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5. Deutung und frühe Rezeption des heliozentrischen Systems
Die frühe Rezeption des heliozentrischen Systems verläuft fast ohne theologische Erregung und
gänzlich ohne juristische Verwicklungen.
In dieser Periode kommen zwei Deeskalationsstrategien zum Tragen.
(1) Einordnung der heliozentrischen Lehre in die Tradition der Rettung der Phänomene.
(2) Astronomie als Expertenwissenschaft: Zutritt nur für Mathematiker.
5.1 Entschlüsselung der Himmelsbewegungen versus Rettung der Phänomene
Copernicus selbst interpretierte die heliozentrische Lehre realistisch als „Weltsystem“.
Galileis realistisches Verständnis des Copernicus (1632):
Keine bloßen Kalkulationsschemata und keine physikalisch widersinnigen Hypothesen.
Stattdessen: Entschlüsselung der wirklichen Gründe der Himmelserscheinungen.
Die Astronomie erhebt einen realistischen Anspruch; der Astronom wird Philosoph.
Unter den Zeitgenossen ist dieser Umbruch von kaum jemandem bemerkt worden.
Anonymes Vorwort von Andreas Osiander: Einordnung von De Revolutionibus in die Tradition
der „Rettung der Phänomene“.
Osiander: Begründung der instrumentalistischen Deutung durch Hinweis auf prinzipielle
Erkenntnisgrenzen der Astronomie.
(1) Die Ptolemäische Astronomie enthält klarerweise nicht realistisch zu deutende Annahmen:
Venusepizykel.
(2) Äquivalenzbeweis der unterschiedlichen Jahresbewegungen der Sonne:
=> Scheinbare Bewegungen können auf verschiedenartige Anordnungen wahrer Bewegungen
zurückgehen.
=> Der Astronomie bleiben die wahren Bewegungen der Himmelskörper verschlossen.
Ziel Osianders: Erleichterung und Unterstützung der Annahme des heliozentrischen Systems.
Wahrheit der geozentrischen Theorie nicht anzunehmen, und Auszeichnung der Copernicanischen
Theorie durch überlegene Einfachheit.
Der lutheranische Geistliche Osiander will mit der nicht-realistischen Deutung der
Copernicanischen Lehre einen möglichen Konflikt mit den Wahrheiten des Glaubens im Keim
ersticken.
Durch die nicht-realistische Deutung wurden physikalische, kosmologische oder theologische
Komplikationen der heliozentrischen Theorie vermieden.
Bestimmung der frühen Rezeption durch die instrumentalistische Deutung.
NIKOLAUS REIMARUS URSUS (1551-1600): Fundamentum astronomium (1588):
Verteidigung der instrumentalistischen Deutung zum Zweck der Sicherung der Freiheit
astronomischer Theoriebildungen.
Argumentation analog zu Osiander:
(1) Astronomischen Theorien fehlt es grundsätzlich an Wirklichkeitsbezug.
(2) Dies zeigt sich insbesondere am Auftreten emirischer Schwierigkeiten.
(3) Astronomische Hypothesen sind weder durch Konflikte mit der Physik noch mit der Theologie
zu widerlegen.
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5.2 Astronomie als mathematische Spezialdisziplin
Copernicus:
Kein Primat für Naturphilosophie und Theologie in Sachen Wirklichkeitserkenntnis.
Mit mathematischer Expertise gegen die Deutungshoheit der weltanschaulichen Gewalten.
Astronomie als hochentwickelte Spezialdisziplin, die einen eigenen Bereich empirischer und
begrifflicher Probleme mit fortgeschrittenen Methoden bearbeitet.
„Mathematische Harmonien“ als besondere Vorzügen des heliozentrischen Ansatzes:
Erklärungskraft als Fähigkeit, mit wenigen Prinzipien einer Vielzahl von Phänomenen Rechnung
zu tragen, sowie Fehlen willkürlicher Anpassungen.
Entgegenstellung der Unbeholfenheit der geozentrischen Erklärungen und der Stringenz und
Eleganz des Copernicanischen Ansatzes.
Kontrast der Freiräume geozentrischer Theorienkonstruktion mit der inneren Notwendigkeit des
heliozentrischen Weltsystems.
Copernicus erhebt lediglich den Anspruch, bessere Erklärungen zu liefern, nicht aber, allein eine
Erklärung bereitzustellen.
Keine Anomalien der geozentrischen Theorie.
Copernicus ging es nur um den Nachweis, dass
(1) der heliozentrische Ansatz dem Ptolemäischen empirisch gleichwertig,
(2) aber durch nicht-empirische, methodologische Vorzüge ausgezeichnet war.
De Revolutionibus als ein mathematisches Werk, das für Mathematiker geschrieben ist.
Unlesbarkeit außerhalb des engen Kreises der Fachleute.
Copernicus als Anhänger des pythagoreischen Wissenschaftsverständnis: Wissenschaft als
esoterischer Geheimbund, dessen Lehren nur Auserwählten zugänglich gemacht und nur diesen
zur Überprüfung vorgelegt werden.
5.3 Erste Bewährungsproben: Kalenderreform und Sterntabellen
In instrumentalistischer Beschränkung Beachtung von De revolutionibus unter den
Fachastronomen.
Rezeption als Beitrag zur mathematischen Astronomie, nicht als Anstoß zu einer breiteren
philosophischen oder kosmologischen Umorientierung.
Aufnahme des Copernicanischen Ansatzes im 16. Jahrhundert primär auf praktischen Nutzen
gerichtet.
Kalenderreform: Ausarbeitung des Gregorianischen Kalenders
Sterntabellen oder Ephemeriden zur Verbesserung der Astrologie.
Kalenderreform:
Zugrunde liegendes astronomische Problem: Genaue Bestimmung der Jahreslänge.
Beitrag des Heliozentrismus: Auszeichnung des siderischen Jahrs gegenüber dem tropischen: Da
die Sternensphäre ruht, bildet diese das richtige Bezugssystem für die Bewegung der Erde.
Allerdings: Schon Thābit Ibn-Qurra hatte um 900 den Bezug auf das siderische Jahr auf
geozentrischer Grundlage vorgeschlagen (wie Kopernikus anerkennt).
Clavius 1582: Gregorianischer Kalender auf der Basis der Copernicanischen Prutenicae tabulae
coelestium motuum (1551) von Erasmus Reinhold.
Jedoch: Die Annahme des Copernicanischen Werts für die Jahreslänge beinhaltete nicht die
Anerkennung des heliozentrischen Systems.
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Astrologie:
Praktische Relevanz der Astronomie als Grundlagendiszipin zur Astrologie.
Verbesserung der Astronomie als wichtiges Anliegen der Astrologie.
Reinholds Prutenicae tabulae nur wenig zuverlässiger als ihre Vorgänger.
=> Keine spürbare Verbesserung des astrologischen Tagesgeschäfts durch die Copernicanische
Theorie.
Insgesamt:
Beschränkung der frühen Rezeption von De Revolutionibus auf den Kreis der mathematischen
Astronomen, bei Verbreitung der Kunde vom heliozentrischen System in den breiteren
astrologischen Markt hinein.
Frühe Rezeption zurückhaltend, aber nicht insgesamt abweisend, und durch eine
instrumentalistische Interpretation geprägt.
5.4 Astrologische Hoffnungen und theologische Bedenken
Schlüsselrolle bei der frühen Rezeption des Kopernikanismus für die Wittenberger Lutheraner und
insbesondere Philipp Melanchthon (1497–1552).
Melanchthon: Reform der Astrologie auf der Basis zweier Prinzipien: Rückkehr zu den Quellen
und Physikalisierung.
Melanchthons Untersützung der traditionellen Trennung von Physik und Astronomie: Zwar
Verfolgung einer konservativen Linie in der Astronomie, zugleich Anliegen ihrer Verbesserung
und Weiterentwicklung.
=> Melanchthon als Zentralfigur der frühen Rezeption.
Theologische Komplikationen
Der Stillstand der Sonne und die Bewegung der Erde waren nicht ohne weiteres mit Passagen aus
der Bibel verträglich.
Tischreden Luthers 1539:
Heliozentrismus als pure Neuerungssucht: „er mus ihme etwas eigen machen, wie jener es macht,
der die ganze Astrologie umkehren will. Auch wenn jene in Unordnung ist, glaube ich dennoch der
Heiligen Schrift. Denn Josua hieß die Sonne stillstehen, nicht die Erde“ (Tischreden IV, Nr. 4638
(im Orig. teilw. lat.).
Andere Überlieferung der gleichen Äußerung (vermutlich nicht authentisch): „Der Nar wil die
gantze Kunst Astronomiae umbkeren“ (Tischreden I, No. 855).
Josua 10:12-13: „ ... und Josua sprach in Gegenwart Israels: Sonne, steh still zu Gibeon, und
Mond, im Tal Ajalon! Da stand die Sonne still, und der Mond blieb stehen, bis sich das Volk an
seinen Feinden gerächt hatte. ... So blieb die Sonne stehen mitten am Himmel und beeilte sich
nicht unterzugehen fast einen ganzen Tag.“
Melanchthon nach dem Studium der Narratio prima Auffassung der heliozentrischen Lehre trotz
Rheticus’ zurückhaltender Formulierungen als Wirklichkeitsbehauptung.
=> Scharf ablehnende Äußerungen Melanchthons.
Die Erdbewegung steht mit dem Bibelwort im Widerspruch und ist daher ausgeschlossen.
Weitere relevante Bibelstellen:
„Ein Geschlecht vergeht, das andere kommt; die Erde aber ruht auf ewig. Die Sonne geht auf und
geht unter und läuft an ihren Ort, dass sie dort wieder aufgehe“ (Prediger Salomo 1:4-5).
„Der Herr ist König und herrlich geschmückt. ... Er hat den Erdkreis gegründet, dass er nicht
wankt“ (Psalm 93:1).
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Anfängliche Konzentration theologischer Bedenken auf den protestantischen Bereich oder
eigentlich auf den Lutheranismus.
Grund: Protestantismus als biblischer Fundamentalismus: allein der Schrift kommt Verbindlichkeit
zu (Sola scriptura!).
=> Schließt Verpflichtung auf ein wörtliches Verständnis des Textes ein.
Die Wittenberger Deutung
Robert Westman (1975): „Wittenberger Deutung“:

Festhalten an der Trennung von Astronomie und Physik festgehalten.

Die heliozentrische Lehre wird dem Anspruch der Rettung der Phänomene am besten gerecht.

Vorzug der mathematischen Konstruktionen des Copernicus ist ihr Respekt vor dem
Gleichförmigkeitsgrundsatz.
=> Copernicus bewahrt die Prinzipien der Alten und führt die Astronomie hinter Ptolemäus
zurück.
Für die Wittenberger Deutung tritt (wie für Copernicus selbst) die Frage der Erdbewegung hinter
der Bewahrung der Gleichförmigkeit zurück.
Dominanz der Wittenberger Deutung in der frühen Rezeption:
Sie bildet den Kern der instrumentalistischen Rezeption und fördert die Verbreitung des
Heliozentrismus bei dessen kosmologischer Neutralisierung.
Rheticus’ heliozentrische Astrologie
Rheticus: Copernicanische Theorie als Grundlage zweier Anliegen:
Pythagoreisch-platonische Weltsicht: Zahlenverhältnisse und Proportionen als Grundlage der
Wirklichkeit.
Melanchthons Physikalisierungsprogramm der Astrologie.
Rheticus: Heliozentrisches Weltsystem als Grundlage einer Verbesserung der Astrologie:
Formulierung einer heliozentrischen Astrologie:
Bewegung der Himmelskörper um die Sonne als Grundgröße einer erneuerten Astrologie.
Für irdische Verhältnisse: Erdbewegung relevant.
Copernicus: zweite Bewegung der Erde.
Rotation des Mittelpunkts des Erdbahnkreises mit einer Periode von 3434 Jahren auf einem
Epizykel, dessen Zentrum die Sonne umkreist.
Aufreihung von Sonne, Erdbahnzentrum und der Epizykel dieses Zentrums im Jahre 64 v. Chr. in
gerader Linie.
Trepidation (vermeintliche Änderung der Präzession der Äquinoktien): Zyklus von 1717 Jahren.
Rheticus: diese arithmetischen und geometrischen Verhältnisse aus Ausgangspunkt:
Zahlenverhältnis von zwei zwischen Exzentrizitäts- und Trepidationsperiode: Auszeichnung der
Periode von 3434 Jahren.
Auszeichnung von Zeitpunkten durch geradlinige Anordnung.
Rheticus’ astro-historische These: Immer wenn sich das Zentrum des Epizykels an einem
ausgezeichneten Punkt befindet, beginnen die großen Monarchien der Welt, und sie erschöpfen
sich mit einer Periode, die sich aus dem ausgezeichneten Intervall von 3434 Jahren ableitet.
Aufstieg und Niedergang der Weltreiche ist in das Weltsystem des Copernicus eingeschrieben –
nicht in die geozentrische Kosmologie des Ptolemäus.
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Die Copernicanische Lehre eröffnet die Möglichkeit einer neuartigen Astrologie, deren erhöhte
Zuverlässigkeit zugunsten ihrer astronomischen Grundlage spricht.
=> Rhetcus geht von den Einzelheiten der heliozentrischen Lehre aus.
Versuch der Umsetzung von Melanchthons Physikalisierungsprogramm der Astrologie:
Korrekte astrologische Erklärungen oder Vorhersagen haben von den Ursachen auszugehen und
und müssen daher Elemente der astronomischen Theorie einschließen.
Rheticus’ pythagoreisch-platonischer Standpunkt beinhaltet den Bezug auf die Beziehungen der
Teilbewegungen der Himmelskörper.
Aufgreifen von Rheticus’ Projekt einer heliozentrischen Reform der Astrologie durch Johannes
Kepler.
Vorhaben der Integration der Astrologie in die Wissenschaftlichen Revolution.
5.5 Naturphilosphische Leitmotive bei Copernicus und im frühen Copernicanismus
Die Gleichförmigkeit der Himmelsbewegungen
Gleichförmige Kreisbewegung der Himmelskörper bei Copernicus im Vordergrund der Natursicht.
Heliozentrischer Ansatz durch Aufnahme antiker Vorstellungen.
Beförderung von Formulierung und Aufnahme des Copernicanischen Systems durch
geistesgeschichtliches Klima der Renaissance: Erneuerung durch Restauration.
Platonismus in Methodik und Wirklichkeitsauffassung
Hinwendung der Renaissance zu Platonismus und Neuplatonismus.
Aristotelische Weltsicht: Betonung des Erfahrungsbezugs des Wissens.
=> Die Naturvorgänge sind zumindest näherungsweise so beschaffen wie sie in der Erfahrung
erscheinen.
Platonische Auffassung: Verschiedenheit von Wirklichkeit und Erscheinungen; Erschließbarkeit
der Wirklichkeit durch vernünftiges Denken.
Unplausibilität der Copernicanischen Lehre im Rahmen einer Aristotelischen Natursicht:
Da die Beschaffenheit der Natur aus der Erfahrung zu entnehmen ist, und da sich in der Erfahrung
nichts von der Bewegung der Erde findet, gibt es keine Bewegung der Erde.
Nur in Platonischer Orientierung
können Kernbestandteile der wirklichen Welt der Wahrnehmung entzogen sein,
kann man gegen die Evidenz der Sinne behaupten, dass die Erde sich bewegt,
sind die mathematischen Vorzüge einer Theorie ein Grund für deren Geltung.
Bei Copernicus stehen methodologischen Vorzügen oder „mathematischen Harmonien“ die
Nachteile gegenüber, dass eine realistisch aufgefasste Erdbewegung weder mit dem Augenschein
noch mit der Physik der Zeit zusammenpasst.
In methodischer Hinsicht zweierlei Stütze des Copernicanismus durch den Platonismus:
Annahme einer Kluft zwischen Erscheinung und Wirklichkeit,
Auffassung der Mathematik als privilegiertem Mittel der Wirklichkeitserkenntnis.
Neben den methodischen Platonismus tritt die pythagoreisch-platonische Ontologie: Die
Wirklichkeit ist von mathematischer Beschaffenheit.
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Unterhalb der trügerischen Oberfläche der Wahrnehmungen besteht die Welt aus Zahl und Figur.
=> Erschließbarkeit mit mathematischen Mitteln.
Durchgehende Prägung der Rezeption des Copernicanismus durch Verpflichtung auf die
pythagoreisch-platonische Ontologie.
Allerdings: Bei Copernicus selbt ist keine solche ontologische Prägung aufweisbar.
Ähnlich unsicher: Einfluss des Neuplatonismus auf Copernicus.
Neuplatonismus zwar von großem Einfluss auf die Rezeption des Copernicanismus und die
Weiterentwicklung der Wissenschaftlichen Revolution, aber kein tiefgreifender Eindruck auf Copernicus aufweisbar.
Ironie der Geistesgeschichte: Die Wissenschaftliche Revolution begann im Verbund mit dem
apriorisch orientierten Platon und gegen den empirisch gesinnten Aristoteles.
Physikalisierung und realistische Interpretation der Astronomie
Naturphilosophisches Anliegen der Physikalisierung der Astronomie von besonderer Tragweite für
Copernicus.
Doppelte Verpflichtung auf physikalisch akzeptable Bewegungsformen und auf die empirische
Adäquatheit der astronomischen Beschreibung.
Copernicus’ heliozentrisches Projekt Teil eines ausgreifenden wissenschafthistorischen
Entwicklungsbogens zur Physikalisierung der astronomischen Theorie:
Vonh Alhazens Kritik an den Äquanten des Ptolemäus im 11. Jh. bis zu Keplers Konzeption einer
Himmelsphysik zu Beginn des 17. Jhs.
=> Zunehmend realistische Interpretation der mathematischen Konstruktionen der Astronomie.
=> Christoph Clavius (1538-1612): Wissenschaftlicher Realismus: Klarer Wirklichkeitsanspruch
der mathematischen Astronomie.
Herkömmlicher methodologischer Einwand: Mehrdeutigkeit des Schlusses von der Wirkungen auf
die Ursache und entsprechende Beschränkung des Zugriffs der Astronomie.
Clavius:
(1) Das Mehrdeutigkeitsbedenken gilt ebenso für die Aristotelische Naturphilosophie, sodass auch
die konzentrische Kosmlogie davon betroffen ist.
(2) Die Vorhersage künftiger Himmelserscheinungen gelingt nicht durch bloß fiktive
Konstruktionen: Wir können die Himmel nicht dazu zwingen, sich nach Maßgabe unseres Willens
und unserer Vorstellungen zu bewegen.
5.6 Das geoheliozentrische System Tycho Brahes
TYCHO BRAHE (1546-1601): Geoheliozentrisches System 1583.
Der Erdumlauf der Sonne und der Sonnenumlauf der Planeten
Fehlen der Fixsternparallaxe als empirische Widerlegung der Erdbewegung.
Kompromiss der geoheliozentrischen Anordnung als Verallgemeinerung der „ägyptischen
Hypothese“.
Geoheliozentrisches System:
– Ruhe der Erde im Mittelpunkt des Universums.
– Rotation von Sonne, Mond und Sternen in tägli-
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chem und jährlichem Umlauf um die Erde.
– Umlauf der übrigen Planeten um die Sonne.
Brahe betont (analog zu Copernicus):
die antiken Wurzeln seines Weltsystems,
den Vorrang der Sonne,
die mathematischen Harmonien der Bewegungsabläufe.
Zusätzlich: Einklang mit dem Zeugnis der Schrift.
Übertragbarkeit der Copernicanischen Erklärungen der qualitativen Eigenschaften der Planetenbewegung in den geoheliozentrischen Rahmen.
=> Beschränkung der Elongation von Merkur und Venus wie im heliozentrischen Ansatz.
=> Retrogression nebst Bindung ihres Auftretens an die Opposition zur Sonne als direkte Folge
Tychonischer Grundsätze.
Weitgehende Übertragbarkeit der Copernicanischen Behandlung der Planetenbewegungen:
=> Keine schlechteren Positionsbestimmungen.
Vorzüge des Tychonischen Systems:
Keine Konflikte mit der akzeptierten physikalischen Theorie,
Einklang mit herkömmlichen naturphilosophischen Überzeugungen von der Schwerfälligkeit der
Erde und der ätherischen Natur der Sterne.
Brahe: Zwar rettet die heliozentrische Theorie der Phänomene, ist aber als Weltsystem haltlos.
Tychos Abschaffung der Kristallsphären
Überschneidung von Mars- und Sonnenbahn im geoheliozentrischen System.
=> Keine Kugelschalen.
Stützung durch Vermessung von Kometenbahnen: Keine parallaktische Verschiebung.
=> Kometen als astronomische Phänomene.
Schlussfolgerungen:
(1) Verschiebung von Kometen großräumig quer zu den Planetenbahnen.
=> Kugelschalen als bloß fiktive Konstruktionen zur Rettung der Phänomene, denen in
Wirklichkeit nicht entspricht.
Ausnahme: Fixsternsphäre.
(2) Veränderung von Kometen als supralunarer Wandel.
Zurückweisung der Aristotelischen Trennung zwischen irdischem Wandel und himmlischer
Beständigkeit.
Tychos Aufhebung der Aristotelischen Zweiteilung zwischen irdischem Wandel und himmlischer
Beständigkeit.
Auch im Reich der Himmelskörper finden sich Wechsel und Veränderung.
Die Dominanz des Tychonischen Systems
Tychos Ansatz in der ersten Hälfte des 17. Jh.s das populärste Weltsystem.
Innovationskraft des Tychonischen Systems:
– Abschaffung der Kristallsphären
– Zurückstufung der Aristotelischen Zweiteilung
des Universums entlang der Mondbahn.
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Invariante Merkmale der Astronomie in Antike und Mittelalter:
(1) Zentralstellung der Erde.
(2) Kugelschalen als die wichtigsten kosmologischen Gebilde.
(3) Gleichförmige Kreisförmigkeit aller Himmelsbewegungen.
Copernicus: contra: (1); pro: (2) & (3).
Tycho: contra: (2); pro: (1) & (3).
Verbreitete zeitgenössische Einschätzung des Tychonischen Systems: Gelungener Kompromiss:
– wurde den astronomischen Befunden gerecht,
– vermied den Gegensatz zu physikalischer
Theorie und gesundem Menschenverstand;
– beschwor keine theologischen Komplikationen
herauf.
„Die Erfahrungen aber, welche man gegen die jährliche Bewegung anführt, scheinen in so
offenbarem Widerspruch mit dieser [heliozentrischen] Lehre zu stehen, dass ... meine
Bewunderung keine Grenzen findet, wie bei Aristarch und Kopernikus die Vernunft in dem Masse
die Sinne hat überwinden können, dass ihnen zum Trotz die Vernunft über ihre Leichtgläubigkeit
triumphiert hat.“ (Galilei 1632, 342).
Copernicus und die Copernicanische Revolution
Der Durchbruch zur Neuzeit ist wesentlich das Werk Johannes Keplers, Giordano Brunos und
Galileo Galileis.
Aber Copernicus setzte einen Prozess in Gang, der von einer inneren Entfaltungsdynamik
vorangetrieben letztlich zur Newtonschen Theorie führte, mit der die Wissenschaftliche
Revolution ihren Abschluss fand.
Die späteren Stufen sind nicht selten eine Reaktion auf Unzulänglichkeiten und Lücken der
früheren:
Man will begrenzte Schwächen beheben und stößt dabei zu neuartigen Konzepten vor, deren
Tragweite den Anlass ihrer Einführung bei weitem übersteigt.
=> Eine Maßnahme führt zu begrifflichen Spannungen und Verwerfungen, die eine
Entwicklungsdynamik begründen, in deren Verlauf die Konzeption eine am Anfang
unvorhergesehene Gestalt annimmt.
Erst in dieser rückblickenden Betrachtung wird De revolutionibus zum Ausgangspunkt einer
Revolution.
Anachroner Zugang zur Wissenschaftsgeschichte:
Ausgehen von einem späteren Erkenntnisstand aus und Identifikation der Entwicklungsstufen bei
dessen Herausbildung.
Diachrone Historiographie:
Rekonstruktion von Theorien aus deren jeweiligem Selbstverständnis und ihrer Integration in das
System des Wissens ihrer Zeit.
Die Copernicanische Wende ergibt sich erst in anachroner Perspektive und bleibt diachron
unsichtbar.
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