Blocklehrveranstaltung

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Familie als Bildungsinstitution:
Familie und Bildung:
Generell bildet die Familie stets den Ort der elementaren Bildung und Erziehung, sowohl was
die zeitliche Vorrangigkeit als auch was die affektive Nachhaltigkeit betrifft. Familie ist der
Ort, in dem sowohl zuerst als auch am intensivsten elementare Gefühle wie Sicherheit,
Geborgenheit, Liebe, Respekt, Hilfsbereitschaft erworben und als Werte, als wünschenswerte
Handlungen und Praktiken, vermittelt werden. Eltern sind die ersten Lehrer und Bildner des
Menschen; Familie deshalb die elementarste Bildungsinstanz:
Drei Faktoren für die überragende Bedeutung familialer Einflüsse insbesondere in der
Kindheit:
1. genetische Transmission: Transmission von Anlagen der Elterngeneration auf die
Kindergeneration.
2. Zeitliches Primat der Familie: Vorgeburtliche wie nachgeburtliche dauerhafte Einflüsse der
Familie: relativ lange dauernde Umwelt des Kindes (trotz steigender Scheidungszahlen: rund
80% der Kinder wachsen in Familienumwelten auf).
3. Familie als intimes Beziehungsnetz: In der Familie ist die gesamte Person Bezugspunkt der
Kommunikation; nicht bestimmte Teile und Fähigkeiten, so etwa Leistungsaspekte in der
Schule. (Vgl. Ludwig Liegle: Bildung und Erziehung in früher Kindheit. Kohlhammer Verlag
(Stuttgart, 2006).
Bildung und Bindung sind elementar verbunden: Die Bindungstheorie zeigt: die Qualität der
emotionalen Bindungserfahrungen in der Familie hat überaus bedeutsame Auswirkung auch
auf die Bildbarkeit, auf die kognitiven Entwicklungspotenziale der Menschen:
Für Bildungsprozesse von Kindern sind zwei Aspekte der familialen Umwelten besonders
relevant:
1. Qualität der Eltern-Kind-Beziehungen: Feinfühligkeit der Eltern; Emotionale Wärme,
Autonomie und Verbundenheit;
2. Ressourcen der Familie: Unterstützungspotenziale; Anregung der Eltern; Schulabschlüsse
der Eltern, Familieneinkommen („kulturelles und soziales Kapital der Eltern“)
Bei einem längsschnittlichen Vergleich der Faktoren, die für eine gute Entwicklung des
Kindes im Alter von 8,5 Jahren sprechen (gemessene Merkmale waren: 1. sozial-emotionale
Entwicklung des Kindes; 2. Bewältigung alltäglicher Lebenssituationen und 3. kognitive
Entwicklung), wurden die Qualitätsmerkmale von Kindergarten und Grundschule sowie die
Qualitätsmerkmale der Familien betrachtet (Tietze/Rossbach/Grenner 2005). Was sich zeigte,
2
war, dass die Effekte, die von der Qualität des Familiensettings ausgehen, annähernd doppelt
soviel an den Entwicklungsunterschieden erklärten wie die Qualität der institutionellen
Settings; d.h. institutionelle Settings kaum die Potenziale bzw. Defizite in den familiären
Anregungsbedingungen
kompensieren
können;
Implikation
dieses
Befundes
ist:
Entwicklungsförderung kann nur gelingen, wenn eine Qualitätssteigerung in den
institutionellen Settings einhergeht auch mit einer Steigerung der Bildungsqualität in den
Familien.
Insbesondere für die schulischen Leistungen konnten folgende Merkmale identifiziert werden:
1. Hoher Bildungsstand der Mutter
2. Orientierung an einer Erziehung, die auf Unterstützung und Betrachtung des Kindes als
eine autonome Persönlichkeit hinzielt,
3. Häusliche Anregungen: Beschäftigung mit Sprache, Spielen, Vorlesen, Geschichten
erzählen etc. (Vgl. Liegle, 2006).
Gegenwärtig erhält Erziehung und Bildung noch einmal zusätzlichen Wert durch das kostbare
Gut „Kind“ und die bewußte Entscheidung (und damit auch Verantwortungsübernahme) für
ein Kind (darüber hinaus späte Elternschaft).
Kinder das „i-Tüpfelchen“ der eigenen Lebens- und Glücksplanung
Starke Emotionalisierung der Familienbeziehungen; Familie als Hort des Glücks;
Die Fokussierung auf kindliche Bildung setzt mit der „Entdeckung“ und Wiederentdeckung
der Kindheit sowie mit dem Funktionswandel der Familie an:
Auf der einen Seite wird eingestanden, dass Kindheit eine eigenständige und für sich
bedeutsame Lebensphase ist; auf der anderen Seite hat ein Bedeutungswandel statt gefunden,
der auch Implikationen auf die kindliche Bildung und Entwicklung hat, und zwar „Vom
Befehlshaushalt zum Verhandlungshaushalt“; Auch juristisch der Wandel von „elterlicher“
Gewalt zu „elterlicher Sorge“.
Jedoch sind die gegenwärtigen Sozialisationsbedingungen nicht frei von Ambivalenzen:
1) Populärwissenschaftliche Werke, die einen „Erziehungsnotstand“ (Gerster & Nürnberger,
2001), oder gar eine „Erziehungskatastrophe“ (Gaschke, 2001) diagnostizieren, erfreuen sich
einer großen Beliebtheit. Auch wenn das Aufwachsen in der Postmoderne durchwegs von
einer Katastrophensemantik begleitet wird, die über unglückliche Kinder und gestresste Eltern
berichtet; zeigt doch andererseits die Empirie auch, dass Kindheit deutlich besser ist als ihr
3
Ruf und Familie aus kindlicher Sicht immer noch der Hort von Glück und Zufriedenheit ist;
und das trotz einer Prävalenzrate von etwa 20% psychischer Störungen im Kindesalter.
So ergab bspw. eine Befragung von 1319 Kindern (M=11,2 J; SD=0.98 J.; 53% w.; 47% m.;
Salzburger Kindersurvey von Anton Bucher, 2001) als wichtigste Faktoren des kindlichen
Glücks:

gutes Familienklima

Anerkennung

Lob

positives Erleben der Schule

Freizeit, Freiraum

Freunde.
Bei der Messung des Wohlbefindens antworteten die Kinder wie folgt:
sehr glücklich
glücklich
nicht so glücklich
eher traurig
54%
39.3%
5.6%
1%
(Vgl. Anton A. Bucher: Was Kinder glücklich macht. Historische, psychologische und
empirische Annäherungen an Kindheitsglück. Juventa Verlag, Weinheim, 2001.)
Die bundesrepublikanische Gesellschaft befindet sich in einem dramatischen demografischen
Wandel, dessen Effekte auch die Lebenswelt von Kindern tangiert: der Anteil der Kinder an
der Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik nimmt sukzessive ab; der Anteil der Älteren bzw.
Rentner nimmt zu. Schätzungen für das Jahr 2040 sagen voraus, dass dann in der
Bundesrepublik nur etwa 14% unter 18 Jahre sein werden, d.h. Kinder nur lediglich ein
Siebtel der Bevölkerung darstellen werden; d.h. auch eine zunehmende Marginalisierung von
Kindern; gleichwohl historisch betrachtet Kinder in modernen westlichen Gesellschaften die
Gewinner
sozialer
Modernisierung
sind,
was
bspw.
Kinder
als
eigenständige
Persönlichkeiten, Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit der Persönlichkeit des Kindes
betrifft.
Konsequenzen dieser demografischen Verschiebung:
1. Kinder werden vielmehr Generationen erleben können, so etwa Groß- und Urgroßeltern;
2. Rückgang der Geschwisterzahl führt zu einer Abnahme der horizontalen Verwandtschaft
(Cousins, Neffen etc.), aber zu einer Intensivierung der vertikalen Verwandtschaft;
3. Stärkeres Alleinaufwachsen führt zu einer höheren Intensität der emotionalen Beziehung
der Eltern und auch ökonomischer Investitionen (Kommerzialisierung der Kindheit);
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Abnahme von Sozialerfahrungen im geschwisterlichen Verband, die durch institutionelle
Sozialisationsagenturen kompensiert werden muss (Kita, Schule);
Gleichwohl in Kinder mehr investiert wird, waren aber - und das ist die andere Seite der
Aufwachsensbedingungen - bis zum Ende des letzten Jahrhunderts insbesondere kinderreiche
Familien und Alleinerziehende von der Armut überzufällig häufiger betroffen, wie sie die
untere Tabelle verdeutlicht:
Tabelle: Prozentualer Anteil von Familien, die von Armut betroffen sind (Vgl. Fuhrer, 2005,
S. 109):
1990
1991
1992
1993
1994
1995
1996
1997
1998
Alle Haushalte
9.1
8.8
8.5
10.1
9.4
11.2
9.5
9.1
9.5
Paar 1 Kind
7.9
9.4
8.8
7.5
8.9
10.2
6.4
7.5
7.8
Paar >3 Kinder
19.7
20.9
19.8
24.5
25.7
23.2
21.5
21.6
24.7
Ein-Eltern-
29.1
35.3
29.3
26.4
28.2
40.4
33.3
29.5
30.1
Haushalte
Darüber hinaus lassen sich aus psychologischer Perspektive folgende Veränderungen in den
letzten Jahrzehnten identifizieren, die zu Kennzeichen moderner Gesellschaften geworden
sind:

Auflösung sozialer Bindungen im Familienleben: Freiheitszuwächse für Erwachsene,
aber Verletzung von kindlichen Bedürfnissen nach Stabilität, Geborgenheit und
Verlässlichkeit;

Medialisierung der Lebenswelt: Informations- und Reizüberflutung; Förderung von
passiven
und
rezeptiven
Aneignungsweisen;
Steigerung
der
Sensationslust;
irrealistische Erwartungen und Weltsicht;

Intensivierung der Leistungs- und Qualifikationsanforderungen: Verlängerung der
schulischen und beruflichen Ausbildungswege sowie ein Anstieg elterlicher
Bildungsaspirationen; (Vgl. Urs Fuhrer: Lehrbuch Erziehungspsychologie, Bern: Hans
Huber, 2005)
Die
Veränderung
von
familialen
Lebensformen
wirkt
sich
auch
auf
die
Entwicklungsumwelten von Kindern aus, die in erster Linie in folgendem zu sehen sind:
1) strukturelle Veränderungen der Haushaltsformen,
2) aus kindlicher Sicht prekär gewordene Bedingungen der elterlichen Beziehungsgestaltung
3) veränderte Wert- und Erziehungsmuster.
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Zu 1)
Zunahme der Ein-personen-Haushalte (im Jahre 2000 erstmals mit 37% die am häufigsten
vertretene Haushaltsform) sowie eine Zunahme an Ein-Eltern-Familien; dadurch steigt der
„Wert“ des einzelnen Kindes als sinnstiftend für das eigene Leben;
steigende Kinderlosigkeit sowie ein Rückgang der Geburtenrate (gegenwärtig etwa bei 1.4);
steigender Anteil von nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften;
Anstieg des durchschnittlichen Erstheiratsalters, der gegenwärtig bei Männern bei etwa 30
und bei Frauen bei etwa 28 Jahren liegt.
Zu 2)
Deutlicher Anstieg der Scheidungsraten seit 1960, so dass für Kinder die Wahrscheinlichkeit,
von nur einem Elternteil aufzuwachsen, steigt. Gleichzeitig steigt aber auch die Zahl der
Wiederverheiratungen an: etwa 66% der Geschiedenen heiraten erneut, so dass aus kindlicher
Sicht die Zahl der Bezugspersonen sich ändert, evtl. Stiefgeschwister hinzukommen, mit
denen ein neues Arrangement hergestellt werden muss. Dabei zeigen empirische Studien, dass
die Ehestabilität in zusammengesetzten Stieffamilien, bei denen beide Paare ein Kind aus
früheren Partnerschaften mitbringen, instabiler zu sein scheint als Stieffamilien, bei denen nur
die Mutter ein Kind in die neue Ehe mitbringt (Vgl. Fuhrer, 2005). Auch ist der Trend nicht
zu übersehen, dass immer mehr Väter sich in die Erziehung und Entwicklung des Kindes
engagieren. Welche Veränderungen in den Eltern-Kind-Beziehungen in dem Sinne, dass ein
Elternteil ausgezogen und eine andere Person die psychische Elternschaft übernommen hat,
zeigt die untere Tabelle für die letzten 50 Jahre:
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Tabelle: Anzahl der Veränderungen in den Lebensverhältnissen von Kindern unter 18
Jahren in den östlichen und westlichen Bundesländern (nach Alt, 2001)
19541960
geborene
Kinder
19641970
geborene
Kinder
19741980
geborene
Kinder
19841990
geborene
Kinder
Keine
Wechsel
Ein
Wechsel
Zwei
Wechsel
Drei
Wechsel
Vier u. mehr
Wechsel
West
82,4
9,9
2,6
1,8
3,3
Ost
48,8
30,9
3,3
6,5
10,6
West
80,9
5,6
3,1
3,8
6,6
Ost
63,9
13,7
8,4
6,3
7,8
West
75,5
7,5
4,3
3,7
9,0
Ost
55,9
12,8
9,1
9,4
12,9
West
79,2
6,3
5,0
3,8
5,8
Ost
52,2
24,2
9,7
6,5
7,3
Zu 3)
Diese sozialen Veränderungen führen zunächst auf einer sehr globalen Ebene auch zu
Ambivalenzerfahrungen und Verunsicherungen der Eltern: Sie haben auf der einen Seite die
Aufgabe, ihren Kindern eine Anleitung und Unterstützung zu geben und auf der anderen Seite
sie nicht zu bevormunden, sondern eine Ablösung und Freisetzung ihrer Individualität zu
gewährleisten, also Bedingungen zu schaffen, wo Kinder ihre Entwicklungen selber gestalten
können. Darüber hinaus wird das familiale Binnenverhältnis deutlich stärker emotionalisiert,
so dass Liebe und Zuneigung zu den wichtigsten Elementen in Partnerschaft und Elternschaft
werden. Die Erziehung des Kindes wird zu einer zentralen Entwicklungsaufgabe der Familie:
Subjektivität,
Einzigartigkeit,
Eigenständigkeit
werden
zu
markanten
Zielen
der
Persönlichkeitsentwicklung.
Als ein genereller Trend lässt sich im Verhältnis von Kindern zu ihren Eltern in den letzten
Jahrzehnten ein Wandel von einem autoritären zu einem partnerschaftlichen Verhältnis
ausfindig machen: aus dem Befehlshaushalt wurde ein Verhandlungshaushalt (Swaan, 1982).
Praktiken, die auf Macht, Zwang und körperlichen Druck/Gewalt beruhten, wurden durch
stärker diskursive, argumentative Praktiken ersetzt; die Appelle richten sich nun mehr auf die
Vernunft des Kindes bzw. auf seine Einsichtsfähigkeit. Gleichzeitig ist jedoch aus kindlicher
Sicht hierdurch auch eine subtile und für das Kind kaum bewältigbare Form der
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Autoritätsausübung zu sehen: das Kind kann sich gegen die Eltern kaum wehren, weil deren
Gründe und Argumente so „vernünftig“ sind.
Was die veränderten Erziehungs- und Wertmuster betrifft, so zeigen bspw. die
Erziehungsziele Ende der 50-er Jahre, die Kemmler und Heckhausen (1959) bei Müttern von
6-jährigen
erhoben,
folgende
typische
Ausprägungen:
Gehorsam,
Ehrlichkeit,
Lernbereitschaft, Ordnung, Hilfsbereitschaft, Reinlichkeit, gute Manieren und Höflichkeit.
Die Erziehungsziele ab Mitte der Neunziger Jahre (Sturzbecher & Waltz, 1998) zeigen eine
deutlich stärkere Orientierung in Richtung Individualität (wie etwa Kritikfähigkeit,
Selbstständigkeit), Kreativität und soziale Kompetenz sowie auch Leistungsbereitschaft.
Generell wird die Erziehung zur Selbstständigkeit zu einem dominanten Erziehungsziel;
Erziehungsziele dagegen, die auf Konformität (Respekt vor Traditionen, Höflichkeit, rituelle
Benimm-formen) abzielen, nehmen an Bedeutung ab.
Andererseits sind auch hier die Ambivalenzen kaum zu verleugnen: Eltern sind sehr stark um
die individuelle Entfaltung ihres Kindes bemüht, möchten dessen Selbstständigkeit fördern.
Jedoch sind Eltern z.T. so sehr um die Selbstständigkeit ihrer Kinder bemüht, dass diese kaum
Möglichkeiten haben, sich frei zu entfalten, eigene Erfahrungsräume zu erkunden, kaum sich
alleine beschäftigen, weil Eltern stets präsent sind, den Kindern Umwelten arrangieren und sie
vor jeglichen, auch harmlosen Umweltgefahren schützen möchten und dabei die Kinder
überbehüten oder stark kontrollieren (Z.B: per Handy etc.).
Denn Kinder müssen für ihre Entwicklung auch entwicklungsgerechte Erfahrungen machen
können; institutionelle oder auch elterliche Förderprogramme, die zu früh oder zu spät
einsetzen, puffern ihre Effekte ab. Was bspw. die Ausprägung des Leistungsmotivs betrifft,
konnte
in
früherer
Forschung
Selbstständigkeitsforderung
der
der
Mutter
starke
nachgewiesen
Einfluß
werden,
der
die
vorschulischen
jedoch
aber
entwicklungsangemessen sein sollten (also nicht einfach nur in frühen Lebensjahren beginnen
sollten; denn dann war eher mit Überforderung und Leistungsversagen zu rechnen). Es sollten
also Aufgaben sein, die das Kind mit eigener Anstrengung schaffen kann; auf diese Weise
kann das Kind den Zusammenhang zwischen eigenem Bemühen und dem Erfolg erkennen
(Rheinberg, 2006).
Erziehung und Entwicklung
Erziehung und Entwicklung sind als wechselseitige, einander bedingende Aspekte zu
verstehen: Erziehung muss auf Entwicklungsgegebenheiten Rücksicht nehmen; gleichzeitig
wird Entwicklung aber auch durch bestimmte erzieherische Prozesse erst ermöglicht;
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Erziehung ist Voraussetzung von Entwicklung und Entwicklung führt seinerseits zu einer
Veränderung der Erziehung. Wird Erziehung nur verstanden als eine Einwirkung der älteren
Generation auf die jüngere, dann wird die Passivität der kindlichen Natur nur historisch
fortgeschrieben; deshalb gilt es vielmehr, die Interaktionen und die wechselseitigen
Anregungen und Einwirkungen von Eltern und Kindern zu betrachten und neben formellen
Instruktionen von Erziehern/Eltern stärker auf Momente der Selbstbildung zu fokussieren.
Selbstbildung meint dabei sowohl Bildung durch eigene Aktivität, Tätigkeit und Aneignung,
aber auch im Sinne der Bildung des Selbst als einer wichtigen entwicklungspsychologischen
Dimension, als ein Kern der Persönlichkeitsentwicklung. Insbesondere bei Spielumwelten
manifestieren sich kindliche Bedeutungskonstruktionen und Aneignungsprozesse wie etwa
bei „vorgabewidriger“ Nutzung von Rutschen, Rolltreppen, Zäunen etc., in denen Kinder und
Jugendliche ihre Umwelten auf je individuelle Weise aneignen und dadurch zu einer
autonomen Bedeutungskonstruktion beitragen.
Liegle plädiert, Erziehung nicht nur aus der Perspektive des Erziehenden, des Erwachsenen zu
betrachten, sondern Erziehung als ein Handeln zwischen Personen zu betrachten; als einen
kommunikativen Prozess wechselseitiger Einwirkung zu verstehen sowie Kinder ebenfalls als
Subjekte der Erziehung einzubeziehen; ihre Erfahrung des Erzogenwerdens ist genauso
konstitutiv wie elterliche Erziehungsintentionen.
In der westlich geprägten erziehungspsychologischen Forschung (Baumrind, 1991; Darling &
Steinberg, 1993) wird davon ausgegangen, dass ein autoritativer Erziehungsstil - damit ist
eine hohe Zuwendung, Unterstützung, Wärme, hohe Selbständigkeit bei gleichzeitig hohen
Forderungen an das Kind gemeint – sich als der optimale für die Entwicklung des Kindes
auswirkt, wogegen der autoritäre Erziehungsstil (rigide Durchsetzung der elterlichen
Autorität, geringe Selbständigkeit und hohe Kontrolle des Kindes) als eher ungünstig für die
Entwicklung des Kindes betrachtet wird. Kulturpsychologische Studien zeigen jedoch, dass
eine autoritative Erziehung zwar für euroamerikanische Kinder den optimalen Erziehungsstil
darstellt, nicht jedoch für chinesische und andere Kinder mit Migrationshintergrund (Kim &
Rohner, 2003, in Leyendecker, 2003). Auch wies bspw. Schneewind (2000) jüngst daraufhin,
dass ein autoritärer Erziehungsstil unter bestimmten Umständen, und zwar dann, wenn das
Kind unter entwicklungsgefährdenden bzw. delinquenzförderlichen Umwelten aufwächst, was
in einigen Fällen für türkische Jugendliche zu vermuten ist, als durchaus funktional und
sinnvoll zu betrachten ist.
9
Bildung im Kindergarten:
Kitas als lediglich Bewahranstalten haben ihren historischen Ursprung, daran, dass im Zuge
der Industrialisierung und Urbanisierung beide Elternteile arbeiten mussten und zum Teil sehr
lange Fahrzeiten von der Wohnung zur Arbeit hatten; während dieser Zeit waren oft die
Kinder sonst sich selbst überlassen, alleine in der Wohnung oder auf der Straße. Kindergärten
sollten diese Situation auffangen und Kinder „ordentlich“ betreuen. Historisch betrachtet ist
die Ausweitung der Kindertageseinrichtungen also zum einen eine Antwort auf die
massenweise Kinderverwahrlosung seit den 40-er Jahren des 19. Jh., aber auch eine
pädagogische Umkehr zu der Konzeption Erziehung statt Arbeit; Kindheit wird so als ein
pädagogisches Moratorium verstanden.(Vgl. Martina Löw: Einführung in die Soziologie der
Bildung und Erziehung. UTB, Leske & Budrich, Opladen 2003).
Noch um die Wende vom 19. zum 20. Jh. starben im Deutschen Reich etwa 25% aller
Neugeborenen. (Das erklärt bspw. auch heute noch die hohe Fertilitätsrate in Ostanatolien und
in anderen Teilen der Welt).
Langsam verbreitet sich die Einsicht, dass sich Bildungsprozesse bereits auch im
vorschulischen Alter abspielen und Kindergarten nicht als eine Aufbewahrungsanstaltalt, eine
Betreuungsanstalt
ist,
sondern
auch
und
vordringlich
eine
Bildungsstätte.
Hintergrundannahme: die besondere Bildsamkeit des Menschen in seiner Frühphase;
schicksalhafte Bedeutung früher erfolgter oder versäumter/unterlassener Bildungsbiographien
für das spätere Leben.
Bildung als eine Form der Selbstbildung: als eine Tätigkeit des Subjekts, die auf Aneignung
ausgerichtet ist.
Diese Selbstbildung erfolgt bspw. häufig im Medium des Spiels, aber auch, wenn Kinder
unter sich sind und eine „Form der Kinderkultur“ erzeugen: gemeinsame unabsichtliche
Selbstbildung und Selbsterziehung (Vgl. L. Fried: Pädagogische Programme und subjektive
Orientierungen. In: L. Fried et al. (2003). Pädagogik der frühen Kindheit (S. 54-85). Beltz:
Weinheim.)
Was heißt Selbstbildung: Selbstbildung: sowohl Bildung durch eigene Aktivität, Tätigkeit und
Aneignung,
aber
auch
im
Sinne
der
Bildung
des
Selbst
als
eine
wichtige
entwicklungspsychologischen Dimension, als ein Kern der Persönlichkeitsentwicklung.
Kindliches Spiel zentrales Medium der Bildung in der vorschulischen Phase:
Darüber hinaus ist die Bedeutung des Spiels für die Identitätsentwicklung auch ein zentraler
Topos des amerikanischen Pragmatismus, insbesondere bei G.H. Mead:
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Die Entwicklung der Identität in der Kindheit verläuft bei Mead über wesentlich folgende
zwei Stränge: a) Sprache und b) Spiel, wobei das Spiel differenziert wird in b 1) „play“ und b
2) „game“. Diese beiden Stränge verlaufen parallel und sind keine sukzessiven Stufen; d. h.
das Kind spricht und spielt zugleich.
Beginnen wir mit dem Spiel: Die Phase des „game“ ist eine ontogenetisch spätere,
höherstufige Form der Rollenübernahme, die auf der Stufe des „play“ aufbaut. Mit „play“ ist
eine konkrete Rollenübernahme gemeint; „play“ bezeichnet soziale Spiele, in denen das Kind
sich in der Übernahme elementarer Rollen einübt. Hierbei spielt es in seiner Imagination
sowohl die Rolle des Akteurs als auch die des komplementären Ko-akteurs einer sozialen
Handlung. Bspw. spielt es Mutter und Kind und spricht aus den je verschiedenen Perspektiven
und Bedürfnislagen auf die Situation; es spielt etwa sowohl die Rolle des hungrigen Kindes
wie die der nährenden Mutter.
Weitere Beispiele, die Mead anführt, sind die Komplementärrollen von Lehrer und Schüler
oder Polizist und Verbrecher. In solchen konkreten Rollenübernahmen initiiert das Kind
imaginäre Interaktionen; es übt für sich konkrete soziale Handlungsanforderungen ein, es
erhält und erweitert mit solchen Rollenübernahmen seine Interaktionskompetenz.
Mit „game“ ist bei Mead ein organisiertes und mit einem Regelwerk kodifiziertes
Gruppenwettkampfspiel gemeint. Es erfordert, auf eine Situation nicht nur aus bestimmten
konkreten Perspektiven heraus zu reagieren, sondern aus einer Verschränkung der
Perspektiven aller Beteiligten im Spiel, aus der Rolle nicht eines konkreten Anderen, sondern
aus der Rolle des „verallgemeinerten Anderen“ (generalized other). Hierbei ist nicht die
konkrete Rolle des Einzelnen relevant, sondern seine Funktion, und diese kann prinzipiell von
jedem anderen auch ausgefüllt werden. Es sind Formen des Spiels, in denen Spielregeln, und
in sozialen Interaktionen gesellschaftliche Normen und Gruppenerwartungen internalisiert
werden. Leider hat Mead die Entwicklung dieser in seiner Theoriebildung zentralen
Fähigkeiten nicht mit zeitlichen Indizes versehen; es gibt keine Hinweise, ab welchem Alter
Kinder die jeweiligen Fähigkeiten der konkreten und abstrakten Rollenübernahme erwerben.
Diese Lücke läßt sich m. E. mit Hinblick auf Piagets Untersuchungen zur kognitiven
Entwicklung des Kindes, zu seinen Untersuchungen über prä-operationales Denken (bei
Kindern der Altersstufe von ca. zwei bis sieben Jahren), konkret-operationales Denken (bei
Kindern im Alter von ca. sieben bis elf Jahren) und formal-abstraktes Denken (ab ca. zwölf
Jahren), schließen. So ist die von Mead mit „Übernahme der Rolle des verallgemeinerten
Anderen“ beschriebene Phase des „game“ erst möglich, wenn das Kind die Stufe des formalabstrakten Denkens, also im Alter von zwölf Jahren, erreicht hat. Präziser müßte man sagen:
11
erst ca. ab diesem Alter kann das Kind die Spielregeln als Konventionen verstehen und sie
auch hypothetisch verändern. Natürlich spielen Kinder „games“ auch in einem früheren Alter;
nur beachten sie dabei das Regelwerk eher als starr und unveränderlich. Schwieriger dagegen
ist die Einordnung der als „play“ beschriebenen Phase: Spiele, in denen das Kind konkrete
Rollen und deren Komplementärrollen einnimmt, durchziehen die gesamte Kindheit. Auf der
Stufe des „play“ wird, im Gegensatz zum Wettkampfcharakter des „game“, ohne
Gewinnabsicht gespielt; die Lust am Spielen ist Selbstzweck.
Eine originelle Leistung des Meadschen Ansatzes liegt m. E. in folgendem: Während
Entwicklungstheorien sonst entweder eine zunehmende Individualisierung des Kindes
(Wygotski) oder eine zunehmende Sozialisierung (Piaget) konstatieren, macht er den
Versuch, beide Aspekte zu verschränken; bei ihm laufen Sozialisation und Individuation
parallel, sie sind einheitlich; in dem Maße, in dem das Individuum gesellschaftliche
Institutionen verinnerlicht, entwickelt es eine besondere Identität. Fortschritt und Ausweitung
der
Rollenübernahmefähigkeit
(Sozialisierung)
bedeutet
auch
eine
zunehmende
Individualisierung. Die Fähigkeit, das eigene Handeln und die eigenen Absichten mit einer
immer größer werdenden Zahl von Perspektiven verschränken zu können, integriert einerseits
das Individuum immer besser in gesellschaftliche Zusammenhänge und verleiht andererseits
dem Einzelnen immer deutlicher sein „persönliches Profil“.
Frühe Bildung aus 4 Perspektiven zu thematisieren:
1. Gesellschaft: Ausbau und hohe Qualität der Frühpädagogik kann das Humanvermögen
sichern und internationale Konkurrenzfähigkeit gewährleisten.
2. Kinder: Anspruch jedes Kindes auf Unterstützung und Anregung seiner Lernfähigkeit und
Bildungspotenziale (z.B. Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz).
3. Familien: Familie erster und wichtigster Bildungsort; Forderung nach einer engeren
Erziehungs- und Bildungspartnerschaft zwischen Kita und der Familie.
4. Professionelle Praxis: Neue Formen der Aus- und Weiterbildung für Fachkräfte;
Qualitätsstandards und Evaluationen pädagogischer Fördereinrichtungen.(Vgl. Liegle, 2006)
An Bildung bzw. früher Bildung gekoppelte Zielsetzungen sind nicht immer die Ziele und
Bedürfnisse der Kinder; „Deutschland braucht mehr Kinder“; darin stimmen viele
Rentenexperten, Bevölkerungswissenschaftler, Politiker etc. überein; sind das jedoch auch
Ziele der Kinder oder werden Kinder hier instrumentalisiert für andere Ziele?
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Vielfach werden Kinder für sog. „höhere“ Ziele instrumentalisiert: Z.B. Wettbewerbsfähigkeit
einer Gesellschaft; sind das kindliche Bedürfnisse?
In der Vorschule wird das Kind „fit“ gemacht für die nächsthöhere Institution, die
Grundschule; in der dann wiederum für das Gymnasium; in dieser dann für die Universität
etc. D.h. die jeweils mächtigere Institution diktiert die Anforderungen in den jeweiligen
Bildungseinrichtungen. Vielleicht wollen Kinder einfach mehr Spielflächen als straffere
Bildungspläne und Curricula. Deshalb müssten Bildungsoffensiven in erster Linie an den
Wünschen und Bedürfnissen der Kinder ansetzen (Vgl. Liegle, 2006, S. 9).
Was die Investitionen in die frühe Bildung betrifft, so scheinen Grundschulkinder und
Kindergartenkinder in Deutschland im internationalen Vergleich stark unterfinanziert zu sein:
dagegen
sind
die
Pro-Kopf-Ausgaben
in
den
Siegerstaaten
in
der
OECD-
Schulleistungsstudien umso höher, je jünger die Kinder sind (Vgl. Liegle, S. 142).
Gegenwärtig wird der Frühförderung viel Aufmerksamkeit geschenkt; Kinder sollen in der
Kita kognitive Anregungen bekommen, die die familiären ergänzen und unterstützen, und
nicht nur sich still beschäftigen, bis die Eltern sie wieder abholen. Wieweit jedoch
Erzieherinnen angemessen qualifiziert
sind,
um
die kognitive
Frühförderung zu
gewährleisten, ist in Studien umstritten.
Subjektive Orientierungen von Erzieherinnen: Diese sind häufig geleitet von bestimmten
Analogien, Bildern, Mythen und Narrativen und Kasuistiken, die alle eher eine „Logik des
Unscharfen und Ungefähren“ markieren und die Erzieher häufig unter Zeitdruck, Risiko
sowie Bedingungen der Komplexitätsreduktion durchführen müssen.
Pädagogische Qualität von Bildungseinrichtungen unter drei Aspekten zu betrachten (Tietze
et al., 1998):
a) Strukturqualität bzw. Rahmenbedingungen der Einrichtung
b) Prozessqualität (wie etwa Kind-Betreuer-Verhältnis etc.) und
c) Orientierungsqualität: pädagogische Programmatik.
Implizite Annahme von Bildungsansätzen: Die dahinter stehenden Absichten können mit den
genannten Mitteln in einer bestimmten Situation und bei einem bestimmten Kind auch erzielt
werden. Zwar können Programme bestimmte Wirkungen entfalten, jedoch sind diese
Wirkungen manchmal auch programmunspezifisch.
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Weitere Schwierigkeit: junge Menschen brauchen keine am Ideal, oder am Durchschnitt
orientierte Pädagogik, sondern eine, die auf ihre individuellen Bedürfnisse und Wünsche
sowie ihre sozialen und kulturellen Kontexte zugeschnitten sind. Deshalb sollten
pädagogische Programme auch stets auf die impliziten Kindheitsentwürfe hin betrachtet
werden, die unausgesprochen mitthematisiert werden (Honig, M.-S. (2003) Institutionen und
Institutionalisierung. In: L. Fried et al. (2003). Pädagogik der frühen Kindheit (S. 86-121).
Beltz: Weinheim.)
Die in Forschung und öffentlichem Diskurs bisher historisch wenige beachtete Institution des
Kindergartens erklärt sich Martina Löw aus einer doppelten Abwertung:
1. Kindergarten ein typischer Frauenbereich,
2. Es handelt sich um Kinder (in der kapitalistischen Logik um nicht-produktive Mitglieder),
Darüber hinaus vermutet Löw (2003), dass das spezifische Geschlechterverhältnis bereits im
Kindergarten konstituiert werde: Exemplarisch erwähnt sie eine Studie in Australien
(Bronwyn Davies, 1992), dass im Kindergarten bei der Lektüre von Märchen die Mädchen
lernen, sich sowohl mit weiblichen als auch mit männlichen Helden zu identifizieren; die
Identifikation mit weiblichen Heldinnen bei Jungen aber geringer sei. Auch gegenwärtig
würden Filme von Heldinnen nur von Mädchen angeschaut, während Filme mit (männlichen)
Helden beide Geschlechter faszinierten. Im Kindesalter werde so eine Einteilung der Welt in
„männlich und weiblich“ gelernt.
Kinder – aber generell Menschen- sind nicht die Summe ihrer realisierten und gewussten
Möglichkeiten- sondern auch die Summe ihrer (noch) nicht realisierten Möglichkeiten des
Selbstseins. Nach Bernfeld hat der professionelle Erzieher es immer mit zwei Kindern zu tun:
Mit dem Kind vor sich und mit dem (verdrängten) Kind in sich.
Wie sieht es bspw. aus, wenn Betroffene selber befragt werden, ob und warum sie einen
Kindergarten brauchen:
Bei einer Befragung von 50 Kindern im Alter von 4-bis 6 Jahren äußerten diese sich wie folgt
(Vgl. Liegle, 2006):
4 Kinder: Wir brauchen keinen Kindergarten; keine Gründe genant.
25 Kinder: Ja, wir brauchen einen Kindergarten; Gründe u.a.: „Fahrrad fahren, Bücher lesen,
Kochtage machen; den Freund Tim sehen; mehr Freunde bekommen“.
9 Kinder: Wir brauchen den Kindergarten, weil die Erwachsenen (bzw. die Eltern) keine Zeit
haben und arbeiten gehen.
14
6 Kinder: Wir brauchen eine Kita, damit wir dort lernen und in die Schule gehen können.
Andere: diffuse Antworten („Eltern haben Kopfweh“)
Wie können generell kindliche Weltdeutungen wissenschaftlich erforscht und rekonstruiert
werden?
1. Gezielte Gespräche und Interviews mit den Kindern;
2. Interpretation von Kinderzeichnungen (z.B. Familie in Tieren von Brem-Gräser), sowie
projektive Methoden,
3. Auswerten schriftlicher Dokumente, die von Kindern verfasst worden sind.
4. Beobachtung von Kindern und Videoaufzeichnungen,
5. Experimentelle Methoden (z.B. Fremde-Situations-Test zur Erfassung der Bindungsstile),
6. Phänomenologisch orientierte teilnehmende Erfahrung und Begleitung von Kindern. (Vgl.
Liegle, 2006).
Ein weiterer geisteswissenschaftlicher Zugang: Literarische Berichte:
So wird bspw. die Bedeutung der frühen Kindheit in dem ersten psychologischen
bildungsbiographischen Romans von Karl Philipp Moritz sehr deutlich:
Über Anton Reiser, dem Protagonisten der Geschichte, der aus einer unglücklichen Ehe
hervorgeht, wird berichtet.
„Unter diesen Umständen wurde Anton geboren, und von ihm kann man mit Wahrheit sagen,
daß er von der Wiege an unterdrückt ward.
Die ersten Töne, die sein Ohr vernahm und sein aufdämmernder Verstand begriff, waren
wechselseitige Flüche und Verwünschungen des unauflöslich geknüpften Ehebandes.
Ob er gleich Vater und Mutter hatte, so war er doch in seiner frühesten Jugend schon von
Vater und Mutter verlassen, denn er wußte nicht, an wen er sich anschließen, an wen er sich
halten sollte, da sich beide haßten und ihm doch einer so nahe wie der andre war.
In seiner frühesten Jugend hat er nie die Liebkosungen zärtlicher Eltern geschmeckt, nie nach
einer kleinen Mühe ihr belohnendes Lächeln.
Wenn er in das Haus seiner Eltern trat, so trat er in ein Haus der Unzufriedenheit, des Zorns,
der Tränen und der Klagen.
15
Diese ersten Eindrücke sind nie in seinem Leben aus seiner Seele verwischt worden und
haben sie oft zu einem Sammelplatze schwarzer Gedanken gemacht, die er durch keine
Philosophie verdrängen konnte“.
Ungünstiges Erziehungsmilieu, frühe Vernachlässigung und Traumatisierung und dennoch die
Möglichkeit, sich zu bilden, wesentliche Topoi in Moritz` Roman.
16
Schule:
Gesellschaftliche Funktionen von Schule nach Fend (Helmut Fend (1980, 2. Aufl. 1981).
Theorie der Schule. München: Urban & Schwarzenberg)
1) Qualifikationsfunktion
Vermittlung von Fertigkeiten und Kenntnissen, die zur Ausübung von konkreter
Arbeit und zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben nötig sind. Reproduktion und
Wettbewerbsfähigkeit einer Gesellschaft sollen erhalten und die dazu notwendigen
Fähigkeiten und Fertigkeiten über Generationen weitergegeben werden.
2) Allokations- und Selektionsfunktion
Das Schulsystem dient der Verteilung- durch Leistungsvergleiche und Prüfungen und
Abschlüsse- auf die verschiedenen sozialstrukturellen Positionen einer Gesellschaft.
3) Legitimationsfunktion
Schulsysteme sind Instrumente der gesellschaftlichen Integration. In ihnen ist die
Reproduktion von den Normen, Werten und Interpretationsmustern institutionalisiert,
die zur Sicherung der Herrschaftsverhältnisse dienen.
17
Kritisch zu der Frage, ob die Funktionen auch stets erfüllt werden:
1. Qualifikationsfunktion dadurch eingeschränkt, dass Bildungsprozesse langfristige
Investitionen sind, Anforderungen des Wirtschaftssystems jedoch kurzfristig wandeln.
2. Allokations- und Selektionsfunktion: Zuweisung in Berufe erfolgt in der Praxis vielfach
über
geschlechts-
und
andere
spezifische
Bahnen;
Prüfungen
haben
nur
einen
legitimatorischen und nur bedingt einen objektiv differenzierenden Charakter.
3. Integrations- und Legitimationsfunktion: Bildungserfolg macht eher mit den Werten der
Mittelschicht vertraut; Pluralisierung der Lebensformen wird zu wenig berücksichtigt.
Aus der Kritik an der Schule sind deshalb seit längerem Forderungen laut geworden, dass der
Staat sich aus Entscheidungen zurückhalten solle und Schule autonom bzw. teilautonom sein
solle.
Als Gründe hierfür werden erwähnt:
1. Entlastung der öffentlichen Haushalte (durch Druck, effizient wirtschaften zu müssen) und
finanzielle Selbstbestimmung der Schulen.
2. Wahlmöglichkeit der Eltern werden erweitert; Konkurrenz zwischen den Schulen bei ihren
Bildungsangeboten wird stimuliert;
18
3. Autonome Schulen könnten effizienter in der Umsetzung ihrer Programme sein; lange
Verwaltungswege blieben erspart. (Vgl. Löw, 2003)
Was meinen Sie: Wie viel Autonomie sollte Schulen zugestanden werden?
Bildung und Hochschule:
Die Institution Universität entsteht in Europa im 12. und 13. Jahrhundert; die ersten
Universitäten werden zwischen 1158 und 1222 in Bologna, Vicenza und Padua gegründet.
1224 wird die erste Staatsuniversität in Neapel durch Kaiser Friedrich II von Hohenstaufen
gegründet; im Jahre 1348 wird in Prag auf deutschem Territorium von Karl IV die erste
Universität ins Leben gerufen.
Der größte Teil der Lehrenden sind noch Geistliche oder werden Geistliche, um
Universitätslehrer zu werden. Die gegenwärtige Praxis, eine Rangliste unter den potentiellen
Kandidaten (eine „Dreierliste“) für eine Professur dem Ministerium vorzulegen, geht auf die
Praxis zurück, eine Dreierliste bei der Berufung eines Bischofs zu erstellen, und diese nach
Rom in den Vatikan zu entsenden (Vgl. Löw, 2003).
Auch die Form des Unterrichts, die „Vorlesung“ hat seine mittelalterlichen Wurzeln: Die
Vorlesungen dienten, ein Buch öffentlich vorzulesen und dieses zu kommentieren, da die
meisten Studierenden sich schlichtweg Bücher nicht leisten konnten und die Vervielfältigung
äußerst kompliziert war (noch kein Buchdruck).
Immer mehr haben Fürsten versucht, sich dem kirchlichen Einfluss zu entziehen, indem sie
eigene Universitäten gründeten, bei dem sie dann die Professoren selber bezahlten, und auch
die Unterrichtssprache der Landessprache angepasst war (nicht mehr das Latein, das nur für
eine kleine Elite vorbehalten war).
Dadurch entstanden zum einen eine Nationalisierung und eine Verweltlichung der
universitären Lehre. Auch die Humboldtsche Idee ist ein Versuch, durch einen emphatischen
Bildungsbegriff das Bürgertum und die deutsche Nation zu stärken; Frauen spielten auch hier
kaum eine Rolle; erst seit 1908 sind Frauen zum Studium an der Universität zugelassen.
Die Institution Universität trägt auch heute noch „mittelalterliche“ und „vorkapitalistische“,
lokal angebundene Züge. Während im Zeichen der Globalisierung und Mobilität die Logik
von Unternehmen es ist, zu expandieren, sehen wir kaum „Filialen“ von erfolgreichen
universitären Bildungsstätten wie etwa der Harvard-Universität, der Oxford Universität, der
Universität Wien etc. Vermutet wird dahinter ein extremes Sicherheitsbedürfnis und das
19
Motiv, die Reputation und Langlebigkeit einer Institution nicht zu gefährden. Anhäufung von
symbolischem Kapital, weniger materiellem Kapital ist distinguierend. (Vgl. Löw, 2003).
Das wissenschaftliche Ethos ist dabei, wie Merton in seinen wissenschaftssoziologischen
Untersuchungen zeigt, von vier affektiv durchzogenen Normen und Werten geleitet:
Zunächst besteht das „Ziel von Wissenschaft“ in der „Erweiterung abgesicherten Wissens“.
„Wissenschaft“ bezeichnet im Allgemeinen:
1. einen Komplex spezifischer Methoden zur Wissenssicherung
2. einen Vorrat an akkumuliertem Wissen aus der Anwendung dieser Methoden.
3. einen Komplex kultureller Werte und Verhaltensmaßregeln (das Ethos)
4. beliebige Kombinationen der genannten Momente
(Vgl. Robert King Merton: Entwicklung u. Wandel v. Forschungsinteressen. Aufsätze zur
Wissenschaftssoziologie. Frankfurt: Suhrkamp, 1985).
Das Ethos der Wissenschaft
Merton identifiziert vier „Komplexe solcher institutionalisierten Imperative“, die alle
funktional (und zweckmäßig) auf die Verfolgung des „Ziels der Wissenschaft“ ausgerichtet
sind. Es sind zuallererst institutionell verankerte Normen, die darüber hinaus vom einzelnen
Wissenschaftler internalisiert worden sein können:
1. Universalismus:
Wahrheitsansprüche,
gleich
welcher
Herkunft,
müssen
vorab
aufgestellten,
unpersönlichen Kriterien unterworfen werden, und dem Talent darf die Chance zu einer
Karriere in der Wissenschaft nicht verwehrt werden.
2. „Kommunismus“:
Wissenschaftliche Erkenntnisse sind allgemeiner Besitz und gehören nicht nur ihrem
Entdecker bzw. Produzenten. Ihm kommt stattdessen das Ansehen der Gemeinschaft zu.
Geheimhaltung
und
Patentierung
wissenschaftlicher
Erkenntnisse
sind
daher
aus
wissenschaftsimmanenten Gründen zu verurteilen.
3. Uneigennützigkeit (disinterestedness)
Der Wissenschaftler darf sich bei seiner Arbeit nicht von persönlichen Interessen zu
unlauteren Mitteln wie der Täuschung hinreißen lassen.
4. Organisierter Skeptizismus
Glaubensüberzeugungen werden unvoreingenommen geprüft anhand empirischer und
logischer Maßstäbe. Bestimmte (herkömmliche) Urteile und Ansichten werden dafür
zeitweilig außer Kraft gesetzt. (Vgl. Merton, 1985).
20
Diskrepanzen zwischen den wissenschaftlichen und den gesellschaftlichen Normen:
Einerseits kann die Gesellschaft sich den wissenschaftlichen Normen widersetzen (z.B.
Ethnozentrismus), andererseits kann aber auch die Gemeinschaft der Wissenschaftler selbst
gegen sie verstoßen (z.B. Aneignung von Kastenstandards), was ein Eingreifen durch die
Gesellschaft (d.h. den Staat) notwendig macht.
Darüber hinaus auch widersprüchliche Anforderungen im Leben von Wissenschaftlern:
Kampf um Individualität (Anerkennung der eigenen Gedanken, Erfindungen und
Entdeckungen) sowie das Ethos der Bescheidenheit als Wissenschaftler (sich als Person nicht
sehr wichtig zu nehmen). (Vgl. Löw, 2003).
Zwar wird hier verallgemeinernd von Wissenschaft gesprochen; ein genauer Blick in den
universitären Alltag zeigt, dass sich – statt einer Wissenschaftskultur- vielmehr sogenannte
„Fachkulturen“ sowohl bei den Professoren als auch bei Studierenden bilden.
So ist in einer Untersuchung festgestellt worden, dass Architekturstudierende und Dozenten
bspw. sich anders kleiden (eher schwarz) als Erziehungswissenschaftler (leger, bunt); die
Möbel in den Wohnungen anders sind (eher 2. Hand bei Erz. wiss.); die Studienräume häufig
bemalt sind und bereits in den ersten Semestern die Erziehungswissenschaftlern Zeichen einer
Oppositionskultur signalisieren. (Vgl. Löw, 2003)
21
Schule und Schulleistungsstudien:
Historisch betrachtet waren in Europa zwei gesellschaftliche Entwicklungen für eine
Generalisierung der Institution Schule verantwortlich:
1. Das Militär: Die Kommunikation in einer modernen Armee war auf Lesekompetenz und
Schriftlichkeit angewiesen;
2. Die Protestantische Kirche: Unmittelbarkeit zu Gott durch die Lektüre der heiligen Schrift;
insbesondere in den skandinavischen Ländern war ab dem 18. Jahrhundert eine recht starke
von der Kirche unterstützte Lesekultur ausgebildet (Vgl. Jürgen Baumert: Deutschland im
internationalen Bildungsvergleich. In: N. Killius u.a. (Hg.), Die Zukunft der Bildung.
Suhrkamp, Frankfurt, 2002).
Gelernt wird in vielen Lebenskontexten; gegenüber dem Alltag liegen jedoch die Vorzüge des
schulischen Lernens in folgendem:
1. Systematik
2. Langfristigkeit,
3. Kumulativität.
Universelle Strukturelle Merkmale der Institution Schule:
1. Anspruch, Entwicklungsprozesse auf Dauer zu stellen.
2. Institutionalisierung einer Abfolge von leistungsthematischen Situationen, in denen je
spezifische Aspekte, und nicht der „ganze“ Mensch im Vordergrund stehen, so etwa bspw. als
Lernender
in
Englisch
mit
seinen
Englischkompetenzen,
in
Mathe
mit
Mathematikkompetenzen, nie jedoch als gesamte Person.
3. Doppelter Zeithorizont der Schule: Kumulatives Lernen in der Gegenwart für die Zukunft;
die Frage, ob das „jetzt“ Gelernte auch jetzt relevant ist, wird kaum thematisiert; Lerninhalte
für eine „ungewisse Zukunft“ hin konzipiert.
4. Primat des Kognitiven in der Schule (insbesondere mit steigenden Schulzeit); Fragen der
ethischen, ästhetischen Bildung nachrangig gegenüber der reflexiven Durchdringung von
Welt. (Vgl. Baumert, 2002)
Gegenwärtige basale Kulturwerkzeuge, ohne deren Beherrschung Aneignung kultureller
Produkte fast unmöglich erscheint:




Beherrschung der Verkehrssprache
mathematische Modellierungsfähigkeit
zunehmend fremdsprachliche Kompetenz
IT-Kompetenz
22

Selbstregulation des Wissenserwerbs
Vergleichende Schulleistungsstudien versuchen, quasi als Systemmonitoring, auf die
Erfassung der beschriebenen Basiskompetenzen:
Die Grundstruktur der Allgemeinbildung und des Kanons skizziert Baumert (2002), einer der
gegenwärtig führenden Bildungsforscher (PISA) wie folgt:
PISA-Studie und ihre Ergebnisse:
Während bei PISA (2000) die Lesekompetenzen im Mittelpunkt standen, wurden bspw. bei
TIMMS die mathematischen Kompetenzen erfasst. Als Grundzüge einer mathematischnaturwissenschaftlichen Grundbildung wurden dabei folgende Annahmen gemacht: (Vgl.
Baumert, 2002):

Zur mathematischen
Grundbildung gehört
insbesondere die
Fähigkeit, die
Anwendbarkeit mathematischer Konzepte und Modelle auf die alltäglichen
Problemstellungen zu erkennen. Spezifisch handelt es sich dabei um die Fähigkeit zu
beurteilen, ob Sachverhalte mathematisch modellierbar sind oder nicht.

Darüber hinaus gehört
die Fähigkeit, die einem Problem zu Grunde liegende
adäquate, angemessene mathematische Struktur zu erkennen.
23

Als eine weitere Dimension wird die Fähigkeit betrachtet, Aufgabenstellungen in
geeignete Operationen zu übersetzen.

Zuletzt verlangt eine mathematische Grundbildung auch eine ausreichende Kenntnis
und Beherrschung von Lösungsroutinen. In diesem Grundbildungskonzept wird die
Abarbeitung von Kalkülen und Algorithmen nicht über Bord geworfen, sondern in
einen sinnstiftenden Kontext eingeordnet. (Vgl. Baumert, S. 118).
Bei einer ländervergleichenden Betrachtung zeigt, dass insbesondere in Deutschland die
Schüler bei den mathematischen Kompetenzen relativ schlecht abgeschnitten haben:
Die Gruppe der schwächsten ausgeprägten Kompetenzen (Grundschulniveau) war mit 15.4%
bei den deutschen Schülern am stärksten ausgeprägt.
Wie sind die Kompetenzstufen im Einzelnen erfasst worden? Hier seien einige Beispiele
aufgeführt.
Kompetenzstufe I:
24
Bei der deutschen Stichprobe lag die Lösungswahrscheinlichkeit bei dieser Aufgabe für 18Jährige bei 86 Prozent. 14 Prozent unterläuft ein typischer Fehler; sie denken, mehr Schritte
seien automatisch größere Schritte.
Kompetenzstufe II:
Bei einer Wahl in einer Schule mit drei Kandidaten bekam Jan 120 Stimmen, Maria erhielt 50
Stimmen und Georg 30 Stimmen; welchen Prozentsatz der Gesamtstimmen bekam Jan?
Wie ist das Ergebnis?
60%.
Kompetenzstufe III:
25
Lösung:
A ist günstiger: 800 x 12 = 9600 Zeds
B: 110 x 900 = 9900 Zeds
Kompetenzstufe IV:
Lösung (u.a.): 46m x 30m=1380 qm
Bei der Schülerbefragung zum Mathematik- und Physikunterricht zeigte sich in Deutschland,
dass aus Schülersicht der Mathematikunterricht recht variationsarm und stark rezeptiv ist und
insbesondere darin besteht, dass die Lehrkraft zunächst den Gedankengang entwickelt und
dann die Schüler diesen Gedankengang mittels zunächst einfacher Aufgaben anwenden. Ein
gemeinsames, bspw. auch an typischen Fehlern etc. orientiertes Lernen kam selten zum
Einsatz. In den fragend-entwickelnden Unterrichtsteilen neigten die Lehrer sowohl die ganz
falschen als auch die ganz richtigen und sofort zutreffenden Antworten eher beiseite zu
schieben, da sie eine bestimmte Reihenfolge des Verlaufs entworfen hatten; insgesamt, so
schlußfolgert bspw. Baumert, läge die Schwäche dieses Unterrichts im Umgang der
Lehrkräfte mit Differenz. (Vgl. Baumert, 2002).
Darüber hinaus zeigen sich in den Schulleistungsstudien, dass Schülererfolg insbesondere in
Deutschland sehr stark von elterlichem „Bildungskapital“ bzw. Fördermöglichkeiten abhängt.
26
Die Autoren der PISA Studie haben berechnet: Die Chance eines Jugendlichen aus einem
Facharbeiterhaushalt, das Gymnasium statt eine andere Schulform zu besuchen, beträgt 3:17;
für Jugendliche aus Familien der oberen Dienstklassen beträgt diese Chance annähend 1:1.
Darüber hinaus ließ sich bei der ersten PISA-Untersuchung feststellen, dass fehlende
Lesekompetenzen die Leistungen aller Schüler schmälerten, während bei einer Verminderung
der sozialen Disparitäten das Gesamtniveau steigt; ohne Einbußen bei der Leistungsspitze
(Vgl. Löw, S. 66).
-- Migrantenkinder und ihr Scheitern an den Bildungsinstitutionen-Migrantenkinder und Jugendliche im Bildungskontext
In den Sonderschulen mit dem Schwerpunkt Lernen sind Kinder und Jugendliche mit
Migrationshintergrund deutlich überrepräsentiert (Kornmann, 2003). Auch schließen sie im
Vergleich
zu
deutschen
Jugendlichen
häufiger
ihre
Schullaufbahn
ohne
einen
Hauptschulabschluss ab; und wenn sie einen Abschluss machen, so sind sie im Vergleich zu
Absolventen mit einem Abschluss in Realschulen oder Abitur mit nur lediglich
Hauptschulabschlüssen deutlich überrepräsentiert (Granato, 2003).
Seit Ende der 90-er Jahre schwankt der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund um 9.5%
bis 9.8% in allgemein bildenden Schulen. Zwar zeigt die Entwicklung, dass ihr
Bildungserfolg angestiegen ist: so haben bspw. 1989/90 gerade mal 6.4% der
Migrantenjugendlichen das Abitur geschafft; 2001/2002 waren es schon etwa 10%. Nach
Geschlechtern aufgeteilt, zeigt sich sogar, dass Mädchen erfolgreicher sind als Jungen.
Allgemein
kann
eine
steigende
Bildungsbeteiligung
bei
fortdauernder
Bildungsbenachteiligung festgehalten werden: Die Zahl der ausländischen Schüler ohne
Abschluss ist vom 30 % zu Beginn der 80-er Jahre auf knapp 20% bei den männlichen und ca.
16% bei den weiblichen Jugendlichen mit MH (gegenüber 8.2% bei deutschen Jugendlichen)
im Jahre 2001/2002 eindeutig gesunken.
Nach wie vor scheint jedoch der Übergang von der Grundschule auf ein Gymnasium eine
entscheidende Hürde zu sein: dreimal so viele deutsche Kinder schaffen diesen Übergang im
Vergleich zu Kindern mit MH; je nach Bundesland ist die Widerholerrate bei Kindern mit
MH doppelt oder viermal so hoch; fast doppelt so viele Jugendliche mit MH – im Gegensatz
zu deutschen Jugendlichen verlassen die Schule mit nur einem Hauptschulabschluss: 40 % bei
Migrantenjugendlichen gegenüber 24 % bei deutschen Jugendlichen.
27
Die Bildungsnähe der Eltern, vorhandene bzw. fehlende Unterstützung im Elternhaus wirken
sich stärker auf die sprachliche Bildung der Kinder aus als die sprachlich-kulturelle Herkunft.
Mit Blick auf den familialen Hintergrund lassen sich folgende Bildungsbeteiligungen
aufzeigen:
Tab.: Bildungsbeteiligung von Migrantenkindern nach familialem Hintergrund: PISA 2000:
60
HS/BS
50
RS
40
30
Gymn.
20
Int
Ges.
10
0
Beid. Elt. in D
Ein Elt. in D
Kein Elt. in D
Fam. mit MH
gesamt
(HS: Hauptschule; BS: Berufsschule; RS: Realschule; Int Ges: Integrierte Gesamtschule)
Im internationalen Vergleich zeigt sich für Deutschland eine sehr enge Kopplung zwischen
sozialer Herkunft und schulischen Kompetenzen (Vgl. PISA, 2003); Deutschland ist mit
Abstand die Nation, in der Schülerleistungen stark von häuslichen sozioökonomischen
Variablen abhängen. Dieser Befund hat einige Autoren verleitet, davon zu sprechen, dass
wenn Schüler mit Migrationshintergrund dennoch bildungserfolgreich sind, dies nicht wegen,
sondern trotz der (Migrantenkinder) benachteiligenden Schule erfolgt (Menke, 2003).
Individualisierende Bildungs- und Leistungsideologien verkennen häufig, so bspw. Radtke
und Dittrich, die institutionelle Diskriminierung bzw. Benachteiligung von Migranten in
Bildungskontexte.
Intelligenztest-Ergebnisse von Migrantenkindern in Deutschland variieren mit der Dauer
des Aufenthalts: Nach Knöckel (1996; zitiert nach Heller et al., 1998, S. 17) besteht eine
Korrelation zwischen SPM-Ergebnis und Dauer des Aufenthalts in Deutschland von r=.60 bei
Kindern ausländischer Herkunft (Türkei, Italien, Jugoslawien), die Mittelwertsunterschiede
zwischen deutschen bzw. in Deutschland aufgewachsenen Kindern und den frisch
hinzugezogenen betrugen mehr als 1,5 Standardabweichungen (14 SPM-Rohwert-Punkte).
Nicht ganz so hohe Zusammenhänge mit Einreisealter (r=.33) und Aufenthaltsdauer (r=.38)
fand Taschinski (1985) in den 80er-Jahren bei türkischen Kindern, der Effekt bestätigte sich
aber: Je länger Schüler durch das hiesige Schulsystem beschult wurden und je länger sie in
28
Mitteleuropa lebten, desto höher war ihre durchschnittliche Intelligenz. Zwar sind die genauen
Kausalfaktoren nicht eindeutig beweisbar, die Zusammenhänge zwischen Schuldauer,
Beschulungszeitpunkt und Intelligenz der Kinder und damit auch ihrem Ausbildungs- und
Berufserfolg werden aber eindeutig belegt.
Es scheint aber weniger die Sprachherkunft oder genauer die sprachliche Distanz
(Verschiedenheit in Lexik, Grammatik und Pragmatik) zwischen Deutsch und der eigenen
Muttersprache relevant zu sein, sondern die Sprachherkunft ist Indikator für unterschiedliche
Bildungsnähe der Herkunftsfamilien weitgehend unabhängig von Sprache, Staatsbürgerschaft,
Nationalität
und
ethnisch-rassischer
Zugehörigkeit.
Bildungsnähe
im
Sinne
von
Bildungsniveau der Eltern, Aspirationen, Interessen, Unterstützung, Anregungen, Kontrolle
und Förderung im Elternhaus, die Kinder in unterschiedlichem Ausmaß erleben, hat vermittelt
über diese Merkmale Auswirkungen auf die Fähigkeitsentwicklung (Zimmermann &
Spangler, 2002). Hinzu kommen Sprach- und Verständnisprobleme im Unterricht nicht nur
bei frisch hinzugewanderten Kindern und Jugendlichen. Bei später zugewanderten Schülern
gibt es zusätzlich noch spezifische Schulwissenslücken.
Insbesondere die niedrigen Leseleistungen von Kindern aus Migrantenfamilien bei der PISAStudie konnten statistisch auf einen niedrigen sozioökonomischen Status, kurze Verweildauer
in Deutschland sowie auf die Verwendung einer nichtdeutschen Umgangssprache in der
Familie zurück geführt werden.
Allerdings sind im internationalen und nationalen Vergleich deutliche Unterschiede
zwischen Aufnahmeländern erkennbar: Migrantenkinder erreichen in Bayern deutlich bessere
Schülerkompetenzen als in Bremen und Nordrhein-Westfalen. Über gleiche Sprachgruppen
hinweg erreichen in Deutschland Migranten deutlich schlechtere Schülerkompetenzen als in
Skandinavien oder in den Alpenländern. Individuelle kognitive Fähigkeiten erweisen sich
auch als kulturelle und gesellschaftliche Leistung des Aufnahmelandes und der
Herkunftsländer.
Bei den Ergebnissen nationaler und internationaler Vergleichsstudien soll noch auf ein
gravierendes Problem hingewiesen werden: die Schulkompetenzen und -leistungen von
„Migrantenkindern“. „Ausländer“ werden je nach Studie unterschiedlich definiert, als Schüler
mit ausländischem Pass, mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit, als Kind von einem oder
zwei Elternteilen, die nach Deutschland zugewandert sind (auch Aussiedler), als Kind von
einem oder zwei Elternteilen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist oder Schüler aus
29
Familien, bei denen zu Hause nicht Deutsch gesprochen wird (vgl. Definitionsvarianten bei
Gogolin, 2002).
Migration als eine spezifische Herausforderung für den Bildungskontext:
Migration und sprachlich-kulturelle Vielfalt sind im Bereich der Bildung kein neues
Phänomen, sondern durchzieht die gesamte Geschichte des 20. Jh. in Deutschland: So ergab
bspw. eine Volkszählung von 1905, das etwa 12 % der Bevölkerung in Preußen in ihren
Familien eine andere Sprache als Deutsch (Dänen, Polen, Sorben, Tschechen etc.) sprachen.
Ab Mitte der 50-er Jahre hat diese Entwicklung mit der Anwerbung von „Gastarbeitern“ eine
andere Dynamik bekommen.
Lange Zeit, bis etwa Ende der 70-er Jahre wurde die Bildungsgeschichte von
Migrantenkindern
unter
der
Perspektive
ihrer
Rückkehr
betrachtet
und
Bildungsanstrengungen betrafen nicht so sehr ihre Integration in das deutschen Schulleben,
sondern eher die Reintegration in die Herkunftsländer; deshalb die Förderung der
Rückehrfähigkeit durch Etablierung eines muttersprachlichen Unterrichts in der Schulen (Vgl.
Krüger-Pontratz, 2006).
Ab den 80-er Jahren findet ein Paradigmenwechsel von der „Ausländerpädagogik“ zur
„interkulturellen Pädagogik“ statt, weil die Evidenz immer erdrückender wird, das auch in
Zukunft Kinder mit Migrationshintergrund ein fester Bestand des deutschen Bildungssystems
sein werden. Dennoch herrscht in Schulkontexten nicht selten eine kulturalistische bzw.
kulturalisierende (d.h. Unterschiede in der Lebenswelt des Einzelnen auf seine bzw. auf die
kulturellen Wurzeln der Eltern des Schülers) zurückführende, von einer Mitleidspädagogik
geprägte Haltung vor (Schanz, 2006).
Da reichen auch einzelne Projekttage oder Projektwochen zum Thema „interkulturelles
Zusammenleben“, in der dann die „Fremden“ im Mittelpunkt stehen, nicht aus; vielmehr ist
auch Interkulturalität als Mainstream-Aufgabe zu verstehen. Der pädagogische Diskurs im
Alltag von den „ausländischen Kindern“ erzeugt auf einer sprachlichen Ebene aufs Neue die
Vorstellung, es handelt sich um „Fremde“, die nicht dazu gehören, obwohl vielfach die
Kinder hier geboren sind und womöglich auch einen deutschen Pass haben.
Hierbei wird häufig der Begriff der institutionellen Diskriminierung für die Erklärung der
Benachteiligung/Misserfolg gebraucht. Der Begriff stammt aus der „Black Power“ Bewegung
in den 60-er Jahren in den USA und meint, dass Diskriminierungsprozesse nicht nur auf der
30
Ebene des Handelns von einzelnen Institutionen zu finden sind, sondern im organisatorischen
Handeln bzw. Netzwerk wie etwa Arbeitswelt, Ausbildungsmarkt, Polizei, Wohnungsmarkt
etc. Die Stoßrichtung der Kritik dort war, dass in den zentralen gesellschaftlichen
Institutionen die Interessen und Einstellungen der „Weißen“ inkorporiert sind. Dabei wird in
der Literatur zwischen direkter institutioneller und indirekter Diskriminierung unterschieden.
Während die direkte Diskriminierung Prozesse des regelmäßigen intentionalen Handelns
bezeichnet (z.B. Vorschriften, Erlasse, die bestimmte Gruppierungen benachteiligen), wird
mit indirekter institutioneller Diskriminierung auf die Bandbreite der institutionellen
Vorkehrungen Bezug genommen, bei dem Angehörige bestimmter Gruppen, wie etwa
ethnische Minderheiten, überproportional negativ betroffen sind. Dabei resultiert indirekte
Diskriminierung häufig aus der Anwendung gleicher Regeln, wobei jedoch verschiedene
Gruppen ungleiche Chancen zu ihrer Erfüllung haben.
Prozesse institutioneller Diskriminierung sind in der Regel kaum direkt beobachtbar; sind oft
normale Alltagskultur, Routine und Habitus von Institutionen und deshalb von den dort
tätigen Professionellen kaum hinterfragbar (Gomolla, 2006).
Als Gründe für Bildungserfolge bzw. Bildungsbenachteiligung werden auf Seiten der Schüler
folgende Aspekte hervorgehoben:
Verlauf des Migrationsprozesses,
Sicherheit des Aufenthaltsstatus
soziale Herkunft bzw. Sozialstatus im Aufnahmeland
Bildungsbiografie der Eltern
Gegenwärtiges Wohnumfeld der Familie.
Andererseits sind die Gründe des Scheiterns nicht
nur auf der Schülerseite zu sichern,
sondern auch in den Institutionen: denn im internationalen Vergleich zeigt sich, dass
Zuwandererkinder mit einer ähnlichen Migrationsgeschichte in Ländern mit einer weniger
selektiv ausgerichteten, z.B. in einigen Bundesländern bereits nach der 4. Klasse erfolgenden,
Bildungsstrukturen und besseren Unterstützungssystemen deutlich bessere Schulleistungen
erzielen.
Darüber hinaus wird bildungspolitisch gefordert, dass die Institution Schule sprachlichkulturelle, ethnische und nationale Pluralität im Bildungswesens als eine Normalität
anerkennen und die Orientierung an einer homogenen Schülerschaft, bei der Heterogenität als
Abweichung fungiert, aufgeben muss (Vgl. Krüger-Potratz, 2006).
31
In einer europäischen Vergleichsstudie hat bspw. Allemann-Ghinda (1999) Schulen in vier
europäischen Staaten nach ihrem Umgang mit Schülern mit Migrationshintergrund
untersucht: in Deutschland, Schweiz, Frankreich und Italien. Im Einzelnen fokussierte sie auf
Berücksichtigung der Herkunftssprachen, Maßnahmen für neu zugezogene Schüler, den
Umgang mit Wertkonflikten, die Zweitsprachdidaktik und Lehrerfortbildungen.
Im Ländervergleich zeigte sich, dass sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz die
Förderung von Migrantenkindern ungünstiger war; es herrschten eher separierende Formen
der Beschulung vor; eine Binnendifferenzierung der Schulen – wie etwa bilinguale
Unterrichtsformen - war gering ausgeprägt.
So hat Schanz bspw. die Erkenntnisse in einer Modellschule in Hannover, die interkulturelle
Bildung
in
die
Schulentwicklung
zu
implementieren
versucht
hat,
systematisch
zusammenzustellen:
Folgende Prozesse bzw. Aspekte ließen sich dabei identifizieren:
1. Zunächst bedarf es einzelner oder einer Gruppe, das Kollegium von den Chancen eines
Aufbruchs in der Schule zu überzeugen.
2. Einbeziehung einer Beratung von außen, die den Prozess langfristig begleitet.
3. Entwicklung einer Dialog- und Konfliktkultur im Kollegium, um sich darüber zu
verständigen, was denn eine „gute interkulturelle Schule“ ist.
4. Implementierung der interkulturellen Bildung in die einzelnen Unterrichtsinhalte.
5. Kontinuierliche Unterstützung des Prozesses durch interne und externe Fortbildung.
6. Einbeziehung der Eltern, insbesondere der Eltern mit MH.
7. Öffnung der Schule nach innen (Unterrichtsinhalte, andere Lehrmethoden etc.) sowie nach
außen (Dialog mit der Kommune).
Ein generelles Problem in Schulen bildet folgendes Dilemma: Eine Vermeidung von
Stereotypisierungen führt gelegentlich dann zu einer Differenzblindheit, wenn etwa Lehrer
aus einer trivialen Universalismus meinen: „Ich nehme jeden so, wie er ist. Ich mache keinen
Unterschied. Kinder sind Kinder.“ Denn in der Tat starten aber nicht alle mit gleichen
Ausgangschancen die Schullaufbahn.
32
Guter Unterricht/ gute Lehre:
Zunächst sind Sie gefragt:
Ihre Schule hat gerade einen Preis bekommen, bei dem einige Ihrer Kollegen für die gute
Lehre prämiert werden; es ist noch nicht klar, wer den Preis bekommen wird.
Sie als junger Lehrer/in sitzen mit in der Kommission bei der Preisvergabe nächste Woche.
Sie möchten sich darauf vorbereiten und stellen sich folgende Fragen:
1. Was müssen Sie wissen, um bei dem Treffen sachkundig argumentieren und eine faire
Entscheidung treffen zu können?
2. Was zeichnet guten Unterricht aus?
3. Was sagt aus Ihrer Sicht hierzu die Forschung?
(Vgl. Anita Woolfolk: Pädagogische Psychologie: Pearson: München, 2008).
These: Guter Unterricht ist vom Lehrer abhängig.
Eine Studie in den USA (Harme & Pienta, 2001), die Vorschulkinder bis zur achten
Schulklasse beobachtet hat, zeigt, dass die Lehrer-Schüler-Beziehung in der Vorschule eine
bedeutende Vorhersagekraft hatte, was Schulleistungen und Schülerverhalten betraf.
Operationalisiert wurde die Beziehung über Ausmaß von Konflikten, Abhängigkeit des
Kindes vom Lehrer, Zuneigung des Lehrers zum Kind.
Trotz Kontrolle von Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit, kognitive Kompetenzen sagte die
Beziehung einige Aspekte des Schulerfolges vorher. Insbesondere Problemschüler
(Verhaltensauffälligkeiten in der Vorschule) profitierten am meisten von einer guten
Beziehung und gutem Unterricht des Lehrers. Auch konnte gezeigt werden, dass
Korrelationen zwischen Lehrerqualität und Schülerleistungen vorhanden waren: Schüler, die
von fachlich gut qualifizierten Lehrern sowie von Lehrern, die ihr eigenes Studienfach
unterrichteten, angeleitet wurden, hatten bessere Leistungen:
(Vgl. Anita Woolfolk: Pädagogische Psychologie: Pearson: München, 2008).
Einige Beispiele guter Lehrer aus der Praxis:
Eine Grundschullehrerin mit 25 Kindern, die größtenteils einen Migrationshintergrund (in den
USA) aufweisen (d.h. sie kommen aus der Dom. Republik, Nikaragua, Mexiko, Puerto Rico
und Honduras): bei Schuleintritt sprachen die Kinder kein Englisch; am Ende des ersten
Schuljahres wurden sie soweit gefördert, dass sie alle in eine Regelklasse wechseln konnten.
Wie machte sie das?
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Zunächst war der Unterricht auf spanisch, damit sie von allen Schülern verstanden wurde;
allmählich ging sie ins Englische über. Auch ermutigte sie die Kinder, sich zu ihrer spanischsprachigen Herkunft zu bekennen sowie jede Möglichkeit zu nutzen, um englisch zu
sprechen.
Sie stellte allen Kindern ausreichend Material zur Verfügung; auch solchen Kindern, die von
Zuhause aus mit wenig Stiften, Scheren, Blätter etc. versorgt waren. Sie setzte viel Musik und
Rhythmik ein; betonte und intonierte besonders, damit die Kinder die englische Aussprache
besser lernten und um ihre Schüler besser kennenzulernen, machte sie mindestens einmal im
Jahr Hausbesuche bei ihnen.
(Vgl. Anita Woolfolk: Pädagogische Psychologie: Pearson: München, 2008).
Wer war ihr „guter Lehrer“? Beschreiben Sie ihn mal.
Was müssen gute Lehrer können:
1. Sie müssen fachlich gut qualifiziert sein; ihr Fachgebiet systematisch kennen. Es reicht
nicht allein, richtige und falsche Antworten der Schüler auseinander zu halten, sondern gute
Lehrer, „Experten“, können auch hinter den unterschiedlich falschen Antworten der Schüler
eine Systematik erkennen und auf diese besonderen Schwächen der Schüler eingehen.
Darüber hinaus müssen sie folgende Qualifikationen mitbringen: (Vgl. Anita Woolfolk:
Pädagogische Psychologie: Pearson: München, 2008).
„Was ein guter Lehrer ist, das weiß doch der gesunde Menschenverstand“. Stimmt das
immer?
Typische Schul- und Unterrichtssituationen:
1. Situation: Welche Methode soll der Lehrer einsetzen, um Schüler für das Vorlesen im
Unterricht auszuwählen?
Antwort des gesunden Menschenverstandes:
Je nach Zufallsprinzip die Schüler aufrufen, damit jeder darauf gefasst sein kann, jederzeit
vom Lehrer aufgerufen zu werden und so mit voller Aufmerksamkeit dem Unterricht folgt.
Bei einer bestimmten Reihenfolge könnten sich die Schüler ja ausrechnen, wann sie dran
kommen und bis dahin eher weniger aufmerksam sein.
Antwort der Forschung:
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Ogden, Brophy & Evertson (1977) zeigten bereits vor längerer Zeit, dass bspw. in der ersten
Klasse im Vorlesen die Schüler bessere Leistungen zeigten, wenn sie im Kreis der Reihe nach
vorgelesen hatten; jeder Schüler sollte gleich viel lesen und gleich häufig Rückmeldung
erhalten. (Vgl. Anita Woolfolk: Pädagogische Psychologie: Pearson: München, 2008).
2. Situation: Wann sollte der Lehrer leistungsschwachen Schülern helfen?
Antwort des gesunden Menschenverstandes:
Lehrer sollen ihre Hilfe oft anbieten, weil leistungsschwache Schüler selber nicht erkennen
können, wann sie eine Hilfe brauchen und sich eventuell schämen, von sich aus nach Hilfe zu
fragen.
Antwort der Forschung:
Graham (1996) stellte fest, dass Hilfen, die gegeben wurden, noch bevor der Schüler darum
bat, eher kontraproduktiv waren. Die anderen Schüler nahmen an, dass der Lehrer diesem
Schüler nicht zutraue, die Aufgaben selber zu lösen; ungünstigere Attributionsprozesse („Ich
bin unfähig“) und geringere Leistungsmotivation waren die Folge. (Vgl. Anita Woolfolk:
Pädagogische Psychologie: Pearson: München, 2008).
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Was wünschen sich Schüler von einem „guten Lehrer“?
Ratschläge einer ersten Klasse an ihre Lehrerpraktikanten und –praktikantinnen.
(Vgl. Anita Woolfolk: Pädagogische Psychologie: Pearson: München, 2008).
Wie kann der Lehrer Neugier wecken? (Vgl. Mietzel, S. 350ff).
Generell entsteht Neugier dann, wenn Menschen mit Situationen konfrontiert werden, die ein
mittleres Maß an Neuigkeit, Überraschung oder Unsicherheit enthalten. Es sind Situationen,
die sich nicht ganz mit den bisherigen Wissensinhalten decken bzw. mit bisherigen
Erfahrungen nicht vereinbar sind bzw. diese in „mittlerem Grade“ in Frage stellen.
Neugier vereint zwei gegensätzliche Tendenzen: Situationen, die Unbekanntes enthalten,
ziehen den Menschen einerseits an, anderseits sind wir auch bestrebt, uns davor zu
distanzieren, weil sie auch stets als Unbekanntes gefährlich werden können; je nachdem,
welcher der Impulse die Oberhand gewinnt, wird man sich entweder dem Neuen widmen oder
das Neue ablehnen. Ähnliche Ergebnisse zeigt ach die Bindungsforschung: Exploration und
Bindungswünsche sind ebenso zwei gegensätzliche Impulse.
Für die Unterrichtssituation empfiehlt Brophy (1987) insbesondere in der Einstiegsphase, statt
nüchterne Informationen über den Stoff zu liefern, möglichst viel Kontextinformationen
einfließen zu lassen: „Stelle einen abstrakten Inhalt so dar, dass er persönlicher, konkreter
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oder vertrauter wird. Definitionen, Prinzipien oder andere allgemeine oder abstrakte
Mitteilungen haben für Schüler solange wenig Bedeutung, wie sie nicht in konkreter Form
diskutiert werden“ (Mietzel, S. 356). Deshalb sollten Unterrichtsinhalte so konzipiert werden,
dass darin Erfahrungen, Geschichten, Probleme vorkommen, die der Schüler in seine
Lebenswelt übersetzen kann und die damit in Beziehung stehen.
Es empfiehlt sich, bei bestimmte Fächern, Geographie, Geschichte, Sozialkunde etc. zuvor
durch Fragebogen Informationen über Interessen, Kenntnisse (wer z.B. in welchem Land war,
welche Hobbies hat etc.) der Schüler einzuholen und diese in die Konzeption des Unterrichts
einfliesen zu lassen, um Bekanntheit und dadurch Interesse zu wecken. (z.B. das Projekt
„Jasper Woodbury“).
Statt an einer sozialen Bezugsgruppe mit Leistungsrückmeldung über Notengebung zu
orientieren, wird aus pädagogischer Sicht stärker die Orientierung an Lernzielen empfohlen.
Hier gilt es, solche Aufgaben zu stellen, die Schüler bei Anstrengung, unabhängig von ihrem
Begabungs- und Fähigkeitskonzept haben, lösen können. Dadurch steigt mit erfolgreicher
Bearbeitung die eigene Kompetenz. Vergleichbar ist die Beschäftigung mit sportlichen
Übungen, bei denen mit steigernder Beschäftigung das Können besser wird oder der
Hobbykocher etc.
Schüler mit Lernzielorientierung resignieren weniger, wenn sie scheitern; sie nehmen sich
nicht als Versager wahr; auch hohe Anstrengung bzw. lange Beschäftigung wird dann nicht
als ein Rückschluss auf die eigene (negative) Begabung wahrgenommen; deshalb können sie
ohne Risiko davon Gebrauch machen bzw. sich lange beschäftigen; mit der Zeit erfahren sie
den Zusammenhang zwischen Beschäftigung / Anstrengung und dem Ergebnis.
Der Unterricht hat nicht nur kognitive Folgen, sondern in der Regel gehen damit auch
unbemerkt und ungewollt- emotionale, soziale und persönlichkeitsprägende Prozesse einher.
Cage
und
Berliner
(S.
438-454)
haben
explizit
für
den
Unterricht
einige
Motivierungstechniken vorgeschlagen, die hier wiedergegeben werden sollen:
1. Sage den Schülern präzis, was sie erreichen sollen:
Um Schülerverhalten tatkräftig und richtungsweisend zu unterstützen, muss dem Schüler
genaue Anweisungen gegeben werden, was er bei einer Aufgabe erreichen soll. Sie gehen
dabei von der Beobachtung aus, dass häufig Lehrer im Unterricht sich auf eine Aufgabe
stürzen und die Schüler im Unklaren lassen, was sie genau tun müssen, um die Aufgabe
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erfolgreich zu lösen bzw. was das Ziel der Aufgabe ist. Brophy (1982) stellte z.B. fest, dass
über 20 % aller im Unterricht neu gestellten Aufgaben überhaupt nicht einleitend vorgestellt
wurden, sondern die Lehrer einfach mit der Aufgabe anfingen.
2. Lobe den Schüler:
Ei verbales Lob, wie etwa „gut“, „sehr schön“, „gute Arbeit“, das kontingent nach
angemessenen Leistungen oder nach Annäherungen an angemessenen Leistungen angewandt
wird, stellt eine wirkungsvolle Motivierungsmöglichkeit dar. Soziale Anerkennung hat einen
starken Einfluss auf das Leistungsverhalten von Schulkindern. Zuviel Lob oder Lob an
falscher Stelle kann jedoch zu einer Übersättigung führen und ineffektiv werden.
Darüber hinaus führen Cage und Berliner an, dass extravertierte Schüler mehr durch Tadel
und introvertierte, die mehr an ihren eigenen Gefühlen und Gedanken interessiert sind, mehr
durch Lob zu motivieren sind.
Effektives bzw. ineffektives Loben:
Effektives Lob:
Wird kontingent, d.h. planmäßig erteilt
Die Einzelheiten des Erreichten werden spezifiziert
Äußert sich spontan; wirkt glaubwürdig; verdeutlicht die klare Zuwendung zum Schüler und
seiner Leistung
Belohnt das Erreichen unter Einschluss der Bemühungen
Informiert den Schüler über seine Kompetenz oder den wert seiner Leistung
Stellt für Schüler eine Orientierungshilfe dar
Verwendet frühere Leistungen des Schülers als Kontext zur Beschreibung momentaner
Leistungen
Erkennt die Anstrengung oder den Erfolg bei für diesen Schüler besonders schwierigen
Aufgaben an
Schreibt Erfolg dem Bemühen und der Fähigkeit des Schülers zu
Richtet die Aufmerksamkeit des Schülers auf sein aufgabenbezogenes Verhalten
3. Verwende Tests und Noten mit Bedacht:
Tests und Noten werden in der Regel das Leistungsverhalten von jenen Schülern positiv
beeinflussen, die in den Noten einen Wert erkennen, der jenseits des Unterrichts liegt
(Anerkennung, schulische, berufliche Vorteile etc.), aber die von außerhalb auferlegten Noten
können dazu führen, dass der Lerneifer außerhalb des Unterrichtskontextes nachlässt.
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Tests und Noten sind dann förderlich, wenn sie eingesetzt werden, um den Schüler zu
informieren, wen sie ihm als Indikator für die Anstrengung des Schülers dienen; nicht jedoch,
wenn sie eingesetzt werden, um den Schüler zu bestrafen oder als Nachweis dienen, wie gut
oder schlecht ein Schüler im Vergleich zu den anderen Schülern steht.
4. Spannung, Entdeckung, Neugier wecken
Stimuli, die neu, überraschend, komplex oder mehrdeutig sind, lassen eine Wachheit
entstehen, die Berlyne (1965) als eine „epistemische Neugier“ bezeichnet hat. Ist diese
Neugier vorhanden, ist der Mensch in einem motivierten Zustand; er versucht, das Ausmaß
der Unordnung, mit dem er konfrontiert ist, zu mindern. Die Motivation hält so lange an, bis
der Konflikt zwischen den kognitiven Schemata aufgelöst ist. Die Schüler können jedoch
gelangweilt oder frustriert werden, wenn das Problem so gestaltet ist, dass sie diese nicht
lösen können; d.h. es sollte mit ihren kognitiven Kompetenzen auch prinzipiell lösbar sein.
5. Tue gelegentlich etwa Unerwartetes
Hier wird vorgeschlagen, im Unterricht gelegentlich bspw. auch den „Spieß“ umzudrehen,
derart, dass z.B. die Schüler den Lehrer nach seinen Lernproblemen fragen, die Schüler selber
mal einen Test für den Lehrer entwerfen etc. Der Effekt ist, dass die Aufmerksamkeit und die
Beteiligung der Schüler steigt,
wenn routinisierte
Interaktionsmuster gelegentlich
durchbrochen werden.
6. „Appetit anreizen“
Schüler sollten gelegentlich kleine Belohnungsproben erhalten, bevor sie mit dem Lernen
beginnen. Sie sollten erfahren, was sie noch durch weitere Bemühungen bekommen können,
so z.B. den Kindern eine spannende Lektüre kurz vorlesen und sie dann selber lesen lassen.
Die Anfangsstadien einer Aufgabe bspw. sollten leicht gehalten werden, so dass die Schüler
zu Beginn Erfolgerlebnisse haben. Dann könne sie schrittweise erhöht werden. Aneignung
von Kenntnissen sollte zu Beginn mit häufigen Belohnungen einher gehen.
7. Verwende Bekanntes als Beispiele
Empfohlen wird bspw. bei Textaufgaben den Schülern bekannte Namen (statt abgedroschene
Namen wie Frau Müller oder Herrn Meyer) oder Situationen vorzugeben.
8. Wende das Gelernte auch an
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Das bisher Gelernte soll auch verwendet werden; dadurch wird auch die Erwartung geweckt,
dass das gerade Gelernte auch später wieder gebraucht werden wird; in den jeweiligen
Aufgabenstellungen sollten deshalb stets auch Bezüge zum früher Gelernten vorhanden sein.
9. Verwende Simulationen oder Spiele im Unterricht
So können bspw. im Sozialkundeunterricht statt eines Vortrages über Drogen- oder
Gettoisierungsprobleme diese Szenen von den Schülern in verscheiden Akteure eingeteilt
(Polizei, Dealer, Süchtige, Arme etc.) gespielt und daran diskutiert werden. Spielerische
Lernmethoden sorgen für Spaß; sorgen für wichtige Lernerfahrungen und können auch dem
Lehrer die Möglichkeit geben, die Lernformen der Schüler nachzuvollziehen.
10. Verringere die Attraktivität konkurrierender Motivierungssysteme
Hier gilt es zu analysieren, warum Schüler die Schule schwänzen, zu spät kommen oder sich
den Leistungsforderungen widersetzen. Welche anderen Motive sind existent? Bedürfnis nach
Anerkennung durch andere? Wie etwa bei dem Klassenkasper oder wird das
Leistungsbedürfnis in der Schule nicht gut abgedeckt, dafür aber eher im Freizeit oder
sportlichen Betätigungen?
11. Minimiere unangenehme Konsequenzen der Schüler bei der Beteiligung am
Unterricht
Beteiligung des Schülers sollte stets positiv verstärkt werden; aversive Auswirkungen, wie
etwa Verlust der Selbstachtung des Schülers, wenn er die Aufgabe nicht richtig löst, oder
nicht mitkommt, weil das Tempo zu schnell ist etc. gering halten.
Einfluss der Familie auf die Lernmotivation:
Die Bedeutung der Familie für die Genese motivationaler Orientierungen ist recht spät, erst ab
den 90-er Jahren intensiv erforscht worden; die Forschung war weitestgehend fokussiert auf
das Setting „Schule“.
Vor dem Hintergrund der Selbstbestimmungstheorie von Deci & Ryan hat Wild versicht, die
familialen bzw. erzieherischen Haltungen zu eruieren, die Einfluss auf die Lernmotivation des
Kindes haben. Dabei knüpft sie auch an die empirischen Belege, die Tausch und Tausch in
ihrer Erziehungspsychologie (1973) vorgelegt hatten.
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In neueren Studien (Ginsburg & Bronstein, 1993; Grolnick & Ryan, 1989) ist empirisch
belegt, dass elterliche Autonomieunterstützung eine motivfördernde Wirkung hat bzw.
elterliche Kontrolle demotivierende Wirkungen nach sich zieht.
Für die Förderung des Kompetenzerlebens konnten längsschnittliche Analysen zeigen, dass
ein stimulierender Familienkontext, der sich durch eine hohen Anregungsgehalt und eine
starke kulturelle Orientierung auszeichnet, günstig auswirkt und die intrinsische Motivation
von Schülern steigert.
Was das Zusammenspiel bzw. die Interaktion schulischer und häuslicher Lernumgebungen
betrifft, so zeigen sich Leistungs- und Motivationsprobleme dann, wenn Schüler eine
Diskontinuität zwischen den in der Familie und in der Schule vorherrschenden
Interaktionsformen erkennen (Hansen, 1986). Diesen Befund haben Paulsen, Marchant,
Rothlisberg dahingehend
differenziert,
dass
sie
nachweisen
konnten,
dass
diese
wahrgenommene Inkongruenz nur bei jenen Schülern mit schlechten Leistungen einher ging,
die ihre Eltern als gleichgültig, ihre Lehrer aber dagegen als autoritär beschrieben.
Wild hat in ihrer Studie mit 169 Schülern im Alter von 11 bis 14 Jahren (M=12,6 J.) eine
Fragebogenuntersuchung durchgeführt. Sie konnte darin zeigen, dass Schüler umso stärker
intrinsisch motiviert waren, je eher die Lehrer aus der Sicht der Schüler eine
autonomieunterstützende Form des Umgangs pflegten,
sie über den Unterricht hinausgehendes persönliches Interesse an den Schülern zeigten, und
für ein hohes Maß an Stimulation und gut strukturierten Unterricht durchführten.
Die Schüler waren dagegen umso stärker extrinsisch motiviert, je mehr sie sich vom Lehrer
kontrolliert fühlten.
Tabelle:
Zusammenhänge
zwischen
Instruktionsverhalten
von
Lehrern,
elterlichen
Schulengagement und der intrinsischen und extrinsischen Schülermotivation (Wild, 2001)
Intrinsische Mot.
Extrinsische Mot.
Lehrer
.48**
.26**
Eltern
.27**
-.02
Lehrer
-.08
.20**
Eltern
.04
.27**
Lehrer
.24**
.04
Eltern
.17*
.13
Verhaltensdimension
Autonomieunterstützung
Kontrolle
Struktur
41
Emotionale Zuwendung
Stimulation
Lehrer
.48**
.22**
Eltern
.33**
-.01
Lehrer
.45**
.13*
Eltern
.34**
.05
** p<.01; *p<.05
Es konnte also gezeigt werden, dass nicht nur die Merkmale des Lehrerverhaltens, sondern
auch der elterliche Umgang mit schulischen Belangen einen substanziellen Beitrag zur
Aufklärung von Unterschieden in der Lernmotivation hat; schulische und familiale
Bedingungen wirkten sich in dieser Studie als kompensatorisch bzw. ergänzend auf die
Lernmotivation aus. Das impliziert, dass Förderungen in den jeweiligen Kontexten die
Defizite im jeweils anderen Kontext ein Stück aufheben kann.
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