegeben haben, die
zu deutlicheren „Zeigerauschlägen“ auf der spirituellen Empfindsamkeitsskala geführt haben,
als wir uns im „Zeitalter der Vernunft“ träumen lassen. Und ich bin mir überhaupt nicht sicher
ob wir im Sinn von Gott 9.0 von einer Höherentwicklung oder auch nur Weiterentwicklung
unserer Bewusstseinsstufe gerade in dieser Hinsicht reden können. Wir scheinen eher in viel
höherem Maß auf die Vermittlung spirituellen Wissens durch die heiligen Schriften und die
religiös-mystisch-kirchliche Tradition angewiesen als frühere Generationen.
So meine ich nun, dass, sowenig gegen die Einführung einer weiteren, der Feld-Metapher, für
die Gottheit und ihr Wirken eingewendet werden kann, sie doch noch keinen Beitrag leistet
zur Verständigung in der Welterklärungskontroverse zwischen Wissenschaft und Religion
(Vernunft und Glauben), einfach weil die Physik nicht in Metaphern redet. Sie verwendet ihre
Begriffe an bestimmten Stellen ihrer Theorien und Modelle, wo der Begriff dann ein
Vorfindliches, etwas in der Wirklichkeit Anwesendes eindeutig benennen soll.
Übrigens sprechen wir bevorzugt noch mit einer anderen Kraft-Metapher von Gott, der „Kraft
der Liebe“. Dabei fällt sogleich auf, dass diese in unserer Erfahrung nicht von einem Feld
über beliebige Distanz vermittelt wird, sondern nur im Nah-Umgang, vermittelt durch Signale
der Kommunikation im weiteren Sinn, der von Sinneseindrücken, über die Sprache bis zu den
„Botenstoffen“ der Hormone reicht. Die Liebe ist in dieser Redeweise, eine Kraft, weil wir sie
spüren, aber kein Feld.
Polkinghorne versucht einen anderen Ansatz. Als leibliche Wesen handeln wir zugleich
energetisch und informationell. Und man mag erwarten, dass Gott als reiner Geist, allein
durch Eingabe von Informationen handelt (zumindest sind solche Vermutungen und
Erwartungen nötig um Polkinghornes Argumentation plausibel erscheinen zu lassen). Mit
dieser Darstellung kann er die Idee einer absteigenden Kausalität von oben einsichtig machen.
Dazu gehört dann freilich auch die Suche nach der „kausalen Fuge“, die dieser GottesfeldKausalität das Eindringen in die dichten materiellen Kausalketten gestattet.“
zurück zum Inhaltsverzeichnis der Anlagen
Gott als „Kraft“
Gott wird auch oft als Kraft erlebt, erfahren und benannt. Das kann das verbreitete
Gottesverständnis als Person ergänzen und erweitern.
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Nach M. Kroeger ist Gott „eine Kraft, die schafft, beschenkt, fordert, vernichtet, zu der
anbetendes In-Beziehung-Treten ohne Festlegung auf wie auch immer geartete
theologische oder philosophische Begriffe möglich und lebensdienlich ist.
Wolfgang Osterhage zeigt in seinem Buch „Chaos. Ordnung, Harmonie. Bilder der
Wissenschaft – Bilder des Glaubens“. (Fromm Verlag 2012), dass und wie auch mit
Begriffen aus der Physik von Gott gesprochen werden kann.
Gottes Wirken in der Welt – als Kraft auch in den Schwachen
In dem Roman „Die Brüder Karamasoff" von Dostojewski äußert sich der Mönch
Pater Paissij der Hauptfigur in dieser Geschichte zur Moderne gegenüber mit
folgenden Worten:
„Jüngling, denke daran, dass die weltliche Wissenschaft, die zu einer großen Macht
wurde, im letzten Jahrhundert alles niedergerissen hat, was uns an Himmlischem in
den Büchern der Heiligen vermacht worden ist. Nach einer genauen Analyse scheint
bei den Gelehrten dieser Welt vom ganzen frühen Heiligtum überhaupt nichts
übriggeblieben zu sein; der Geist des Ganzen ist ihnen entgangen."
Das Gesagte bezieht sich auf das 19. Jahrhundert! - Daraus spricht wohl die Angst
eines gläubigen Menschen davor, von der Moderne überrollt und seines Glaubens
dadurch verlustig zu werden. Daraus spricht auch das auch heute noch gängige
Klischee von Gegensatz und Wettbewerb zwischen Glaube und Wissenschaft, jenen
beiden akzeptierten Erkenntniswegen, die dem Menschen offen stehen. Es gibt aber
doch mehr Gemeinsamkeit auf diesen beiden Wegen zur Erkenntnis, als gemeinhin
angenommen wird.
Der Begriff der Kraft repräsentiert eine Chiffre. Er ist mystischen Ursprungs und hat
diese Aura bis heute bewahrt, sowohl in der Religion als auch in der Wissenschaft.
Wesentliches Kennzeichen ist das Attribut der Fernwirkung: eine Ursache macht
über eine Distanz, dass an einem anderen, weiter entfernten Ort etwas geschieht.
Eine solche Fernwirkung hat die Menschen von alters her fasziniert und dieses Wort
„Kraft" damit bildhaft beladen.
Immer schon, seit die Wissenschaft den Begriff Kraft für sich vereinnahmt hat, hat
selbige auch versucht, ihr den Mythos nehmen. Spätestens seit Newton, der die
Gravitation formalisiert hat, ist sie zwar nicht sichtbar, aber durch solche Äquivalente
wie Maß und Gesetzmäßigkeiten, wie Abnahme mit dem Quadrat Entfernung
bildhafter geworden.
Heute unterscheidet man vier Kräfte in der Natur, aus der sich alles andere herleitet:
die Gravitationskraft,
die elektromagnetisch Kraft,
die schwache Wechselwirkung, und
die starke Wechselwirkung, die Atomkerne und Quarks zusammenhält.
Diese Kräfte sind unterschiedlich stark und wirken über unterschiedliche
Entfernungen. Obwohl damit alle z. Zt. beobachteten Phänomene im Kosmos
beschreibbar sind, ist den Forschern seit Generationen ein bohrender Rest von
Unzufriedenheit geblieben. Diese Unzufriedenheit leitet sich einmal aus der Tatsache
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her, dass es vier Kräfte und nicht eine einzige Kraft gibt, zum anderen aus dem immer
noch mitschwingenden mystischen Ursprung.
Es hat nicht an Versuchen gefehlt, dem Abhilfe zu schaffen – und zwar aus rein
ästhetischen und nicht zwingend wissenschaftlichen Gründen. Die eine Richtung
geht auf eine Vereinigungstheorie aller Kräfte hinaus, einer Aufgabe, der Einstein den
größten Teil seines Lebens gewidmet hatte - ohne Erfolg. Die Vereinigung der
elektromagnetischen mit der schwachen Wechselwirkung ist mittlerweile gelungen.
Alle anderen noch nicht in einer verifizierbaren Form.
Die zweite Richtung zielte auf die Abschaffung der Kraft als solche zur Beschreibung
von Naturphänomenen. Das ist Einstein in seiner Allgemeinen Relativitätstheorie
geglückt: er setzte das Energieäquivalent auf der einen Seite der Gravitationsgleichung mit der dadurch verursachten Krümmung des Raumes - dem RiemanTensor - gleich. Kraft hatte sich erübrigt und war durch Geometrie ersetzt worden,
der Mythos der Fernwirkung war endgültig gebrochen.
Auch die Christen bedienen sich des Bildes von der Kraft, um Wirkungen, die hier auf
unserer Erde stattfinden, durch Ursachen, die in anderen Dimensionen liegen, zu
beschreiben. Oder auch, um Wirkungen zwischen Menschen selbst zu beschreiben.
Überall, wo eine Intervention Gottes in Vergangenheit oder Gegenwart geglaubt wird,
wird auch seine Kraft evoziert - eine Kraft, die nicht nur über räumliche Distanz
hinweg wirkt, sondern sogar durch die Zeit hindurch, bzw. aus der Transzendenz
heraus: „Wie überschwänglich groß ist seine Kraft an uns, die wir glauben, weil die
Macht seiner Stärke bei uns wirksam wurde", schreibt der Apostel Paulus an die
Epheser. Es läuft alles auf die eine große universale Wirksamkeit Gottes hinaus, auf
die Kraft Gottes, die alles zusammenhält und alles bewegt: die Kraft, die schon ganz
am Anfang wirksam war, und durch welche die Feste zwischen den Wassern
errichtet wurde, das Chaos der Urflut zu bannen, damit ein Lebensraum für
Schöpfung geschaffen werden konnte. Die Kraft der Liebe, durch die Christus gewirkt
hat, und mit der er vom Tode erweckt wurde. Eine Kraft, die die Grenze zwischen
Leben und Tod öffnen oder schließen kann.
„Wort zum Sonntag“ 15.1.12
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Das Wort zum Sonntag vom 14. Januar 2012,
gesprochen von Ulrich Haag
Es gibt Fehlverhalten, das darf nicht passieren. Es passiert trotzdem. Die
Begebenheit ist einige Jahre her, aber ich erinnere mich noch genau. Ich stehe an
der Kasse im Supermarkt, die Kundin vor mir nestelt am Portemonnaie, die
Kassiererin lässt kurz die Hände sinken. Ich lege das Toastbrot auf das Band, die
Zeitung, zuletzt die Flasche Rotwein. Ich hebe die Einkaufstasche an, damit die
Kassiererin sieht: Der Wagen ist leer, es liegt wirklich alles auf dem Band. Alles? Ich
weiß es besser.
Das Band läuft an und schiebt meinen Einkauf Richtung Scanner. In mir kreisen
plötzlich die Gedanken. Was mache ich da eigentlich? Wie kommt es, dass ich mir
die Vorstellung angewöhnt habe, unbeobachtet zu sein, wenn niemand hinschaut?
Ich müsste es besser wissen, gerade ich, als Pfarrer! Ich müsste wissen, dass es
einen gibt, der sieht, was keiner sonst sieht. Wie weit habe ich mich von ihm
entfernt? Und wie weit von mir selbst?!
98
Man erschrickt und man schämt sich, wenn einem bewusst wird, wie tief man die
eigenen Ansprüche hat sinken lassen. Man nimmt zwei Rollen Klopapier aus dem
Betrieb mit, ein paar Stifte aus dem Büro. Man lässt sich krankschreiben statt Urlaub
zu nehmen. Man leiht sich von einer Freundin die Monatskarte und fährt umsonst.
Man legt sich Ausreden parat, "es sind alles nur Kleinigkeiten". Doch diese
entwickeln mit der Zeit ein Eigenleben. Man verliert die Übersicht. Wenn man wach
wird, ist es mitunter zu spät. Man hat dann Privatkonditionen für einen Hauskredit
akzeptiert. Hat sich mit zu viel Promille hinter das Lenkrad gesetzt. Oder man steht
im Supermarkt an der Kasse und es liegt nicht alles auf dem Band.
Im ersten Moment sieht es so aus, als gäbe es kein Zurück. Das war bei mir auch so.
Mein Einkauf war gescannt und die Kasse zeigte die Summe an. Hinter mir
ungeduldige Minen. Jetzt aus der Manteltasche hervorkramen, was da nicht
hingehört? Es aufs Band legen, im Beisein aller? Das habe ich nicht fertig gebracht.
Ich bin durch die Kasse gegangen ohne mir etwas anmerken zu lassen. Dann bin ich
zurück in den Laden und habe ins Regal gestellt, was mir nicht gehörte.
Es gibt Fehlverhalten, das darf nicht passieren, es passiert trotzdem.
Soll man es zugeben? Soll man es als Pfarrer zugeben, öffentlich, auch wenn einen
keiner danach fragt? Enttäusche ich damit nicht die Erwartungen, die man in mich
setzt, in mich und mein Amt? ich bin mir nicht sicher. Mitunter kann man ja auch
etwas schuldig bleiben, wenn man von einer Erfahrung schweigt, die man mit sich
selbst gemacht hat. Es gibt einen, der sieht, der sieht, was sonst keiner sieht. Er ist
auch in der Lage, zu verstehen, was sonst niemand versteht. Er weiß, wie Menschen
sich verstricken können. Er wartet darauf, dass sie umkehren und sich frei machen.
Ich habe damals meinen gesamten Alltag einer gründlichen Revision unterzogen.
Stück für Stück habe ich mich aus einem Dickicht von kleinen Unaufrichtigkeiten
befreit, immer mit der Vorstellung: Gott sieht. Er sieht, wie ich mich anderen
gegenüber verhalte, er sieht, wie ich mein Leben führe. Eigentlich banal, eigentlich
Kinderglaube. Aber er trägt mich. Und er hilft mir Tag für Tag, Grund in mein Leben
zu bringen.
Ihnen allen einen guten Abend und einen gesegnete Woche.
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Beiträge zum „Wort zum Sonntag“ von Ulrich Hahn (UH) am 14.1..2012 .
Fragen und Argumente aus der Diskussion einer ea-Gruppe im Januar 2012
UH kann auf diese Weise auf aktuelle Ereignisse eingehen („Fehler“ von
Bundespräsident Wulff und M. Kässmann), ohne die Namen zu nennen.
Könnte es sein, dass die Geschichte von UH erfunden wurde? („Ein Pfarrer tut so
etwas doch nicht.....“
Wäre es besser, wenn der „Ladendieb“ in der Geschichte kein Pfarrer wäre? Es ist
ein wichtiger Aspekt des Themas „Fehlverhalten“, dass es – natürlich – auch bei
Pfarrern vorkommt. Aber sollte er nicht eine Beschädigung des Ansehens von
Pfarrern vermeiden?).
Die Ansprache regt an zu überlegen, warum jemand im Laden stiehlt: Bedürftigkeit,
Armut, weil es so leicht möglich ist, testen, auch mal über die Stränge schlagen,
Kleptomanie? Ändert das etwas an der Bewertung?
99
Das (oft zur Entschuldigung oder Abschwächung von Vorwürfen angeführte)
Argument „Jeder macht mal einen Fehler“ wird nicht verwendet. Soll gezeigt werden,
dass auch Christen nicht ohne Fehler sind?
Warum und wie kommt Gott in der Ansprache vor? (auch nicht-personal?)
Er ist eigentlich nicht nötig, weil die Bewertung von (Laden-) Diebstahl durch Moral
und BGB geregelt ist.
Ist Gott strenger als das Gesetz und die Moral, verlangt er noch mehr?
Früher wirkte Gott als Verstärker von Schuldgefühlen, insbesondere immer dann,
wenn Fehlverhalten nicht bekannt wurde. Gesellschaftliche Missbilligung wurde
dadurch weit über die tatsächliche Kontrolle hinaus verstärkt.
Gott als Kontrollinstanz wurde besonders bei der Erziehung „benutzt“, aber es gab
auch den „lieben Gott“. Auf die Aussage „Gott sieht alles“ verzichten?
„Kinderglaube“ ist jedenfalls nicht „banal“.
In der Ansprache sieht Gott - was sonst keiner sieht, niemand versteht – , aber er
handelt nicht.
Das Bewusstsein von Gottes Allgegenwart (und die Erinnerung daran) bewirkt (auch
ohne seine Anwesenheit sozusagen als Person) ein Wahrnehmen größerer
Wirklichkeit, das Erkennen eines weiteren Zusammenhangs: Es kommen mehr
Aspekte und Perspektiven in den Blick: Nicht nur der Wert des gestohlenen
Gegenstandes, auch die berechtigten Interessen der Supermarktbetreiber, die der
anderen Kunden, die Unwirksamkeit schneller möglicher Entschuldigungen und
Erklärungen,
Denken an Gott kann (wie bei dem Sprecher) Anlass zu einer gründlichen Revision
des gesamten Alltags sein. . Es geht nicht mehr nur um den Wert des Gestohlenen,
den einmaligen Vorfall, es zeigt sich ein größerer Zusammenhang. Das muss nicht
nur mit dem Wort „Gott“ bezeichnet werden, das menschlich-persönliche
Vorstellungen hervorruft (Gott sieht, hört, tut, trägt,.....); aber es anders zu sagen ist
schwierig.
Das zusammenfassende Symbolwort „Gott“ beinhaltet Assoziationen wie Gott als
Richter (es kann alles anders beurteilt werden als ich es tue, als wir es tun), als (nicht
nur mein, sondern aller Menschen) Vater, der trotz Fehlverhalten liebt und vergibt.
Davon „non-theistisch“ zu reden ist schwer, aber viele versuchen es schon und
lernen es zunehmend. Das Wort zum Sonntag zeigt trotz der Kürze Ansätze dafür,
indem Wirkungen des personalen Gottesglaubens genannt werden.
Um zu vermeiden, Gott in diesem Fall als Angst machende Drohperson ins Spiel zu
bringen, wäre es besser, zuerst Auswirkungen des Gottesbewusstseins zu nennen
und erst dann den Namen (Gott) zu erwähnen.
Simon (16): Wenn kein Schaden entsteht (er hat es ja zurückgelegt) sollte das
genügen. Falls er aber gefragt wird, sollte er es offen zugeben. (Gott wird in diesem
Kommentar nicht erwähnt, es geht nur um die ethische Bewertung).
„die kleinbürgerliche gewissensbefragung, das vorbild-sein-müssen, die
notlösung (zurück-geben) – das ist nur moral.
Dass ein christlicher gott alles sieht, dass die christlichen
glaubensvorschriften (diebstahlverbot) nicht der realität entsprechen
könnten, wird nicht mal angedeutet. Was und wer begeht in unserer welt
welchen diebstahl? Wo liegt die verantwortung, was wären die varianten
meines persönlichen handelns im sinne von „welt-ethos“?
100
Gegenüber dem kinderglauben wäre (m)eine gesellschaftliche forderung:
wort zum sonntag in den bibelkanal verlegen oder jeden samstag eine
andere religionsgemeinschaft „zu Wort“ kommen lassen.
Zum „Wort zum Sonntag“ von Ulrich Haag (UH) am 14.1..2012 .
von Reinhard Crämer, Nürnberg
Ein gutes Wort. Ein Mensch – Pfarrer oder nicht Pfarrer tut nichts zur Sache – hat
sich falsch verhalten. Sehr nachvollziehbar. Sicher von vielen ähnlich erlebt.
Dieser Mann aber hat Gewissen.
Er stellt sich seinem Gewissen.
Er bringt sogar den Mut auf, sein Fehlverhalten zu korrigieren!
„NEIN: er ist nicht mutig, sondern legt das heimlich zurück: ironisch gesprochen
schleicht er sich davon und macht sein (muß ja gar nicht von anderen als fehl-)
„Fehlverhalten“ unsichtbar – für die welt.“
Vorbildlich, allen Respekt!
Der Mann hat autonom gehandelt, sich also moralisch verhalten.
Warum da noch die religiöse Metapher „Gott sieht“. Nur weil es ein „Wort zum
Sonntag“, also zum Tag des Herrn ist? Da wäre ein Hinweis auf ein Wort des
„Herrn“ Jesus sinnvoller. Zum Beispiel Mt 7,12: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch
die Leute tun sollen, das tut ihnen auch.“ Du willst nicht bestohlen werden, also lass,
was du nicht bezahlt hast, im Geschäft liegen; oder bring´s, wenn´s auch schwer fällt,
wieder zurück.
„Ich überlege / fantasiere mal eine alternative:
die kapitaleigner des supermarkts beuten weltweit aus; sie bestehlen
menschen um besseres leben. Ich kaufe im supermarkt, d.h. Beteilige
mich an diesen machenschaften. Gebe ich das zurück? Wäre eine spende
oder ein protest oder eine gegenaktion eine lösung? Vgl. sich freikaufen
für flugreisen.
Auf der 2. ebene klauen: o.k. Mit dem kategorischen imperativ, weiter
könnte die wirkungsüberlegung führen: a) verhalte dich so, dass es dir
persönlich nach der handlung besser geht. b) der supermarkt erhöht den
preis auch durch umlegen der verluste aus dem klauen – also
gesellschaftliche wirkungen bedenken“.
Oder sollte es doch ein ernst gemeinter Rückgriff auf „Gott“ als die meta physische
Droh-Instanz der schwarzen Pädagogik sein, also das Angst machende „Wehe, Gott
sieht dich!“ – Dann wäre es auf verheerende Weise falsch.
Denn:
Erstens haben die Kirchen den christlichen Glauben lange genug dazu missbraucht,
die Menschen unter einen völlig unchristlichen Angstdruck zu setzen mit Fegefeuer,
Höllenfeuer und Jüngstem Gericht. Kein Zweifel, dass man damit Menschen leichter
manipulieren, beherrschen, notfalls ausbeuten kann.
Und zweitens wäre die moralisch wertvolle Haltung des im Sonntagswort be
schriebenen Menschen völlig entwertet. Er hätte nicht autonom, sein Gewissen
respektierend gehandelt, sondern lediglich einem Angstdruck nachgebend gekuscht.
Eine Haltung, die zu Zeiten der schwarzen Pädagogik weit verbreitet war. Man frage
101
sich nur, mit welchen Konsequenzen! (Von uns Deutschen leidvoll erlebt.)
Abschließend eine mehr theologisch-grundsätzliche Würdigung jenes „Wortes zum
Sonntag“.
Die Vorstellung einer supranatural, also metaphysisch gedachten „Gottperson“, die
strafend und belohnend in das Weltgeschehen eingreift, ist aus mehreren Gründen
fragwürdig geworden. Erinnert sei an Dietrich Bonhoeffer: „Einen Gott, den es gibt,
gibt es nicht“. Oder an Paul Tillich: „Gott der Urgrund des Seins“, bzw. „das Sein
Selbst“, jedenfalls aber „nichts Seiendes“.
Im Übrigen würde ein Gott, der gouvernantenhaft über menschliches Fehlverhalten
wacht, nicht dem Gott Jesu entsprechen, der nach Mt 5,45 „seine Sonne aufgehen
lässt über die Bösen und über die Guten, und lässt regnen über Gerechte und
Ungerechte“.
Der „Urmacht Gott“, dem Gott, „von dem wir alles haben“, den wir als „Quelle des
Lebens“ verehren, würden wir Menschen in keiner Weise entsprechen, würden wir
nur in angstbesetztem Gehorsam vor ihm „kuschen“. Nicht erzwungener Gehorsam,
sondern geschenktes und darum dankbares Vertrauen ist die ihm gegenüber
angemessene Haltung. Vertrauen auf die Macht, die uns das Leben geschenkt hat
und die uns – nach christlicher Hoffnung - auch im Tode nicht fallen lässt.
Vertrauen also und Dank!
„Ich danke dir, du Grund und Kraft meines Lebens, dass du mir den Mut gegeben
hast, zu meinem Fehlverhalten zu stehen und es – trotz aller Hemmungen – zu
korrigieren.“ So oder ähnlich hätte das „Wort zum Sonntag“ schließen können.
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Der andere Gott – damals und heute Predigt
Predigt von Gerhard Weßler, Pfr.i.R.Korntal,
über Genesis 22, 1 – 13
1 Nach diesen Ereignissen stellte Gott Abraham auf die Probe. Er sprach zu ihm:
Abraham! Er antwortete: Hier bin ich. 2 Gott sprach: Nimm deinen Sohn, deinen
einzigen, den du liebst, Isaak, geh in das Land Morija und bring ihn dort auf einem
der Berge, den ich dir nenne, als Brandopfer dar. 3 Frühmorgens stand Abraham auf,
sattelte seinen Esel, holte seine beiden Jungknechte und seinen Sohn Isaak,
spaltete Holz zum Opfer und machte sich auf den Weg zu dem Ort, den ihm Gott
genannt hatte. 4 Als Abraham am dritten Tag aufblickte, sah er den Ort von weitem.
5 Da sagte Abraham zu seinen Jungknechten: Bleibt mit dem Esel hier! Ich will mit
dem Knaben hingehen und anbeten; dann kommen wir zu euch zurück. 6 Abraham
nahm das Holz für das Brandopfer und lud es seinem Sohn Isaak auf. Er selbst
nahm das Feuer und das Messer in die Hand. So gingen beide miteinander. 7 Nach
einer Weile sagte Isaak zu seinem Vater Abraham: Vater! Er antwortete: Ja, mein
Sohn! Dann sagte Isaak: Hier ist Feuer und Holz. Wo aber ist das Lamm für das
Brandopfer? 8 Abraham entgegnete: Gott wird sich das Opferlamm aussuchen, mein
Sohn. Und beide gingen miteinander weiter. 9 Als sie an den Ort kamen, den ihm
Gott genannt hatte, baute Abraham den Altar, schichtete das Holz auf, fesselte
seinen Sohn Isaak und legte ihn auf den Altar, oben auf das Holz. 10 Schon streckte
Abraham seine Hand aus und nahm das Messer, um seinen Sohn zu schlachten. 11
Da rief ihm der Engel des Herrn vom Himmel her zu: Abraham, Abraham! Er
antwortete: Hier bin ich. 12 Jener sprach: Streck deine Hand nicht gegen den
102
Knaben aus und tu ihm nichts zuleide! Denn jetzt weiß ich, dass du Gott fürchtest; du
hast mir deinen einzigen Sohn nicht vorenthalten.
Liebe Gemeinde!
Es ist schwer vorstellbar, dass man diese Geschichte hört und im Innern nicht
Widerspruch, ja, Widerwille und auch Abscheu aufkommen spürt. Ist es nicht
unerhört, dass wir in der Bibel von einem Gott lesen, der die menschlichsten
Beziehungen wie die zwischen Vater und Sohn auf diese Art zu zerstören droht?
Dabei muss man feststellen, dass diese Geschichte auch noch in einer
formvollendeten Weise erzählt ist, wie kaum eine andere in der Bibel. Die Knappheit
und gleichzeitige Präzision der Erzählung ist wohl auch der Grund für unzählige
Maler und Bildhauer seit fast 2000 Jahren, die die spannendste Szene aus dieser
Geschichte bildlich darstellten. Hinzu kommt, dass diese Geschichte einer, wenn
nicht der wichtigsten Integrationsfigur der 3 monotheistischen Religionen zugeordnet
ist, die das AT , die Hebräische Bibel, kennt: dem Abraham, der den Titel „Freund
Gottes“ trägt. Man kann also gar nicht an dieser Geschichte vorbeigehen und sie
etwa unter den kulturell und zeitbedingten Ausrutschern der Bibel ablegen. Wir
müssen uns ihr aussetzen.
Auch der Versuch, sie lediglich als kulturgeschichtlich bedeutsames Symbol der
Ablösung der frühzeitlichen Menschenopfer durch das Tieropfer zu erklären, verfängt
nicht. Selbst im AT werden weiterhin Menschenopfer berichtet (Jephtas Tochter)
und schließlich: das zentrale Ereignis des NT, der Kreuzestod Jesu von Nazareth
wird ja hemmungslos als Menschenopfer interpretiert, dass der Vater seinen Sohn
um einer höheren Gerechtigkeit willen opfert. (Ein Lämmlein geht...- noch dazu in
katechetischer Verniedlichung als Gespräch zwischen Vater und Sohn) Mit dem
Symbol des Lammes wird diese Deutung des Sohnesopfers dann wieder verschleiert
und symbolisch zum Tieropfer zurückinterpretiert. (!!! Ich mag das nicht !!!))
Nein! - Die Not, die gläubige Bibelleser mit der Geschichte von Isaaks Opferung
haben, wird auch in der beinah unübersehbaren Fülle von Kommentaren und
Versuchen erkennbar, die die Geschichte verständlich zu machen versuchen. Schon
die Rabbiner und Islamgelehrten des Altertums und des Mittelalters ergänzten,
korrigierten, uminterpretierten, nur um damit fertig zu werden.
So sagten einige, Abraham hat sich verhört. Er sollte Isaak nicht opfern, sondern
sollte seinem Sohn zeigen wie man opfert. Andere sagten, der Teufel hat sich mit der
Stimme Gottes verstellt (wie der Wolf vor den 7 Geißlein) und dann musste Gott
diese Täuschung im letzten Moment verhindern. Wieder andere lassen um des
Gehorsams Abrahams willen die Tötung des Isaak tatsächlich passieren. Dann aber
kommt Gott mit aller Macht zur Geltung, indem er das Kind noch auf dem Berg
wieder lebendig macht. Nach der Rückkehr trifft dann Isaak seine Mutter Sarah zu
Hause und erzählt ihr alles, was er erlebt hat. Und dann erfährt der Leser die einzig
menschliche Reaktion in dieser Geschichte: Mutter Sarah stößt 6 herzzerreißende
Schreie aus und fällt zu Boden und ist tot. – so die frommen Kommentatoren.
Alle diese Varianten lassen deutlich erkennen, dass die Hauptfiguren dieser
Geschichte – Gott und Abraham - irgendwie gerechtfertigt werden sollen, dass sie
sich auch nach dieser Geschichte noch als Vorbilder eignen sollen, denen man
Vertrauen schenken kann.
Aber das fällt eben so unendlich schwer – gerade auch wenn man die
Wirkungsgeschichte dieser Erzählung betrachtet, wie man sie in den Jahrhunderten
unserer deutschen Geschichte erkennen kann.
Gehen wir einmal die drei Hauptfiguren der Geschichte im Einzelnen durch:
1.) Was ist das für ein Gott?
103
Diese Versuchungsidee ist zutiefst unredlich. Bei Hiob ist es immerhin der Teufel, der
auf so eine Idee kommt. Hier hält sich Gott selbst nicht an seine eigenen
Verheißungen. Er will ernst genommen werden und ist doch selbst unernst. Er prüft
eine Überzeugung heraus, eine Treue, die er selbst verrät. Er befiehlt einem Vater,
einen Mord zu begehen und das an dessen eigenem Sohn und dann wiederum nur
zum Schein. Aber dieses happy end rehabilitiert nicht diesen Gott. Er ist nicht
vertrauenswürdig. Wir würden einem Menschen, der so mit uns verfährt, nicht mehr
trauen. Dieser Gott ist kein „guter Gott“, wie wir ihn oftmals im Gebet anrufen, nicht
der Gott, „der alles so herrlich regieret“, wie es im Lied heißt...
Dieser Gott widerspricht allen unseren Wertvorstellungen eines redlichen Charakters.
So kennt man ihn nicht! Er gibt einem gläubigen Menschen lauter Rätsel auf. Die
alten Rabbiner haben das gespürt, wenn sie die Geschichte in vielerlei Variationen
umdeuteten und ergänzten, ob da nicht doch noch ein vertrauenswürdiger Gott
herauskäme.
2.) Was ist das für ein Abraham?
Um Abraham den Vater des Glaubensgehorsam zu nennen, bedurfte es nicht noch
dieser Geschichte. Er folgte dem Ruf Gottes aus seinem Vaterland und aus seiner
Verwandtschaft in ein ihm unbekanntes neues Land. (Gen.12) Das ist ein ganz
anderer Glaubensgehorsam auf eigenes Risiko als den Sohn zu schlachten.
Die Psychologin Alice Miller macht darauf aufmerksam, dass auf allen Abbildungen
dieser Geschichte so unterschiedlich sie im Einzelnen auch sein mögen, eines immer
gleich ist: die Augen Abrahams schauen immer weg von seinem Sohn Isaak und
sind nach oben auf eine unsichtbare Ferne gerichtet, während seine rechte Hand
das Messer schwingt und die linke oft das Gesicht des Gefesselten mit Mund und
Augen zuhält. (Am typischsten ist das auf den Bildern von Rembrandt zu sehen.)
Alice Miller macht darauf aufmerksam, dass diese Haltung gerade symptomatisch ist
für den Gang der Geschichte bis in die allerjüngste Zeit: Einige ältere Herren fühlen
sich einem höheren Ideal, einem Sendungsbewusstsein, einer Ideologie verpflichtet,
und sie opfern dafür blind die junge Generation als Soldaten in ihren Kriegen, ohne
dass diese selbst sich dagegen wehren, dazu Stellung nehmen und kritisch erkennen
könnten, was gespielt wird. (Im Irak sind bisher an die 1500 junge Amerikaner
gestorben – in einem willkürlichen Krieg - von den andern Nationen und vor allem
Irakern ganz zu schweigen!)
Abraham als Vater des Glaubensgehorsams aufgrund dieser Geschichte zu rühmen,
wie es sogar noch an wenigen Stellen das NT tut, ist uns heute nach den
Erfahrungen in der Zeit des 2.Weltkriegs und des NS-Regimes in unserem Land
nicht mehr gut möglich. In den Gerichtsverfahren nach Adolf Eichmann und Heinrich
Himmler. ist mit dem Begriff des „Befehlsnotstands“ operiert worden und noch bis
heute wird in den Untersuchungen zu den Vorgängen im AbuGhraib-Gefängnis in
Bagdad der gewissenlose Kadavergehorsam so verteidigt. - Nein! Wenn diese Szene
der Bibel göttliche Wahrheit ist, scheint das Schlimmste möglich aus der Einfalt
unseres Gehorsams: Alles scheint dann richtig, wenn es dir ein Gott befiehlt! Und
woher weißt du, was dir ein Gott befiehlt? Wie unterscheidest du, ob es Gott ist oder
ein Dämon? – Üblicherweise delegieren wir dieses Wahrheitskriterium an die soziale
Gruppe, der wir uns zurechnen, an die Familie (Moslems), an das Volk, an die
Kirche. In unserer deutschen Geschichte hat diese Idee eine lange, eine schlimme
Tradition. (z.B. die Deutschen Christen) Wir sind besser beraten mit der Kontrollfrage
Martin Niemöllers: „Was würde Jesus dazu sagen?“
3.) Was ist mit Isaak?
Diese Geschichte tut uns den unschätzbaren Dienst, indem sie uns kompromisslos
aus dem herkömmlichen Gottesbild heraustreibt, mit dem wir alle noch groß
104
geworden sind. Das hätte uns aber auch im Gefolge von Jesus, dem „Opfer“, längst
fragwürdig werden können. Jesus hat diesen Gott da oben, der Menschen in den
Befehlsnotstand treibt, verneint. Er hat genau dafür den Kreuzestod sterben müssen,
aus Sicht jener Abrahamjünger unter seinem Establishment – uns zugute, d.h. zur
Glaubwürdigkeit für uns, damit wir mit diesem Gott nicht mehr konfrontiert sind... –
Stattdessen haben wir Jesus selbst zum Menschenopfer gemacht. - -Isaak, der Junge – auf manchen Bildern und in einigen rabbinischen Berechnungen
schon ein junger Mann von um die 30 Jahre – ist zum „Brandopfer“ bestimmt.
Und nun gibt uns der griechische Text dieser Geschichte einen Schock:! Wir treffen
da auf das Wort, das die Juden zur umfassenden Bezeichnung des Geschehens von
Auschwitz benutzen: „Holocaust“.- Isaak soll zum Holocaust werden, befiehlt Gott;
d.h. zu einem Brandopfer. - Israel hat sich mit seiner eigenen Geschichte der
Verfolgungen und Pogrome immer schon lange mit Isaak verglichen, viel eher als
mit Abraham. In dem für den Knaben Isaak unerklärlichen Schicksal, das Gott ihm
zumutete, sah Israel seine vielen Leidenswege, die es als Volk geführt worden ist,
vorgezeichnet.
Isaak ist auch für uns das Vorbild aus dieser Geschichte:
Wie und vor allem zu wem wird er in seiner Angst noch gebetet haben? Wir lasen
vorhin den 143. Psalm. Das könnte sein Gebet gewesen sein in den letzten Minuten
der Angst. (Ein Trauma übrigens, was ein Kind für sein Leben lang nicht mehr
vergisst: vom eigenen Vater gefesselt und mit dem Messer bedroht zu werden!)
Es heißt, auch in Auschwitz ist gebetet worden. Zu wem und wie? –
Von Jossel Rakover ist uns ein solches Gebet überliefert: „...und das sind auch
meine letzten Worte an dich, mein zorniger Gott: Es wird dir gar nichts nützen! Du
hast alles getan, dass ich an dir irre werde, dass ich nicht an dich glaube. Ich sterbe
jetzt – aber gerade so, wie ich gelebt habe, als unbeirrbar an dich Glaubender!“...Wir können die Reihe der Opfer unserer Zeitgeschichte fragen: zu wem haben Anne
Frank, die Kinder mit denen Janusch Kortschak ins Gas ging gebetet? Zu wem
haben Sophie Scholl und ihr Bruder Hans vor ihrer Hinrichtung gebetet, zu wem hat
Dietrich Bonhoeffer - zuletzt noch gebetet? Das sind lauter Gestalten, die für die
Zukunft unseres Glaubens unverzichtbar sind und für unsere Welt standen und
stehen. Wir müssen sie fragen, wenn wir für uns noch ein gültiges Gottesbild
bekommen wollen. Der Himmel über ihnen war leer. Da war nicht mehr der „alles so
herrlich regieret“! Vielleicht würden sie uns sagen, dass stattdessen „ihre Seele voll
war mit Gott“, dass er in ihnen wohnte und ihnen Kraft für den Weg gab, den sie
gehen mussten. – Kennen wir nicht auch Menschen, und sind wir es nicht vielleicht
selbst auch schon mal gewesen, deren Seele voll war mit Gott, mit einer Zuversicht,
mit Liebe, mit Verständnis, mit Klarheit und mit Ruhe? Das ist dann der nahe Gott,
der da ist, bei uns, wenn wir ihn brauchen.
Unvorstellbar, dass der allmächtige Gott, der Tester, der Versucher, auf den
Abraham nach oben blickt während er das Messer schwingt, rehabilitiert wird. Jede
Ehrenrettung jenes Gottes bedeutet, den Holocaust religiös zu rechtfertigen – ein
schlimmer Gedanke! Darin erkennt man die Zeitenwende, die das Geschehen von
Auschwitz bedeutet, nach der heute nicht mehr so naiv von Gott gesprochen werden
kann! –
Eli Wiesel, der bekannte jüdische Schriftsteller und Philosoph, der aus Auschwitz als
Jugendlicher entkam, beschreibt in einer seiner Erzählungen eine ergreifende und
tiefgründige Begebenheit bei einem Morgenappell der Gefangenen, wo wieder
einmal einige Hinrichtungen vor ihren Augen stattfinden. Unter den Opfern ein Kind,
das Brot gestohlen habe. Während die Erwachsenen schnell am Galgen sterben,
quält sich der leichte Körper des Kindes und kann nicht sterben. Da sagt schließlich
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voller Verzweiflung einer der Gefangenen vor sich hin: „Wo ist jetzt Gott!!!???“ und
ein anderer antwortet leise und deutet auf das Kind: „Dort, dort hängt er am Galgen!“
- Das ist die Passionsgeschichte aus unserer Zeit, erzählt von einem Juden! So ist
Gott Mensch geworden, indem er das Schicksal eines Isaaks unserer Zeit
angenommen hat. Das ist die Nähe Gottes zu uns, von der letzten Sonntag in der
Predigt auch schon die Rede war: Der mitleidende Gott, der neben uns, mit uns und
sogar uns voraus ist!
Jesus hat denen, die ihn fragten, wie sie denn ihre Seele voll mit Gott bekommen
könnten (denn nichts anderes ist gemeint, wenn sie nach dem ewigen Leben fragten
wie der reiche Jüngling) – er hat ihnen geantwortet: „Komm und folge mir nach!“ und
das hat er dem Apostel Paulus im Geist übersetzt: „Lass dir an meiner Gnade
genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ - Dem haben wir hier
jetzt nichts hinzuzufügen. Amen
Kommentare und Fragen aus dem theol. Arbeitskreis
Wer an Gott als allmächtiges Wesen glaubt, wird es auch für möglich halten
(müssen), dass er Menschen so auf die Probe stellt wie Abraham mit einer Tötung
seines einzigen Sohnes Isaak, oder Hiob. Das steht zwar im Widerspruch zu
anderen Wesenszügen Gottes wie der Liebe zu seinem Geschöpfen, Erhaltung des
Leben durch seine Gebote und Vergebung von Schuld, aber insbesondere der Gott
des Alten Testaments ist niemandem Rechenschaft schuldig. Auch nicht in extremen
Fällen wie in der aus der Frühzeit des Gottesglaubens stammenden Geschichte von
der von Jahwe persönlich befohlenen Opferung Isaaks durch Abraham. Juden,
Christen und Muslime, die sich dieser Tradition des Gottesglaubens verbunden
fühlen, haben nach Erklärungen gesucht. Diese sind z.T. auch in der
Religionsgeschichte zu finden, nach der sich der Gottesglaube erheblich verändert
und entwickelt hat. Nicht einmal Tieropfer sind noch üblich, und (verdienstvolle)
Opfer gibt es nur noch im übertragenen Sinn. Läßt sich am Beispiel der aus grauer
Vorzeit stammenden Abraham-Geschichte heute noch unbedingter Gehorsam
gegenüber Gott als Vorbild predigen?
Es geht darin ja auch um die Zukunft und das Wachstum des nach jüdischem
Glauben von Gott auserwählten Volkes Israel, die Gott zwar versprochen hatte, die
aber doch oft (von ihm zugelassen?) elementar gefährdet waren. Der Zugang zum
Verständnis dieser symbolischen Form, sich an solche Gefährdungen und
Bewahrungen in der gemeinsamen und individuellen Geschichte zu erinnern und
(sicher nur von ferne) nachzuempfinden, ist für heutige Menschen wohl verstellt. Um
Erfahrungen und Bewährungsmöglichkeiten in Problem- und Krisensituationen zu
reflektieren und aufzuarbeiten gibt es andere Methoden.
Christliche Predigt wird sicherlich von einem evolutionär verstandenen Gottesbild
aus (wie G. Weßler) auf das Gottesverständnis Jesu hinführen und nach heutigen
Formen der Rede von Gott fragen – wenn denn dieser Text überhaupt noch für
einem Sonntagsgottesdienst vorgegeben wird.
GF: „Der Kommentar greift zu kurz. Wir sollten auf die m.E. Wichtigen Elemente
hinweisen, um an ihnen die neuen Gottesverständnisse deutlich zu machen. Das
heißt: Gehorsamsforderungen in Erziehung sind unerlaubte Übergriffe (ableitbar mit
Miller). Gehorsamsforderungen einer sozialen Gruppe sind Erpressung (historisch
und sozialpsychologisch begründet mit Verführung und Manipulation).
Gehorsamsforderungen von „Gott“ sind nicht in seinem Sinn, wenn wir vom 2. Rang,
= ab Gott 7.0, ausgehen.
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Dqs heißt: kein glauben an den alten Gott verkünden. Die Kontrollfrage „was hätte
Jesu dazu gesagt?“ nicht nur stellen, sondern auch beantworten mit einer
Interpretation von „Dein Wille geschehe“ als liebender „Gott“.“
Historische Anmerkung K.S.: In Kordofan und dem alten Kusch (heute Nubien)
gibt es einen Mythos über das Sterben der Könige. Dieser Mythos dürfte zur
gleichen Zeit wie die Abrahamsgeschichte existiert haben.
Während der Gott Ammun für die Ordnung des Chaos im Kosmos sorgt ist der
Pharao im Auftrag Ammuns für die Beherrschung des Chaos der Natur und der
Gesellschaft auf der Erde zuständig. Die Priester, die die Verehrung der Götter
besorgten, schickten einen Boten zum König und erteilten ihm den Befehl zu sterben.
Die Götter hätten es ihnen im Orakel offenbart. Da der Befehl der Unsterblichen von
keinem Sterblichen missachtet werden durfte, brachten sich die Könige um.
Dies änderte sich als die Vernunft nicht mehr unter der Gewalt des Aberglauben
stand sonder durch philosophische Erziehung aufgeklärt wurde.
Die Forderung der Tötung entsteht durch die wahrnehmende Deutung von
Menschen. (Orakel) Dem Partner Gottes auf Erden wird durch Dritte der Wille der
Götter überbracht. Der Gehorsam der Könige ist ohne Alternativen (keine
Freiheit/keine Verantwortung). Durch die Veränderung der Menschen hin zur
Verantwortung in Freiheit entsteht eine neue Situation, eine glückliche Welt, in der
der König regiert bis er im Alter von Gott abberufen wird, es keine Menschenopfer
und Tieropfer im großen Stile mehr gibt.
zurück zum Inhaltsverzeichnis der Anlagen
Gottes Bild im Werden, in: Gott 9.0 von W. und M. Küstenmacher
(„updates“ von 1.0 bis 9.0)
Zur Entwicklung von Glaubensinhalten und Gottesvorstellungen
dargestellt in dem Buch “Gott 9.0“ (Wohin unsere Gesellschaft spirituell
wachsen wird)
(von Marion und Werner Küstenmacher und Tilman Haberer,
Gütersloher Verlaghaus, 2010)i
Nicht nur die Existenz mehrerer großer Religionen lässt erkennen, dass es
Unterschiede bei den Vorstellungen von Gott und Göttern gibt. Auch Innerhalb der
Religionen haben deren Gruppen und Mitglieder erheblich voneinander
abweichendes Gottesverständnis. Das geht z.T. auf die jeweiligen Gründer oder
maßgeblichen Vertreter von Religionen zurück, aber es hat auch eine allgemeine
Entwicklung von Glaubensinhalten und Gottesvorstellungen gegeben. In dem Buch
“Gott 9.0“ (von Marion und Werner Küstenmacher und Tilman Haberer, Gütersloher
Verlaghaus, 2010) werden diese im Rahmen von aufeinanderfolgenden kulturellen
Bewußtseinsstufen der Menschheit dargestellt, denen unterschiedliche
Eigenschaften zugeordnet werden.ii Sie werden in vergleichbarer Weise sowohl von
religiösen Gruppen wie auch von Individuen durchlaufen. Diese erklärende
Übersicht kann helfen, die Unterschiede und Veränderungen beim individuellen und
gemeinsamen Gottesglauben besser zu verstehen, Inhalte des eigenen Glaubens
weiter zu entwickeln und Missverständnisse bis hin zu Konflikten zu vermeiden.
107
Die Zuordnung von Eigenschaften und Merkmalen zu den neun verschiedenen
Bewusstseinsstufen ist zwar problematisch und die zeitliche Abgrenzung derselben
nur in „etwa“ möglich; sie kann aber zur Strukturierung der religiösen
menschheitsgeschichtlichen Entwicklungsphasen beitragen und, wenn nötig, zu einer
Distanzierung von denselben verhelfen.
In einer Tabelle werden der menschheitsgeschichtlichen Dauer der verschiedenen
Bewusstseinsstufen folgende Zeiträume (und Farben) zugeordnet:
Version
Stufe
Beginn etwa
Gott 1.0
BEIGE
vor 100000
Jahren
Merkmale
Menschliche
Wesen, nicht nur
Tier sein
Gott 2.0
PURPUR
vor 50000 Jahren Stammeskulturen,
archaische Kunst,
Magie
Gott 3.0
ROT
vor 10000 Jahren Truppen,
Eroberungen,
Königreiche
Gott 4.0
BLAU
vor 5 000 Jahren
Staaten,
Monotheismus,
Sinn für
Transzendenz
Gott 5.0
ORANGE
vor 650 Jahren
Mobilität,
Volkswirtschaft,
Forschung
Gott 6.0
GRÜN
vor 150 Jahren
Menschenrechte,
Kollektivismus,
Umwelt
Gott 7.0
GELB
vor 60 Jahren
Komplexität.
Chaos,
Interdependenz
Gott 8.0
TÜRKIS
vor 40 Jahren
Globalismus,
weltweite
Vernetzung
Gott 9.0
KORALLE
heute
Noch weitgehend
unklar
(Auch zu den Farben werden Assoziationen angegeben: eine Anlehnung an usamerikanische Psychologen.)
Das Bewusstsein aller Menschen durchläuft, so die zentrale These, ähnlich wie bei
der phylogenetischen Entwicklung beim Embryo und Säugling, mehr oder weniger
ausgeprägt diese Stufen. Es können sich dabei aber Verschiebungen dadurch
ergeben, dass Eigenschaften einer höheren Stufe von manchen Menschen früher
erreicht werden als ihrem Stand bei anderen Eigenschaften entspricht und
umgekehrt bleiben Gläubige auf einer älteren religiösen (Bewusstseins-) Stufe
zurück, obwohl sie sich gesellschaftlich oder wissenschaftlich erheblich weiter
entwickelt haben.
Vermutlich beurteilen viele Gläubige, Theologen und Religionsvertreter diesen
Ansatz (schon im Blick auf seine Sprache!) als unseriös, oberflächlich oder gar als
gefährlich. Andere sind begeistert über dieses unkonventionelle Herangehen an
108
Sinnfragen, bei dem rationales und theologisches Gottesverständnis mit
transzendierender Spiritualität und mystischen Glaubenserfahrungen verbunden
wird.
Nachfolgend der Versuch einer Darstellung hauptsächlich der Gott betreffenden
Aussagen mit einigen Fragen und Bewertungen im Text (z.T. kursiv) und am Ende.
Das Grundverständnis: Religion als Deutungssystem
Wo das System herkommt
Der Anspruch ist kein geringerer als der, die gesamte geistige Entwicklung der
Menschheit einzubeziehen. Es geht um einen Zeitraum von über 100 000 Jahren und
eine Gesamtzahl von über 100 Milliarden Menschen. Für uns heute geht es darum,
sich in den zahllosen Strömungen unserer Zeit durch diese Systematisierung, die
gezielt auf unsere digitale Gegenwart des „web 2.0“ anspielt, besser zurechtzufinden.
Das angewandte Deutungssystem basiert auf der von amerikanischen
Wissenschaftlern entwickelten Ebenentheorie, die (weil „bisher noch von
niemandem“) für Kirche und Spiritualität nutzbar gemacht werden soll.
Die den Ebenen entsprechenden zyklisch auftretenden Bewusstseinsstufen werden
einerseits mit (bis zur Jetztzeit 10) Zahlen, andererseits mit Farben bezeichnet, die
bei der Zuweisung von Eigenschaften als Kürzel dienen. Das Gottesbild ist dann
jeweils ein Teil dieser Entwicklungsstufe. iii
Die dafür erforderliche Typisierung von Gottesbildern wird nicht weiter
problematisiert, sie erfolgt mit einer gewissen Selbstverständlichkeit offenbar auf
Grund von Einschätzung und Zuordnung historischer und gegenwärtiger
Phänomene. Sie wird z. T. dadurch relativiert, dass bei Individuen und Gruppen
Eigenschaften von verschiedenen Bewusstseinsstufen gleichzeitig vorhanden und
wirksam sein können.
Eine Stufe erklärt jeweils den Durchschnitt. Frühere Stufen sind stärker.
Eine Kurzfassung der Stufen in Stichworten und mit Farben ist dem Buch als Tabelle
beigegeben:
Der Übergang von einer Stufe zur anderen wird mit „updates“ verglichen, wie es sie
bei Computerprogrammen gibt. Auch die Neuentwicklungen dort machen nicht alle
sofort mit. Viele arbeiten mit älterer software, bis sie sich mit neuer hardware
einrichten. So entsteht ein Problem, wenn neuere Versionen nicht mehr mit älteren
kompatibel sind. Dieses Beispiel kann direkt auf die Gottesvorstellungen angewandt
werden. Bei der Entwicklung des Bewusstseins kann (nach „Gott 9.0) keine
übersprungen werden. Es müssen die jeweils nächsten mitgemacht werden. Ein
Mensch könne nicht wie ein Computer als ganzer ein neues Betriebssystem erhalten.
Sein Bewusstsein sei komplex, werde lebenslang geformt, bestehe aus mehreren
Bereichen (Beruf, Partnerschaft, Sport, Philosophie). Glücklicherweise sei der
Mensch ein (von Gott geschaffenes) lernfähiges Individuum.
Die menschliche Entwicklung ist von der Lebenspraxis und den vom Individuum dazu
angestellten Reflexionen bestimmt. Sie wird als eine spiralförmige Entwicklung zu
„Höherem“ dargestellt. Die individuelle Entwicklung hat einen bestimmten
Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Entwicklung – und dies gilt ebenso
umgekehrt. Stufen sind Lebensstationen. Es geht dabei nicht immer zwingend
aufwärts. Individuelle und gesellschaftlich sind auch Regression z.B. Kriege,
Naturkatastrophen, bzw. Krankheiten, Arbeitslosigkeit.
109
Viele Menschen (und auch Gesellschaften) entwickeln sich in ihrer Zeitspanne nur
bis zu einer bestimmten Stufe, andere wandern weiter.
Das Zusammenspiel zwischen Individuum und Gesellschaft konkretisieren die
Autoren als ein Ich-Wir-Pendel zwischen den Stufen. Es schwingt zwischen einer
stärkeren Betonung der Selbstunterstützung und dem Selbstopfer hin und her. iv Das
Pendel selbst schwingt nicht auf einer Ebene, sondern kreist. Daher erzeugt es in der
gedachten Aufwärtsbewegung ein „hochschrauben“ im Wechsel von ich – wir –
Bewußtseinsstufen.
Mit dem Ende von Stufe 6.0 - grün wird noch die aufteilende Unterscheidung von
Rängen eingeführt: Die ersten sechs Stufen sind Antworten auf Mangelbedürfnisse
des Menschen und der entsprechenden historischen Formation. Die im zweiten Rang
folgenden drei Stufen beziehen sich auf die Seinsbedürfnisse. Dieser Rang kann
musikalisch begriffen werden als ein erneutes Durchspielen des ersten Ranges auf
einer höheren Oktave.
Einzelzuweisungen.
Wenn man sich auf die Abgrenzungen zwischen unterschiedlichen
Entwicklungsstadien beim Gottesverständnis einlassen will, haben die in Gott 9.0
vorgestellten eine beachtliche Plausibilität. Sie erlauben es, historische Ereignisse
einzuordnen und sich auch selbst damit zu identifizieren oder sich davon zu
distanzieren. (Allerdings in dieser Theorie nur soweit, als dem nicht Anteile dieser
Stufeneigenschaften im eigenen Bewusstsein entgegenstehen).
Gott 1.0 (beige)
Bei 1.0 geht es zunächst ums reine Überleben eines Menschen oder einer Gruppe
am Anfang (und oft am Ende) des Daseins.
Gott ist Urzustand und Einheit. Es ist schwierig, auf dieser Stufe überhaupt von
„Gott“ zusprechen. Gott wird als die unreflektierte unbewusste Grundlage unserer
Seele verstanden. Gott ist noch nicht entfaltet, sondern noch eingefaltet in die
Materie, in die er sich später inkarniert, auf die er sich eingelassen hat, indem er
Mensch geworden ist. Bilder dafür sind der Säugling in der Krippe, strömende Milch,
Urgeste des Nährens, die Güte, das Findelkind.
Leben beginnt mit dem Individuum. Daher ist beige als 1. Stufe „ich“. Das Überleben
des Individuums bedarf der Pflege, die eine starke Gemeinschaft leistet (der WirAnteil in dieser Stufe).
Die Urgeste des Nährens zieht sich auch durch das ganze Erwachsenenleben Jesu.
Er sorgt für Getränke, verteilt Brot, sättigt mehrere Tausend Menschen, hilft beim
Fischfang. Er kümmert sich um den Körper, berührt Kranke, umarmt Aussätzige,
lässt seinen Jünger Johannes an seiner Brust liegen wie eine Mutter ihr Kind.
All das versinnbildlicht Gottes elementare Zusage zu Beige. Jesus identifiziert sich
mit der Existenz an sich und macht seinen Jüngern die elementare Zusage: »Ich lebe
und ihr sollt auch leben« (Johannes 14, 19). Und er hinterlässt seinen Freunden als
Erinnerungszeichen die Urgeste des Nährens: das gemeinsame Mahl.
Gott 2.0 (Purpur)
110
Stufe 2 ist gekennzeichnet durch folgende Stichworte: Im Zauberreich des Kindes,
Überleben durch Kooperation, alles für meinen Clan, Erkennungszeichen Kreis,
Aufkommen von Ritualen und Initiationen, Fruchtbarkeit als göttliche Gunst, Magie,
Esoterik.
Wohin gehen die Toten? Die Menschen stehen vor dem Rätsel des Todes. Intuitiv
erfassen sie, dass Energie nicht verloren gehen kann, und gehen davon aus, dass
die geistige oder seelische Energie, die den Körper verlassen hat, irgendwohin
reisen muss. Es gibt noch keine Vorstellung, wo genau das sein könnte - ein Himmel
oder ein Hades.
Nach dem Ende der Säuglingszeit ist Kooperation überlebenswichtig. Daher ist die
Stufe purpur der Beginn des Wir.
Es ist eine Welt voller Geister, Magier und Jenseits, Stammesgott von Abraham und
Co.
Der biblische Glaube hat starke Wurzeln im purpurnen Bewusstsein: Familiengott der
Erzväter. Jakob ringt mit einem Mann.
Es gibt jetzt heilige Objekte, Wunderheiler, auch einige Züge bei Jesus. Heute:
Heilige Orte, Reliquien, Sakramente.v
Gott 3.0: (Rot)
Von Purpur zu Rot sei es ein Übergang von der magische Schwelle zum Ich als
Nabel der Welt. Die Menschen der späten Steinzeit haben für diesen Schritt
Jahrtausende gebraucht. In unserer Zeit Geborene vollziehen ihn zwischen dem
zweiten und vierten Lebensjahr. Da erkundet das Kind die Grenzen seiner purpurnen
Familie. Es testet, ob die Anweisungen und Verbote der Eltern wirklich gelten. Es
stampft mit dem Fuß, schreit anfallartig oder ruft zornige Parolen „Ich will aber“ und
„Nein!“ Soll es vom kleinen König nicht zum Hochstuhltyrann werden, muss es
Regeln und deren Anerkennung lernen.
In der Gesellschaft gibt es jetzt Feudalismus und Lehnswesen. Streitbare Eroberer.
Entschlossene Entdecker, Krieger. Rote Ritter.
Die klassische Trotzphase ist ein leuchtendes ICH. Die gesellschaftliche Sicht hebt
entsprechend Individuen heraus. (Eine ganze Richtung der Geschichtsschreibung
scheint so bestimmt zu sein.)
Aber doch auch, positiv gesehen: Ausbruch aus einer zu kleinen Welt.
Rebellion gegen die Mutter (Jesus: „Was geht es dich an, was ich tue?“ Joh. 2).
Es gibt zwar noch Kobolde, Hexen, Gespenster und Götter in der roten Welt, aber
die machen einander Konkurrenz, ziehen mit ihren Völkern in den Krieg, die Juden
mit Kriegsgott Jhwe.vi Die christliche Vorstellung des Jesu als Siegertyp ist hier
verankert. Zu bedenken ist, wie sich das heute noch in missionarischen
Zusammenhängen auswirken kann.
Gott 4.0: (blau)
Regeln lernen, Gesetz, Schrift und Organisation werden wichtig: Sich anpassen
lernen. Es gibt Riesenreiche und Nationalstaaten, typisch sind hierarchische
Strukturen (oben und unten. Könige, Beamte, Priester), Das brachte Schutz gegen
das Chaos.
Gott ist der unsichtbare Allmächtige. Sündenbewusstsein und Ausgrenzung der
Sünder, aber auch Barmherzigkeit durch Gesetz.vii Gott als der väterliche Erzieher.viii
111
Es kommt zur Unterscheidung von guten und schlechten Varianten von
Bewusstseinsstufen:
Schlechtes Blau kann „fürchterliche Minderwertigkeitsgefühle erzeugen“,
andererseits hat gerade die Mystik die Königswürde der Seele erfahren.
Das richtige Verhalten von Blau orientiert sich an »der Heiligen Schrift«, welche die
Normen vorgibt - Torah, Bibel oder Koran. Es können aber auch die »Worte des
Vorsitzenden Mao« sein oder die Vereinssatzung. Was in dem Buch steht, muss
buchstäblich befolgt werden und ist unbedingt zu glauben. Die höhere Macht – Gott,
die Partei, der große Vorsitzende, der Generaldirektor – garantiert Sinn und Richtung
und schirmt das System ab gegen Chaos und Widerspruch.ix
Das kreisende Pendel durchschwingt den „Wir-Pol“: die gesellschaftlich
vorgegebenen Hierarchien bestimmen wesentlich den Wert des Individuums. Nach
Schätzung der Autoren lebt die Hälfte der Weltbevölkerung in dieser
Bewusstseinsstufe. „In Sachen Religion dürften es noch weit mehr sein.“
Wie jede andere Stufe bekämpft Gott 4.0 die Stufe am meisten, die direkt unter ihr
liegt.
Pathologisch wird religiöses Blau, wenn es Allmachtsfantasien entwickelt und Regeln
verkündet, sich selbst aber über die eigenen Regeln hinwegsetzt. Allzu strenge
Regeln und Gesetze, fundamentalistische Kampftruppen und Apartheidsysteme
übertreiben die an sich gesunden Blauen Ordnungen und können lebensfeindlich
werden. Insbesondere wenn das ursprüngliche rote Chaos besiegt ist, läuft die blaue
Mentalität Gefahr, auszuarten. Sind da draußen keine natürlichen Feinde mehr,
werden die Feinde im Inneren gesucht. Blau ist dann nicht mehr die Lösung, sondern
das Problem.
Es ist schmerzlich, aber wahr: Ungesundes Blau wirft in allen Religionen einen
rabenschwarzen historischen Schatten. Er breitet sich noch heute in allen Gläubigen
aus, die mit Inbrunst davon überzeugt sind, dass nur sie allein die Wahrheit besitzen.
Blau hat auf der positiven Seite eine ungeheure geistige und soziale Leistung
vorzuweisen. Gott 4.0 begründet die Traditionen der großen Weltreligionen. Sie alle
brachten Millionen ernsthafte Gläubige hervor und sorgten für religiöse Anbindung
aller Schichten. Unter Blau gedeiht die sakrale Kunst; Blau schreibt Bücher über das
Wahre, Schöne und Gute; Blau erbaut Synagogen, Tempel, Kirchen und Moscheen;
Blau komponiert Oratorien und singt gregorianische Choräle; Blau stiftet erhabene,
feierliche Momente. Das Symbolverständnis der Menschen wächst, jede
Lebenserfahrung wird zeichenhaft erfasst und mit tieferem Sinn gedeutet. Die
Heilssakramente werden verwaltet und ausgeteilt. Die heiligen Riten, Zeremonien
und Gottesdienste werden liturgisch durchstrukturiert.
Gott 5.0 (Orange)
Die Bewusstseinsstufe entspricht beim Menschen der Altersstufe der Pubertät.
Er steht an der Schwelle des vernünftigen Erwachsenen, ist zukunftsbetont, geht
mehr Risiken ein. Die Menschen genießen ihre Unabhängigkeit und Beweglichkeit.
Das entspricht dem großen geistigen Schritt vom Mittelalter in die Neuzeit. In Europa
kommt es zur Aufklärung und zu Revolutionen, zur Reformation Martin Luthers (als
„upgrade“ für den Glauben). Vorboten dazu kann man schon im alten Griechenland
sehen.
112
In der abendländischen Gesellschaft gewinnen Banken, Künstler und Fabriken
zunehmende Bedeutung.
Die Menschenrechte werden in der Unabhängigkeitserklärung der USA als
Naturrecht verstanden, Auf zahlreichen Gebieten haben Pioniere erste Erfolge. Die
Welt wird vermessen.
Entwicklungspsychologisch ist die Pubertät eine plausible Ich-Stufe. Das
gesellschaftliche Element der orangen Bewusstseinsstufe zeigt sich im beginnenden
Kapitalismus. Eine Aufspaltung in wenige Gewinner und viele Verlierer ergibt sich
aus dem Effizienzprinzip. Die Probleme vergrößern sich durch den Streit darüber,
was „vernünftig“ sei. Derzeitiger Stand ist, dass eine Wahrheit nur im Diskurs selbst
läge.
Für das Verständnis Gottes bedeutete das: Die Welt funktioniert auch ohne ihn. Der
mythische Gott der Stufe 4.0 hat nach dem Verständnis von 5.0 ausgedient. Er setzt
keine Naturgesetze mehr außer Kraft – die er doch angeblich selbst geschaffen hat.
Die Aussage „Gott ist tot!“ beginnt populär zu werden.
Die Psychologie will verstehen, welche Wirkung das Wort »Gott«, ein bestimmtes
Gottesbild oder religiöse Erfahrungen und Prägungen auf den Menschen haben. Hat
ein Gottesbild eine belebende oder verängstigende Wirkung auf das Selbst eines
Menschen? Vermittelt es ihm Energie, befreit es ihn aus einer existenziellen Krise,
schenkt es ihm Halt, Lebensfreude und Sinn oder hindert es gar daran? Und wo
kommt ein Gottesbild überhaupt her? Positiv gesehen ist Gott 5.0 die Kraft des
Lebens und die Liebe, die zwischen den Menschen lebt. So formuliert es auch die
Bibel: "Gott ist Liebe“ (1. Johannesbrief 16), und das gilt nicht nur für die Liebe unter
Menschen. Sinn der universalen Bindungskraft und des universalen Antriebs ist es,
immer höhere und komplexere Gestalten zu kreieren.
Aber es gibt auch die Erfahrung: Gott ist anders. Er muss nicht in einem Gegensatz
zum neuen wissenschaftlich-rationalen Weltbild gesehen werden. Höchstens vor
allem Anfang konnte er die Welt erschaffen haben, in der sich dann alles Weitere
auch ohne seinen direkten Eingriff entwickeln konnte. Nach G.F.Hegel steht Gott
nicht als höchstes Wesen der Welt gegenüber (Theismus), sondern er wirkt
dialektisch in ihr und mit ihr, als Weltgeist.
S. Freud erklärt den Gottesglauben nunmehr als Auswirkung eines überhöhten
Vaterkomplexes; als hilfreiche Illusionen, die es jungen Menschen erlauben, sich zu
entlasten, wenn sie ihre infantilen Wünsche und Schuldgefühle auf die beiden
Schutzmächte Vater-Gott und Mutter-Kirche projiziere können.
Sogar von Theologen kam Kritik an der vorhergehenden Stufe des Gottesglaubens
4.0: Der Neutestamentler R. Bultmann entwickelte sein Programm der
Entmythologisierung, wogegen sich aber heftiger Protest derer richtet, die auf der
religiösen Stufe 4.0 stehen.
Mit protestantischen Dogmatikern wie Paul Tillich gelangte Theologie als
akademische Wissenschaft zu neuen Erkenntnissen, es gelang aber nicht, diese in
die Breite umzusetzen.
Gott ist jetzt (wieder) ein „verborgener Gott“: er ist nur jenseits der Sicherheit des
Kollektivs zu finden. Das Judentum hat dazu Vorarbeit geleistet – der verborgene
Gott wird in Jesaia. 45,15 sogar als Heiland bezeichnet. x
113
Unzählige Mystiker aus allen Weltreligionen betonen auch: Gott ist so verborgen,
man muss ihn im eigenen Inneren suchen um seine heilsame Kraft zu spüren.
(Warum dies gerade dort sein soll, wird nicht begründet.)
Hindernis ist dabei auf dieser Stufe 5.0 die Fixierung auf die Vernunft und den
wissenschaftlichen Materialismus. Danach gibt es auf der Welt nichts als das
Sichtbare und Fassbare - Gott ist nicht nötig.
Der spirituelle Elan hat auf dieser Stufe zunächst kein reflektiertes Wohin. Deshalb
wird Ersatz bei Drogen oder Abtanzen im Club gesucht. Die Alternative dazu heißt in
orange:
Transzendenz kann jetzt auf dem Weg nach innen („Hinreise“ bei Sölle) durch
mystische Einübung in Meditation und Kontemplation gefunden werden.
Daraus folgt auch eine neuartige geistige Toleranz.
Kennzeichen für die neue Stufe 5.0 bei Jesus ist: neue Freiheit vom Gesetz; er ist
wahrer Mensch als „Menschensohn“, mit Selbstverantwortung und
Selbstbestimmung (nicht als Gottessohn, Erlösergott, Kultgestalt, Herrscher, König).
Für viele moderne Christen ist Gott 5.0 einfach identisch mit der Person Jesus.
»Wenn dein Gott tot ist, nimm doch meinen - ]esus lebt!«. Dieser Satz, seit den
1980er-Jahren auf Autoaufklebern zu bewundern, ist nicht nur ein flapsiger Spruch.
Es ist eine gute Möglichkeit, sich in Zeiten der metaphysischen Verunsicherung an
diese historische Gestalt zu halten, an den Mann aus Nazareth. Menschen auf der
orangen Stufe haben viele Fragen an das Leben und wollen darum wissen: Wie hat
Jesus den 5.0 - Gott gesehen? Wie hat er die Menschen behandelt? Was kann man
konkret von ihm als Mensch lernen? xi
Es kommt zwar zu Konfessionalismus, aber auch zunehmend zu Religionsfreiheit.
Religion wird auch säkularisiert und kommerzialisiert.
Der Erfolg der katholischen Kirche beruht auf ihrer langen Tradition und der Kraft, die
Stufen beige bis blau zusammenzuhalten. Der protestantische Erfolg dagegen beruht
auf der Leistung, das 5.0 Freiheitstor zur Moderne aufgestoßen und damit mutig die
nächste Bewusstseinsstufe erklommen zu haben.
Aber beide werden in Gott 9.0 doch zu den Verlierern gezählt. Kirche und
Konfession wird zur Minderheit. Die Beteiligung an Gottesdiensten und Ressourcen
gehen zurück. Ihre Dienste werden vielfach nicht mehr benötigt. Manche Gläubige
fühlen sich wie im Exil.xii
Der bewusste und sorgfältig begleitete Übergang von blau (4.0) nach orange in den
Gemeinden ist heute überfällig. Hier liegen das dringendste Aufgabenfeld und das
verborgene geistliche Wachstumspotenzial der Kirchen. Wachstum und Wandlung
sind christliche Grundkomponenten. Für die Individuen dieser Ich-Stufe sind diese
relativ leicht anwendbar – die Großorganisation Kirche tut sich ausgesprochen
schwer damit.
Gott 6.0 (grün)
6.0 will, als Gegenprogramm zur nüchternen, wettbewerbsorientierten und effizienten
5.0 Stufe, sensibel und friedfertig sein. Nicht rechnen und besiegen, sondern
mitfühlen, spüren und empfinden.
Bezugspunkte sind: Schwierige Umstände, Liebe und Mitgefühl, Öffnung für neue
Lebensformen (Lebensabschnittspartnerschaften, Familien werden zu Team, zur
Schulfamilie). Grünes Bewusstsein versucht, mit ebenbürtiger und kompetenter
114
Beteiligung zu einem überzeugenden Konsens zu finden. Hierarchien werden
abgelehnt. Der Arbeitsstil ist prozessorientiert, partizipativ und kooperativ. Menschen
entwickeln Empfindsamkeit und Selbstwahrnehmung. Der Erfolg einer Sitzung wird
nicht in erster Linie in einer effektiven Lösung gesehen, sondern wenn sich alle
wohlfühlen.
Orange betrachtet die Welt als Rohstofflieferant, für grün ist es die wiederbeseelte
Natur. In der Gesellschaft gilt: Flowerpower und Pazifismus. Ökologie und soziales
Gewissen, Gewaltlosigkeit und Integration werden groß geschrieben.
Grün geht über die binäre Logik von 5.0 hinaus; auch die kontextabhängige (und
damit relativierende) Wahrnehmung wird einbezogen. Beispiel: Wenn vier
Blindgeborene je ein Element eines Elefanten betasten, so beschreiben sie ihn
jeweils als was ganz anderes. Das grüne Bewusstsein versucht, die
unterschiedlichsten Wahrnehmungen Gottes gleichzeitig zu würdigen und
wertzuschätzen.xiii Damit ist auch das Ende der Mission gekommen.
Spiritualität wird praktiziert - aber nicht in religiösen Dogmen, sondern in Formen
verschiedener spiritueller Richtungen.
Dank des Wachstums in 5.0-orange braucht das Ich nun keine Angst mehr vor
einem strafenden Gott zu haben. Im Vordergrund steht Barmherzigkeit und
Freundschaft mit Gott . Dem entspricht eine geschwisterliche Kirche, wo man den
gütigen, liebevollen Gott trifft. (Was aber z.B. bei der zunehmend pluralistischen
Bibelauslegung Probleme verursacht.)
Der Relativismus verlangt auch von der Theologie, dass sie sich bewusst wird, von
wem und in welchem Umfeld (»Kontext«) Aussagen über Gott gemacht werden. So
kritisiert die feministische Theologie, die sich seit den 1970er-Jahren verbreitet, die
bisherige klassische wissenschaftliche Theologie: Sie sei durchweg aus der
Perspektive von weißen, westlichen Männern aus der Mittelschicht verfasst. Es ist an
der Zeit, eine Theologie aus der Perspektive von Frauen dagegenzustellen. Die
weiblichen Aspekte Gottes werden aufgespürt und weibliche Gottesaussagen in der
Bibel entdeckt: Gott ist nicht nur Vater, sondern auch Mutter, Gebärenden oder
Hausfrau.
Auch »der« Geist ist in der hebräischen Bibel kein männliches Wesen, sondern das
hebräische Wort ruach ist weiblichen Geschlechts. So finden die feministischen
Theologinnen neue Seiten an Gott. Die Bibel wird in gerechte Sprache übertragen,
um alte Denkmuster aufzubrechen.
Das grüne Bewusstsein 6.0 versucht, die unterschiedlichsten Wahrnehmungen
Gottes gleichzeitig zu würdigen und wertzuschätzen. Das ist eine der größten
Errungenschaften dieser Bewusstseinsstufe. Nach den Differenzierungen,
Verurteilungen und Spaltungen, die das Blaue Bewusstsein hervorgerufen hat.
Für Grün haben darum alle Religionen ihre Berechtigung und wollen im Grunde
dasselbe. Über Gott oder die letzte Wirklichkeit, die allem Denken zugrunde liegt und
alle Vorstellungen überschreitet, können Menschen ohnehin nur in Bildern sprechen und diese Bilder sind alle nur zum Teil zutreffend.
Mit dem Ende von Grün 6.0 wird noch die aufteilende Unterscheidung von
Rängen eingeführt: Die ersten sechs Stufen sind (nach Clare Grave) Antworten auf
Mangelbedürfnisse, die zweiten sechs auf die Seinsbedürfnisse)
Mit den folgenden Bewusstseinsebenen 7.0 bis 9.0 wird es möglich, den gesamten
Weg der geistigen Entwicklung zu erkennen. Gelb, eine Ich-Stufe, leitet den zweiten
115
Rang ein, der die erreichten Bewusstseinsstufen auf einer höheren Oktave
durchspielt. Individuum und Gesellschaft haben nun den nötigen Überblick. Sie
sehen, wie wertvoll und unentbehrlich jede der früheren Stufen war, weil jede in
lebensbedrohlichen Situationen den rettenden Ausweg geboten hat. xiv
Gott 7.0 (gelb)
Die Entwicklungsstufe Gelb 7.0 ist systemisch integrierend, insbesondere die drei
sehr unterschiedlichen, aber gleichzeitig vertretenen Stufen blau - 4, orange - 5 und
grün - 6.
Der Mensch hat auf dieser Stufe immer weniger Angst, weil er alles Bisherige gut
überblicken kann. „Es ist ein großer geistiger Schritt, alle bisherigen und zukünftigen
Stufen ehrlich zu würdigen. Jeder Stufe hat der Mensch viel zu verdanken, er muss
alle durchlaufen. Weil der Mensch dazu in der Lage ist, kann er auch mit Menschen
anderer Stufen in ihrer jeweiligen Sprache kommunizieren. Ein Wechsel zwischen
den Gruppen wird von daher rückblickend akzeptiert; die Entwicklung positiv
gesehen, weil sie besseres Leben ermöglicht.
„Die Fähigkeit in Paradoxien zu denken ist gewachsen. Mit Paradoxien umzugehen
ist ein herausragendes Kennzeichen der Bewusstseinsstufe Gelb.“
Die christliche Tradition enthält eine Menge paradoxer Aussagen, deren tiefe
Weisheit auf der Gelben Bewusstseinsstufe erst richtig aufblühen wird. Die biblischen
Autoren muten ihren Lesern nonduale Vorstellungen zu wie: Maria ist sowohl
Jungfrau als auch Mutter. Der Ohnmächtige ist der Ermächtigte. Der Gescheiterte ist
der Erlöser. Der Verwundete ist der Heiler. Jesus ist gestorben und auferstanden.
Jesus ist zugleich Mensch und Gott.“
Wie alle anderen Stufen reagiert auch Gelb hauptsächlich auf die Defizite der
vorhergehenden.
In der Gesellschaft gibt es mehr freie Interaktionen. Im Unterschied zu 6.0 - grün
werden Wachstumshierarchien nun anerkannt, virtuelle Wirklichkeiten können
wahrgenommen werden, mehr integratives Denken und Handeln wird möglich.
Gott ist im Gefolge von Gelb nicht mehr (wie in Orange) „tot“, vielmehr sind alle
Religionen gleich wertvoll. Die Mystiker aller Religionen sind einander näher als es
ein Mystiker und ein fundamentalistischer Anhänger der orthodoxen Lehre innerhalb
derselben Religion sein können.
Gegensätze fallen zusammen – wie wir das auch als coincidentia oppositorum bei
Nikolaus von Cues kennen.
Diesen Gedanken entfaltet vor allem die Lehre von der Trinität. Es gibt nichts
Besseres, um das dualistische Prinzip der Zwei auszuhebeln, als das non-duale
Prinzip der Drei. In der Trinitätslehre begegnet man dem Gelben holografischen
Weltbild. „Wie in jedem Teilstück eines Hologramms das ganze Objekt zu sehen ist,
ist in jeder der drei göttlichen Personen (Vater, Sohn, Heiliger Geist) die gesamte
Gottheit enthalten. Diese drei Personen lassen sich nicht unterscheiden und müssen
doch als eigenständige Personen betrachtet werden. Sie bilden eine ganz besondere
Art von Einheit, »nämlich die trinitarische Einheit eines in Freiheit ganz miteinander
geteilten Lebens, in dem die Differenzierung genauso wahr ist wie das Einssein«.
116
Alle drei göttlichen Personen sind eins in ihrer Zuwendung zum Menschen. Das
innergöttliche Leben ist der Liebe gewidmet, die nichts für sich zurückbehält, sondern
ganz aus sich herausgeht und sich vollkommen hingibt.
Aus dieser Sicht gewinnt die Vorstellung von der Dreifaltigkeit bzw. Dreieinigkeit
Gottes neue Bedeutung.
Einen starken Anteil an den Möglichkeiten dieser Stufe hat die Mystik mit ihrem
besonderen „Leib“-Verständnis.xv Die wahre Würde der Menschen entsteht aber
nicht darin, Teil eines Leibes zu sein, und wäre er ein mystischer, wäre er der Leib
Christi.
Vielmehr soll und kann der Christ die Ganzheit des mystischen Leibes Christi in sich
selbst verwirklichen. (hier wird die Sprache manchmal schwärmerisch, euphorisch,
überhöht, ohne Bezug zur allgemein erfahrbaren Realität werden Behauptungen
formuliert, die natürlich für die Verfasser – oder „Eingeweihte“? - eine gewisse
Schlüssigkeit haben mögen. Später werden viele praktische Möglichkeiten
aufgeführt, um diese mystischen Erfahrungen machen zu können).
Gott 8.0 (türkis)
Während die Stufe 2.0 mythisch alles mit allem verbunden sieht, entspricht türkisem
Denken ein holistischer Ansatz.
Es wird mit metanormalen und transpersonalen Fähigkeiten und einem
Transformationsvermögen des Körpers gerechnet („Körperweisheit“).
Auf einer kosmozentrischen Reflexionsebene ist die Verbundenheit von allem mit
allem zu spüren.
Der Mensch erzeugt durch seine Wahrnehmung ein Konstrukt, das das eigene Ich
verdeckt. Nur fraktaler und übersummativer Intelligenz ist es gegeben, auf einer
holistischen Wir-Stufe die neue Art von Gemeinschaft zu entdecken.
Wie einerseits der Konstruktivismus logisch nur auf einzelne Subjekte bezogen sein
kann, gewinnt diese Stufe des Wir im zweiten Rang gerade ihre Produktivität durch
„Wissen entlang miteinander verbundener Ganzheiten“. Es überwindet (natur- und
geisteswissenschaftlicht) gefundene Wissenteile, verbindet Individuelles mit
Kollektivem und Subjektives mit Objektivem.“
Bei türkisem Denken ist globales Verantwortungsbewusstsein möglich. Die
Menschheit wird als Superorganismus verstanden, die 7 Milliarden Menschen bilden
ähnlich wie die Zellen eines Körpers eine Einheit zu einer aufs Universale
ausgerichteten kollektiven Intelligenz.
Der Wechsel von einer zu einer anderen Bewusstseinsstufe führt auch zu einer
großen Instabilität. Deshalb kann über das Funktionieren des Betriebssystems 8.0
noch nicht im Detail etwas gesagt werden.
Daraus entwickeln sich aber bereits jetzt spontan völlig neue Formen physischer
Gruppen (Flashmob) kurzfristig über Internet, Handy, facebook.
Es muss gelernt werden, damit umzugehen. Denn es sind ja auch prärational
denkende Menschen mit unterwegs. Über digitale Plattformen können rücksichtslos
Aggressionen geschürt werden. Dagegen entwickelt sich Weltethos (Hans Küng) und
Weltbürgertum.
Unsere Wahrnehmung hängt von unserer Grundeinstellung ab, „die“ Wirklichkeit an
sich gibt es nicht. Jede unserer Betrachtungen bringt jeweils eine neue Weltdeutung
hervor.
117
Gott ist auf der Türkis-Stufe pures Bewusstsein oder Geist. Jetzt wird die gesamte
Wirklichkeit zur Diaphanie, sie wird durchscheinend für die tiefere Realität, die nichts
anderes ist als Geist oder Gott 8.0. Es gibt nicht hier Gott und dort Realität, sondern
Gott ist vor, in, mit und unter allem, was ist oder was wir als Seiendes erkennen und
interpretieren. Vergleichbare Erfahrungen bieten auch andere Religionen.
Christliche Prozesstheologie kommt auf der Basis des Philosophie Alfred North
Whitehead zu der Aussage: Das Universum ist ein Netzwerk von
Entwicklungszusammenhängen. Eine „bewegte Ganzheit“, ein offenes Abenteuer
Gottes, das den unzähligen Einzel-Erscheinungen den Übergang in ein unendlich
weit gespanntes Ganzes ermöglicht.
Entsprechend der Ausweitung beim Gottesverständnis ist auch Christus auf Stufe 8.0
der „kosmische Christus“. Als solcher ist er überall gegenwärtig, wo Schmerz
erfahren wird. Das Symbol dafür ist das Kreuz.
Aber Christus ist nicht nur der erlösende Mit-Leidende in jedem Geschöpf. Er ist
auch der Strahlende, der Erleuchtete, der Auferstandene, der in Schönheit
glänzende Spiegel göttlichen Geistes im Bewusstsein des Menschen. Als Gottes
Glanz ist er das »Heilige Alles«, die Freude des Universums. Der kosmische Christus
ist der Immanuel, der »Gott-mit-uns« (Matthäus 1,23). Er schenkt die Heilige
Allgegenwart und pure Präsenz Gottes an alle Dinge und Menschen weiter.
Gott 9.0 (koralle)
Bei den einzelnen Stufen gibt es immer mehr Zuwachs vom Materiellen zum
Geistigen. Auf der Stufe koralle, die wir heute erst als Potential erkennen, wird es
neue Formen umfassender Kommunikation geben. Wie die Menschen im Jahr 1980
es sich nicht träumen ließen, dass es 30 Jahre später im interaktiven Internet
virtuelle „soziale Netzwerke“ geben würdexvi, so haben wir heute nur wenige
Ahnungen der Situationen der Welt vom Jahr 2043. Schwer vorstellbar ist auch, wie
sich die Qualität dieser neuen Ich-Stufe ausdrückt. Als Fortsetzung des Trends der
Ich-Stufen 1.0, 3.0, 5.0 und 7.0 wird das kreisende Pendel noch höhere Geistigkeit
erzeugen.
Zum Abschluss der Stufendarstellung eine Bergbesteigung
Mit Gott 9.0 – koralle schließt die Darstellung der Stufen. Die Autoren erzählen dazu
eine Geschichte vom Gottesberg, der von verschiedenen Gruppen und Seiten zu
ersteigen ist – er wächst während jeder Besteigung und es stellt sich schließlich
heraus, dass er keinen Gipfel hat. Der Berg ist eigentlich gar kein Berg, sondern es
ist ein lebendiges Wesen, das sich mit jedem Menschen, der sich auf es einlässt,
weiter entwickelt. In 9.0 - koralle ist der Mensch ein Mensch für andere und das
dualistische System (auch von Individuum und Gesellschaft) ist „aufgehoben“.
Gott 9.0 muss sich erst noch entwickeln. Diese These bedeutet vielerlei und uns
noch nicht Erkennbares. Sie ermöglicht z.B. die Folgerung, dass von Gott nur „fluid“
gedacht werden kann. Unsere Aufgabe sei, den „spurlosen Weg finden“.
Logischerweise können die Autoren auf der Stufe 9.0 – koralle keine Beschreibungen
liefern, sondern öffnen den „Raum durch Fragen“. Weil alles Leben ein Werden ist
(Luther), sind die Fragen permanent und revolutionärer als die Antworten.
118
Hilfslinien und „Zustände“
Die letzten 60 Seiten von „Gott 9.0“ fallen aus der bis dahin eingehaltenen
Systematik heraus. Zunächst wird von vier Linien gesprochen, die eine Art
Hilfskonstruktion zur Einschätzung einer je konkret vorfindbaren Bewußtseinsstufe
darstellen. Wie schon der das Buch einleitende Test eine Selbstreflexion des
Lesenden ermöglicht, kann einE LeserIn nun über die von ihm/ihr erreichte Stufe auf
den Linien Intelligenz, Spiritualität, Emotionalität und Moral nachdenken mit dem Ziel,
den Raum seines/ihres Bewusstseins (noch besser) zu ergründen. In
psychologischer Manier wird jede Linie noch in die Felder Erkenntnis, Einfühlung und
Wollen unterteilt und eine Verknüpfung zum Handeln empfohlen: es gelte die jüdischchristliche Weisheit „Das Sein ist dort, wo das Handeln ist“.
Dann folgen Erläuterungen über vier „im Innern“ erlebbare Zustände. Ein Ziel des
Buches sei: „Religiös aufgeklärt dank Stufen, spirituell erfahren dank Zuständen“.
Der Lesende kann die Stufen der Außenwelt mit den Zuständen der Innenwelt
korrelieren und eine Tabelle der Versenkungsgrade studieren. Wer sich gleich einem
Tiefseetaucher ins Bewusstsein einsenke, könne den drei natürlichen
Zustandserfahrungen des Wachseins, Träumens und traumlosen Tiefschlafs den
spirituellen Zustand der „Nichtzweiheit“ erfahren.
Hier finden die Mystiker ihren Platz: Auf jeder Stufe können mystische Erfahrungen
gemacht werden, die Menschen stark prägen. Sie offenbaren kein objektives Wissen
und sind nicht von Bildungsgrad oder sozialer Situation abhängig. Wesentlich sei es,
zwischen Versenkungserfahrung und deren Deutung zu unterscheiden – hier wirken
sich Reife und Reflexionsfähigkeit aus. Geschildert werden vier mystische
Versenkungsgrade von grobstofflich/Natur über feinstofflich/Gott und
bilderlos/formlos zur nondualen Einheits-Mystik.
Die drei Gesichter Gottes
Bevor die Autoren sich noch zur Prä-Trans-(Rationalitäts-)Verwechslung, über den
Beitrag der Religionen zum Wandel und dazu äußern, was uns erwarte, erläutern sie
„Die drei Gesichter Gottes“. Diese Gottesvorstellung knüpft an Martin Buber an und
überwindet das Gegensatzdenken von personaler und apersonaler Gotteserfahrung.
Erstens ist Gott erfahrbar als „Naturhaftigkeit“, die sich in allem darstellt, was uns als
Natur bekannt ist.
Zweitens begegnet Gott als „Personhaftigkeit“, von der alles menschliche Personsein
abstammt.
Drittens erfährt man Gott als „Geisthaftigkeit“, in der alles seinen Ursprung hat, was
wir Geist nennen.xvii
»Geist in der ersten Person ist das reine Bewusstsein in uns, das seine Identität
mit dem allumfassenden Göttlichen erkennt. Die Trennung zwischen Schöpfer und
Geschöpf ist aufgehoben. Man ruht in Gott als dem ursprünglichen Selbst, dem „ICH
BIN der ICH BIN“ bzw. „ICH BIN, die ICH BIN“ und ist eins mit Allem. »Ich und der
Vater sind eins« heißt diese Erfahrung bei Jesus (Johannes 10,30). Jesus spricht
selbst davon, dass jeder seiner Freunde diese Erfahrung machen kann.
Geist in der zweiten Person ist das große Du, das große Ihr, der leuchtende,
lebendige, ewig gebende Gott, dem ich mich in Liebe, Andacht, Opfer und Erlösung
hingeben muss. «
„Dieses göttliche Gegenüber ist nicht regressiv zu verstehen im Sinne des
berüchtigten alten Mannes mit weißem Bart, der auf einer Wolke sitzt und wahlweise
gütig lächelt oder Blitze schleudert. Ein längst abgetanes Bild, 5.0 - orange hat
gründlich damit aufgeräumt. Wenn Christen es schaffen, ihr Gottesbild zu reinigen
119
von den traditionellen, mythischen Bildern und dadurch zu Zeugen werden für eine
authentische Erfahrung dieses großen Du, können sie sich und anderen einen
wichtigen Zugang zu Gott erschließen.
Man kann GEIST in der zweiten Person dadurch erfahren, dass man Gott im
Nächsten liebt und diesem ganz praktisch dient - einfach so, ohne jede Forderung
und Hintergedanken, als liebevolles Gegenüber.
„Das dritte Gesicht Gottes wird erfahren als das »Große Es«, die große
unpersönliche, evolutionäre Ordnung aller lebendigen Systeme oder das »Große
Nest des Seins«, das nichts ausschließt und alles in sich birgt. GEIST in der dritten
Person wird oft als "Das Göttliche« umschrieben oder als »Das Eine«, Namenlose,
Wirkliche, Unüberbietbare. Es begegnet als die unfassbare Tiefe des Seins oder der
absolute Urgrund unserer Existenz.
Das Göttliche der dritten Person zeigt sich in allem Wahrgenommenen, der
Schönheit der Natur, der Ästhetik einer mathematischen Formel, den Bewegungen
einer Tänzerin. Die objektivierende Wissenschaft singt das Lied dieses
manifestierten Gottes der äußeren Betrachtung und erforscht ihn im Erkennen seines
Wirkens: Tätiges Wirken, das Entdecken und Gestalten eines sich entwickelnden
Gottes bzw. einer Göttin, der bzw. die Form, Fleisch und Gestalt angenommen hat.
In der spirituellen Praxis hilft die Kontemplation, um sich dem GEIST in der dritten
Person zuzuwenden. Hier wird über ein Objekt (Es) reflektiert, etwa über ein
faszinierendes Kunstwerk, die betörende Schönheit von Musik oder das
geheimnisvolle Zusammenwirken des unendlichen Kosmos.
Versuch einer Bewertung
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Der Ansatz in Gott 9.0 ermöglicht es konsequent, das Gottesverständnis in einer
Entwicklung zu sehen. Es wurden zwar schon bisher geschichtliche
Veränderungsphasen unterschieden (wie z.B. Mythologie, Orthodoxie,
Aufklärung, Pietismus, Postmoderne, pluralistische Religionstheologie), aber
nicht Bewusstseinsstufen in historisch-systematischer Weise so
religionsübergreifend ausformuliert. So ermöglichen es die Autoren, viele
unterschiedliche Konzepte und Positionen einzuordnen. Das kann beim
Verständnis anderer Religionen helfen.
Kritisch zu sehen ist die Zuordnung von Erscheinungsformen in den Stufen. Sie
wirkt ziemlich willkürlich und kaum begründet, insbesondere beim 2. Rang ab
Gelb, (und man muss das ja nicht gleich alles auf das Universum anwenden).
Darum sollte die von den Autoren behauptete Notwendigkeit des Durchlaufens
der Stufen näher daraufhin untersucht werden, ob sie aus den
Wissenschaftsfeldern (v.a. Psychologie), auf denen sie entstanden sind, sinnvoll
auf die Religionsgeschichte übertragen werden können.
Das Buch gibt mannigfaltige Anregungen, sowohl zum kritischen Nachdenken als
auch zu positiven Einschätzungen, z.B. die Überwindung des Gegensatzes
zwischen personalem und nichtpersonalem Gottesverständnis, die Kritik der
Ablehnung transrationaler Erfahrungen im wissenschaftlichen Denken seit der
Aufklärung und der Ablehnung des Übergangs wenigstens von 4.0 - blau zu 5.0
- orange in den Kirchen – auch in den protestantischen!.
Die logisch sich ergebenden Hinweise auf die Mystik werden zwar als conditio
sine qua non vorgetragen, sind dennoch in diesen „Kernfragen des Glaubens“ zu
referieren und kritisch zu prüfen.
zurück zum Inhaltsverzeichnis der Anlagen
120
II . Anlagen zum Verständnis des Glaubens
Darf’s ein bisschen mehr sein? Wort zum Sonntag 21.1.12
Glaube ist Offenheit für MEHR, für die größere Wirklichkeit Gottes. Von daher
kommen Gaben und Aufgaben: Mit dem Verstand erkennen wir, durch Arbeit
schaffen wir, mit Gefühl empfinden wir: Schönes und Bedrohliches. Mehr oder
weniger. Auf- oder abgeblendet. Der Glaube verhilft zu einem Leben in größerem
Zusammenhang: Mehr als in dem Namen Gott enthalten ist. Es darf ruhig noch mehr
als das sein. Dazu kann auch ein „Wort zum Sonntag“ helfen.
Religiöses Denken und Handeln können als Versuch verstanden werden die
Begrenztheit des eigenen Ichs zu erkennen, zu überwinden und es in eine
umfassendere Wirklichkeit einzubringen.
Das Wort zum Sonntag vom 21. Januar 2012,
gesprochen von Verena-Maria Kitz
Größer denken
"Darf es auch ein bisschen mehr sein?", die Frage hat mir als Kind beim Einkaufen
so gut gefallen. Ich fand sie so fein! Aber dieses "feine bisschen mehr" ist heute
ziemlich out. Wenn schon, dann bitte XXL – egal, ob es um Flachbildschirme oder
das Riesenschnitzel auf dem Teller geht.
Wenn es allerdings darum geht, was Menschen vom Leben erwarten, dann ist nichts
mit XXL. Da erlebe ich oft einen ziemlichen Kleinmut, von wegen "Das Leben ist kein
Wunschkonzert". Klar, die Zeiten sind für viele nicht rosig. Wer gerade die Arbeit
verloren hat oder mit einer schweren Krankheit kämpft, erlebt das sehr bitter:
Wünschen und Hoffen allein reichen nicht!
Trotzdem glaube ich: Wenn ich nur auf das hoffe, womit ich rechnen kann, dann ist
kein Platz für Großes, Unerwartetes, gar für Träume. Und damit will ich mich nicht
begnügen.
Ich will – um es etwas pathetisch zu sagen: Größer denken und hoffen! Ich will mehr,
als ich auf den ersten Blick sehen oder machen kann, auch wenn viele das naiv
finden. Das müssen nicht gleich die großen Heldentaten sein – es ist ja nicht jeder
Mutter Teresa oder Martin Luther King. Schon, wenn ich mich nur ein bisschen über
den eigenen Tellerrand hinauswage, kann ich entdecken: Es geht mehr als ich zuerst
gedacht habe!
Das hab ich neulich auf der Autobahn erlebt – zum ersten Mal im Leben hatte mein
Auto einen Platten! Ich konnte am Rand halten, es war also nicht schlimm, aber im
Regen im Berufsverkehr? Bis irgendjemand zu Hilfe kommt, das würde dauern. Und
dann ging es in mir los: Oh Gott, Reifen wechseln, das hab ich noch nie gemacht,
wie soll ich das können? Was, wenn das Auto vom Wagenheber rutscht? Aber –
vielleicht bekomme ich es ja doch hin? Und irgendwie gab es in mir dann so ein
Zutrauen: Komm, trau dich, versuch es wenigstens! Und ich hab es tatsächlich
geschafft! Als ich zuhause ankam, hatte ich das Gefühl: Ich bin ein paar Zentimeter
gewachsen!
Ein anderes Beispiel fürs größer Denken hab ich im Rheingau entdeckt: In einem
kleinen Ort sollte das letzte Kino der Gegend geschlossen werden – einfach nicht
121
mehr rentabel. Das Vincenzstift, eine Behinderteneinrichtung dort, bekam davon
Wind. Sie hatten den Traum: Das könnten wir doch übernehmen! Viele Unterstützer
wurden gefunden – und der Laden brummt! Die Kinofans im Rheingau sind glücklich.
Und es gibt das erste integrative Kino in Deutschland, in dem Menschen mit und
ohne Behinderung zusammenarbeiten!
Wirklich ermutigend ist für mich auch eine Bekannte, deren Sohn einen schweren
Motorradunfall hatte. Ohne Rollstuhl ging gar nichts mehr. Sie hat immer daran
geglaubt: Eines Tages wird er wieder laufen können. Mit unendlicher Energie und
Geduld haben sie es gemeinsam geschafft – er kann wieder erste eigene Schritte
setzen.
Solche Beispiele bestärken mich darin, größer zu denken und zu hoffen: Für mich,
für andere, für unsere Welt. Natürlich weiß ich - damit kann ich nicht einfach alle
Probleme aus der Welt schaffen, das erlebe ich ja selber. Trotzdem: Ich glaube, es
lohnt, denn oft geht doch viel mehr, als ich zunächst gedacht habe und das zieht
Kreise!
Woher kommt die Kraft dazu? Manche nennen das vielleicht positives Denken oder
Selbstvertrauen. Ich erlebe das als eine Kraft, die mir irgendwie zukommt, ich glaube
von Gott. Gott sagt ja zu mir und traut mir viel mehr zu als ich selber! Immer wieder
macht Gott das Angebot: Komm, trau dich, versuch es, ich steh dir zur Seite! Bei
diesem Zutrauen Gottes können wir uns bedienen – und da darf es ruhig auch ein
bisschen mehr sein: am besten eine Portion in Größe XXL!
Kommentare:
Frau Kitz spricht von Gott, ohne ihn anfangs mit diesem Begriff zu nennen. „Größer
denken und hoffen“, „Offenheit für MEHR“, (mit Behinderten und für sie) “Zusammenarbeiten“. Gott wirkt als Kraft, die dazu befähigt. Glaubt sie.
Und sagt das mit Worten und Abkürzungen aus der Alltagssprache: Es darf ruhig ein
bisschen mehr sein – über die Begrenzungen hinaus, die wir uns selbst setzen und
die aus der Umgebung kommen. Die Angebote Gottes wahrnehmen und sich
bedienen: Vieles kommt von weit her und hat Übergröße.. XXL. Der Glaube sieht das
und lebt davon.
GF: „o.k. Aber was mit den „dunklen Seiten“ der / der Menschen? Ein bisschen mehr
Aggressivität, Neid, Mißtrauen?“
Was sagt uns ein neues Gottesverständnis zur üblichen anthropologischen
Beschreibung des Menschen als gut+schlecht? Müssten wir nicht die
Beschreibungen von „menschlicher Natur“ ebenso „aufheben“ wie die
Gottesvorstellungen bis 6.0 (in Gott 9.0)? Das ist – bei aller Kritik an dem USamerikanischen Denkschema, das dem Gott 9.0 zugrunde liegt – der produktive
Beitrag heutiger Einschätzung von geistiger Menschheitsentwicklung,“
„Die Neurobiologie lehrt uns, dass nur ein kleiner Teil unseren Gehirns zu
unserem Bewusstsein beiträgt. Das entspricht auch unserer begrenzten
Wahrnehmungsfähigkeit. Und mit Sicherheit ist uns nicht bewusst, was uns
nicht bewusst ist.
Über die religiöse Kontaktstelle im Glauben an das Mehr in Gott könnte dieses
Potenzial entwickelt werden.
122
Religiöses Denken und Handeln können als Versuch verstanden werden, die
Begrenztheit des eigenen Ichs zu erkennen, zu überwinden und es in eine
umfassendere Wirklichkeit einzubringen.“
zurück zum Inhaltsverzeichnis der Anlagen
Mit Kindern beten – warum und wie? Mit Vorschlägen für die Praxis
Kinder brauchen das Gebet
Kinder wollen die Welt entdecken und verstehen lernen. Sie sind neugierig und wissbegierig. Alles
interessiert sie. Das Laute und das Leise, das Bunte und das Triste. Ihr Entdeckergeist treibt sie voran.
Aber sie haben auch das Bedürfnis nach Ruhe und Besinnung.
Kinder fragen nach Gott. Sie haben religiöse Bedürfnisse. Es interessiert sie, wo er wohnt, ob er sie
beschützt, ob er auch schläft. Sie wollen mit ihm reden. Das sind ganz natürliche Fragen und Interessen
von vierjährigen Kindern wie Nicole. Stefanie ist in der zweiten Klasse. Auch sie ist neugierig und will
verstehen, was Gott macht. Sie schreibt ihm: „Warum hast Du den Himmel blau und das Gras grün
gemacht? Waren das die einzigen Farben, die Du hattest?“
Wenn ein Kind keine Möglichkeit bekommt, sich mit religiösen Fragen auseinander zu setzen, kann es
durchaus Schaden nehmen. Das behauptet zumindest der Tübinger Pädagoge und Theologe Friedrich
Schweitzer. Verzichten Eltern auf religiöse Erziehung, ist die gesunde Entwicklung des Kindes
gefährdet. Oft werden Kinder bei ihren existentiellen Fragen nach Glauben, Sterben und Sinn alleine
gelassen.
In den Jahren der frühen Kindheit ist es wichtig, dass sich Kinder geborgen fühlen können, dass sie sich
behütet und beschützt wissen. Dadurch entwickeln sie Vertrauen. Vertrauen in sich selbst, in andere
und in die Welt. Geborgenheit kann aber erst dann von den Erwachsenen vermittelt werden, wenn
diese sich selbst geborgen fühlen, wenn sie Hoffnung haben. Tragende Hoffnung strahlen Menschen
aus, die eine Beziehung zu Gott haben.
Beim Beten erlebt das Kind, dass es außer den Erwachsenen noch jemanden gibt, der in ihrem Leben
wichtig ist. Dem man alles anvertrauen kann - gute und schlechte Erlebnisse. Das kann Kindern im
Leben helfen und entlastet sie. Gott ist sogar jemand, zu dem man reden kann, wenn einen kein
Erwachsener versteht. Durch Beten erleben Kinder die Gewissheit, nie alleine zu sein: Gott ist da, zu
ihm kann ich beten, mit ihm kann ich reden, ihn kann ich mit ins Leben hinein nehmen.
Erwachsene, die mit ihren Kindern beten, vermitteln ihnen eine Geborgenheit, die das ganze Leben
tragen kann. Gleichzeitig erziehen sie ihre Kinder aber auch zur Selbstständigkeit, denn das Gebet
kann zu einem Ort werden, an dem sich das Kind eigenständig und unabhängig von den Erwachsenen
fühlt. Ingo ist ein Beispiel dafür. Er macht gerade eine schwierige Phase durch, weil er ein
Geschwisterchen bekommen hat und sich die Erwachsene viel Zeit für das Baby nehmen. Ingo hat das
Gefühl zu kurz zu kommen und ist eifersüchtig. In dieser Situation hat er den "lieben Gott" als
Gesprächspartner entdeckt. Mit ihm kann man reden, das weiß er. Bei den ‚Grashüpfern’, seiner
Kindergartengruppe, wird gebetet. Sie machen das an Geburtstagen, aber auch zum Beispiel, als Sven
im Krankenhaus war. Mit Gott kann man also auch reden, wenn es schwierig wird, das hat Ingo
erfahren.
Sein Problem, das er mit dem neuen Brüderchen hat, kann er mit den Eltern nicht besprechen. Der
Vierjährige hat die Erfahrung gemacht, dass die Eltern gleich explodieren, wenn er sagt, was er auf dem
Herzen hat. Einmal, als das Baby lange und laut schrie, hatte Ingo vorgeschlagen, ins Krankenhaus zu
gehen und den kleinen Bruder zurückzugeben. Die Eltern reagierten entsetzt und sagten, er solle sich
solche Gedanken aus dem Kopf schlagen und den Bruder gefälligst lieb haben. Darum betet er: „Lieber
123
Gott, das Baby ist grässlich, es schreit und schreit nur den ganzen Tag. Papa und Mama sind nur noch
für das Baby da. Wenn du es nicht wieder zurück nimmst, werde ich mein Zimmer nicht aufräumen.“
Auch wenn Gott wohl nicht auf die Drohung eingehen wird, ist dieses Gebet wichtig für Ingo. Er
versucht, mit Gott zu verhandeln. Er will, dass seine Erwachsene sich mehr um ihn kümmern. Es stört
ihn, dass er ihre Aufmerksamkeit teilen muss. Bei Gott kann er das offen aussprechen, was die
Erwachsene auf gar keinen Fall hören wollen. Dadurch entlastet ihn sein Gebet. Beim Beten kann er
seine Wut und seine Aggression loswerden. Das hilft ihm, eine neue Einstellung zu seinem Brüderchen
zu bekommen. Er lernt, damit fertig zu werden, dass der Bruder bleibt. Nachdem er ein Ventil gefunden
hat, seine Wut und seinen Ärger herauszulassen, fällt es ihm leichter, Kontakt mit dem Bruder
aufzunehmen. Er merkt, dass es Spaß macht, dem Kleinen ein Spielzeug hinzuhalten, nach dem er
greift. Spielerisch entwickelt sich eine Beziehung zwischen den beiden, und bald will Ingo seinen Bruder
nicht mehr loswerden. Auch sein Ärger ist vorerst vergessen.
Miteinander beten, das ist ein großes Geschenk, das wir haben, vor allem, wenn wir mit dem Gebet
Jesu, dem „Vater unser“ beten. Im Gebet sind wir alle gleich vor Gott als seine Kinder, ob groß oder
klein. Vielleicht fällt es uns leicht, mit den Kindern unmittelbar und spontan zu beten. Gott öffnet uns
eine Tür zu seiner Welt, seine Nähe ist gewiss.
Unser Vorstellungsvermögen kann Gott nicht fassen. Eine Geschichte erzählt:
Im Teich am Waldrand schwammen eine kleine Plötze und eine Kaulquappe zwischen den
Wasserpflanzen. Die beiden Freunde waren unzertrennlich. Eines Morgens entdeckte die
Kaulquappe, dass ihr über Nacht zwei kleine Beine gewachsen waren. „Guck mal“, sagte sie
stolz, „Guck doch mal, ich bin ein Frosch!“ „Quatsch“, sagte die Plötze, „wie kannst du ein Frosch
sein, wenn du noch gestern Abend ein Fisch gewesen bist, genau wie ich!“ Sie redeten und
redeten, bis schließlich die Kaulquappe sagte: „Frosch ist Frosch und Fisch ist Fisch, so ist das
nun mal!“
In den Wochen darauf wuchsen der Kaulquappe auch vorn winzige Beine, und ihr Schwanz
wurde kleiner und kleiner. Und eines schönen Tages kletterte ein richtiger Frosch aus dem
Wasser heraus auf die Wiese. Aber auch die kleine Plötze hatte sich inzwischen zu einem
richtigen Fisch ausgewachsen. Oft fragte sie sich, wo ihr vierfüßiger Freund wohl geblieben war.
Mit einem fröhlichen Plumpsen, das die Wasserblumen ganz durch einander brachte, hüpfte
dann eines Tages der Frosch in den Teich. „Wo bist du gewesen?“, fragte der Fisch aufgeregt.
"Ich bin an Land gewesen", sagte der Frosch. "Ich bin überall herumgehüpft, und ich habe ganz
seltsame Sachen gesehen." "Was denn?" fragte der Fisch. „Vögel“, sagte der Frosch
geheimnisvoll. „Vögel!“ Und er erzählte dem Fisch von den Vögeln. „Sie haben Flügel und zwei
Beine und viele, viele Farben. „Während der Frosch redete, stellte sein Freund sich die Vögel vor:
Er sah sie durch seinen Kopf fliegen, die Vögel. Sie sahen in seiner Vorstellung wie große
gefiederte Fische aus. „Was noch?“ fragte der Fisch ungeduldig. „Kühe“, sagte der Frosch.
„Kühe! Sie haben vier Beine, Hörner, fressen Gras und tragen rosa Säcke voll Milch." "Und
Menschen!" sagte der Frosch. "Männer, Frauen, Kinder! Und er erzählte und erzählte, bis es im
Teich dunkel war.“1
Der Fisch in seinem Teich stellte sich die Kühe und Menschen, von denen der Frosch ihm erzählt
hatte, wie Fische vor. Der Fisch hat in seinem Leben nichts anderes gesehen als Fische, deshalb
stellte er sich alles in Fischgestalt vor. In seinem Kopf waren es die Kühe und die Menschen
Fische. Nur hatte die einen noch einen Euter, vier Beine und Hörner. Und die anderen liefen in
seinem Kopf als aufrecht stehende Fische, ausgestattet mit zwei Beinen, Hut, Mantel und Stock
umher.
1
Leo Lionni, Fisch ist Fisch, 8. Aufl., Köln 1970
124
Draußen außerhalb des Teiches lag die Welt, die der Fisch im Gegensatz zum Frosch nicht
kannte. Alles was er hörte, stellte er sich so vor, wie er es sich nur denken konnte, nach dem,
was er bisher in seinem Teich gesehen hatte.
Der Mensch stellt sich Gott vor, aber Gott ist Gott und Mensch ist Mensch. Auch wir Menschen
haben Schwierigkeiten, uns etwas vorzustellen, was wir aus unserer Umwelt nicht schon kennen.
Unsere Vorstellungskraft reicht nur soweit, dass sie beschreibt und neu zusammen sortiert, was
wir irgendwo schon einmal gesehen oder erlebt haben. Wir Menschen reden von Gott und
versuchen uns Gott vorzustellen. Unsere Vorstellungskraft, unsere Gedanken können ihn aber
nicht fassen. Der Mensch redet von Gott und setzt dabei, bewusst oder unbewusst, ständig seine
eigenen Verhältnisse und Möglichkeiten voraus. Somit wird jedes Bild, das wir uns von Gott
machen, falsch, denn Mensch ist Mensch. Es ist ärgerlich und beunruhigend, dass unsere
menschlichen Möglichkeiten, die sich tagtäglich ausdehnen, nicht ausreichen, um uns Gott
vorzustellen. Unsere Vorstellungskraft, unsere Gedanken, können Gott nicht fassen.
„Wie einen alten Mann, der einen langen Bart trägt, so stelle ich mir
Gott vor“, antwortete ein 10-jähriger Schüler auf die Frage, welches
Bild er von Gott habe. Viele von uns stellen sich Gott so vor. Wir
ordnen ihm dann menschliche Züge und Verhaltensweisen zu. So
wird jedes Bild, das wir uns von Gott machen, falsch. In der Bibel
heißt es: „Du sollst dir kein Bildnis, noch irgend ein Gleichnis
machen.“ Dieses Gebot war für die Menschen des Alten
Testamentes noch ungewöhnlicher als für uns heute. Damals, ca.
1000 Jahre vor Christus, war es üblich, sich Bilder von Göttern zu
machen, sie als Figuren aufzubewahren und sie anzubeten. Sich von
Gott kein Bild zu machen, war ungewöhnlich aber Gott ist nicht in
Bildern zu fassen oder in Figuren zu finden. Das Gebot: "Du sollst dir kein Gleichnis oder Bildnis
von Gott machen", sollte zeigen, dass Gott alle Bilderrahmen sprengt.
Mensch ist Mensch. Wir können Gott nicht erfassen, nicht denken und nicht beweisen. Aber viele
biblische Bilder beschreiben, wie Gott ist - wie er zu uns sein will. - Das ist gut, daran können wir
uns halten. Wenn wir zu Gott beten, können wir Geborgenheit, Nähe und Wärme spüren. Gott ist
mehr als alle Vorstellungen von ihm.
Gerade Kinder schaffen es immer wieder, ihre oft menschlich geprägten Vorstellungen von Gott
aufzugeben und von ihren Erfahrungen mit ihm zu reden. In der Grundschulkindergruppe, mit der
ich arbeitete, sah Thorsten den lieben Gott so: „Gott hat einen kleinen Kopf und einen
Bärenkörper. Seine Beine sind wie Stecknadeln. Er hat Entenfüße und zwei Riesenohren. Er
wohnt in einer Wolke mit hässlichen Tieren an der Wand. Er ist freundlich und gut und sorgt
dafür, dass die Kriege aufhören. Ich glaube, dass er uns lieb hat.“ Thorstens Vorstellung ist von
vielen Eindrücken geprägt. Er sah bei einem Jäger zum ersten Mal in seinem Leben ausgestopfte
Vögel, Iltisse und Wiesel an der Wand. Das sind die ‚hässlichen Tiere’. Den Eindruck des
Jägerzimmers hatte er nicht verkraftet. Das er es jetzt zu Gottes Zimmer machte, war eine Form
der Bewältigung. Er weiß, dass Gott zuhört, deshalb hat er Riesenohren. Gott ist überall, dafür
stehen in Thorstens Leben die Entenfüße. Enten schwimmen auf dem Wasser und können
fliegen. Sein Gottesbild wird jedes Mal neu durch Lebenseindrücke geprägt. Letztendlich ist ihm
aber wichtig, was Gott macht.
125
„Man könnte sich ja fragen,“ meinte Katharina, „wie Gott zu gleicher Zeit bei allen sein kann. Ich
glaube, er ist über die ganze Welt ausgebreitet, er ist unsichtbar und wir atmen ihn ein, und
nachts geht er wieder aus uns heraus. Ich glaube, er geht wieder aus uns heraus, um über uns
zu wachen und um ganz sicher zu sein, dass uns nichts passiert und wir auch rechtzeitig
schlafen gehen.“
Katharinas Vorstellung von Gott ist abstrakt, weil er nach ihrer Überlegung bei allen ist und alles
behütet. Das ist für sie sehr beruhigend. Wichtig ist Kindern, wie Gott ist und wie er handelt. Ihre
Vorstellungen von ihm ändern sich in der Regel und wachsen mit.
------------------------------------------------------------------------------------------------------------Praxisteil
Traditionelle Gebete können regelmäßig als Morgen- und Abendritual gebetet werden. Auch, wenn in
diesen Sprache und Vorstellungen den Kindern fremd sein können, bietet diese Art des Betens
gemeinsamen Gesprächsstoff und die Gebet wachsen ins „Großwerden“ mit hinein. Wenn sie zum
Ritual werden, ist der Vollzug wichtiger als der Inhalt. Das widerspricht nicht der gleichzeitigen
Aufforderung kindgerechte, nicht niedlich Gebete zu sprechen. Im Folgenden einige Anregungen: Hallo
Gott, weißt du, was ich heute gemacht habe? (Das Kind erzählt von seinem Tag.) Jetzt nehm' ich
(Name eines Kuscheltiers, der Puppe oder ähnliches) in den Arm und schlafe – lass’ es dir gut gehen!
*Ich danke dir, Gott, für diesen Tag.
Das Spielen hat Spaß gemacht. Die
Schnecke, die ich mit meinem Stock
geärgert habe, hat mir von dir
erzählt. Du hast es schön. Die Sybille
war blöd, weißt du das schon? Bis
später, ich schlaf’ jetzt.
*Hallo Gott, ich bin aufgewacht.
Wow, die Sonne scheint (oder es
regnet), ich will raus zu meinem
Stein, den von gestern, weißt du *Ich
habe
Wut auf
was der
wohl
macht?
Ichdich,
steh’Gott.
Ichkomm’
hab’ diemitPuppe,
jetzt auf,
raus! die ich
mir gewünscht habe, nicht
bekommen, und du bist
schuld. Ich habe dich
gebeten, dass ich sie kriege.
*Luthers Abendgebet
Du hast das nicht gut
Ich danke dir, mein himmlischer Vater,
gemacht. Ich mag dich nicht
durch Jesus Christus, deinen lieben
mehr. Nie wieder kriege ich
eine so schöne Puppe. Ich
Sohn, dass du mich diesen Tag
bin dir böse –heute abend.
gnädiglich behütest hast; und bitte
dich, du wollest mir vergeben alle
meine Sünden, wo ich Unrecht getan
habe, und mich diese Nacht gnädiglich
behüten. Denn ich befehle mich,
meinen Leib und Seele und alles in
deine Hände. Dein heiliger Engel sei
mit mir, dass der böse Feind keine
Macht an mir finde. Amen.
*Luthers Morgengebet
Ich danke dir, mein
himmlischer Vater, durch
Jesus Christus, deinen
lieben Sohn, dass du mich
diese Nacht, vor allem
Schaden und Gefahr
behütet hast; und bitte dich,
du wolltest mich diesen Tag
auch behüten vor Sünden
und allem Übel, dass dir all
mein Tun und Leben
gefalle. Denn ich befehle
mich, meinen Leib und
Seele und alles in deine
Hände. Dein heiliger Engel
sei mit mir, dass der böse
Feind keine Macht an mir
finde. Amen.
*Psalm 121,1-3,5-8
Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen.
Woher kommt mir Hilfe?
Mandalas malen
Meine Hilfe kommt vom Herrn,
*Malen Sie mit den Kindern zusammen
der Himmel und Erde gemacht hat.
Mandalas aus. Es gibt im Buchhandel eine Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen,
Vielzahl von Mandala-Malbüchern, aber Sie und der dich behütet, schläft nicht.
können ganz einfach auch eigene
Der Herr behütet dich;
Kreisbilder entwerfen, denn nahezu alles
Der Herr ist dein Schatten über deiner rechten Hand,
lässt sich so darstellen. Sie können auch
dass dich des Tages die Sonne nicht steche noch der
ein Lied im Kreis aufschreiben. Ein
Mond des Nachts.
Der Herr behüte dich vor allem Übel,
er behüte deine Seele.
126
Der Herr behüte deinen Ausgang und Eingang
Von nun an bis in Ewigkeit.
Kreisbild, das Sie ausmalen, hilft, sich zu zentrieren, die eigene Mitte zu finden
Fantasiereisen
Die anschließende Anleitung zur Fantasiereise will einen Weg zur Gotteserfahrung öffnen. Sie ist für
eine Gruppe interessierter Erwachsene gedacht, aber auch mit Kindern durchführbar. In dieser Reise
geht es um die unmittelbare Gotteserfahrung.
*„Gott ist der, der immer sein wird. Weder Bilder noch Namen werden ihn erklären. Er bleibt uns voraus,
ist unfassbar für uns. Und trotzdem finden wir ihn immer wieder, z. B. im Gebet. In allen
Lebenssituationen ist er uns nah. In der Meditation erschließt er sich uns. Wir wollen ihm begegnen, so
wie Mose am Dornbusch (vgl. 2. Mose 3). Bitte setzen setzten Sie sich bequem hin, die Hände liegen in
Form einer geöffneten Schale in ihrem Schoß, die Augen können Sie schließen, wenn Sie mögen. Sie
gehen durch die Wüste, es ist heiß, sehr heiß. Die Luft flimmert. Ein paar gelbe Halme rechts und links sonst nichts. Plötzlich entdecken Sie etwas: Feuer, etwas brennt in hellen, gelb-roten Flammen. Sie
gehen näher heran. Ein Busch brennt und verbrennt doch nicht. Eine Stimme ruft Ihren Namen. ‘Gehe
nicht näher heran, diese Erde gehört Gott’. Sie fallen auf die Knie. Jetzt wissen Sie, es ist Gott, der mit
Ihnen redet. Was will er? Sie sind gemeint, für ihn sollen Sie da sein .... Aber wer bist du, Gott, wie heißt
du, wie soll ich dich nennen? Hören Sie, was die Stimme Ihnen sagt (eine Minute Schweigen). Bitte
öffnen Sie die Augen und schauen Sie sich um, strecken Sie sich, wir kommen in den Kreis zurück.
Bitte tauschen Sie sich, jeweils zu zweit aus. Was haben Sie gesehen und gehört? Wer will, kann uns
allen nachher von seiner Erfahrung bei der Fantasiereise berichten.“
*Die folgende Fantasiereise kann in Situationen weiterführen, in denen es um Reifung und
Weiterentwicklung geht.
„Das Leben eines Schmetterlings. Sein Leben beginnt als Ei. Im Ei ist der ganze Schmetterling
angelegt. Auch das Leben der Menschen beginnt im Kleinen. Aber der Mensch, die Person, die sich
einmal entwickeln wird, ist von Anfang an angelegt. Auch der Mensch macht viele Stadien im Leben
durch, verwandelt sich und reift. Auf das Ei folgen die Raupe, dann die Puppe und der Falter.
Die vielgestaltigen Raupen haben kauende Mundwerkzeuge, kurze Fühler, meist sechs Punktaugen.
Sie sind oft bunt, glatt oder haben Warzen, Dornen, Haare. Die Raupen leben meist von Blättern,
Früchten und Samen. Das Stadium der Raupe: Ent-falten, sich Ent-wickeln. Denken Sie an Ihr Leben,
wann und wo gab und gibt es solche Phasen der Entfaltung und Entwicklung (zwei Minuten Stille)?.
Die Puppen nun, das nächste Entwicklungsstadium, ruhen in einem von der Raupe gesponnenen
Kokon im Boden oder hängen mit einem Spinnfaden an Bäumen und Steinen. Ja, diese Phasen gab es
auch in Ihrem Leben. Zeiten, in denen sich nichts tat, nichts vorwärts ging. Vielleicht waren es auch
nötige Ruhephasen, Schutz- und Wandlungsräume (zwei Minuten Stille).
Nun ist er da, dieser große schöne, farbige, bewegliche Schmetterling! Mit den Facettenaugen kann er
Farben wahrnehmen, er hört auch gut. Größe, Gestalt und Färbung der Schmetterlinge sind sehr
unterschiedlich. Jeder ist anders. Lebenslust und Farbigkeit verkörpern sie. Wer den Weg mitgeht im
Leben zwischen ‘aktiv sein’ und ‘auf der Stelle treten’, zwischen Raupe und Puppe, der reift und
entfaltet sich zum lebendigen Schmetterling.“
*Folgender Vorschlag ist für eine Kindergruppe gedacht: Der Besuch im Paradies.
„Legt euch hin, versucht ruhig zu werden und die Augen zu schließen. Ich lade euch ein, heute einen
ganz besonderen Ort zu besuchen. Wir besuchen das Paradies. Zuerst müssen wir durch den dichten
Wald gehen, immer weiter und weiter bis zu Lichtung, wo die Rehe mit ihren Kitzen fressen. Es ist ganz
hell. Wir gehen dem Himmel entgegen. – Der öffnet sich. Wir sind im Paradies. Was seht ihr? Blumen Bäume – Menschen – Tiere – und vielleicht auch Gott? (Zeit lassen, Themen nur anregen, damit sich
die eigenen Bilder entwickeln können). Es ist ruhig und warm – wie riecht es? Geh’ durch den schönen
Garten – wo gefällt es dir am Besten? Bleib’ dort noch eine Weile (Zeit lassen). Der Besuch im Paradies
geht zu Ende. Kommt langsam wieder hierher zurück. Macht die Augen auf, reckt und streckt euch. –
Und nun erzählt, wenn ihr wollt.“
127
Es wird interessant sein, zu erfahren, wie es den Kindern ergangen ist. Sie werden hören, was für
Kinder das ‚Paradies’ ist. Wahrscheinlich sehen sie Dinge, die sie auch in Wirklichkeit gerne so hätten.
Wir erfahren viel über ihre Vorstellungen und Wünsche. Die Kinder werden auch erzählen, ob sie Gott
begegnet sind. Sehr unterschiedliche Gottesvorstellungen werden da sein. Alle in ihrer
Unterschiedlichkeit wahr- und ernst zu nehmen, ist wichtig für die Kinder. Sie können vieles
nebeneinander stehen lassen. Das ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu Toleranz.
Beten mit Leib und Seele: Das Vaterunser
*Das Vaterunser können wir in meditativer ‘Körpersprache’ beten. Man kann sich mit den Kinder
gemeinsam Vorschläge für die Gebärden überlegen oder folgenden Vorschlag übernehmen:
Vater unser im Himmel
Die Arme werden gerade in Richtung Himmel gestreckt.
geheiligt werde dein Name
Die Arme gehen zum Körper, die Hände treffen sich auf dem Herzen
dein Reich komme
Von der Körpermitte gehen offene, empfangende Hände nach vorne
dein Wille geschehe
die Arme kreuzen sich vor der Brust, der Kopf neigt sich nach vorne
wie im Himmel
Hände werden gerade nach oben gestreckt
so auf Erden
Hände zeigen nach unten auf die Erde
unser tägliches Brot gib uns
heute
die wie eine Schale zusammengenommenen Hände, werden an
den Mund geführt
und vergib uns unsere Schuld wir schütteln uns, lassen alles von uns abfallen
wie auch wir vergeben
unseren Schuldigern
wir reichen uns die Hände, eine Versöhnungsgeste
und führe uns nicht in
Versuchung
Arme gehen waagrecht nach vorn, Handflächen senkrecht nach
vorne. Eine Abwehrgeste
sondern erlöse unsvon dem
Bösen
Die Hände treffen sich in Höhe des Herzens vor der Brust, wir öffnen
die Arme weit, als wenn wir jemandem empfangen wollen
denn dein ist das Reich und
die Kraft und die Herrlichkeit
die geöffneten Arme gehen nach oben
in Ewigkeit, Amen
Wir nehmen uns an den Händen.
Dr. Heiderose Gärtner, O Gott, mein Kind will beten, Claudiusverlag: Viele junge
Eltern haben ein distanziertes Verhältnis zu Kirche und christlichem Glauben.
Häufig begegnen sie religiösen Fragen durch ihre Kinder: Wenn im
Kindergarten gebetet wird oder Freunde erzählen, dass sie zu Hause beten,
entstehen bei den Kindern viele Fragen. Die Erwachsenen sind oft hilflos und
wissen keine Antwort. Behutsam nähert sich die Theologin Dr. Heiderose
Gärtner den Ängsten und Vorbehalten verunsicherter Eltern. Sie zeigt Wege
auf, wie verschüttete Zugänge zum Gebet wieder entdeckt werden können.
Durch die kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Gottesbildern und dem
Ausprobieren unterschiedlicher Gebetsformen wird es möglich, eine persönliche Spiritualität
zu entwickeln. Dadurch können sie Ihre Kinder auf ihrem Weg in ein gelingendes Leben
begleiten. Mit vielen konkreten Tipps und Gebetsvorschlägen. (www.familiengebet.de)
Unser Vorstellungsvermögen kann Gott nicht fassen. Eine Geschichte erzählt:
Im Teich am Waldrand schwammen eine kleine Plötze und eine Kaulquappe zwischen den
Wasserpflanzen. Die beiden Freunde waren unzertrennlich. Eines Morgens entdeckte die
Kaulquappe, dass ihr über Nacht zwei kleine Beine gewachsen waren. „Guck mal“, sagte sie
128
stolz, „Guck doch mal, ich bin ein Frosch!“ „Quatsch“, sagte die Plötze, „wie kannst du ein Frosch
sein, wenn du noch gestern Abend ein Fisch gewesen bist, genau wie ich!“ Sie redeten und
redeten, bis schließlich die Kaulquappe sagte: „Frosch ist Frosch und Fisch ist Fisch, so ist das
nun mal!“
In den Wochen darauf wuchsen der Kaulquappe auch vorn winzige Beine, und ihr Schwanz
wurde kleiner und kleiner. Und eines schönen Tages kletterte ein richtiger Frosch aus dem
Wasser heraus auf die Wiese. Aber auch die kleine Plötze hatte sich inzwischen zu einem
richtigen Fisch ausgewachsen. Oft fragte sie sich, wo ihr vierfüßiger Freund wohl geblieben war.
Mit einem fröhlichen Plumpsen, das die Wasserblumen ganz durch einander brachte, hüpfte
dann eines Tages der Frosch in den Teich. „Wo bist du gewesen?“, fragte der Fisch aufgeregt.
"Ich bin an Land gewesen", sagte der Frosch. "Ich bin überall herumgehüpft, und ich habe ganz
seltsame Sachen gesehen." "Was denn?" fragte der Fisch. „Vögel“, sagte der Frosch
geheimnisvoll. „Vögel!“ Und er erzählte dem Fisch von den Vögeln. „Sie haben Flügel und zwei
Beine und viele, viele Farben. „Während der Frosch redete, stellte sein Freund sich die Vögel vor:
Er sah sie durch seinen Kopf fliegen, die Vögel. Sie sahen in seiner Vorstellung wie große
gefiederte Fische aus. „Was noch?“ fragte der Fisch ungeduldig. „Kühe“, sagte der Frosch.
„Kühe! Sie haben vier Beine, Hörner, fressen Gras und tragen rosa Säcke voll Milch." "Und
Menschen!" sagte der Frosch. "Männer, Frauen, Kinder! Und er erzählte und erzählte, bis es im
Teich dunkel war.“2
Der Fisch in seinem Teich stellte sich die Kühe und Menschen, von denen der Frosch ihm erzählt
hatte, wie Fische vor. Der Fisch hat in seinem Leben nichts anderes gesehen als Fische, deshalb
stellte er sich alles in Fischgestalt vor. In seinem Kopf waren es die Kühe und die Menschen
Fische. Nur hatte die einen noch einen Euter, vier Beine und Hörner. Und die anderen liefen in
seinem Kopf als aufrecht stehende Fische, ausgestattet mit zwei Beinen, Hut, Mantel und Stock
umher.
Draußen außerhalb des Teiches lag die Welt, die der Fisch im Gegensatz zum Frosch nicht
kannte. Alles was er hörte, stellte er sich so vor, wie er es sich nur denken konnte, nach dem,
was er bisher in seinem Teich gesehen hatte.
Der Mensch stellt sich Gott vor, aber Gott ist Gott und Mensch ist Mensch. Auch wir Menschen
haben Schwierigkeiten, uns etwas vorzustellen, was wir aus unserer Umwelt nicht schon kennen.
Unsere Vorstellungskraft reicht nur soweit, dass sie beschreibt und neu zusammen sortiert, was
wir irgendwo schon einmal gesehen oder erlebt haben. Wir Menschen reden von Gott und
versuchen uns Gott vorzustellen. Unsere Vorstellungskraft, unsere Gedanken können ihn aber
nicht fassen. Der Mensch redet von Gott und setzt dabei, bewusst oder unbewusst, ständig seine
eigenen Verhältnisse und Möglichkeiten voraus. Somit wird jedes Bild, das wir uns von Gott
machen, falsch, denn Mensch ist Mensch. Es ist ärgerlich und beunruhigend, dass unsere
menschlichen Möglichkeiten, die sich tagtäglich ausdehnen, nicht ausreichen, um uns Gott
vorzustellen. Unsere Vorstellungskraft, unsere Gedanken, können Gott nicht fassen.
Glaube ist ein Geschenk
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Andacht zu Markus 9.24
Einer aber aus der Menge antwortete: Meister, ich habe meinen Sohn hergebracht
zu dir, der hat einen sprachlosen Geist. Und wo er ihn erwischt, reißt er ihn; und er
hat Schaum vor dem Mund und knirscht mit den Zähnen und wird starr. Und ich
habe mit deinen Jüngern geredet, dass sie ihn austreiben sollen, und sie konnten's
nicht. Er aber antwortete ihnen und sprach: 0 du ungläubiges Geschlecht, wie lange
soll ich bei euch sein? Wie lange soll ich euch ertragen? Bringt ihn her zu mir! Und
sie brachten ihn zu ihm. Und sogleich, als ihn der Geist sah, riss er ihn. Und er fiel
2
Leo Lionni, Fisch ist Fisch, 8. Aufl., Köln 1970
129
auf die Erde, wälzte sich und hatte Schaum vor dem Mund. Und Jesus fragte seinen
Vater: Wie lange ist's, dass ihm das widerfährt? Er sprach: Von Kind auf.
Und oft hat er ihn ins Feuer und ins Wasser geworfen, dass er ihn umbrächte. Wenn
du aber etwas kannst, so erbarme dich unser und hilf uns! Jesus aber sprach zu ihm:
Du sagst: Wenn du kannst - alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.
Sogleich schrie der Vater des Kindes: Ich glaube; hilf meinem Unglauben! Als nun
Jesus sah, dass das Volk herbeilief, bedrohte er den unreinen Geist und sprach zu
ihm: Du sprachloser und tauber Geist, ich gebiete dir: Fahre von ihm aus und fahre
nicht mehr in ihn hinein! Da schrie er und riss ihn sehr und fuhr aus. Und der Knabe
lag da wie tot, sodass die Menge sagte: Er ist tot. Jesus aber ergriff ihn bei der Hand
und richtete ihn auf, und er stand auf. Markus 9, 17-27
Andacht zum 17. Sonntag nach Trinitatis
Evangelischer Kirchenbote 42/2011
von Pfarrer Michael Gärtner, Dekan in Ludwigshafen
Es hat etwas Beruhigendes, auf die Jün gerinnen und Jünger in den Evangelien zu schauen.
Sie sind so normal, so we nig perfekt. So wie die christliche Ge meinde heute eben auch. Ich
finde es beruhigend zu lesen, dass es den Jün gern nicht gelungen war, den Sohn des
verzweifelten Vaters zu heilen. Wann gelingt so etwas schon bei uns?
Eine Geschichte von falschen Erwartungen
Aber auch Jesus hat keine übernatürli chen Kräfte.1 Er kann nicht mehr als andere. Was ihn
von den anderen un terscheidet, ist sein Glaube. Und alle Dinge sind möglich dem, der da
glaubt. So fährt schließlich der unreine Geist aus dem Jungen aus, der taub stumme
Epileptiker wird gesund.
Eine Geschichte von falschen Erwar tungen, die enttäuscht werden, ist diese Erzählung
aus dem Markusevangelium. Zugleich ist sie eine Geschichte davon, wie einer lernt, die
Welt neu zu sehen. Der Vater des Jungen erwartet die große Veränderung im Leben seines
Kindes und in seinem eigenen Leben von der Kraft eines Mächtigen. Er sucht einen, der
Macht hat über das, was das Leben seiner Familie so sehr belastet. Er läuft von Arzt zu Arzt,
von Heiler zu Heiler, von Dämonenaustreiber zu Dämonen-austreiber, vom Kleinen zum
Großen, vom Guten zum Besseren. So gelangt er schließlich zu Jesus – in der Hoffnung hier
einen Besseren und Mächtigeren gefunden zu haben. Aber Jesus ist nicht besser als die
anderen. Jesus hat keine Macht über das, was den Jungen plagt. 2
Gott erwartet von uns nichts außer Vertrauen
Jesus verweist den Vater an Gott. Wenn etwas die Welt des Vaters verändern kann, dann ist
es Gott. Gott erwartet
nicht mehr, als dass man ihm vertraut.3 Aber auch dieses Vertrauen kann man nicht machen.
Sich ohne Vorbehalte in Gottes Hände fallen zu lassen, das übersteigt die Fähigkeiten einer
menschlichen Seele. Das Vertrauen auf Gott, der Glaube an Gott ist ein Ge schenk, um das
man nur bitten kann.
„Ich glaube – hilf meinem Unglauben!" In diesem Moment lernt der Vater die Welt neu
sehen. Das Wunder ist eigentlich nicht die Heilung des Soh nes. Das Wunder ist der Glaube
des Vaters. Gott greift in das Leben des Va ters ein und schenkt ihm den Glauben. 4
Glaube ist ein Geschenk.5 Man kann keinem Menschen sagen: „Du musst glauben!" Man
kann Vertrauen nicht anordnen. Vertrauen entwickelt sich, Vertrauen wird geschenkt. Das
Vertrau en auf Gott wird uns von ihm selbst ge schenkt. Wenn ich auf Gott vertrauen kann,
dann wird die Welt heil. Dann bin ich sicher, dass mich nichts von sei ner Liebe trennen
kann. Dann kann ich heil werden, auch wenn ich krank bin. Dann kann ich heil werden, auch
wenn ich innerlich zerrissen bin von Sorgen. Denn dieses Vertrauen auf Gott, das wir den
Glauben nennen, nimmt mir die Angst ins Bodenlose fallen zu können.
130
Der Vater des Jungen hört auf, nach dem mächtigen Heiler zu suchen und lässt sich ganz auf
Gott fallen. Das ist der Moment, in dem sein Leben und das seines Kindes eine Wende
nehmen. Übrigens, wenn Sie noch die beiden folgenden Verse lesen, wird klar: Die Jünger
hatten letztlich nichts verstan den. Schade eigentlich. Aber auch ein wenig beruhigend.
(28 Und da er heimkam, fragten ihn seine Jünger besonders: Warum konnten wir ihn nicht
austreiben? 29 Und er sprach: Diese Art kann mit nichts ausfahren denn durch Beten und
Fasten.)
Gebet: Jesus Christus, du hast uns den Glauben vorgelebt. Gib uns Glauben.
Wohin sollen wir gehen, außer zu dir, wenn unser Glaube erloschen ist? Glaube an
unserer Stelle, damit unser Glaube anfängt zu leben in der Stunde, die du
bestimmst.. Amen. (Jörg Zink)
In vorstehendem Praxisbeispiel („Andacht“ zum 17.Sonntag nach Trinitatis 2011 zu
Markus 9,17-27 von Dekan Dr. Michael Gärtner) werden als Fußnoten einige Fragen und
Kommentare angemerkt, die die Relevanz neuerer Konzeptionen zum Gottesverständnis
ansprechen, wie sie im theologischen Arbeitskreis der Evangelischen Akademikerschaft
i.D. Landesverband Pfalz-Saar geprüft und diskutiert werden.
Danach folgt eine Fassung der Andacht, in der versucht wird, mögliche Auswirkungen
neuerer Konzeptionen zum Gottesverständnis zu berücksichtigen.
1.“Jesus hat keine übernatürlichen Kräfte“: Er wird also nicht wie nach z.T. früherem, teils
populärem Verständnis als wundermächtiger Gottessohn (schon gar nicht als „Gott“)
gesehen, der Heilungen vollbringt, die nach heutigen biologisch-physischen Erkenntnissen
unwahrscheinlich oder unmöglich sind.
2. Die „Mächtigkeit“ Jesus wird, anders als im Bibeltext („bedrohte er den unreinen Geist
und sprach zu ihm: Du sprachloser und tauber Geist, ich gebiete dir“ ... ) etwas
heruntergespielt, weil übernatürliche Einwirkung auf den Geschehensablauf nicht mehr als
Beweis für die Besonderheit Jesu gilt und es demgemäß („nur“) auf den Glauben
ankommt.
3. Glauben wird, entsprechend neuerem Verständnis (z.B. auch bei H. Küng), mit
Vertrauen gleichgesetzt. Gegenüber der Krankheit (des Jungen) zeigt er sich auch als
Macht (Gottes), auf deren Wirkung der Glaube hofft (und sie be-wirkt?). Jesus tadelt den
geringen Glauben insbesondere der Jünger, Gärtner bezeichnet den Glauben und das
Vertrauen als Gabe Gottes (so auch H.Küng). Es scheint aber in dem Bibeltext und bei
Gärtner nicht entscheidend darauf anzukommen, auf wen oder was sich dieser Glaube
richtet, also auf das Gottesverständnis. Wenn Glaube auch als Erwartung verstanden
wird, dann richtete sich der Glaube des Vaters zunächst auf die Jünger, dann auf Jesus
als Helfer und Heiler. Der dahinter und darüber stehende Gott (für die Juden Jahwe) kann
also auf unterschiedliches Verständnis hin wirksam werden. Es kommt (in einer
schwierigen Situation) nicht hauptsächlich auf den „richtigen“, sondern auf den starken
Glauben an (des Einzelnen und in der „Menge“).
4. Gott bewirkt (weniger betont) die (nachhaltige?) Heilung des Jungen, aber auch den
Glauben des Vaters. Es kann also (auch in dieser Geschichte und ihrer Auslegung)
unterschieden werden zwischen einem real-physiologischen und einem (ebenso realen)
geistigen Wirken Gottes. (Für Letzteres sehen manche Theologen und
Naturwissenschaftler, z.B. Polkinghorne, mehr Möglichkeiten als für das Heilen von
Epilepsie, Parkinson - von einem Papst bewirkt - oder Blindheit; nicht zu reden von der
Wiederbelebung eines Toten. Für Jesus war die Möglichkeit eines direkten Eingreifens
Gottes in den Geschehensablauf kein Problem, bei der Darstellung von „Wundern“ gibt es
aber beachtliche Unterschiede).
131
5. Wie kommt es zu Glauben und Vertrauen? Der Vater des Jungen erkennt und gesteht
seinen Mangel an Glauben und traut Jesus (im Bibeltext Jesus! Nicht wie in der Andacht
Gott, von dem in dem ausgewählten Text gar keine Rede ist; ) zu, ihm gegen seinen
Unglauben zu helfen. Gott wirkt im und aus dem Hintergrund. Bei dem Wort Glauben wird
fast immer – selbstverständlich - vorausgesetzt, dass er auf Gott gerichtet ist
In den von Gärtner noch erwähnten 2 folgenden Versen werden von Jesus auf die Frage
der Jünger, warum sie den bösen Geist nicht austreiben konnten, noch „Beten und
Fasten“ als „Heilmittel“ genannt. Sowohl Jesus als auch die Jünger hielten also von
„normalen“ Menschen bewirkte Heilungen dieser Art für möglich. Die anfangs von Gärtner
gestellte Frage „Wann gelingt so etwas schon bei uns?“ ist also berechtigt, findet aber
keine Antwort. Ist es nur der Glaube an das Eintreten von etwas eigentlich „Unmöglichem“
oder muss es doch der Glaube an den (christlichen?) Gott sein?
Es folgt der Entwurf einer Veränderung dieser Andacht mit Einbeziehung von Vorschlägen
aus neueren Konzeptionen zum Gottesverständnis aus den Stellungnahmen des
theologischen Arbeitskreises der EAiD:
Text Markus 9,17-27 (wie oben, evtl. mit anderer Übersetzung). Daraus wird eine
einfache, kurze Aussage zum Gottesverständnis abgeleitet (entsprechend der Zielsetzung
des Arbeitskreises, Kernsätze eines zeitgemäßen Glaubens zu formulieren; in diesem
Versuch am Ende, nach dem Gebet, und etwas ausführlicher am Anfang dieses
Kommentars).
Glaube ist Geschenk – wie ist es anzunehmen?
Die Jüngerinnen und Jünger haben den Vater des kranken Jungen enttäuscht: Es
war ihnen nicht gelungen, die nach damaligem Verständnis von einem bösen Geist
verursachte Epilepsie zu heilen. Nun erwartet der verzweifelte Vater mehr von Jesus:
Hilf uns, wenn du kannst!
Aber Jesus reagiert in dieser Geschichte nicht als Wunderheiler mit übernatürlichen
Kräften. Er verweist auf die Kraft des Glaubens und sagt: „Alle Dinge sind möglich
dem, der da glaubt“. Es gibt eine größere geistige Wirklichkeit für das Leben und
auch über der Krankheit, aus der heraus und durch die Besserung und Hilfe kommen
kann. Mit seinem starken Glauben bewirkt Jesus offenbar eine Glaubensstärkung
beim Vater, und damit auch das Aufhören des Anfalls mit seinen bedrohlichen
Erscheinungen. Das erleben und verstehen die Zuschauer (und die Leser der
Geschichte) als das Ausfahren des unreinen Geistes aus dem Jungen. Der
taubstumme Epileptiker kann aufstehen.
Aus Anlass und am Beispiel eines gesundheitlichen Notfalls wird von Jesus die
Dimension des Glaubens als geistige Kraft und Größe bewusst gemacht: Aus ihm
ergibt sich das Verständnis der Welt und des Lebens mit seinen Rangordnungen und
Möglichkeiten. Das Entscheidende ist nicht das, was direkt vor Augen ist, sondern
der Geist, das Bewusstsein, die Offenheit für die größere Wirklichkeit Gottes, von wo
aus Veränderungen ausgehen und Hilfe kommt. „Ich glaube, hilft meinem
Unglauben“ sagt der Vater: Wie wir alle lebt er nur wenig, zu wenig aus der Offenheit
für Größeres, Anderes, die Jesus so wirksam und überzeugend gezeigt hat. Die
Beschränkung auf das scheinbar Unabänderliche, Gewohnte und Bekannte ist
vorherrschend.
132
Jesus zeigt in der Begegnung mit dem epileptischen Jungen und seinem Vater, dass
es mehr gibt und auf mehr ankommt als die leidigen und drastisch geschilderten
Symptome der Krankheit. Es geht um den Grund und die Kraft des Lebens, das uns
geschenkt ist. Finde ich es so gut, wie es ist?
Jesus verweist auf den Glauben, ohne zu sagen, woran geglaubt werden soll und
kann. Das setzt er offenbar als selbstverständlich voraus. Ganz selbstverständlich,
aber schwer zu beschreiben: Da kommt Gott in den Blick, ohne dass er in der
Geschichte genannt wird. Den er seinen „Vater“ nennt, zu dem alle Vertrauen haben
können. Der durch ihn selbst wirkt. Und helfen kann. Und heilen.
Der Bibeltext erzählt davon, wie einer lernt, die Welt neu zu sehen. Der Vater des
Jungen erwartet die große Veränderung im Leben seines Kindes und in seinem
eigenen Leben von der Kraft eines Mächtigen. Er sucht einen, der Macht hat über
das, was das Leben seiner Familie so sehr belastet. Er läuft von Arzt zu Arzt, von
Heiler zu Heiler, von Dämonenaustreiber zu Dämonenaustreiber, vom Kleinen zum
Großen, vom Guten zum Besseren. So gelangt er schließlich zu Jesus – in der
Hoffnung, hier einen Besseren und Mächtigeren gefunden zu haben. Aber Jesus ist
nicht besser als die anderen. Jesus hat keine Macht über das, was den Jungen plagt.
Jesus verweist den Vater auf den Glauben und damit auf den personalen Gott. Das
Wunder ist eigentlich nicht die Heilung des Sohnes. Das Wunder ist der Glaube des
Vaters. Durch den Glauben erkennt er, dass hinter Jesus die Größe und Macht
Gottes steht und für ihn und seinen Sohn wirksam wird, wenn er ihr bedingungslos
vertraut.
Dieses Vertrauen kann man nicht machen. Das Vertrauen auf Gott, der Glaube an
den helfenden Gott, kommt als ein Geschenk, um das man aber bitten kann. Vom
eigenen Klein-Glauben aus beten: Hilf meinem Unglauben!" Dann kann ich heil
werden, auch wenn ich krank bin. Und Hilfe auf verschiedene Weise erfahren.
Gebet: Jesus Christus, du hast uns Glauben vorgelebt. Hilf uns, zu dem Glauben an
Gott zu kommen und das Vertrauen zu ihm als der größeren Wirklichkeit wie ein
Geschenk zu finden und zu leben.
Kernsatz: Glaube ist Offenheit für MEHR: Hilfe, Helfen, Kraft, Verstehen. Gott.
Anzunehmen als Geschenk.
zurück zum Inhaltsverzeichnis der Anlagen
Methoden und Wege zu mystischer Erfahrung
Inhalt der Anlage „Wege und Methoden zu mystischer Erfahrung“:
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Verwunderung und Staunen
Ein „zweiter Zustand mystischer Versenkung“ lässt „Innere Bilder und subtile
Phänomene erfahren“.
Ins Herz der Bilder eindringen
Zeuge-Bewusstsein: Der Geist bezeugt unseren Geist
Die Bilder zerschmelzen lassen
„Dritter Zustand mystischer Versenkung:
Formlose Zustände erfahren - die bilderlose Schau
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„Das Leeren der Bilder“
Nicht-Gott und Nicht-Bild erfahren
„Die inwendige Gottesschau
Das letzte Hindernis
Vierter Zustand mystischer Versenkung
Gottes Auge ist mein Auge
„Eingefaltetsein
Einssein in Christus
„Wohin nach der nondualen Erfahrung?
Verwunderung und Staunen
„Der erste Schritt auf dem mystischen Weg ist das Staunen [...] Die Seele braucht das
Staunen, das immer wieder erneute Freiwerden von Gewohnheiten, Sichtweisen,
Überzeugungen, die sich wie Fettschichten, die unberührbar und unempfindlich
machen, um uns lagern.“
Mystiker versuchen, „, jeden Augenblick mit allen Sinnen zu schmecken, um das
Gewahrsein im Jetzt verankern zu können.“ Das „führt irgendwann zur »sapientia«, der
Weisheit des Erkennens, dass die ganze Schöpfung nach Gott schmeckt, wie Meister
Eckart sagte.“ Auch die Lektüre mystischer Zeugnisse kann eine erste »Sensibilisierung
für das mystische Erleben« erzeugen und empfindungsfähig für den »Göttlichen
Bereich« machen.
Viele Menschen finden den Zugang durch weitere »irrationale Einfallstore«, die ihnen
das Herz öffnen: Musik, Tanz, Poesie, Kunst, Natur, liebevolle oder schmerzliche
Begegnungen. Sie alle können das Geheimnis der Wirklichkeit mitten in der Welt
spürbar machen.
„Oft ist es die Schöpfung, das Wilde, Erhabene und Schöne in der Natur, das einen
vorbereitet auf die Begegnung mit Gott.177 Nichts anderes empfahl Jesus in der
Bergpredigt, als er auf die Vögel am Himmel und die Lilien auf dem Felde hinwies - sie
leben im reinen Jetzt. Viele christliche Mystiker sind ihm gefolgt und haben
Naturphänomene meditiert, um diese irdische Wirklichkeit radikal neu zu erfahren.
Bernhard von Clairvaux sprach sogar einmal davon, er habe gar keine anderen
geistlichen Lehrer gehabt als die Buchen und die Eichen.“ Das wird als „nonduales
Einswerden mit Phänomenen der sichtbaren Welt“ bezeichnet und verstanden.
Ein „zweiter Zustand mystischer Versenkung“ lässt „Innere Bilder und subtile
Phänomene erfahren“.
„Hat man die wache Durchdringung der äußeren, sinnlichen Dingwelt eingeübt, so kann
man sie als ein Senklot nutzen hinunter zur Wahrnehmung der inneren subtilen
Wirklichkeit. Das Reich der Seele, zu dem man hier vordringt, entspricht den bekannten
bilderreichen Zuständen, in die man beim Träumen eintaucht. Nacht für Nacht machen
wir dabei Erfahrungen mit einem inneren feinstofflichen Körper und einer Welt, die nicht
an physikalische Gesetzmäßigkeiten gebunden ist. In die Traumgeschehnisse kann
man normalerweise nicht eingreifen, die Bilder laufen einfach ab. Häufig kann man sich
nicht einmal an die eigenen Träume erinnern.
Wer den zweiten Versenkungsgrad erreicht, ist dagegen in der Lage, sich bei völlig
wachem Bewusstsein frei in diesem subtilen Reich zu bewegen. Er hat das Gefühl,
134
»erwacht« zu sein. Er weiß nun, dass er nicht nur ein »natürlicher Mensch« ist, sondern
auch ein »geistlicher Mensch«. So sagt es Paulus (1. Korintherbrief 2,1-5).
„Man begegnet einer Fülle von inneren und teilweise ungewöhnlichen Bildern. Es gibt
Visionen, bedeutungsvolle Träume, direkte Eingebungen, Auditionen, Ekstasen und
Verzückungen. Da ist ein inneres Licht, man sieht Gestalten, Dinge und Landschaften,
begegnet seltsamen Wesen und wird von starken Emotionen ergriffen. Eine Vielzahl
solcher subtilen Erlebnisse wird in der Bibel unter dem Begriff »Gesichte« geführt. Dazu
gehören große Träume, prophetische Visionen und endzeitliche Offenbarungen. Darin
wird Gott geschaut oder als der »Absender« erkannt (4. Mose/Numeri 12, 6), der das
Volk oder Einzelne zur Umkehr auffordert oder ihnen eine neue Einsicht schenkt.“
Ins Herz der Bilder eindringen
Wer sich dem subtilen Traumbewusstsein nähern und eindringen möchte in das »Herz
der Bilder«, sollte sich in Begleitung eines Psychologen, Therapeuten oder Seelsorgers
mit seinen Traumbildern auseinandersetzen oder meditativ-imaginative Methoden
wählen.
Ein neuer, aber schon solide erforschter Weg, der sich vorzüglich für diese zweite
Zustandsebene eignet, ist die Wertimagination. Als wertorientierte Methode fördert sie
vor allem die persönliche Begegnung mit den inneren sinnstiftenden Geisteskräften des
Guten, Wahren und Schönen, an denen es heute so sehr mangelt.
Nach einer Eingangsphase in die subtile Versenkung mit geschlossenen Augen
beginnen etwa 30 Minuten lange imaginative Wanderungen durch die Landschaften
der eigenen Seele - ganz individuell wie beim Träumen. Allerdings ist man die ganze
Zeit bewusst und kann aktiv den Verlauf der Wanderung mitbestimmen. Hier trifft man
auf die Werte in der eigenen Seele in Form von Gestalten. Mut beispielsweise erscheint
in Form der »Mutigen«, jeweils als Mann und Frau. Diese Wertgestalten sind die
unterstützenden Aspekte des unbewussten Geistes, und in den Imaginationen vertraut
man sich ihrer Führung an. Sie fördern die Selbstwahrnehmung und Sinnfindung, aber
auch die Begegnung mit inneren Gottesbildern.“
Zeuge-Bewusstsein: Der Geist bezeugt unseren Geist
Wer zusätzlich zu seinen Wertimaginationen kontemplativ betet oder meditiert, wird
dadurch auch wacher und bewusster träumen. Sein Bewusstsein betrachtet die
Traumbilder wie ein unbefangener Zeuge.
»Geistliche Menschen«, so Paulus, erlangen ein lebendiges, radikal neues
Bewusstsein davon, dass der Geist Gottes in ihnen wohnt. Sie gewinnen ein dauerhaft
erwachtes Zeuge-Bewusstsein: »Der Geist selbst gibt Zeugnis unserem Geist« (Römer
8,16). Das Bewusstsein verweilt in unbewegter Aufmerksamkeit als innerer Zeuge und
gewahrt die inneren Bilder, ohne sich mit etwas zu identifizieren. Dadurch identifiziert
man sich immer weniger mit dem, was man sonst im Alltagsbewusstsein als »Ich«
betrachtet. Ab jetzt kann man auch Klarträume oder luzide Träume haben - also
Träume, bei denen man sich die ganze Zeit im Traum bewusst ist, dass man träumt
und einen Traumcharakter hat.
Wer öfter Wertimaginationen übt, kann bei einem erfahrenen spirituellen Begleiter
lernen, sich weiter hinabzusenken in die kontemplative Tiefe, also die Schicht
»unterhalb der Bilder«. Manche erleben es so, als ob sie einfach aus den Bildern
»heraustreten« würden in den leeren Raum und gelangen so zum dritten
Versenkungsgrad.“
„Die Bilder zerschmelzen lassen
135
Auf der ganzen Welt haben Menschen sakrale Bilder, Symbole, Räume und
Kunstwerke geschaffen, deren stille, ungeteilte Betrachtung ebenfalls subtile
Erfahrungen auslösen kann und sie zum Fenster für das Göttliche werden lässt. Dazu
gehören Tempel, Synagogen, Kirchen, Moscheen, Ikonen, Kreuze, Heiligenfiguren,
heilige Schreine, Götterbilder oder Buddhastatuen, aber auch Lieder, Liturgien, Tänze
oder Sakramente.
Viele Mystiker konnten dank ihrem Verweilen an solchen konkreten Stützpunkten der
Kontemplation zu subtilen Erfahrungen kommen.“
„Den inneren Spiegel reinigen
So großartig die Zeugnisse subtiler Zustände auch sind, sie stellen keineswegs das
Ende des Versenkungsweges dar. Wer noch tiefer nach Gott oder der letzten
Wirklichkeit sucht, leidet darunter, dass er es ja immer noch mit Bildern und
Vorstellungen zu tun hat, die zwischen ihm und Gott stehen. Die Versuchung ist groß,
sich auf die Visionen, Stimmen und Ekstasen in »geistlicher Eitelkeit« etwas
einzubilden. Im subtilen zweiten Versenkungsgrad geht es aber gerade darum, den
inneren »Spiegel« von allen möglichen Selbsttäuschungen, Anhaftungen und
Egobedürfnissen zu reinigen. Dazu gehört auch der spirituelle Hochmut, von dem
gerade fortgeschrittene spirituelle Sucher, Heilige und Gurus gerne befallen werden. Es
braucht eine Schule des Lassens, die der Vorbereitung auf eine noch größere Schau
dient.“
Wie die bilderlose Schau aussieht, zeigt der dritte Versenkungsgrad.
„Dritter Zustand mystischer Versenkung:
Formlose Zustände erfahren - die bilderlose Schau
Ein Zeichen fortgeschrittener Versenkung ist das bilderlose Sehen: »In dieser Tiefe gibt
es keine Gedanken, keine Bilder, keine Überlegungen und kein Machen. Alles geht nur
durch das Schauen und das Sein.«
„Gerade die reiferen Mystiker bemühen sich nur noch ums Loslassen und
Leerwerden von allen Gedanken, Vorstellungen und Bildern. Nichts soll mehr zwischen
ihnen und Gott stehen. Im Johannesevangelium heißt es ganz schlicht und tief: »Er
muss wachsen, ich aber muss abnehmen« (Johannes 3, 30). Hier im dritten
Versenkungsgrad geht das Erwachen weiter: Jetzt lernt man das Zustandsaggregat
des traumlosen, bilderlosen Tiefschlafs vollständig wach zu erfahren. Im »wachenden«
Tiefschlaf verlässt man endgültig die Welt der Formen und Bilder, die man am Tag und
subtil auch noch in den Träumen wahrnimmt. Nun geschieht das »Erwachen des
Bewusstseins aus dem Traum der Form«.“
„Das Leeren der Bilder“
Wer sich dem dritten Versenkungsgrad nähert, räumt sein Bewusstseinsfeld und kann
sich bei vollem Wachbewusstsein nach und nach von allen Bildern lösen, vor allem von
den Gottesbildern. Keine menschliche Vorstellung, kein Bild kann Gott erfassen. Jesus
formulierte es so:
Gott ist Geist, und die ihn anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit
anbeten (Johannes 4, 24).“
136
Nicht-Gott und Nicht-Bild erfahren
Gelassenheit, Nichtsheit, Entwerdung sind andere christliche Mystikerworte für das
vollständige Ruhen, ja »Vergessen« aller Kräfte, Bilder und Vorstellungen. Der
Dominikaner Johannes Tauler (1310-1361) sagt es mit einfachen Worten:
Da ist es so stille, so heimlich und einsam. Da ist nichts als lauter Gott. Da hinein
kam nie Fremdes, nie Kreatur, nie Bild noch Weise. Diese Einöde, das ist seine
stille, einsame Gottheit.
Meister Eckart bestand darauf, dass nur durch das Eingehen in den »Grund, der
grundlos ist« der Weg zur Seligkeit führt:
Du sollst Gott bildlos erkennen, unmittelbar und ohne Gleichnis [... ] Du sollst ihn
lieben, wie er ist ein Nicht-Gott, ein Nicht-Geist, eine Nicht-Person, ein Nicht-Bild [... ]
Denn von nichts anderem wird die Seele vollkommen selig, als dass sie sich in die
Wüste der Gottheit stürzt. Wo weder Wort noch Bild ist - damit sie sich dort verliert
und versenkt und sich selbst so zunichte wird [...]Gott wird geboren in dem »Nichts«.
Laut Meister Eckart ist es nun die »Gottheit«, Gottes Sein an sich, das im dritten
Zustand erfasst wird. Sie löst die bisherigen Vorstellungen von »Gott« ab. Statt der
jeweiligen Gottesbilder begegnet man dem »nackten Gott«, dem »namenlosen Wesen,
dem ersten Ursprung, der Gott allein ist«. Für Tauler war es schon vor 700 Jahren klar,
dass diese Zustandserfahrung selbstverständlich auch Nicht-Christen (»Heiden«)
machen. Er fand es außerdem skandalös, dass die allermeisten Christen trotz der
klaren Lehren ihrer eigenen kontemplativen Meister »wie blinde Hühner«
herumrannten und keine Ahnung hatten, dass sie über die Versenkung in ihrem
eigenen Inneren Gott begegnen konnten.“
„Die inwendige Gottesschau
In aller Dichte zusammengefasst beschreibt Peters Gerlach (1378-1411), ein
niederländischer Mystiker und Theologe, den dritten Versenkungsgrad:
Die unverstellte, bilderlose Wahrheit erfüllt jetzt mein Bewusstsein. Sie zeigt mir ihre
Schätze, unvergleichlich allem. Einfach ist ihr Wort und eins in allem. Anderes such
ich nicht, alles ist hier beschlossen.
Wenn ich versenkt bin in die Schau, erfasse ich mein eigenes Nichts. So schaue
ich das wahre Wesen aller Dinge.
Ich schaue nicht von unten mehr nach oben. Die Perspektive hat sich völlig
umgedreht. Das Ganze zeigt sich mir von oben jetzt nach unten.
Die Wahrheit ruft - für mich - auf alles Fremde, das in mir mit ihr uneins ist, hinab:
Komm näher nicht. Der Ort, an dem du stehst, ist heilig!
Sie zeigt sich mir beim Chorgebet, im Bette, bei Tisch, in Lärm und meiner täglich
Arbeit.
So lehrt sie mich: Mach alle äußeren Dinge in dir einfach, verwandle dich von
innen her, gewinne die beständige, innere Schau!
Die Schau erlebe ich als übermächtig, sie überwältigt so gewaltig Herz und Leib,
dass sie mit allen Kräften nur dem Licht noch folgen wollen.
Ich bin ein Nichts geworden durch das Licht. Aus seinem und aus meinem
Schauen wird die Schau.
In ihr und mit ihr schaue ich, doch nicht nach meiner Weise, ich schaue Gott so,
wie Gott selbst sich schaut.
137
So bin ich völlig unbesorgt und auch getrost in allem. Mag kommen, was da will,
ich bin in ihm.“
Das letzte Hindernis
Peters Gerlach streift am Ende seiner Schilderung bereits den vierten
Versenkungsgrad des nondualen Seins: Es gibt keine Identifizierung mit einem »Ich«
mehr, es ist ein »Nichts« geworden und dadurch wird der Weg frei zur
Einheitserfahrung mit Gott, die reine Gottesschau.
Denselben Weg wählte Gerhard Tersteegen, der evangelische Mystiker, als er
betete:
Lass dieses Ich untergehn und sei du allein alles in allem. Führe so
mich ganz aus mir selbst und aus dem Meinen heraus in dich, o mein
Gott, mein Ursprung und mein Ziel. So bin ich nicht mehr im Schein,
sondern im Wesen.
Abu Yazid Al-Bistami (803-875) seufzte:
Wie lange noch wird ein Ich sein und ein Du zwischen Dir und mir?
Nimm mein Ich weg zwischen uns, dass ich ganz in dich eingehe und
zu nichts werde [... ] Lass du mich an deinem Geheimnis teilhaben.“
Vierter Zustand mystischer Versenkung
Nonduales Sein – Das Ich verschwindet
„Der
Jesuit und Mystikspezialist Josef Sudbrack, lehnt ab, die personale
Beziehungsmystik auf Gott hin von der nondualen Einheitsmystik zu trennen. Man
kann offensichtlich beides erfahren, und in christlichen Mystikerzeugnissen finden sich
laut Sudbrack genügend »fließende Übergänge«. »Wenn die Ekstase auf Gott hin dem
Menschen zur >Einheits<-Erfahrung wird, beginnt dieser zu ahnen, dass Gott nicht nur
das DU ist, dem er in Liebe begegnet, sondern auch der grundlose Grund, der die
Einheitserfahrung trägt. Ein eindimensionales Sprechen von Gott und damit von
Gotteserfahrung - nur gegenüberstehendes >Du< oder nur >Meer der Seinseinheit< wird der göttlichen Wirklichkeit nicht gerecht.«
Der Weg des Zen-Buddhisten wie der Weg des kontemplativen Christen führt zum
Verschwinden der Dualität. Natürlich gibt es immer wieder Verwirrung, wenn es heißt,
das Ich verschwindet. Und für westliche Ohren klingt es bisweilen noch lästerlicher,
wenn man sagt, Gott verschwindet. Aber es ist das Gleiche, worauf Meister Eckart
zielte, als er sagte: »Darum bitte ich Gott, dass er mich quitt mache von Gott.« Das
»Ich« des Wachzustandes bleibt zwar vollkommen zugänglich, aber man weiß, dass es
eben nicht mehr ausschließlich dieses Ich ist, was das eigene tiefste Wesen ausmacht.
Genauso ist es mit den Gottesvorstellungen.
In den tieferen Versenkungsgraden sollen sämtliche Vorstellungen von »Ich« oder
von »Gott« samt den damit verbundenen Wahrnehmungs-Beschränkungen
verschwinden dürfen. Am Ende des Weges ist nur noch ein Subjekt übrig. Es gibt keine
Zweiheit von Ich und Gegenüber-Ich mehr, es gibt keine Gegensätze mehr, alle sind
zusammengefallen in ihre ursprüngliche ungetrennte, ungeschaffene Einheit. Es gibt in
diesem Bewusstseinszustand auch keinen Graben zwischen Himmel und Erde, kein
Getrenntsein von Wahrgenommenem und Wahrnehmendem mehr.“
Gottes Auge ist mein Auge
Hier gehen einem die Augen auf: Der Blick Gottes auf die Welt und der eigene Blick
sind eins geworden. In den Worten von Ken Wilber:
138
Ich bin das Auge des Geistes. Ich sehe die Welt, wie Gott sie sieht. Ich sehe die
Welt, wie die Gottheit sie sieht. Ich sehe die Welt, wie der Geist sie sieht [... ] Der
ganze Kosmos entsteht im Auge des Geistes [...] in meinem eigenen inneren
Gewahren.197
Das entspricht tiefer christlicher Mystik, wie man bei Meister Eckart nachlesen kann:
Das Auge, mit dem ich Gott schaue, es ist dasselbe, darin mich Gott sieht. Mein
Auge und Gottes Auge, das ist ein Auge und ein Sehen und ein Erkennen und ein
Lieben.“
„Eingefaltetsein
Die deutsche Mystik hat dafür einen wunderbaren Begriff gefunden: die Einfaltung, die
vollständige Rückkehr aus der bildlichen oder gedanklichen Vielfalt der dualistischen
Entfaltung in ein Subjekt und seine Objekte. Es handelt sich um eine Nicht-Vielheit, die
alle Vielfalt hervorbringt.
Kardinal Nikolaus von Kues (1401-1464), selbst ein großer Mystiker, beschrieb das
Zusammenfallen aller Gegensätze so:
In Gott ist alles eingefaltet, was ist. Gott ist die Entfaltung von allem. Er ist so in allen
Dingen, dass alle Dinge in ihm sind.
In der wiedererlangten Einfaltung wird Gottes Geist und unser Geist als eins erfahren,
Subjekt und Objekt verschwinden. Nonduales Bewusstsein besagt: Egal, was übrig
bleibt, es ist die unüberbietbare Einheit des Seins selbst. Man empfindet ein tiefes
Aufgehobensein und größtmögliche Klarheit. Es ist die uralte Erfahrung der Einheit
aller Wesen im Sein.“
Einssein in Christus
Auch bei Jesus sehen die Verfasser von Gott 9.0 diese Erfahrung. „Er war der erste große nonduale Lehrer des
Westens, der diese Wahrheit verkündet hatte mit den Worten: »Ich und der Vater sind
eins.« Jesu Zeitgenossen bezichtigten ihn der Gotteslästerung, weil er »ein Mensch sei
und sich selbst zu Gott mache« (Johannes 10, 33). Da erinnerte Jesus seine Kritiker an
das Psalmwort ihrer eigenen jüdischen Tradition: »Ich habe gesagt: Ihr seid Götter«
(Psalm 82,6). Jesus hatte seinen Jüngern versprochen, dass auch sie »den Geist der
Wahrheit« empfangen und schließlich erkennen würden, »dass ich in meinem Vater bin
und ihr in mir und ich in euch« (Johannes 14,20). In diesem Versprechen ist die Lehre
der nondualen Einheit vollständig enthalten. In der christlichen Mystik wird sie
Vergottung genannt. Martin Luther wies darauf in einer Predigt aus dem Jahr 1526 hin:
Also siehst du, wie Gott sich selbst und Christus, seinen lieben Sohn, ausschüttet
über uns und sich in uns eingießt, wie er uns in sich hineinzieht, sodass er ganz und
gar vermenscht wird und wir ganz und gar vergottet werden.
Traurig, dass die meisten Christen bis heute davon keine Ahnung haben, obwohl sich
die Evangelisten Matthäus, Markus und Lukas größte Mühe geben, darauf
hinzuweisen: In der Verklärungsgeschichte versuchen sie aus der Sicht der Jünger zu
beschreiben, wie Jesus versunken war in diesen Zustand der nichtdualen Erleuchtung.
Sein Angesicht sah ganz anders aus, es leuchtete wie die Sonne, seine Kleider wurden
weiß und glänzend wie das Licht. Dieses Ereignis höchster Luminosität markiert Jesu
139
Ruhen im absoluten Geist allgegenwärtigen nondualen Gewahrseins. Es zeigt Jesu
ursprüngliches Gesicht, das Gesicht Gottes, das unser aller Gesicht ist:
Wir alle spiegeln mit enthülltem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wider und
werden so in sein eigenes Bild verwandelt von Herrlichkeit zu Herrlichkeit durch den
Geist des Herrn (2. Korintherbrief 3,8).
Es ist das Gesicht des »Menschensohns«, das befreit ist von allen Qualen der
Trennung zwischen dem eigenen Selbst und der absoluten Wirklichkeit Gottes. Für
Christen ist es das Gesicht des Christusbewusstseins, das immer schon war, immer ist
und immer sein wird. »Durch ihn haben wir auch den Zugang zu der Gnade erhalten, in
der wir stehen« (Römerbrief 5, 2). Wer dieses Gesicht des »Menschensohns« als das
seine erkennt, entdeckt auch, dass er niemals von Gott getrennt war und niemals
getrennt sein kann - weil es im nondualen Bewusstsein keine Trennung gibt.
Im vierten Versenkungsgrad wird man vom Christ zum Christus. Wie Jesus wird man
in seinen eigenen ursprünglichen, ewig leuchtenden Zustand des göttlichen AllEinsseins mit allem verherrlicht. Das Einssein in der Christuswirklichkeit wird
wahrgenommen im tiefsten Inneren und umspannt gleichzeitig die gesamte
Wirklichkeit, den gesamten Kosmos. Ein Zustand unendlicher und unermesslicher
Freiheit in zeitlos leuchtender Gegenwart. In ihm erkennt man, dass man nicht »da
drinnen« ist und die Welt »da draußen« betrachtet. Statt dieser alten Dualität ist nur
noch Gott da, in reiner Gegenwart und strahlender Unmittelbarkeit.
Man begreift sogar, dass man in diesen Zustand nicht eingetreten ist, sondern
immerzu schon darin war und ist und niemals aus ihm herausfallen kann. Es ist so, als
hätte man die Tür entdeckt in einer nicht vorhandenen Wand, wie die Sufis sagen.
Oder die torlose Schranke, wie es im Buddhismus heißt. Man sehnt sich nicht mehr
nach Gott, ganz einfach, weil man in Gott ist. Es ist das Ende, ja der »Tod« der großen
Suche.“
„Wohin nach der nondualen Erfahrung?
Wer in der nondualen Schau das Wesen Gottes und die Einheit allen Seins erfasst
hat, der würde sein wahres, innerstes Menschsein verfehlen, wenn er nun nur »bei
sich« bliebe. Das Neue Testament berichtet, wie Jesus mit seinen Jüngern auf dem
Berg der Verklärung war. Als Petrus, Johannes und Jakobus ihm vorschlugen, dort
oben Hütten zu bauen und sich für immer dort niederzulassen, wollte Jesus
keineswegs bleiben. Er stieg den Berg hinab und stellte sich dort unten sofort dem
Leid der Welt: Seine erste Aktivität nach seiner Verklärung war, einen kleinen
Jungen zu heilen, der an Epilepsie litt - ein symbolisches Bild für das dualistische
Hin-und-her-Gerissensein, unter dem Menschen leiden (Lukas 9,2-3).
Dieser Dienst der Barmherzigkeit ist für Meister Eckart das wahre
Erkennungszeichen des absoluten Seins. Unendliche Barmherzigkeit ist die »allem
vorauslaufende erste Wirkung« Gottes, das Versöhnungszeichen zwischen der
nondualen Wirklichkeit selbst und den dualistischen Leidensformen dieser Welt.
Jesus hat diese heilsame Barmherzigkeit so gelebt, dass er selbst zum Heiland,
Versöhner und Diener seiner Mitmenschen wurde. Der freie, liebevolle Dienst am
Mitmenschen drückt die Rückkehr des Erwachten vom »Berg der Verklärung« aus.
Er ist aber gleichzeitig auch ein Mittel für jeden, um den Berg zu erklimmen und zum
Erwachen zu gelangen. Meister Eckart, der die nonduale Erfahrung gemacht hatte,
schrieb allen Christen diesen heilsamen Satz ins Stammbuch:
Wäre einer in solcher Verzückung wie einst Sankt Paulus und wüsste einen
kranken Menschen, der eines Süppleins von ihm bedürfte: Ich achtete es weit
besser, er ließe ab von Liebe und Verzückung und diente Gott in einer größeren
Minne!“
140
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Persönliche Beiträge von Mitgliedern des theol. Arbeitskreises
Von Reinhard Crämer, E. Hirschler, H. Gärtner-Schultz, W. Grau
Persönliches theologisches Statement
Für den theologischen Arbeitskreis der EAiD
Von Reinhard Crämer
„Ich habe nun den Grund gefunden, der meinen Anker - (ganz gut) - hält." EKG 354
(das im Orginal stehende „ewig" wäre für mich etwas zu vollmundig.)
Dieser Grund ist der (gottbegnadete) Mensch, Jesus von Nazareth - sein Leben,
seine Botschaft und sein Sterben.
Der Mensch! Nicht der von späteren Jahrhunderten in den Himmel hinauf
dogmatisierte, mythisierte Christus.
Jesus ist für mich ein gültiger Weg, ein Zugang zu „Gott", dem unbegreiflichen und
unfassbaren Geheimnis der Welt und unseres Lebens, von dem wir uns - seiner
Unbegreiflichkeit wegen - kein „Bildnis" machen sollen, - darum auch keine noch so
gescheiten theologischen Begriffe oder Vorstellungen.
Jesus hat uns ermöglicht, er hat uns erlaubt, diese geheimnisvolle „Urkraft" (Gott) als
uns liebend zugewandte Macht zu denken bzw. zu glauben. Er tat das, indem er Ihn
(Gott), Sie (diese Kraft), Es (dieses Geheimnis) als „Abba", „lieber Vater" angeredet
und verehrt hat. Kroeger sagt dazu (dem Sinne nach): Es ist möglich, zu diesem uns
tragenden, bergenden, tröstenden und richtenden Geheimnis in eine zugleich
ehrfürchtige und vertrauensvolle Beziehung zu treten. Man kann zu diesem
Geheimnis auch „Du" sagen.
Jedenfalls kann ich diese alles umfassende Wirklichkeit, diese Kraft, der ich mein
Leben verdanke und in die ich im Tod zurückzukehren hoffe, nicht mehr als
supranaturale „Gottperson" denken, wie mir überhaupt alle Metaphysik als pure
Spekulation abhanden gekommen ist.
Ich verdanke mein Leben „Gott", dieser Kraft, nicht, weil er mich „gemacht", etwa aus
Lehm geschaffen hat - das ist und bleibt Mythologie - sondern weil er mich hat
werden lassen im Rahmen des Prozesses der Evolution, den „Er" angestoßen hat
und weiterführt im Ganzen des Universums.
Jesus war nicht Gottes Sohn im physischen Sinn von Abstammung, sondern er
wurde von seinen Verehrern aus historisch verständlichen Gründen Gottes Sohn
genannt („Würdetitel"), um damit zum Ausdruck zu bringen, was ihnen dieser Mann
bedeutete. Also eine Art Bekenntnisaussage.
Jesus war nicht einfach der Messias/Christus (jedenfalls hat er sich selber so nicht
genannt), sondern er wurde von seinen Jüngern und Jüngerinnen als Messias
geglaubt, wiederum aus historisch nachvollziehbaren Gründen, wenn man weiß,
welche hochgespannten Erwartungen sich im Spätjudentum mit diesem Titel
verbanden.
Ähnliches gilt auch von den dogmatischen Lehraussagen über Jesus, wie sie durch
Mehrheitsbeschlüsse der altkirchlichen Synoden zwischen Nicäa 325 und Chalcedon
451 festgelegt wurden: z.B. „Wahrer Gott vom wahren Gott" oder Christus sei
„Wahrer Gott und wahrer Mensch", „Trinität".
Gerade wenn Jesus, im Gegensatz zu späteren Dogmatisierungen, als Mensch ernst
genommen wird, bekommen sein Lebensvollzug und die Verkündigung dieses
wahrhaft „gottbegnadeten" Menschen eine besondere Brisanz.
Man denke nur an die Bergpredigt: Gewaltfreiheit, nichtmilitärische Friedensarbeit,
Feindesliebe im Sinne von „Entfeindung" („Wenn dein Feind hungert, gib ihm zu
141
essen." Paulus Rom 12),Versöhnung statt Rache, Vergebung statt Vergeltung. Man
denke an seine Gleichnisse, etwa das vom Verlorenen Sohn: Bedingungslose Liebe
des Vaters, also „Gottes", oder die Beispielgeschichte vom Barmherzige Samariter:
Das unausweichliche „Du sollst" angesichts des jeweils um der Menschlichkeit willen
unabdingbar Notwendigen.
Man denke an das „Vaterunser", das die gesamte Reich-Gottes-Verkündigimg Jesu
gleichsam zusammenfasst: Reich Gottes ist überall, wo der Wille des „bedingungslos
liebenden Gottes" geschieht - und zwar auf Erden, also ganz irdisch, so wie im
„Himmel".
In der Konsequenz dieser Überlegungen erhält eine Formulierung Jesu besondere
Aktualität: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen (also in der Liebe),
da bin ich (geistig!) mitten unter ihnen."
Für mich heißt das: Wo immer in der Welt Menschen beieinander sind, um auch nur
ein paar Schritte in Richtung mehr Humanität zu tun, da wird „Reich Gottes" gebaut,
das Reich dessen, dem wir unser Leben verdanken. Das bedeutet für mich ,Glauben
an Jesus' und mit ihm Vertrauen auf das Leben und den, dem wir es verdanken, der
Urmacht, die wir mit dem Urwort „Gott" bezeichnen.
Ich hoffe damit leben und einmal darauf auch getrost sterben zu können.
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Betrachtung zum Arbeitskreis-Thema „Das Gottesbild heute“ von Eberhard
Hirschler
Alles was Dir vor die Hände kommt es zu tun mit deiner Kraft, das tue !
Denn bei den Toten, zu denen du fährst,
gibt es weder Tun noch Denken, weder Erkenntnis noch Weisheit
Prediger 9,10
Und so mögen
die Theologen weiterhin ihren jeweiligen Glauben an ihren jeweiligen Gott erklären,
die Agnostiker ihren jeweiligen Glauben an ihren jeweiligen Relativismus und
die Atheisten ihren jeweiligen Glauben an die Sicherheit ihres jeweiligen Wissens.
Wichtig ist,
dass sie alle es tun mit Respekt vor dem Glauben anderer Glaubender,
dass sie alle dem Frieden dienen,
dass sie alle nicht das Sichtbare verfälschen und Kindern nicht ihre spezielle
Weltsicht als einzig mögliche Weltsicht oktroyieren
und dass sie nicht mit der Schläue ihrer Argumentationen die Gier und den Krieg
rechtfertigen.
Schön ist es in der Welt des Glaubens, weil sie Geborgenheit bieten kann,
auch wenn der deus manchmal ein absconditus ist.
Spannend ist es in der Welt des Wissens, weil sie Aufgabe ist.
Schön und spannend wird es dort, wo beide Welten – ineinander verschränkt –
das Leben tätiger Menschen glücklich machen.
Wichtig erscheint, dass das Diskutieren das Tun begleitet, nicht es ersetzt.
Perspektive:
142
Das Positive der Religionen ist in die Verfassungen der Demokratien eingegangen.
Diese Verfassungswirklichkeit muß täglich neu verteidigt und an die täglich neue
Realität angeglichen werden – auch gegen die Religion(en):
Durch Teilnahme und Teilhabe an der Politik in unserer Weltpolis.
Die ethische Vertiefung und Begründung aller Verfassung(en) durch ein weltweit
akzeptiertes Weltethos, wie es von Hans Küng und anderen bereits entwickelt wurde,
könnte der globale Überbau für das gemeinsame HAUS ERDE werden.
Und nur gemeinsam kann das größte Übel dieser Welt, die größte Gefahr für unser
HAUS ERDE gemeinsam und friedlich (wenngleich vermutlich schmerzlich für alle)
beseitigt werden, nämlich die Wurzel aller Übel: Die seit langem viel zu große und
immer noch wachsende Zahl der gleichzeitig im HAUS ERDE lebenden Menschen.
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Passion. Ein Gedicht von Dr. Heiderose Gärtner
Dem Leiden und Sterben Jesu hilflos ausgesetzt,
fragten sie nach dem Wozu und Warum.
Wo ist der Sinn?
So starb er, wie sie meinten: Für unsre Sünden,
Er litt für uns, anstelle von uns,
versöhnte Gott.
War das der Gott Jesu?
Der Gott, den er Abba, Papi nennt?
Dem er vertraute?
Unergründlich: Warum und Wozu.
Viel erklärt und wenig gewusst.
Und doch: er hat durchlitten,
alles, was einem Menschen blühen kann,
bis in die finsteren Tiefen des Todes.
Wozu und Warum? Unergründlich?
In ihm aber zeigte sich der Grund
Im Grund des anderen Gott zu sehen.
Dem Leiden und Sterben Jesu hilflos ausgesetzt,
fragten sie nach dem Wozu und Warum.
Wo ist der Sinn?
So starb er, wie sie meinten: Für unsre Sünden,
Er litt für uns, anstelle von uns,
versöhnte Gott.
War das der Gott Jesu?
Der Gott, den er Abba, Papi nennt?
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Dem er vertraute?
Unergründlich: Warum und Wozu.
Viel erklärt und wenig gewusst.
Und doch: er hat durchlitten,
alles, was einem Menschen blühen kann,
bis in die finsteren Tiefen des Todes.
Wozu und Warum? Unergründlich?
In ihm aber zeigte sich der Grund
Im Grund des anderen Gott zu sehen.
Meditation zu Ostern. Von Dr. Werner Grau
Von der Entstehung des Kerygmas.
Meditation zu Mk. 16, 9-14 (Mk. 16, 1-8).
(Nach einer am Sonntag nach Ostern, 15.4. 2007, in Bobenheim-Roxheim gehaltenen letzten
Lektorenpredigt).
Sperrig klingt in ungeübten Ohren der Name „Quasimodogeniti“ des ersten Sonntags nach dem
Osterfest, der uns die Möglichkeit eines neuen Lebens verheißt.
Wie schwer musste es gewesen sein, den Glauben lebendig werden zu lassen, der uns des neuen
Lebens versichert. Auf wie unsicherer Basis ist er entstanden.
Doch wie schnell hat dieser keimhafte Glauben Wurzeln geschlagen:
„Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns nach seiner großen Barmherzigkeit
wiedergeboren hat, zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den
Toten“.
Ostern ist geschehen. Es hat sich ereignet. Ist es „gewesen“? Vorbei ist für die Gemeinde, die sich
zum sonntäglichen Gottesdienst an Quasimodogeniti einfindet, jedenfalls das Osterfest. Nicht so das
Ereignis. Hier gilt das futurum exactum nicht: Ostern wird gewesen sein. Ostern bleibt. Der neue
Anfang ist gemacht, der entscheidende Wirklichkeit der Geschichte unseren Glauben bestimmt.
So will es die Tradition der christlichen Kirche, auch wenn es nicht mehr alle Theologen so sagen: „Ist
aber Christus nicht auferstanden, so ist unsere Predigt vergebens, so ist auch euer Glaube vergeblich.“
Damit suggeriert Paulus das Geschehen an Ostern als Faktum, obwohl das Geheimnis bleibt. Und es
lässt, vermittelt durch die ersten Zeugen, den Glauben entstehen, der die Welt verändern kann.
In den Versen 9-14 des 16. Kapitels seines Evangeliums erzählt Markus vom Keimen dieses Glaubens
nach den Begebenheiten wie sie in den Versen 1-8 beschrieben werden.
Ganz am Anfang sind es exklusive Erfahrungen der Frauen aus Jesu Nähe. Sie wollen nicht mehr als
das Naheliegende, für sie Verpflichtende tun. Keine Rede ist von einer „Fulguration“, dem blitzartig
erhellenden Ereignis, das, so meinen wir doch, dem Berichteten vorausgegangen sein muss. Matthäus
beschreibt es, aber auch nur als Begleiterscheinung, ohne den aus dem Grab Hervorgehenden selbst,
des Auferstandenen in seiner Glorie.
144
Ist es denkmöglich, dass unser Glaube auf noch fragilerer Basis hätte entstehen können?
Denn so fragwürdig ist es nach Markus zugegangen:
„Als Jesus auferstanden war früh am Tag der ersten Woche, erschien er zuerst Maria von Magdala,
von derer sieben böse Geister ausgetrieben hatte. Und sie ging hin und verkündigte es denen, die mit
ihm gewesen waren und Leid trugen und weinten. Und als diese hörten, dass er lebe und sei ihr
erschienen, glaubten sie es nicht.
Danach offenbarte er sich in anderer Gestalt zweien von ihnen unterwegs, als sie über Land gingen.
Und die gingen auch hin und verkündeten es den anderen. Aber auch denen glaubten sie nicht.
Zuletzt als die Elf zu Tisch saßen, offenbarte er sich ihnen und schalt ihren Unglauben und ihres
Herzens Härte, dass sie nicht geglaubt hätten denen, die ihn gesehen hatten als Auferstandenen.“
Diesen Darstellungen fehlt alles Legendenhafte, das, was dem Glauben an die Botschaft. nachhelfen
könnte. Niemand hatte wirklich etwas von diesem fulminanten Ur-Ereignis am frühen Morgen
gesehen und so wird auch nicht davon gefabelt. Selbst der ausführlichere Matthäus beschränkt sich auf
die ankündigenden Sekunden, die den anwesenden Wächtern die Sinne rauben, die aber trotz allen
aufstrahlenden Lichtes das eigentliche Geschehen im Dunkel lassen.
Bilder, die das Geheimnis sichtbar machen wollen, hängen in vielen Kirchen, so auch in BobenheimRoxheim, dort im Presbyterium immer wieder in Frage gestellt, aber von vielen Gläubigen geliebt:
Der Augenblick selber, in dem der Auferstandene mit den sichtbaren Wundmalen aus dem Grab
hervorgeht, gekrönt vom Licht.
Markus aber weiß davon nichts und bescheidet uns lapidar: Und Jesus erschien Maria nach seinem
Tod und sie ging hin und verkündete es ihnen. Und sie glaubten ihr nicht. Lukas versteigt sich gar zu:
Die Apostel hielten das alles für Geschwätz.
Das freilich steht wohl nicht zufällig da. Dass es die Frauen sind, denen Jesus als ersten begegnet. Sie
sind es, die immer das Naheliegende, das praktisch Notwendige tun, sich um den Toten und seine
endgültige Bestattung kümmern und um das, was der religiöse Brauch dabei erfordert. Dass es
ausgerechnet Maria Magdalena ist, die sowieso als reichlich überspannt gelten konnte. Nicht von
ungefähr schiebt der Evangelist ein, sie sei diejenige, der Jesus schon einmal ihre Besessenheit
austreiben musste. Man kann sich die Apostel vorstellen, wie sie die Augen verdreht haben, als sie mit
diesem Garn auftauchte.
Gleichviel. Was da zu hören ist, ist ja tatsächlich so vollkommen unglaubwürdig, dass auch der
nachfolgende Bericht zweier Männer keinen Glauben findet, die man freilich auch deswegen nicht
ernst nehmen muss, weil sie nicht zum engsten Kreis gehört haben.
Hätten wir es denn geglaubt? Etwas, was aller Erfahrung total zuwider läuft?
Tot ist tot. Etwas Verbindlicheres gibt es nicht. Heute wie damals. Niemand hat etwas gesehen und
dann erzählt man, der Tote ist wieder da, offenbar lebendig.
Was würden wir tun? Die Hysterikerin aus Magdala, mitgenommen vom Schrecken der letzten Tage,
erst einmal beruhigen. Den zwei, die ihn auf dem Weg nach Emmaus getroffen haben wollen,
145
bedeuten, man müsse das schließlich im innersten Zirkel besser wissen. Man habe das entsetzlich
traurige Geschehen ausführlich beredet und sei zu der einhelligen, wenn auch ziemlich
deprimierenden Überzeugung gelangt, dass am Tod des verehrten Rabbi, des von vielen Taten
beglaubigten Heilers, nicht zu deuteln sei.
Einige der ihm besonders Nahestehenden aus diesem Kreis seien schließlich selber dabei gewesen. Sie
mussten ihn tot vom Kreuz holen. „Wenn man euch hört, könnte man meinen, er sei Gott selber
gewesen.“
Zu guter Letzt will einer auch den eigenen Augen nicht trauen, sondern erst mit eigener Hand hin
fassen, ehe er sich durchringt „Mein Herr und mein Gott.“ Selbst das unter den gegebenen Umständen
eine erstaunlich frühe und unvermittelte Bekehrung.
Nur glauben, was man sehen, am besten auch anfassen kann (auch wenn wir an unsere eigenen
Gedanken glauben, die auch noch niemand gesehen hat), das ist das säkulare Bekenntnis des
gesunden Menschenverstands. und in diesem Sinn hat man damals offenbar ebenso säkular gedacht
wie heute.
Auch früher waren die Menschen nicht jederzeit zu einem Glauben bereit, der in Widerspruch zu allen
ihren Erfahrungen stand. Für natürliche Vorgänge, die nicht ohne weiteres verständlich waren, hatte
man sich wohl alle möglichen übernatürlichen Erklärungen zurechtgelegt. Das war metaphysische
Welterklärung vor dem Wort. Auch wenn dann einem Gott oder einer Göttin geopfert wurde, Glaube,
so wie wir ihn verstehen wollen, war das nicht. Stattdessen lesen wir von der Forderung nach
handfesten Beweisen für Gottes Wundermacht, die von Jesus immer wieder zurückgewiesen werden.
Auch in der einen der beiden Lazarus-Geschichten. Der der in der Hölle gepeinigte reiche Mann bittet
in verzweifelter Logik den in den Himmel aufgenommen Lazarus, er möge doch dafür sorgen, dass ein
himmlischer Bote die in seinem Haus Lebenden warnen möge. Doch Jesus gibt in seinem Gleichnis
eine sehr harte Antwort: Wer dem Wort der Schrift nicht glaubt, der wird auch nicht glauben, wenn
ihm ein Engel vom Himmel gesandt wird.
Die Wahrheiten, um die es hier geht, sind nicht zum Sehen oder zum Anfassen. Man kann sie auch
nicht mit einem Messinstrument registrieren. Für die Wahrheit Gottes sind wir allein die Sonden, die
Reaktion zeigen müssen.
Die andere Lazarus Geschichte, im Johannes-Evangelium, demonstriert, dass selbst augenfällig
Wunderbares wie die Wiederbelebung eines erkennbar Toten, nicht zum Glauben führt, sondern in der
Logik des rational kalkulierenden Verstandes zur Konsequenz, diesen Jesus nun mit allen Mitteln
beseitigen zu wollen. In der Epikope zum Palmsonntag heißt es:
Als Jesus Lazarus aus dem Grab gerufen und von Tod auferweckt hatte, waren viele dabei gewesen
und hatten es als Zeugen weitererzählt. Aus diesem Grund kam ihm jetzt eine große Menschenmenge
(bei seinem Einzug) entgegen. Die Pharisäer aber sagten zueinander: Da seht ihr doch, dass wir so
nicht weiterkommen. Alle Welt läuft ihm nach.
Nichts an dem berichteten Ablauf nach dem Karfreitag bis zum Auffinden des leeren Grabes kann eine
Erklärung für den Glauben an den Auferstandenen sein. Es gibt kein Wunder, das man überwältigt als
146
Grund zum Glauben an gänzlich Unglaubliches annehmen oder als Täuschung oder Illusion ablehnen
könnte.
Es gibt zu Anfang nur unglaubwürdige Berichte von einigen Wenigen, die niemand glaubt.. Und sie
berufen sich nicht auf ein grandioses Geschehen, des mit Macht und Herrlichkeit aus dem Grab
hervortretenden Gekreuzigten. Sondern auf stille Begegnungen, die Epiphanie zu nennen, viel zu
großartig scheint.
Entscheidend ist für das glaubende Bekenntnis, das verkündigte Kerygma ist, dass Jesus nicht als
wiederbelebter Toter zu den Seinen zurückkehrt, der dann später endgültig sterben muss, sondern als
ein bereits Verwandelter vor sie tritt, zwar in der vertrauten Umgebung in der er Mensch gewesen ist,
aber zugleich mehr als Mensch unter anderen Menschen, und als dieser Andere wird er jetzt sichtbar.
Deshalb das Rühr-mich-nicht-an, das er zu Maria spricht.
Man erkennt ihn nicht, ehe er sich nicht selbst zu erkennen gibt. Bei Maria genügt dazu
rührenderweise allein das Aussprechen ihres Namens.
Das ist die Essenz des Berichts im Markus – Evangelium. Einfach und schwer zu begreifen.
Darin scheint das Geheimnis von Ostern zu liegen, dass es Fragen nach erklärbaren Ereignissen ins
Leere laufen lässt und zum Glauben herausfordert. Der Glaube wird erweckt, weil sich der
Auferstandene selber als der zu Gott hin Verwandelte zu erkennen gibt. Der Glaube entsteht aus einem
Angesprochen-Werden ohne Widerspruch. Paulus der Spätberufene erlebt es als „Bekehrung“.
Wir sind die Spätgerufenen, die sich entscheiden müssen, ob sie dem Zeugnis der Frühberufenen
Glauben schenken wollen, dass Jesus der wahre Lazarus sei, der auferstanden ist, nicht um ins irdische
Leben zurückzukehren, sondern zu seinem Vater, damit er unser Herr sei.
In den Worten des Evangeliums wird dem aufgeklärten Verstand damals wie heute kein anderes
Zeichen werden „als das Zeichen des Propheten Jona. Denn wie Jona drei Tage und drei Nächte im
Bauch des Fisches war, so wird auch der Menschensohn drei Tage und drei Nächte im Inneren der
Erde sein.“
Damit werden wir uns zufrieden geben müssen. Damit und mit dem Zeugnis der Wenigen, die mit
ihrem Bericht von der Begegnung mit dem Verwandelten den Glauben haben keimen lassen.
Es war und ist wenig genug, was unter dem seither gewachsenen Baum der Glaubenstradition unsere
Seelen unmittelbar ansprechen kann. Wenig genug, um nicht auf uns verzichten zu können, denen die
Verantwortung für die Bewahrung dieses Glaubens auferlegt ist.
Anmerkungen zu „Gott 9.0“
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i
Im Folgende wird auf das Buch Bezug genommen und daraus ., auch in den Anmerkungen, z.T ohne Angabe
von Seitenzahlen und Anführungszeichen zitiert.
ii Für das Hervortreten einer neuen Bewusstseinsstufe gibt es immer Gründe. Sie wird nötig, wenn die bisher
komplexeste Stufe die Probleme der aktuellen Lebensbedingungen nicht mehr befriedigend lösen kann, oder
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wenn völlig andere Lebensbedingungen eintreten. Je weniger sich in einer Zivilisation, Kultur oder Gesellschaft
verändert, umso länger kann sich eine Stufe behaupten. Verändert sich dagegen die Umwelt stark, müssen neue
Wertvorstellungen und Handlungsmuster gestaltet werden.
iii
Wenn z.B. konservative oder traditionelle Katholiken Gott sagen, meinen sie heute meist Gott 4.0, Protestanten
verstehen unter Gott eher 6.0, wobei es auch bei ihnen Kreise gibt, die eher zu Gott 4.0 tendieren. Die meisten
engagierten Christen dagegen meinen mit Gott die Version 6.0, und werden von ihren Bischöfen und anderen 4.0
Anhängern permanent missverstanden. Für das Auftreten der Bewusstseinsstufen in der geschichtlichen
Entwicklung geben die Autoren in der Tabelle auch Jahreszahlen bzw. Zeiträume an.
iv
nach Clare Grave das selfsupporting/selbstunterstüzend und das selfsacrificing/selbstopfernd, Beispiele für ichdu-wir-Stufen-Bestimmtheit seien Ich-Paulus und Wir-Petrus.
Als Beispiele von Ich-Wir-Eigenschaften werden u. a genannt:
Auf den Ich-Stufen steht das Individuum / die kleine Elite / der Einzelne mehr im Vordergrund. Grundthemen
sind Selbstwahrnehmung, Selbstverantwortung,
Das Ich-Ziel ist: nicht zugrunde gehen, zurechtkommen mit Widrigkeiten der Natur, feindlichen Angriffen und der
Verletzlichkeit des eigenen Körpers.
Das Credo: Ich, der Mensch, versuche hier unter schwierigsten Bedingungen zu überleben. »Ich existiere!«
Bei ROT ist das Ich-Ziel: als Einzelkämpfer Unabhängigkeit und Respekt gewinnen, den eigenen Vorteil
herausholen, Schande vermeiden. Bei ORANGE ist es: Freiheit, Selbstverantwortung, Erkenntniszuwachs,
Erfolg, Einfluss, Wachstum, Wertschöpfung und Wertsteigerung (Kompetenz, Wissen, Prestige, Geld),
Zielorientierung, Effizienz und Effektivität.
Anders sieht es aus, wenn sich der eigene Schwerpunkt gerade auf einer der Wir-Stufen befindet. Diese
umfassen die kühleren Farben PURPUR, BLAU, GRÜN und TÜRKIS. Die Wir-Stufen sammeln Menschen in
Gruppen und bilden neue, immer komplexere soziale Einheiten, die durch äußere gemeinsame Kontrolle des
Kollektivs geschützt werden. Gebote und Verbote spielen hier eine wichtige Rolle - Spielregeln, Normen,
Gesetze, Menschenrechte. Um der Gemeinschaft willen werden von jedem Einzelnen Verzicht und
Selbstaufopferung verlangt. PURPUR umfasst die Sippe (Blutsverwandtschaft), BLAU die Gemeinschaft der
Gläubigen, das Königreich oder den Nationalstaat, GRÜN alle sensiblen, einfühlenden Menschen weltweit,
TÜRKIS das Leben und Bewusstsein im gesamten Kosmos.
Auf den Wir-Stufen konzentriert sich alles darauf, mit sich selbst und anderen so in Übereinstimmung zu
kommen, dass gemeinsam Gutes gelingen kann. Man bereichert sich nicht selbst, sondern verteilt in
Übereinstimmung mit anderen die Ressourcen um, damit sich daraus eine stabile Gemeinschaft bilden kann.
Auf einer Wir-Stufe hören wir in unserem Inneren Botschaften wie diese: »Nimm das Unabwendbare an.«
»Akzeptiere die Gegebenheiten der Natur.« »Vertiefe den Blick.« "Suche nach Anleitung durch eine Autorität.«
»Erfahre und fördere den Zusammenhalt der Familie.« »Spüre die größere Ordnung.« »Binde dich an
zuverlässige Strukturen einer Gesellschaft.« »Lebe in Übereinstimmung mit anderen.« »Teile Interessen.«
»Erfreue dich an der Gemeinschaft.« »Trage das große Ganze mit.« »Bewahre das lebendige System der Erde
und aller atmenden Wesen.« »Bette dein Leben ein in den kosmischen Vollzug.«
Die Wir-Stufen sammeln Menschen in Gruppen und bilden neue, immer komplexere soziale Einheiten, die durch
äußere gemeinsame Kontrolle des Kollektivs geschützt werden. Gebote und Verbote spielen hier eine wichtige
Rolle - Spielregeln, Normen, Gesetze, Menschenrechte. Um der Gemeinschaft willen werden von jedem
Einzelnen Verzicht und Selbstaufopferung verlangt. PURPUR umfasst die Sippe (Blutsverwandtschaft), BLAU die
Gemeinschaft der Gläubigen, das Königreich oder den Nationalstaat, GRÜN alle sensiblen, einfühlenden
Menschen weltweit, TÜRKIS das Leben und Bewusstsein im gesamten Kosmos.
v
Die frühen Missionare besetzten bewusst PURPURNE Orte und Festtage: Sie bauten Kirchen und Klöster über
alten Naturheiliglümern, sie legten die christlichen Feste auf die traditionellen Festtage der lokalen PURPURNEN
Götter. Noch heute werden große Bauten, die der Gemeinschaft dienen, feierlich eingeweiht und unter den
PURPURNEN Schutz Gottes gestellt: Brücken und Feuerwehrhäuser, Schulen und Krankenhäuser.
Stets missionierte die christliche Kirche mit heiligen Zeichen des neuen Glaubens: Kreuze, Kelche, Weihwasser,
Bischofsstäbe. Sie machten den neuen Glauben begreifbar und real: Mit dem erhobenen Kreuz oder
versprengtem Weihwasser konnten böse PURPURNE Geister vertrieben werden.
Besonders intensiv spürbar sind die PURPURNEN Tiefenschichten des Katholizismus bei den Reliquien. Noch
immer enthält jeder Altar einer katholischen Kirche irgendeinen Knochensplitter eines Heiligen oder einen Gegenstand, der mit Jesus in Verbindung gekommen sein soll. Auch der Glaube an die Wunderkraft von Reliquien und
Devotionalien, geweihte Medaillen, geweihtes Wasser aus Lourdes oder Wasser aus dem Jordan stammt aus
PURPUR.
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Viele kirchliche Handlungen bewahren PURPURNE Traditionen: Bis heute ist der Kern der katholischen Messe,
die durch den geweihten Priester vollzogene Wandlung, durchströmt von PURPURNER Energie. Gleiches gilt für
die Geste der Segnung bei Firmung und Konfirmation, bei einer Trauung und der Krankensalbung, bei der die
Hände aufgelegt werden und Kraft übertragen wird. (S.68)
PURPURNE Elemente haben sich bis heute frisch gehalten in Astrologie, Tarot, Pendeln. Es gibt
Wahrsagerinnen, Wunderheiler und eine neue Blüte des Schamanismus. In der esoterischen Szene werden auf
der Suche nach neuen Geschäftsideen laufend alte Verfahren wiederbelebt: Runen, Energie-Pyramiden,
Hexenwissen, Mondkräfte, Heilsteine, das tibetische Orakel usw.
Ebenso zu PURPUR gehören die teilweise extremen Modifizierungen des Körpers, um ihn erotisch attraktiver zu
machen oder sich selbst attraktiver zu fühlen: Tätowierungen, Piercings, Halsringe zur Verlängerung des Halses
(wird noch heute bei den Padaung in Myanmar praktiziert). Selbst die genau kalkulierten Effekte von modernem
Make-up oder Schönheitsoperationen gehen zurück auf die archaischen PURPURNEN Muster, was als
anziehend gilt und was nicht. Viele Kunstgriffe der Mode, vom Ideal der schlanken Frau und dem muskulösen
Mann, vom Schuh- Tick bis zum erotischen Fetisch, all das hat seine Wurzeln in der PURPURNEN
Bewusstseinsstufe. (S. 63)
vi
Die ROTEN Götter sind als hölzernes Menschenmachwerk durchschaut. Sie sind lächerlich und machen keine
Angst mehr. Der Monotheismus setzt sich durch und ein majestätisches Gottesbild tritt auf den Plan: Gott 4.0, der
Allmächtige, der Schöpfer des Himmels und der Erden. Dieser wahre, einzige, ewige Gott hat kein Bildnis. Er ist
unsichtbar, aber umso großartiger. Er verleiht BLAU den Sinn für Transzendenz, ein neues, außergewöhnliches
Geschenk. Sein Name ist so heilig, dass er nur mit allerhöchster Ehrfurcht ausgesprochen werden darf. Er ist
überall präsent, er kann überall erscheinen und er kann alles sehen, was für die üblen Machenschaften von ROT
nicht gerade günstig ist. Seine Gläubigen stehen unter seinem Schutz und erfahren seinen Segen. Es gibt keinen
Ort, an dem er nicht ist und über alle wacht, die an ihn glauben: »Nähme ich Flügel der Morgenröte und flöge
zum äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten« (Psalm 139,9).
(S. 83)
vii Erlösung ist ein Hauptthema der Religion: Erlösung von Egoismus und Sünde, vom ewigen Tod und Verderben.
Der wahre Glaube ist eine Versicherung gegen den Tod, doch wer diesem Glauben nicht anhängt, hat schlechte
Karten. Man muss sich also reinigen und bessern.
viii Gott 4.0 entwickelt ein gigantisches Erziehungsprogramm. Die Beziehung zwischen Jahwe und Israel ist eine
Beziehung zwischen väterlichem Erzieher und Lieblingsschüler: »Gewinne in deinem Herzen die Erkenntnis,
dass jahwe dich erzogen hat, wie ein Mann seinen Sohn erzieht« (5. Mose, 8,5). Besonders gesegnet sein wird
diese innige Vater-Sohn-Beziehung zwischen Gott und einem Nachkommen von König David.
Das Erziehungsprojekt von Gott 4.0 hat einen erstaunlich langen Atem. Es zielt auf hingebungsvolle Bindung,
Treue, Erkenntnisgewinn, Wohlergehen, Bescheidenheit und Dankbarkeit seines Zöglings, der immer wieder
Dummheiten macht, alles vergisst und dann bestraft werden muss. Trotzdem steht die Bundestreue Gottes
unverbrüchlich fest. Der gerechte Gott hält sich an seine Zusagen, sein Wohlwollen wird immer überwiegen.
Denn Jahwe ist »barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue« (2. Mose 34, 6). Auch
Allah ist bei aller Strenge der Al-Ghaffar, der große Verzeiher, Al-Wadud, der Liebevolle, und Al-Afwu, der
Vergeber der Sünden. Allah erzieht alle Gläubigen in großer Langmut und Geduld, und der Koran ist eine »frohe
Botschaft an alle, die Gutes tun« (Sure 46, 13).
ix
Für einen strenggläubigen Moslem der BLAUEN Bewusstseinsstufe ist der Koran eine Kopie des bei Allah
befindlichen »Buchs aller Bücher«. Es wurde von Allah in der »Nacht der Bestimmung« dem Propheten
Mohammed direkt ins Herz geschrieben. Weil der Prophet weder lesen noch schreiben konnte, bekam er den
Auftrag, daraus vorzutragen: Koran bedeutet »Lesung, Rezitation«. Weil im Koran steht, dass dieses Buch die
Wahrheit enthält, ist er die Wahrheit und nichts sonst.
x
Aus unserer Sicht ist die alte Rede vom »verborgenen Gott« die richtige Option, um spirituellen Suchern in
ORANGE die »Entwöhnungsphase« vom mythischen Glauben zu ermöglichen. Das kann sie davor bewahren, in
Atheismus abzurutschen oder die spirituelle Entwicklungslinie an dieser sensiblen Stelle aufzugeben.
»Verborgener Gott« bedeutet, dass dieses neue Gottesbild 5.0 von ORANGE nur jenseits der Sicherheit des
Kollektivs zu finden ist. Den »Verborgenen Gott« kann erst einmal nur der Einzelne suchen, der sich von
konventionellem Denken befreit hat. Das geistig rege, wache und unbestechliche ORANGE ist geradezu
prädestiniert dafür, dieses spirituelle Abenteuer zu meistern. Denn sein wacher, kritischer, vernunftgeschulter
Entdeckerverstand ist überaus begabt für die Suche nach unbekannten Größen. (S. 124)
xi
Da gibt es viele verschiedene Spielarten. Man kann sich - wie die Vertreterinnen und Vertreter der politischen
Theologie - bekennen zu Jesus, dem guten Menschen und moralischen Vorbild. Zu dem, der seinen Weg in aller
Konsequenz gegangen ist: den Weg der Gewaltlosigkeit, der Liebe, der Zuwendung zu den Geringsten, den Weg
der Konfrontation mit der erstarrten Religiosität seiner Zeit und den religiösen und staatlichen Autoritäten. In den
1960er- und 1970er-Jahren war Jesus, der Revolutionär, en vogue. Die Befreiungstheologie, entstanden in den
lateinamerikanischen Basisgemeinden, betont neben der alttestamentlichen Tradition von Exodus und Befreiung
vor allem das befreiende Handeln Jesu. Erlösung erwarten die Befreiungstheologen nicht mehr in einem
besseren Jenseits, sondern mitten in dieser Welt. Die Worte und Taten Jesu leiten an, Gerechtigkeit und sozialen
Ausgleich zu suchen.
149
Eine andere Spielart ist das Bekenntnis in evangelikalen, pietistischen oder charismatischen Kreisen zu Jesus als
»meinem persönlichen Herrn und Heiland«. Der Einzelne vor Gott, ohne Bischöfe, Riten und Gesetze - das ist
typisch für die Ich-Stufe ORANGE. Bei der Evangelisation kommt es auf die Sekunde an, in der sich der Einzelne
ganz allein entscheidet, nach vorn geht und »sein Leben Jesus übergibt«. Natürlich sollte man danach in einer
Gemeinde oder einem Hauskreis seinen Weg weitergehen. Aber entscheidend ist dieser existenzielle Sprung in
den Glauben, den jede und jeder nur für sich selbst tun kann. Persönliche Bibellektüre, Stille Zeit und das innige
Gebet stellen den Einzelnen in die Beziehung mit »seinem« Herrn. Das Bild von Jesus als strahlendem Sieger
über den Tod und das Böse passt auf jeden Fall gut in die ORANGE Erfolgsmentalität. (S.131)
xiii
Gern wird in GRÜN ein buddhistisches Gleichnis zitiert, das auch unter Moslems und Christen weite
Verbreitung fand: Vier Blindgeborene dürfen erstmals einen Elefanten berühren und sollen dann sein Wesen
beschreiben. Der eine betastet ein Ohr des Elefanten und sagt: »Ein Elefant ist flach und geformt wie ein
Fächer.« Der zweite befühlt den Rüssel und sagt: »Ein Elefant ist ein bewegliches Wasserrohr.« Der dritte, der
ein Bein untersucht, hält den Elefanten für eine Säule, während der vierte ihn als einen großen Sessel beschreibt
- er hat den Rücken abgetastet. Auf diese Weise erkennt jeder den Teil, an den er geraten ist, und kann ihn gut
beschreiben. Gleichzeitig sind die vier Blinden aber entsetzt über die falschen Beschreibungen der anderen. Die
Pointe des Gleichnisses ist aus GRÜNER Sicht, dass keine Hand den ganzen Elefanten erfassen kann. Gott
entzieht sich der Festlegung auf eine Sichtweise. Jede Religion ist zwar »in sich« ein vollständiger Heilsweg, aber
jede erfasst nur einen Teil der Wirklichkeit Gottes. Deshalb hat im Grunde keine von ihnen allein Recht.
xiv
Zum ersten Mal in der Geschichte entstand im 20.Jahrhundert die Situation, dass innerhalb einer Gesellschaft
bei den Erwachsenen drei Entwicklungsebenen gleichzeitig und fast gleich stark präsent sind: BLAU, ORANGE
und GRÜN existieren nebeneinander, und das geht nicht immer ohne Konflikte ab.
xv Fragen zu Einzelheiten wie „Warum wird Simone Weil Gelb zugeordnet?“ brauchen uns hier nicht aufzuhalten.
xvi KORALLE wird eine transpersonale Weiterentwicklung der grenzüberschreitenden ROTEN Ich-Stufe sein, jetzt
aber im Zweiten Rang. Auf der Korallenen Stufe wird der Einzelne durch sein pures Dasein ein lebendiges Signal
sein gegen Grenzziehungen aller Art. KORALLE wird in dem Wissen leben, dass es in Wirklichkeit keine Grenzen
gibt, die nicht durch Gedanken, Gefühle, Worte oder Taten erzeugt werden.
xvii
Die Begegnung mit GEIST als dem göttlichen Du, also einem lebendigen, alles umarmenden Gegenüber, steht
im Mittelpunkt der theistischen Religionen. Es ist der unverzichtbare Beitrag von Judentum, Islam und
Christentum, dass sie die unverwechselbare Klangfarbe der Ich-Du-Liebe zwischen Mensch und Gott ins Konzert
der Religionen einbringen.
„Die Heiligen Schriften und die mystischen Zeugnisse dieser drei Religionen quellen geradezu über vor einer
Liebe, die erfahren wird in der Begegnung mit Gott als einem persönlichen, geliebten, unbegrenzten, absoluten
DU. Die Liebe dieses unvorstellbaren GEISTES weist dem Ich den Weg in die Demut, Dankbarkeit und Hingabe.
(S.. 269)
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