Predigt 10.07.2011 - reformiert

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Predigt über Lk 15,1-6 – PID-Entscheidung im Dt. Bundestag 10.7.11
Ich lese uns den Predigttext für den heutigen Sonntag. Er steht im
Evangelium nach Lukas, Kapitel 15: Das Gleichnis vom verlorenen Schaf.
15,1 Es nahten sich Jesus aber allerlei Zöllner und Sünder, um ihn zu
hören. 2 Und die Pharisäer und Schriftgelehrten murrten und sprachen:
Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen. 3 Er sagte aber zu ihnen
dies Gleichnis und sprach: 4 Welcher Mensch ist unter euch, der hundert
Schafe hat und, wenn er eins von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig
in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er's findet? 5 Und
wenn er's gefunden hat, so legt er sich's auf die Schultern voller Freude. 6
Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht
zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das
verloren war.
Liebe Gemeinde, am letzten Donnerstag haben die Abgeordneten im deutschen Bundestag eine schwere Entscheidung gefällt: Darf man befruchtete Eizellen auf Erbkrankheiten hin untersuchen, bevor man sie im
Rahmen künstlicher Befruchtung der Gebärmutter einer Frau zuführt? Und
darf man Eizellen, die das Auftreten einer bestimmten Krankheit erwarten
lassen, aussortieren und entsorgen? Ja, hat die überwiegende Mehrheit
der Abgeordneten gesagt. Man darf dies, jedoch nur in ganz bestimmten
Fällen, nach einer eingehenden Beratung und mit Zustimmung einer EthikKommission. Der Bundestag hat damit ‚Ja’ gesagt zur Zulassung der sog.
Präimplantationsdiagnostik in Deutschland, ihre Zulassung gilt jedoch nur
in engen, genau definierten Grenzen.
Liebe Gemeinde, ich möchte in meiner Predigt das ganze Für und Wider,
die Argumente dafür und dagegen nicht durchdiskutieren. Eine Predigt ist
kein medizinethischer Vortrag und soll es auch nicht sein. Es geht mir
schlicht um die Klärung einer einzigen Frage, nämlich der Frage, ob die
Entscheidung der Politik vereinbar ist mit einer christlichen Ethik.
Denn dazu nimmt, wie ich meine, unser heutiger Predigttext Stellung. Ihn
wollen wir befragen, ob wir als Christen mit der Entscheidung von Donnerstag leben können oder nicht.
Wer die Diskussionen in der jüngsten Zeit verfolgt hat, wird festgestellt
haben: Die christlichen Kirchen haben sich allesamt gegen die Zulassung
der Präimplantationsdiagnostik ausgesprochen. Dabei zeigte sich die
katholische Kirche mit ihrem strikten Nein sehr geschlossen. Das Votum
aus der evangelischen Kirche war hingegen gespalten. Die kirchenleitenden Vertreter haben sich eher gegen Präimplantationsdiagnostik ausgesprochen. Einige Vertreter der akademischen Ethik aber, insbesondere
Professoren von Universitäten, konnten sich auch eine Zulassung vorstellen, wenn auch nur unter bestimmten Bedingungen. Die Argumente der
Gegner waren von sehr unterschiedlicher Natur. Zum einen wurde der
Vorwurf der Diskriminierung erhoben. Wenn man Menschen mit Behinderung verhindern könnte, dann hätten die, die eine Behinderung aufweisen,
einen noch schwereren Stand in der Gesellschaft, als sie es ohnehin
schon haben. Sie und ihre Angehörigen würden dann auf immer weniger
Verständnis stoßen. Zum anderen befürchtete man, dass die engen
Grenzen nicht eingehalten werden, dass also eine missbräuchliche
Ausweitung der Diagnostik-Methode zu erwarten sei. Zum dritten wurde
auf die Tatsache verwiesen, dass Präimplantationsdiagnostik Selektion
sei, also ein Auswahlverfahren, in dem über lebenswertes und lebensunwertes Leben entschieden werde, eine Entscheidung, die Menschen
nicht zustehe. Zum vierten wurde darauf verwiesen, dass der Mensch dem
Schöpfer immer mehr ins Handwerk pfusche, die Machbarkeit des Lebens
immer stärker werde. Fünftens und letztens wurde darauf verwiesen, dass
aussortierte Embryonen ja auch schon menschliches Leben seien, das
eigentlich geschützt gehöre.
Jedes dieser fünf Argumente ist von unterschiedlichem Gewicht. Gewiss
ist das eine Argument stichhaltiger als das andere. Und ob manches
Argument überhaupt ein solches ist, darüber lässt sich auch trefflich
streiten und ist in der Vergangenheit auch schon heftig gestritten worden.
Ich möchte diese Kontroversen nicht aufgreifen. Ich will mich streng an die
Frage halten, die ich eingangs schon gestellt habe, nämlich die Frage, ob
die Zulassung von Präimplantationsdiagnostik mit einer christlichen Ethik
vereinbar ist oder nicht. Um diese Frage zu entscheiden, brauchen wir
Kriterien, brauchen wir Maßstäbe, an die wir uns halten können. Und als
evangelische Christen brauchen wir Kriterien, die der Bibel entnommen sind. Denn für unseren Glauben wie für unsere Ethik ist und bleibt
die Bibel, die heilige Schrift, die ausschlaggebende Norm und Richtschnur.
So haben es die Gründer der evangelischen Kirche vor bald 500 Jahren
einmal festgelegt. Das ist seitdem das Merkmal unserer evangelischen
Kirche, das Kennzeichen evangelischen Christseins bis heute.
Doch wie finden wir in der Bibel die entscheidenden Hinweise? Wo sind
die Kriterien, die Maßstäbe für unsere Beurteilung? Einige Professoren
haben Bezug genommen auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen, wie
sie in der Schöpfungserzählung vertreten wird. Andere haben Zuflucht
genommen zur Sprache der Psalmen, wo menschliches Leben von Anfang an dem bewahrenden Blick Gottes unterstellt wird. Und doch konnte
es sein, dass der eine Ethik-Professor am Ende Präimplantationsdiagnostik befürwortete, während ein anderer sie ablehnte, obwohl beide
mit denselben Bibelstellen operierten.
Lasst uns daher einmal hören auf das, was der heutige Bibeltext uns
sagen möchte. Lasst uns ihn befragen, was er zur Klärung unserer Frage
beitragen kann. Es handelt sich um ein Gleichnis, mit dem sich Jesus
verteidigt. Jesus wird vorgeworfen, die Regeln zu verletzen. Ein frommer
Jude hat mit Sündern keinen Umgang zu haben. Wer sich mit Menschen
abgibt, die nicht nach den Geboten Gottes leben, der, so lautet der
Vorwurf, kommt selbst in Verruf. Jesus aber sagte zu ihnen dies Gleichnis
und sprach: Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und,
wenn er eins von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste
lässt und geht dem verlorenen nach, bis er's findet? Und wenn er's
gefunden hat, so legt er sich's auf die Schultern voller Freude.
Jesus geht davon aus, dass jeder so handeln würde wie dieser Hirte.
Deshalb leitet er sein Gleichnis auch mit einer Frage ein, die nur rhetorisch
gemeint ist. D.h. deren Antwort steht für ihn von vornherein fest: Na klar,
wir würden alle dem einen Schaf nachgehen. Doch so klar, wie es scheint,
ist es in Wahrheit nicht. Genau betrachtet ist es sogar unverantwortlich,
wenn der Hirte so verfährt. Er würde neunundneunzig Schafe in der
Wüste, in einer für Mensch und Tier lebensfeindlichen Umgebung schutzlos zurücklassen, wenn er dem einen verlorenen Schaf nachginge. Bei
Lichte betrachtet ist ein solcher Hirte ein schlechter Hirte. Er müsste
eigentlich das Wohl der Mehrheit im Blick haben. Wer jedoch dem einen
Schaf nachläuft, der bringt eben diese Mehrheit in Gefahr, ist ein Hirte, der
gegen fundamentale Regeln des Hirtenberufes verstößt. So wie die
Präimplantationsdiagnostik gegen fundamentale Regeln verstößt: Sie
verstößt gegen das Gebot, menschliches Leben von Anfang an zu schützen. Und sie verstößt gegen das Verbot, menschliches Leben in
lebenswert und nicht lebenswert einzuteilen, in wünschenswert und nicht
wünschenswert. Und doch lässt Jesus den Hirten losziehen. Obwohl sich
dieser den neunundneunzig gegenüber versündigt, obwohl er Schuld auf
sich lädt, indem er seine Aufsichtspflicht verletzt. Das aber ist das
Teuflische an dieser Situation: Der Hirte wird immer Schuld auf sich laden.
Bleibt er bei seinen neunundneunzig Schafen und gibt das eine verlorene
preis, wird er an diesem einen schuldig. Verlässt er seine Herde und geht
dem verlorenen Schaf nach, wird er schuldig an den neunundneunzig. In
genau dieses Dilemma rücken uns auch die modernen Techniken der
Medizin, ob es die Präimplantationsdiagnostik ist oder die Forschung mit
menschlichen Stammzellen: Wenn wir diese Techniken anwenden,
machen wir uns schuldig. Wenn wir es nicht tun, machen wir uns
auch schuldig. Schuldig an denen, die von den Techniken profitieren
könnten. Ich habe den Eindruck, dass es vor allem in der katholischen
Kirche ein Bestreben gibt, mit Hilfe eines klaren Neins am Ende mit
sauberen Händen dazustehen. Dies aber ist ein großer Irrtum: Auch wer
sich den modernen Technologien verschließt, wer ihre Anwendung
ablehnt und verbietet, der macht sich – bildlich gesprochen – ebenfalls die
Hände schmutzig. Jesus aber lässt uns in diesem Dilemma nicht im Stich.
Er zeigt uns, worauf es ankommt. Er ergreift Partei für das eine Schaf in
Not. Denn wer in akuter Not ist, auf den kommt es Jesus an. Dann dürfen
Regeln, die sonst gelten, auch einmal gebrochen werden, dürfen Gebote
und Verbote sehenden Auges übertreten werden. Denn Not kennt bekanntlich kein Gebot. Wer dem einen verlorenen Schaf nachgeht, bewegt
sich in einer Grauzone und betritt zugleich einen gangbaren Pfad. Wer
200 Paaren pro Jahr erlaubt, Präimplantationsdiagnostik in Anspruch zu
nehmen, der bewegt sich auf moralisch dünnem Eis und doch zugleich in
einem ethisch vertretbaren Rahmen. Denn der Gesetzgeber eröffnet nun
Paaren in Not eine Möglichkeit, schwerem Leid aus dem Weg zu gehen.
Der Preis dafür ist hoch, die Belastung groß und der Ausgang ungewiss.
Und doch brauchen jene Paare dann nicht mehr über eine Abtreibung zu
entscheiden, wenn die ererbte Krankheit erst während der Schwangerschaft festgestellt wird. Die Eltern müssen auch nicht mehr befürchten,
dass ihre Ehe, ihre Familie unter den Belastungen, die ein behindertes
Kind mit sich bringen kann, über die Maßen leidet. Leider führt bislang nur
jede vierte künstliche Befruchtung zu einer Schwangerschaft. Doch wenn
am Ende ein Kind das Licht dieser Welt erblickt, das sich seines Lebens
unbelastet erfreuen kann, dann wird bei seinen Eltern darüber die Freude
ebenso groß sein wie über das Schaf, das verloren war und wiedergefunden wurde. Denn als der Hirte heimkommt, so Jesus, ruft er seine
Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich
habe mein Schaf gefunden, das verloren war. Eine solche Freude stellt
sich nicht ein, wenn Paare in Deutschland gezwungen wären, entweder
auf volles Risiko zu gehen oder auf eigene Kinder ganz zu verzichten.
Liebe Gemeinde, es besteht kein Grund, die Zulassung von Präimplantationsdiagnostik zu bejubeln. Freuen wir uns lieber über jedes Kind, das
seines Lebens froh wird. Und dabei spielt es oft – gottlob - keine Rolle, ob
ein Kind eine Behinderung aufweist oder nicht. Aber manchmal gibt es
gute Gründe, sich über Normen und Regeln hinwegzusetzen, nämlich
dann, wenn es darum geht, dem einen oder auch den wenigen aus einer
großen Not zu helfen. Dem christlichen Glauben war und ist immer
beides wichtig: die Gebote zu bewahren und zugleich der konkreten
Not abzuhelfen. Und manchmal muss das Letztere auf Kosten des
Ersteren geschehen. Schon die Gründer der evangelischen Kirche
predigten das Gesetz Gottes und schärften mit seinen Weisungen die
Gewissen der Menschen. Aber wenn es darauf ankam, haben die
Reformatoren das Gewicht doch deutlich auf das andere gelegt, auf das
Evangelium, nach dem dann auch unsere Kirche benannt wurde. Das
Evangelium besteht in der einen Ausnahme, im begründeten Abweichen
von der Norm. Das Evangelium besteht in einer Heilung, die gegen das
Gebot der Feiertagsruhe verstößt. Das Evangelium besteht darin, dass
man sich mit Leuten abgibt, von denen man sich eigentlich fernhalten
sollte. Das Evangelium besteht in einem Hirten, der das Ethos eines Hirten
über Bord wirft, um ethisch vertretbar zu handeln. Er geht dem einen verlorenen Schaf nach und verhindert so, dass dieses Schaf vor die Hunde
geht. Weil dies evangelisch ist, liebe Freunde, können wir mit der
Entscheidung des Deutschen Bundestages leben, auch und gerade als
Christinnen und Christen. AMEN.
<Pfr. Dr. Thorsten Jacobi, Ev.-Ref. Kirchengemeinde Hohenlimburg. Es zählt das
tatsächlich gesprochene Wort.>
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