Arbeitstitel - Neue Adresse für Horde: horde.osz-lise

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Arbeitstitel:
Pasticcio
Roman
Von Dorothea S. Baltenstein
meinen Eltern
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Wie furchtbar ist das Leben, welches doch unser hoechstes Gut ist. Unser Wesen atmet
unter Wolken und ist in Wolken gehuellt, ein unbegreifliches Wunder fuer uns selbst. Wir sind
gleich Kindern im Dunkeln, wir zittern in einer duester beschatteten und schrecklichen Leere,
die nur durch die Bilder unserer Phantasie bevoelkert ist. Leben ist unsere wahre Nacht, und
vielleicht der erste Strahl der Morgenroete ist der Tod
Herrmann von Pueckler-Muskau
Leben ist Abschied
Sir Mortimer Pope
And his dark secret love
Does thy life destroy
William Blake
Inhaltsverzeichnis:
3
Niemand sah Noah Whelmsley ...
Seite
5
8
September, das Bildnis
1. Kapitel:
Die elysischen Felder
Seite
2. Kapitel:
Nachts auf der Heide
Seite 35
3. Kapitel:
Ye Olde Bell
Seite 55
4. Kapitel:
Beulah Lane
Seite 80
5. Kapitel:
Dies bin nicht ich, die hier singt
Seite 90
6. Kapitel:
Das dunkle Tor
Seite 105
7. Kapitel:
Lethe
Seite 126
8. Kapitel:
Die Büchse der Pandora
Seite 150
Inquisition
Seite 171
10. Kapitel:
Bunhill Fields
Seite 193
11. Kapitel:
Verlies der Verdammten
Seite 219
12. Kapitel:
Morass Manor
Seite 244
13. Kapitel:
The White Hart
Seite 271
14. Kapitel:
Cross Tree
Seite 298
15. Kapitel:
Odyssee
Seite 323
16. Kapitel:
Midas
Seite 349
17. Kapitel:
Hades
Seite 378
18. Kapitel:
Fuselis Traum
Seite 407
19. Kapitel:
Bis daß der Tod uns scheidet
Seite 433
Oktober, der Tod
November, abwärts
9. Kapitel:
Dezember, das letzte Herz
20. Kapitel:
Isle of Dogs
Seite 461
21. Kapitel:
Der Odem Gottes
Seite 488
22. Kapitel:
Der Garten des blauen Mondes
Seite 520
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Niemand sah Noah Whelmsley in der Nacht des 4. Dezember 1817 das verfallene Haus an der
Sufferance Wharf verlassen. Es wehte ein beißender Wind, der wütende Schneeflocken vor
sich hertrieb. Sie jagten die zum Wasser führende enge, dunkle Doppelreihe der verlassenen
Lagerschuppen hinab und wimmerten dort an der Kaimauer um vergessene, abgebrochene
Bohlen, abblätternde Schilder, schiefe Masten. Es hatte zuvor noch geregnet und der Schnee,
so sehr er auch zu begehren schien, auf dem Pflaster zu liegen zu kommen, fand doch nur öde
Wasserlachen und Schmutz vor und löste sich sogleich in ihnen auf. Gleichwohl war es kalt
und glatt, eine neumonddunkle und sternenlose Finsternis. So schürzte Noah Whelmsley seinen Mantel und schlug den Weg zum Fluß hinunter ein. Und wahrlich keine Menschenseele
beobachtete ihn dabei – niemand außer mir.
Whelmsley war ein großer, stark gebauter Mann mit einem dunklen Vollbart, um die fünfzig,
in seiner Jugend, wie ich von ihm selbst vernommen, für lange Jahre zur See gefahren, Ostindien, China und Afrika - ein Bär, den so schnell im Leben keine Furcht ankam. Dennoch
mochte er, dessen war ich sicher, in diesem Augenblick angesichts des Geschehenen nichts
sein als ein verstört Fragender – denn er hatte gerade einen verruchten Fund gemacht - und
vielleicht mochte er sein Schicksal angerufen haben, welch sonderbare Art der Prüfung ihm
da auferlegt sei; selbstredend konnte er keine Antwort darauf benennen. Ich sah seine riesige,
taumelnde Gestalt vor dem Wasser dahinhuschen, schnell verschluckten ihn danach Dunkelheit und Schneetreiben, und ich trat mit brennendem Hirn und all meiner Angst und meinen
verzweifelt fliegenden Gedanken zur anderen Seite hin aus meinem trüben Versteck. -Kaum fünfhundert Yards von der nämlichen Stelle entfernt wurde der Friedensrichter und
Bow Street Runner Noah Whelmsley kaum eine Woche später aufgefunden, fast schwarz,
aufgedunsen vom Wasser, von Ratten benagt und unterhalb der Hüfte steifgefroren, und die
Gazetten berichteten darüber gleichermaßen bestürzt und fassungslos.
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Ein unvoreingenommener Zeuge dieser Nachricht, überlegte ich mir, hätte vermutlich sogar
glauben können, daß er lediglich einem gräßlichen Unglück zum Opfer gefallen war, womöglich in den Fluß gestürzt sei nach einem übermäßigen abendlichen Umtrunk mit Bekannten
oben jenseits der Fähre von Wandsworth und Fulham - denn man wußte, daß er, Mitglied
durchaus zweifelhafter Gesellschaft, dem Alkohol und auch mancherlei anderen Freuden der
Nacht nicht abhold gewesen war - und dann vermutlich einfach über Meilen hierher abgetrieben bis Blackwall, nahe der Isle of Dogs, am South Canal, wo er sich in einem lächerlichen
Tau, das von einem Kutter hing, verfangen.
Allein, diejenigen, die mit der Untersuchung seiner sterblichen Reste beauftragt waren, wußten es besser, wußten nur allzu genau, daß es kein dergleichen Ungemach gewesen war – denn
sie fanden eine gräßliche Brustwunde, zugefügt von einem Messer, gar einer Säge, vermutlich
einem Skalpell, und sie fanden in dieser wächsernen Hülle, die der Atem Gottes längst verlassen hatte, zu ihrer grenzenlosen Verwunderung und ihrem nicht geringen Entsetzen - und
wohl wissend, daß dies nicht die Ratten verursacht haben konnten, eine körperliche Conditio
sine qua non zu wenig – sie fanden kein Herz. Es war dies säuberlich herausgetrennt, chirurgisch entfernt – zu einem unbekannten Ziel, jedoch zweifellos mit all der Kunst, zu der unsere
Ärzte heut in der Lage sind. --Ich merke an, geneigter Leser, an dieser Stelle, daß ich sehr gerne die Geschichte von Noah
Whelmsley und die einer Reihe höchst erstaunlicher anderer Personen und Ereignisse Dir und
Deinem Urteil unterbreiten möchte, wenn Du nur die Geduld hast zu verweilen. Ich will dabei
gleich zu Beginn eingestehen, daß es eine - zumindest in einigen Partien - in der Tat unangenehm blutige und überaus düstere Geschichte sein wird, die ich Dir unterbreite, möchte jedoch versichern, daß ich es gleichwohl immer mit den ehrlichen und unausbleiblichen Ingredienzen menschlichen Mitgefühls und christlicher Trauer halten werde - und dem Stoff, aus
dem, wie unser großer Dichter sagt, die Träume sind.
Es ist wohl, laß mich dies bekennen, zuvörderst meine eigene Geschichte, die ich Dir erzählen
will - und allerdings die Geschichte einer Person, ohne deren magische Existenz, ohne deren
elfischen Zauber und ätherischen Liebreiz, ohne deren mir zutiefst glückbringendes Wesen
und atemnehmendes Herz, welches mich weinen und lachen macht zugleich, ich nicht angetreten wäre, Dich zu bitten, mir zu lauschen.
Es wäre dies, wenn Du mir nur folgen möchtest, eine Geschichte, die an einem Spätsommertag begann, fast vier Monate vor jenen grauenhaften Begebnissen, in deren Umkreis ich Noah
Whelmsley ... im wilden Wettertreiben jener Winternacht ... aus den Augen verlor ...
6
September, das Bildnis
1. Kapitel
7
Die elysischen Felder
Das Wasser der Themse, die hier schmaler war, schwappte gegen das niedere Grasufer, die
Zweige der Weiden hingen träge bis in den fließenden Strom. Durch das zarte Geäst brachen
die goldenen Strahlen der lauen Abendsonne und malten flirrende Muster auf den Rasen,
glitten über die köstlich gedeckten Tafeln des Büffets, die duftenden Schirme und Kleider und
Schleier der Damen, die Fräcke und Zylinder der Herren, die funkelnden Gläser mit all dem
Champagner und dem Wein. Angeregte Stimmen, lebhaftes Geplauder, weibliches Lachen erfüllte die Luft - und in der Tat, trotz der späten Zeit im Jahr war auch noch die eine oder andere Vogelstimme aus den Baumwipfeln zu vernehmen. Jeder war sich sowieso einig, keinen
milderen September als diesen je erlebt zu haben.
Im Hintergrund des Gartens erhob sich ‚Morass Manor’, das aus grauem Feldstein gemauerte,
zweistöckige, zweiflügelige Anwesen, dessen Name und Herkunft in die Zeit zurückverwies,
als die umliegende Gegend, einige Meilen westlich von London gelegen, noch nicht trockengelegt war. Die weißen, französischen Türen des Gebäudes zum Inneren hin standen weit
offen, man sah dort herinnen das gemütliche Feuer eines Kamins lodern. Bedienstete huschten
emsig hin und her und bereiteten offenbar für spätere Gelegenheit ein Ereignis vor - was die
Gäste auf dem Rasen in die beruhigende Sicherheit setzte, daß, wie überraschend lau der
Abend heraußen auch des weiteren bliebe, so doch ein jeder von ihnen später einen bequemen
Platz im Hause selbst erhalten würde. Und wie hätte es anders sein sollen?
Sir Enid Luciter hatte geladen, seines Zeichens Besitzer ertragreicher Zinnminen an der Küste
von Cornwall, ein Lebemann und Kunstsammler von einigem Ruf, ein moderner Midas, Mäzen und nicht zuletzt Mitglied des Court of Aldermen1 – und seine abendlichen Salons, fester
Bestandteil der gesellschaftlichen Gegenwart, boten Außergewöhnliches, maßen sich mit Sensation.
Es hatte sich, unter der Hand, versteht sich, bei Gelegenheit herumgesprochen, daß seine Arrangements stets Abenteuer und Ausflüge in Welten waren, die kaum einem gewöhnlichen
Sterblichen offen stehen. Wer hierher gebeten ward, gehörte unbedingt zu jenen Zirkeln, deren Existenz sich einzig daraus zu erklären scheint, daß sie eben zu solchen Begängnissen
gebeten sind - und denen andererseits, wohl deshalb, selbst das Unerhörte tief im Innern fast
schon wieder Langeweile zu bereiten scheint.
Ich war nicht gebeten, und deshalb mischte ich mich nicht unter die plaudernden oder verspielt umherschlendernden Damen und Herren, die in der untergehenden Sonne flimmerten,
sondern fand ein unauffälligeres Dasein seitlich bei den weitläufigen Hundezwingern. Hier
gab ich zuvörderst für die kostbaren, schwarzen Tiere mein bestes Interesse vor - ohne etwa
den Fehler zu begehen, ihnen von den Brocken, die mir das Buffet geboten - Lachs und fast
rohes Beef - etwas hinzuwerfen, denn ich verspürte keinerlei Ambition, durch heftige Bewegung im Zwinger die aufmerksame Anteilnahme der Gäste auf mich zu ziehen.
Andererseits: Sie waren köstliche und charaktervolle Geschöpfe, riesige Doggen, zwölf an der
Zahl, und es hätte wohl gut auch sein mögen, daß sie das Gegebene gänzlich übersehen oder
nur gnädig und würdevoll vom Boden weggelesen hätten, ohne sich im mindesten darum zu
balgen.
1
Der Magistrat von London
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Nein, ich war nicht gebeten, sondern eingedrungen, und gerade kreisten meine Gedanken unbehaglich um die sichere Vermutung, daß die Mitglieder der Gesellschaft den vorerwähnten
Doggen sicher nicht nachgestanden, sondern mich, sobald sie nur mein wahres Interesse ausgefunden, wenn auch nicht im buchstäblichen, so doch zumindest metaphorischen Sinn wie
jene zerfleischt hätten – als ich, in der nämlichen Sekunde schon, mich unnachgiebig am
Arme ergriffen und herumgezogen fühlte. Ich denke, das Blut wich gänzlich aus meinem Gesicht, und ich hatte Mühe, den Teller zu balancieren, den ich in der Hand hielt - zumal der
Mann an genau dem Arme zerrte.
„Dacht’ ich’s mir, Domenic, ich sah dich von dort hinten, du hast noch nie Interesse an
Gesellschaft gehabt, du Eremit - doch sonders kaum glaubhafter an Tieren! - es konntest nur
du sein, der so unbehaglich hier am Zwinger lungert.“ Die grauen Augen des Mannes just in
meinem Alter, welches gerade glücklich die dreißig erreicht hat, blitzten mir unvermutet ins
Gesicht, und der spitzbübische Übermut in seiner Miene machte mich einen Augenblick lang
fürchten, er würde mich gleich wie ein Kind an den Haaren reißen.
Ich betrachtete ihn mit Erleichterung - und gleichzeitig mit Unbehagen über seine Schulter die
Gesellschaft, ob sein blinder Überfall nicht etwa das allgemeine Interesse auf uns gezogen. Er konnte sich immerhin sicher fühlen, dachte ich unvermittelt mit leiser Wut, denn er gehörte, wenn man es genau betrachtete, durchaus hierher. Aber es schien ein Eklat fürs erste
vermieden, und so zischte ich ihn, meine Augen weiter durch die Menge wandern lassend,
bitterlich und verstohlen an: „Warum springst du nicht gleich aufs Rostrum, du Tölpel, und
bringst einen hallenden Toast aus? Warum hast du nicht eine Handvoll Blechbläser gemietet,
mich gebührend zu annoncieren?“
Sebastian Friderick-Horne lachte. Er lachte sein hinreißendes Jungenlachen, mit dem er, seit
ich ihn kannte, noch jedes Problem fortgelacht hatte. Er nahm mich an beiden Schultern
gleichzeitig, was ihm gelang, ohne mir den Inhalt seines Glases auf der Jacke zu versprengen,
und er schüttelte dabei ungläubig den Kopf. Er sah mich breit grinsend an, halb wie verliebt,
halb staunend wie bei Betrachtung einer Todesnummer auf dem Jahrmarkt und tuschelte mit
übertriebener Verschwörerstimme: „Aber nein doch! Wie hast du Renegat es hier herein geschafft? Sprich mir davon, oh Freund meines Herzens, breite mir Deine innersten Geheimnisse aus. Du hast ...!“
Er unterbrach sich unvermittelt und bildete mit Lippen und Augen drei große Höhlungen. Viel
fehlte offenbar nicht, und er hätte sich auf den Mund geschlagen. „Nein!“ stieß er lästernd
hervor. „Sag, daß es nicht wahr ist! Burkitt, der alte Heide, hat dich hergesandt, und du
wringst ein Skandalon aus dem Begängnis.“ Er zwinkerte mir zu. „Gut siehst du aus! Der
Zylinder – der passende Frack – dein eigener?“
„Die Sonne steht noch hoch am Himmel“, raunte ich und hielt dabei die anderen im Auge,
„und du bist sturzbetrunken, mein Freund. Der Alkohol zernichtet dein Hirn, sonst hättest du
natürlich gewußt, weshalb ich hier bin und hättest nicht gleich ein Vauxhall aus der Entdekkung gemacht.“ Ich pausierte und setzte mit einer Spur Mutwillens, aber dennoch leise hinzu:
„Nun, wenn du es denn meinst: Wem wollen wir als nächstes davon erzählen?“
Er schien einen Augenblick verblüfft, dann kicherte er wie der böse Zwerg im Märchen und
schaute sich belustigt halb über seine Schulter um: „Ich schlage jene Dame in Weiß vor, nein,
das ist Lady ... wie war der Name noch? ... ach, ganz gleich ... nun gut, du hast gewonnen.“ Er
beschränkte seinen Blick wieder auf mein Gesicht und wirkte mit eins wirklich völlig nüchtern.
„Im Ernst, Domenic“, sprach er leise, „hoch steht die Sonne mitnichten, sondern weniger als
eine halbe Stunde vor ihrem Untergange. – Außerdem bin ich nicht betrunken, Lieber“, setzte
er hinzu, „jedenfalls nicht betrunkener als die mordgierigen Bestien dort hinter dir im Käfig,
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sondern nur gut gelaunt ... ob des Umstands natürlich, dich hier anzutreffen – ganz gleich,
was der alte Teufel Burkitt darüber hören will.“ Er drehte sich fort von mir. „... Denn ich sage
dir, es wird wieder ... sonderbar werden ... sonderbar ... und da ist es gut, einen Freund dabei
zu haben.“
„Was wird sonderbar werden?“ erkundigte ich mich überrascht.
„Hm“, er zuckte die Schultern, fast klang es, als ob er einen Schluckauf hätte, und verharrte
zur Seite gedreht, angelegentlich die Damen und Herren der munteren Compagnie betrachtend. Fast schien er meiner nicht mehr eingedenk.
Von der Stelle bei den Zwingern, an der wir standen, ging mein Blick über die harmlos plaudernde Versammlung hin – und durch eine Lücke in den Weiden flußaufwärts. Ich sah hinter
einem Mäuerchen weite, unbestellte Felder in den Farben des Herbstes liegen, und ich sah
fern die rote Sonne über einer dunklen Wolkenbank, die bedrohlich den westlichen Horizont
begrenzte. Im Lauf der letzten Stunde wie auf böse Weise dort hingezaubert, wie ein Gebirge
aus Träumen, Eisesdampf und Dunkelheit, war diese himmelhohe Mauer dort aufgetaucht,
eine unbekannte, neue Bergkette, wo, wie ich wußte, doch nichts war als die leere Luft. Es
blieb hier unten im Garten gleichwohl fast windstill, die Äste der Weiden schwangen müde,
das Wasser des Flusses floß seitab dahin, spiegelnd, ohne zu plätschern, glatt und unberührt.
Ich löste meinen Blick von der beunruhigenden Wetterbildung im Westen und beugte mich zu
meinem Freunde. „Was wird sonderbar?“ wiederholte ich dringlicher, wenn auch noch leiser,
die getane Frage.
„Ach, was soll schon sonderbar werden?“ fragte er mich genauso verhalten zurück und
klopfte sich mit dem Handschuh ein unsichtbares Stäubchen vom Ärmel. „Willkommen im
Land der klaffenden Wunden, Domenic, im Refugium der seelischen Verletzungen, im
Königreich der menschlichen Niedrigkeit und Monstrosität. Wo du nun einmal eingetreten
bist, darfst du den Blick nicht senken, mein Freund. Tu das beste für Burkitt und leiste das
Wesentliche für dich!“ Er führte geziert das Glas an die Lippen und nippte daran.
„Seb!“ rief ich empört aus, senkte aber sogleich die Stimme, als ich bemerkte, wie einige
Herrschaften in der Nähe überrascht die Köpfe hoben, „bei der Freundschaft, die uns von
Kleinauf verbindet: Was geht hier vor? Du weißt, daß ich mich bei dem, was ich tun muß,
unwohl fühle.“ Ich hielt ihn an der Schulter fest, der sich erneut hatte abwenden wollen, und
hatte sofort die Vergünstigung des Anblicks seiner grauen Augen.
„Was du tun mußt?“ fragte er verwundert. “Warum tust du es, Lieber?“ - seine Stimme klang
fast gleichgültig dabei.
Graue Augen, staunen machende Augen, anrührende Augen, das hatte ich immer empfunden,
so lang ich ihn kannte. Dies war ein wunderliches Gespräch!
Eine Minute zuvor hatte er unvermutet meinen Weg gekreuzt mit allen Anzeichen des heiteren Sinnes, womöglich des Trunkes und gar der Albernheit, und im nächsten Moment war
seine Stirne grüblerisch zerfurcht, und die Dinge, die er sagte, berührten mein Herz mit so
sonderbaren Vorboten von Furcht, daß mir inwendig ganz schwach wurde.
Einst, entsann ich mich, in unvernünftigen Jugendtagen, hatten wir ein Theater besucht auf
der Southbank. Dort hatte es ein Guignol gegeben und danach eine Attraktion mit einem Pendel und Hypnose. Das Ziel jener ominösen Hypnose war mein Freund gewesen – denn er war
gebeten worden, auf die Bühne hochzusteigen, und er war der Aufforderung gefolgt. - Das
Opfer aber, unter dem Gelächter des anwesendes Volkes, war schließlich jener armselige
Künstler geworden, dem es nicht gelungen war, die grauen Augen meines Freundes zu überlisten. Vielmehr hatte jener den Spieß verkehrt und am Ende einer eindrücklichen Vorführung
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den Künstler auf einen Stuhl steigen, mit den vermeintlichen Flügeln schlagen und krähen
lassen wie einen Hahn.
Sie sahen mich jetzt an, diese grauen Augen. Doch noch ehe ich in der Lage war, das Rätsel
zu lösen, das sie mir aufgaben, wurde ich im nächsten Augenblick alles weiteren enthoben,
denn während wir noch Auge in Auge am Hundezwinger verharrten, trug es sich zu, daß unter
dem plötzlich einsetzenden, allgemeinen Applaus der Anwesenden der Gastgeber des Begebnisses selbst in der Flucht der Flügeltüren erschien und nun, bescheiden lächelnd, mit beiden,
hoch erhobenen Händen gemessen abwinkend, ein niedriges, vorbereitetes Pult erstieg, um
dort augenscheinlich eine Ansprache zu beginnen. Das Auditorium kam zur Ruhe, trat gesammelt etwas näher und hielt die Augen gespannt auf den Redner gerichtet.
Nun - wenn ich hier die kühne Behauptung aufstellte, daß Sir Enid Luciter bescheiden lächelte und gemessen abwinkte, bevor er das Pult erklomm, so trägt dies zwar einer Art oberflächlicher Wahrheit durchaus Rechnung, ist aber – dessen bin ich mir bewußt – natürlich die
gröbste contradictio in adiecto, die sich denken läßt. Denn nichts an Sir Enid ist jemals moderat oder bescheiden gewesen, keine Lebensäußerung oder Farbe dieses Mannes hatte jemals
Maß. Und während er das Pult erstieg und zu sprechen begann – er sprach frei, ohne Manuskript - während dergestalt seine wohlgesetzten Worte mein Ohr erreichten, fanden meine
erste Aufmerksamkeit zunächst doch nur - viel mehr als seine Rede – ganz sein Äußeres und
meine Gedanken an das, was mir über ihn bekannt war.
Da gab es etliches: Es hatte zum Beispiel unlängst ein Mann seine Existenz gefristet namens
Frank Purcell, der hatte bei einer öffentlichen Depesche gearbeitet und in einem seiner durchaus witzigen Aperçus nicht nur auf die Ähnlichkeit der Schreibung des Namens des Nämlichen mit dem eines gewissen gefallenen Engels hingewiesen, sondern auch allgemein gewisse
physiognomische Übereinstimmungen angemerkt. Nun, es war das Schicksal jenes Frank
Purcell gewesen, unter Hintanlassung einer Witwe und vierer Kinder unmündigen Alters unter eine Kutsche zu geraten – und dies nur wenige Tage, nachdem ihm auf seine journalistische Äußerung hin die Arbeitsstelle aufgekündigt worden war, und man ging allgemein von
der Gewißheit aus, daß jenes doppelte Unglück nicht einem Versehen zuzuschreiben war.
Dabei hatte Purcell nichts als eine Glosse verfaßt - und womögliche Verstrickungen fein ausgespart, von denen genauso gemunkelt wurde und hinsichtlich derer es ausreichend Gelegenheit gegeben hätte, sie anzukreiden.
Denn es hatten sich – soviel stand fest wie der Tower - über die Jahre immer wieder Unglücksfälle in Sir Enids Minen in Cornwall zugetragen, von denen es hinterher geheißen, daß
sie bei auch nur geringster technischer Vorsorge durchaus hätten vermieden werden können.
Es hielten sich überdies nachhaltige Gerüchte, daß etliche seiner Entscheidungen in Mansion
House von einschlägigen Interessen und Interessenten erkauft worden seien - wie zum Beispiel jene, wo er sich gegen eine gründlichere Organisation der Thames River Police ausgesprochen, womöglich nach französischem Vorbild.
Indessen, wie ich zugeben muß, wußte er dabei stets auch große Teile der Öffentlichkeit auf
seiner Seite, nämlich jene Kräfte, welche in jeglicher Form administrativer Aufmerksamkeit
alsgleich nur bürgerliche Freiheiten bedroht sahen – vielleicht ein nationales, sehr britisches
Charakteristikum -.
Bedenkliche Tatsache in der Tat war jedoch, daß die Straßen der Hauptstadt wie des ganzen
Landes, was die äußere Sicherheit betraf, in jenen Jahren in einem höchst mangelhaften Zustande sich befanden. Beklagt wurde von vielen, daß es uns und unserem Lande vermutlich
eines Vidocq oder ähnlichen Charakters dringend ermangele. Die Common Informers und die
Thief-Takers - das wußte jeder - wie im übrigen auch die Friedensrichter - benutzten ihr Amt
und ihren Einfluß allzu oft einzig dazu, statt ernsthaft gefährlichen Verbrechern nachzustellen,
vielmehr durch geschickte Bestechung und Hehlerei erhebliches eigenes Vermögen zu erwer11
ben. Peter Townsend, Joseph Atkin, Vickery, Ruthvan und Sayer, das waren die Namen, die
jedes Kind kannte, Namen, die immer noch in aller Munde waren. Townsend hinterließ bei
seinem Ableben zwanzigtausend Pfund, Sayers dreißigtausend – niemand hatte gefragt, woher
derartige Summen stammten.
Beraubte Banken verzichteten auf die Verfolgung der Räuber, erhielten vielmehr durch Zahlung an die Betreffenden - und die zuständigen Friedensrichter - Teile des gestohlenen Gutes
zurück – das erwies sich als lukrativer, als die Diebe ohne Beute endlich vor Gericht zu sehen.
Die Fälle waren auch allzu bekannt, wo Thief-takers selbst junge Leute zu Verbrechen verführt hatten, um sie anschließend vor Gericht zu schleppen und die üblicherweise ausgelobten
vierzig Pfund „Blutgeld“ zu kassieren – dazu Pferd, Waffen und Besitz des Verurteilten.
Common Informers belasteten Unschuldige, sofern die wahrhaft Schuldigen sie nur gut genug
dafür bezahlten. Friedensrichter erboten sich öffentlich, Diebesgut gegen Zahlung einer Prämie in Höhe der gestohlenen Werte zurückzuschaffen – die Prämie wurde in der Regel mit
den Dieben geteilt, falls die Friedensrichter nicht selbst den Diebstahl verübt hatten, was oft
genug vorgekommen war. Manchmal schien es uns, daß sich seit den Tagen Jonathan Wilds,
„Thief-Taker General of Great Britain and Ireland“, Jonathan Wilds mit dem Wappen-Stock,
nicht allzu viel geändert habe, und manch ein Bürger sehnte wohl einen neuen Henry Fielding
oder wenigstens seinen ihm nachfolgenden blinden Bruder John herbei. Aber das alles waren
schließlich eitle Träumereien.
In London gab es unterdessen ganze Viertel, in denen man auf offener Straße - auch am hellichten Tage – nicht sicher seines Weges blieb und ausgeplündert wurde. Und Frank Purcell
hatte ein paar freizügige, letzten Endes humorig gemeinte Bemerkungen gegen unseren Gastgeber getan – und nun war er tot. Sonderbare Zeiten, in denen meinesgleichen zu leben
gehalten war.
Aber weit entfernt von solcher Unbill befand ich mich des geschilderten hellen Abends statt
dessen in einem Garten einige Meilen westlich außerhalb der Stadt am sanften Gestade der
Themse. Allerdings bewegten meinen Kopf gleichwohl beunruhigende Bilder von Sünden,
Vergehen, Schandtaten und Freveln; auf unaussprechliche Weise befand sich unser Gastgeber
häufig in rätselhafter Nähe zu genau solchen, und nicht zuletzt waren Sir Enids Lebenswandel
und die erwähnte Vorliebe, gewisse Gesellschaften zu veranstalten – von denen Zeuge zu
werden ich an diesem Abend zum ersten und vermutlich einzigen Mal das mehr oder minder
zweifelhafte Vergnügen haben würde - das Gespräch der Gasse und auch der Salons.
„Zinn“, begann Enid Luciter seine Rede, und ließ die überraschende, vereinzelte Silbe hell
über den Köpfen der Zuhörer erklingen wie ein silbernes Glöckchen, „Zinn, meine sehr verehrten Damen und Herren, geschätzte Gäste, ist allotrop. - Das heißt, es erfreut uns in mehr
als nur einer Gestalt. Etwas Zinn hier“, sprach er und gestikulierte dabei in der Luft, als führe
er ein Zauberkunststück vor, „und etwas Kupfer dort - und schon ist ... Bronze gewonnen.“
In mehr als nur einer Gestalt? - Es trug zu meiner vorherigen Verwunderung über die Art des
Auftritts meines Freundes bei dieser Festlichkeit bei, wie er, als wir gleich den anderen näher
herangetreten waren, um dem Gastgeber zu lauschen, es so eingerichtet hatte, daß er vor mir
stand, so daß ich bestenfalls seine dunkles Haar oder seinen grauen Hut im Blick vor mir hatte
anstelle seines Profils.
Was, fragte ich mich, hatte ihn überhaupt hierhergeführt? – hatte ich es doch nicht geahnt, daß
er überhaupt ein Besucher von derart Lustbarkeiten war oder in solchen Kreisen gewohnheitsmäßig verkehrte, wenngleich er, das mußte ich zugeben, dieser Schicht weit eher angehörte als ich. Während der Redner auf jene Dinge einging, von denen er aus eigener Erfahrung, wie ich wußte, am meisten verstand, nahm ich mir vor, den Freund später noch und bei
besserer Gelegenheit dazu zu befragen, vörderst ließ ich es bewenden.
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„Jawohl, Zinn ist Bronze“, rief Sir Enid, seinen Eingangssatz wieder aufnehmend, „und
Bronze ist Kunst – die älteste Kunst, die wir kennen, ist aus Bronze. Anders formuliert: Die
größten Kostbarkeiten, die größten Schätze, die wir uns in unserer Existenz gewinnen - ausgenommen natürlich stets das Herz einer Frau“, er machte eine kleine galante Verbeugung
gegen die Seite des Publikums -, „stammen immer aus dem Schoße der Erde, seien es nun
kristalline Minerale oder Metalle. – Jawohl, kristalline Minerale oder Metall: Ich spreche von
Edelsteinen als dem einen, Gold, Silber oder Bronze als dem anderen - der Anfang liegt immer im Gestein. Und zweifellos wahr - selbst die allergrößten, allerältesten und dabei doch
einfachsten Schätze, nämlich Feuer, Nahrung und Sicherheit, kamen uns immer aus dem Gestein: Nicht wahr, wir sprechen nicht umsonst von der ‚Steinzeit’, in der der Mensch Jaspis
und Pyrit zusammenschlug, auf daß erstmals die Flamme aufloderte, die ihn zum Menschen
machte? Und nutzte er das Gestein nicht ferner, dieser Frühmensch, indem er Schutz in einer
Felsenhöhle suchte? Und erlegte er nicht mit einem Steinwurf ein wildes Tier? - Später schlug
er sich Klingen und anderes Werkzeug aus Flint - Siliciumdioxid. Natürlich erkennen wir
freudig die Fortentwicklung unserer Kultur, es schließt sich für uns – auch im Wortsinne! ein Kreis, wenn kristalline Minerale oder Metalle heute in Form vielleicht eines Ringes, in
summa bearbeitet, gegossen oder geschliffen, zu Kunstwerken bereitet, zu Schmuckstücken
geformt, vielleicht als Kette oder Collier den Hals unserer Angebetenen umschließen, Schatz
zu Schatz. Und vielleicht gewinnen wir ja auch das Herz einer Frau erst ... mittels einiger
wohlgewählter Steine ... oder eines kleinen Quantums aus Stein gewonnenen Metalls.“
Die meisten der anwesenden Damen und Herren schmunzelten amüsiert, einige applaudierten.
Es war, des ketzerischen Artikels jenes unglücklich zu Tode gekommenen Frank Purcell eingedenk, immerhin richtig, daß Enid Luciter unter einer stämmigen, untersetzten Statur und
einem mißratenen Bein litt, einer Verunstaltung, die der beste Schneider nicht vergessen machen konnte. Es war dies ein Makel von Geburt, und so bewegte sich Sir Enid stets an einem
Stock. Er stand zudem am Eingang des Alters. Seine Augenbrauen wucherten in seinem von
scharfen Linien durchzogenen Gesicht in zwei enormen Haarzipfeln seitlich, und die Frisur
wich über den Schläfen weit zurück, so daß man mit etwas Phantasie hier tatsächlich den Ansatz von Hörnern vermuten durfte. Die tiefschwarze Färbung der Haare und der Brauen war
vermutlich künstlich appliziert und trug zu einer Milderung des diabolischen Eindrucks gänzlich in nichts bei.
„Graues Zinn“, sprach Enid Luciter heiter, nachdem er der Erfindung des zinnenen Eßgeschirrs für die römische Armee Erwähnung getan, und die gespreizten, schwarzen Augenbrauen machten - wie auf dem Theater - sein Lächeln zu einer Maske des Bösen, „graues Zinn
benutzt man seit undenklichen Zeiten besonders gern zur Fertigung von kunstvollen Särgen ...
ja gewiß, lachen Sie nicht, meine Damen und Herren ... die Herrenhäuser Europas haben dies
alle Zeit zu schätzen gewußt und stets die Gruft statt des erdverbundenen Grabes gewählt. Ja,
und das stellt uns vor ein Problem: Denn solcherlei Zinn müßte zwar rein theoretisch, soviel
verrät uns die Chemie, auch unter 13 Grad Celsius stabil bleiben, Tatsache aber ist, daß sehr
tiefe Temperaturen eine rätselhafte Transformation des Stoffes einleiten, dessen Ergebnis wir
die ‚Zinnpest’ nennen. Und so sehen Sie, meine Damen und Herren Anwesende, gerade der
Brauch, daß man die Körper gekrönter Häupter nicht dem Verfall und ihre Särge nicht dem
Erdreich und den Würmern aussetzt, ruft eine andere Form des Verfalls auf den Plan, und so
müssen wir, Krone oder nicht, selbst Jahrhunderte nach unserem Tod wohl noch eingestehen:
Wir entkommen unserem Schicksal nicht - durch welche Flucht auch immer.“
Er stand dort in seiner unschönen Gestalt und mit seinem teuflischen Gesicht auf dem Podest
und hielt eine ironische, teilweise finstere kleine Philippika, die von Details sprühte und zwischendurch mit Aphorismen der köstlichsten Art vergnügte, obwohl er zunächst nur von Zinn
sprach, über nichts als Zinn, seine chemische Beschaffenheit, seine Historie und seinen Abbau
- er ging auf seine Erwähnung schon im Psalter und bei Jesajah und Hesekiel ein, verbreitete
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sich über seine Verwendung in antiken wie modernen Waffen, sprach von chinesischen Bronzen und der ganz modernen Notwendigkeit der Haltbarmachung von Lebensmitteln für die
Massen, die in Bälde in die Fabriken pilgern würden, durch Büchsen und Dosen. Er redete,
streng betrachtet, über das, womit er sein Geld verdiente, und vom Grunde her hätte dies bereits als erstaunlich und kühn gelten dürfen, aber, wie ich versuchte anzudeuten, war dies weniger eine Laudatio auf ihn selbst als nur ein höchst unterhaltliches rhetorisches Gespinst aus
Kenntnis und Esprit.
Enid Luciter war – dies bot keinerlei Geheimnis – das, was man gemeinhin einen Bastard
oder Bankert nannte, gezeugt von einem französischen Grafen, der bald hernach nach Frankreich zurückgeflüchtet und zwanzig Jahre später in der großen Revolution zu Tode gekommen
war – welcher eine skandalöse Liaison gehabt mit der Gattin eines hochangesehenen Londoner Rechtsanwaltes, die dem Kinde später ihren Mädchennamen vererbt. Böse Zungen indessen machten die Fährnisse seiner eigenen Herkunft dafür verantwortlich, daß Luciter, zumal,
als er jünger gewesen, trotz seines eher ungünstigen Äußeren sich rechtschaffen den Ruf eines
notorischen Causeurs und Herzensbrechers erworben, was, wie man munkelte, manche Dame
hatte teuer bezahlen müssen. Seinen gesellschaftlichen Aufstieg über die letzten dreißig Jahre
gleichwohl verdankte er seinem Geschäftssinn, seiner profunden diplomatischen Geschicklichkeit in politischen Dingen und seiner wachen Intelligenz, und dieser Aufstieg hatte nur
einmal einen Einbruch von immerhin einiger Zeit erlitten, nachdem Luciter – im Jahre fünf einen Konkurrenten um den Erwerb einer Reihe von Minen in Cornwall unter recht fadenscheinigen Vorwänden im Duell getötet. Der Rauch der Pistolen mochte sich schnell verzogen
haben, aber es hatte danach doch fast ein Dezennium gedauert, bis seine Wiederaufnahme in
den Magistrat vollzogen war – und seine Erhebung in den Adelsstand lag noch weniger weit
zurück.
„Zinn ist Bronze, und Bronze ist Kunst“, sprach Sir Enid mit wohltönender Stimme und nahm
damit abermals die Wendung vom Beginn auf, „und Kunst ist es auch“, sprach er, „meine
lieben Freunde, die uns heute zusammenführt. Aber ...“ Er hob seinen Zeigefinger, „es ist
keine Bronzekunst wie im alten China oder Orient, nein, ich spreche im Augenblick von modernster Malerei aus einem modernen, großen, geliebten Land, unserem Vaterland, dem Vereinten Königreich.“
Hier unterbrach ihn, wie schon mehrfach zuvor, dankbarer Applaus. Und wie zuvor winkte er
in einer Geste der Bescheidenheit seine Zuhörer wieder zum Schweigen.
„Und doch ist auch diese Kunst, nicht wahr“, fuhr er fort, „einzig aus Zinn geboren, denn
ohne Zinn“, und er setzte wieder das diabolische Lächeln auf, das ich schon kannte und das
seine spitzigen Augenbrauen betonte, „ohne das Zinn“, sprach Sir Enid düster und wollüstig,
„das tausend kräftige und wohlmeinende Hände Tag für Tag aus meinen Minen zutage fördern, ohne dieses weißblaue und graue Etwas ... beziehungsweise ohne das Geld, das dieses
Etwas einbringt, könnte ich es mir“, er stellte die gespreizten Fingerspitzen der Rechten beschwörend in die Mitte seiner Brust und lächelte sardonisch, „gewiß nicht leisten, meine
Freunde, Bildhauer, Maler und Musiker so zu fördern und zu unterstützen, wie es mir ein
Herzensbedürfnis ist.“
Heftigerer Applaus als zuvor brandete hier auf. Ich löste meine Augen einen Augenblick vom Rednerpult und ließ sie zu jener Wolkenwand
im Westen herüber schweifen, die – ich täuschte mich nicht – inzwischen ein Stück näher heraufgezogen war. Und soeben tauchte die rote Glut der sinkenden Sonne an ihrem oberen
Rande ein, was einen schaurig-schönen Anblick bot und mir ein unwillkürliches Frösteln verursachte. Die Ansicht hatte fast etwas von einer beginnenden Sonnenfinsternis, und während
der nächsten Minuten, während derer es geschah, daß die glühende Sonnenscheibe zur Gänze
hinter jener finsteren Wolkenwand versank, konnte ich es nicht hindern, daß meine Augen
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immer wieder vom Rednerpult fort und dorthin gesogen wurden, wo das Naturschauspiel sich
vollzog, während die Worte, die unser Gastgeber zur Malerei fand, sich in einem eher unbewußten Winkel meines Kopfes verloren.
Dann war die Sonne eingetaucht, und das warme, flirrende Licht, das bisher geherrscht, war
urplötzlich einer grauen, leblosen Dämmerung gewichen. Gewiß, der Garten war immer noch
grün, die Kleider der Damen waren immer noch festlich weiß, die Bediensteten standen in
ihren Livreen und weißen Perücken des letzten Jahrhunderts immer noch aufmerksam und mit
auf dem Rücken gefalteten Händen bei den silbernen Tabletts und zieselierten Schüsseln der
festlichen Tafel, und wer die Augen unverwandt auf die Lippen des Redners geheftet hatte,
mochte von all dem Wandel der letzten Minuten vielleicht gar nichts mitbekommen haben.
Aber mir prägte sich dies veränderte, dies blasse, tote Licht, das mit eins aus einer anderen
Richtung kam, nicht mehr seitlich schräg, sondern von oben, in sonderbarster Weise ein. Und
ein weiteres: War schon zuvor kaum eine Brise gegangen, so war jetzt jeglicher Wind erstorben, erstummt. Matt und tot hingen die Zweige der Trauerweiden hernieder, und deutlicher
als zuvor hörte ich in meinem Rücken das leise Glucksen und Murmeln des Flusses.
Einige Fuß links von mir bemerkte ich, als ich meinen Blick zurück aufs Podium kehrte, einen
Herrn im silbergrauen Frack, der just, als mein Blick ihn im Vorübergehen streifte, eine Kopfbewegung fort von mir tat, so als ob er mich zuvor gerade beobachtet. Das irritierte mich,
denn warum sollte er das getan haben, und nach einem Moment des Überlegens wendete ich
meinerseits den Blick, um ihn kurz zu mustern. Das konnte vergleichsweise unauffällig geschehen, da er - er bot mir sein Profil - vom Rednerpult aus betrachtet, etwas vor mir stand.
Ich kannte ihn nicht, das war mir sofort klar. Alles, was ich in der ersten, kurzen Sekunde
auffing, war, daß er eine blendende Erscheinung bot, dabei um einiges älter war als ich, etwa
im Alter unseres Gastgebers, aber nicht so gedrungen wie jener, sondern schlank und wohl
einige Inches über sechs Fuß groß gewachsen, nicht mit schwarz gekräuseltem, sondern eisgrauem, glattgebürstetem, vollem Haar, das in der Farbe vorzüglich zu Kleidung und Halstuch
konvenierte. Er hatte den Kopf leicht und elegant in den Nacken gelegt, um dem Redner zu
lauschen, gegen die Mode bedeckte ein kurzgehaltener, ebenfalls eisgrauer Vollbart Wangen
und Kinn. Er war offenbar wie ich ohne weibliche Begleitung, denn keine der Damen in seiner Nähe deutete durch ihre Körperhaltung Bekanntschaft mit ihm an.
Ich ließ ihn vorübergehend aus der Aufmerksamkeit und beunruhigte mich sogleich, daß ich
ihm womöglich ins Auge gesprungen war aufgrund jenes unausgesprochenen Abstandes, der
sich für einen insistierenden Kenner zwischen meinem Erscheinungsbild und dem eines der
geladenen Gäste ergeben mochte. Erhob sich mein Zylinder vielleicht eine Spur zu ausladend? war mein Kragentuch mit der falschen Perle besetzt? Ich mochte nichts dergleichen
ausschließen. Ich konnte es zu meinem Bedauern nicht hindern, aber mein Kopf wandte sich
wieder zu ihm hin – und in der nämlichen Sekunde – der Teufel mochte seine Hand im Spiele
haben – blickte auch er erneut genau in meine Richtung. Für die Länge eines Lidschlags, oh
nein, einer Begrüßung, trafen sich unsere Augen und sein Blick versetzte mir einen elektrischen Schlag.
Es war ein Blick von einer solchenen Kälte, daß er mich frieren machte: ein mörderischer
Blick in all seiner Unbewegtheit und Interesselosigkeit, nackt und ohne jede Schonung, mitten
ins Zentrum meiner Seele, erbarmungslos, und es war überdies – und dies berührte mich am
meisten - der Blick aus einem entstellten Gesicht.
Denn nur deshalb trug er den Bart - ich sah ein scheußliches Ungemach: Der Herrgott hatte
seine Oberlippe nicht in der genehmen Art vollendet, sondern eine Lücke dort ausgespart, die
nun die Kunst der Chirurgen notdürftig kaschierte – der vornehme Herr im silbergrauen Frack
war mit der Narbe einer scheußlichen Hasenscharte geschlagen.
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Und ich riß, Gott ist mein Zeuge, meine Augen hinfort und schlug sie nachgerade entsetzt
nieder, denn - so ging mein Kopf - warum ließ er es derart am gebührenden Umgang fehlen? War meine Person in seinen Augen etwa so gering, daß seine Mißgestalt in der erklärten Art
darüber triumphieren durfte? Es mochte gewißlich, dem Himmel sei’s geklagt, nicht Rechtens
sein, daß ich mich hier aufhielt - aber, bei Gott, dachte ich: Er hätte sein Gesicht verbergen
müssen, statt hier frech zu wandeln, - nicht ich!
Jedoch, wie ich bekenne, ich war es, der die Augen zu Boden schlug wie ein gescholtener
Knabe, und ich blickte auf den Rasen zwischen den Füßen der vor mir Stehenden. Sebastian
Friderick-Horne stand immer noch vor mir, Freund und Gefährte meiner Jugend, aber er half
mir wenig voran in jenem Moment.
Soeben näherte sich die Rede Sir Enids ihrem Höhepunkt, und, obschon ich innerlich aufgewühlt war und empört über die straflos bleibende Zudringlichkeit jenes Herrn im grauen
Frack zu meiner Linken, so rief ich doch scharf meine Sentimentalität zurück in die Ordnung
und faßte schließlich wieder Fuß im Fluß der Rhetorik unseres Gastgebers.
„Wenn ich Ihnen Michelangelo Merisi nenne“, rief jener mit weitausholendem Schwung seiner Hand, so als ob der Erwähnte sich irgendwo in unserem Kreise befände, „besser bekannt
unter dem Namen des kleinen Städtchens bei Mailand, in dem sein Geburtshaus steht, nämlich
Caravaggio, jener Künstler mithin, der im päpstlichen Rom wirkte und solch unsterbliche
Kunstwerke erschuf wie die Malereien in San Luigi del Franchesi und Santa Maria del Popolo, so wissen Sie, meine Freunde, daß bereits damals bittere Kontroversen ausgefochten
wurden hinsichtlich der - seinerzeit unendlich kühnen - Praxis, für die Heiligenfiguren der
religiösen Darstellungen ... plebejische Modelle zu benutzen. – Nun rufen Sie sich den ungeheuren Einfluß ins Gedächtnis zurück, den Caravaggios Stil auf die Malerei der Niederländer
hatte, auf die sogenannte Utrechter Schule, auf Künstler wie Hendrick Terbrugghen oder Gerrit van Honthorst, die den italienischen Meister in Rom noch mit eigenen Augen gesehen hatten und ihn ... man darf sagen ... kopierten: das harte, dramatische Licht ... wie auch die rauhen Gesichter und Figuren aus dem Volk! – Oder denken Sie vielleicht an Jacob Jordaens,
einen Mann, der für Rubens in Antwerpen arbeitete. Nach dessen Tod stand er der Werkstatt
des Meisters vor, doch Stück für Stück entwickelte er sich fort vom Rubensschen Ton ... und
hin zu einem wilden, zu einem lauten, manche sagen ... vulgären Stil, mit einer deutlichen
Vorliebe zu großen Genreszenen, die bevölkert sind ... abermals ... von groben, von plebejischen Charakteren.“
Enid Luciter war in diesem Moment dabei angelangt, die Gäste zu bitten, den Ort des Geschehens zu verlagern, hineinzutreten in sein gastliches Haus, und den Gegenstand, von dem
die Rede gewesen, selbst in Augenschein zu nehmen. Und während gemäßigtes, jedoch in der
Tat äußerst erwartungsfrohes Gemurmel von der versammelten Schar her aufbrandete, verließ
er schon sein Pult, die Damen falteten ihre Schirme zusammen, die Herren nahmen, sofern sie
nicht bereits vorher im Gespräch mit Damen gestanden, ihre Kopfbedeckungen herunter, und
so bewegten sich alle, ich einer der letzten, gemessen durch die drei oder vier wie Schmetterlingsflügel weitgeöffneten Türen an den Lakaien vorbei und traten in den Raum zu ebener
Erde, in den hinein ich vorhin schon geblickt, wo uns die Wärme des Kamins erwartete.
Wir traten aus dem grauen Dämmerlicht des Rasens in die warme, von den Deckenlüstern und
Wandarmen flackernde Helle des Interieurs, ich nicht, ohne einen letzten Blick auf jene bedrückende Wolkenformation am Horizont gewendet zu haben, die mählich heraufrückte – um
sie, wie ich ehrlich bekennen muß, hernach fürs erste zu vergessen. –
Als ich danach meine Augen wieder nach vorne richtete, hatte ich meinen Freund FriderickHorne – wie auch jenen Herrn mit der verworfenen Oberlippe aus den Augen verloren, sie
rückten weiter vorne in der Menschengruppe mit.
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Ich nahm den Raum, in den wir getreten, indem ich hinten stand, selbst nur unvollkommen
wahr, immerhin so viel, daß er trotz seiner immensen Abmessungen von Licht erstrahlte und
die Wände aus dem nämlichen groben, grauen Feldspat bestanden wie auch das Äußere des
Gebäudes, der Boden hingegen war teils aus weißem Marmor, teils aus gewachsenem Holz
gearbeitet. Rechterhand flackerte der prächtige Kamin, in dem man, wenn man es nur gewollt,
bequem ein Kalb am Spieß hätte zum Mahle bereiten können. Es gab diverse Stiche an jenen
wie von der Natur gestalteten Wänden aufgehängt - und zwischen den Wandarmen auch mancherlei in Tempera, Aquarell, Kohle und Wasserfarbe, das magisch in den Strahlen der
Leuchter erglühte. Im vorderen Teil des Raumes war der Fußboden nach Art eines Proszeniums erhöht, und auf dieser „Bühne“ erblickte ich vor mir, über den Köpfen der anderen Gäste,
vier Diener in weißer Livree, die vor einem mit Leinewand verhängten, riesigen Rahmen
standen.
Zwei von ihnen, die Außenstehenden, hatten nichts mit dem Bilde zu tun, sondern warteten
seitwärts und trugen dramatisch lodernde Fackeln in den Händen, eine Unnötigkeit angesichts
der hundert Kerzen, die den Raum beleuchteten, jedoch – das musste ich zugeben, bekam so
sogar die noch verborgene Leinwand bereits den Atem des Unerhörten verliehen. Doch der
Ruch des Ungewöhnlichen war um ein nicht Unwesentliches weiter gesteigert durch die Tatsache, daß die beiden anderen Livrierten, jene, die, innenstehend, vor dem verdeckten Kunstwerk verharrten, unter ihren weißen Rokokoperücken ebenholzschwarze Gesichter mit großen, beweglichen, weißen Augen hatten, ansonsten sie stille standen: Jawohl, es waren Neger.
Einige der Damen fächelten sich Luft zu, steckten lächelnd oder mit bedeutsam geweiteten
Augen die Köpfe zusammen, und ich konnte mich des Verdachts nicht erwehren, daß vermutlich jene exotischen Gestalten dort oben der Gegenstand ihrer begehrlichen Aufmerksamkeit
waren.
In diesem Moment, sah ich über die Köpfe, sprang Sir Enid, soweit sein Bein es erlaubte und
mit Hilfe seines Stockes, aufs Podest und hob die Hände. Er ließ es sich nicht nehmen, vor der
Enthüllung seine Ansprache zu vollenden. „Meine Freunde, werte Anwesende“, rief er, „zum
ersten Male dem Auge eines kritischen und erlesenen Publikums dargeboten präsentiere ich
Ihnen das Werk eines Künstlers, den die Wege des Lebens glücklich aus Italien hierhergeführt
haben. Lange Zeit war er in Paris Gast und Freund bei Jean Auguste Dominique Ingres und
hat, wie ich weiß, dort bis vor drei Jahren an der „Grande Odalisque“ mitgearbeitet.“
Bei dieser Bemerkung gingen neuerlich Bewegung und ein Raunen durch die Gesellschaft,
das Sir Enid nickend und mit einem Lächeln zur Kenntnis nahm. „Und seit zwei Jahren sind
es nun glückliche Fügung und mein Stolz und Vergnügen, ihn unter dem bescheidenen Dach
meines Anwesens bei Botallak beherbergt haben zu dürfen. Und es ist ihm dort nach Studien,
Skizzen, Vorarbeiten, Entwürfen und Verwürfen gelungen ... ein ... wahrhaft gewaltiges Gedicht in Öl zu erschaffen, ein Oeuvre, das den immensen Atem der Klassik verrät, ein Werk,
das heute vollendet ist und das wir erst dieser Tage aus Cornwall hierher geschafft haben.“
Er hinkte zur anderen Seite des verhängten Rahmens und stieß den Stock auf den Boden.
„Ihre Augen, werte Anwesende“, sprach er, „werden die ersten außer denen des Künstlers
selbst sein, die das Resultat eines Traums erblicken, der uns das aufzeigt, was vermutlich die
Grenze bezeichnet dessen, was der Mensch aus Farbe und Form überhaupt zu erschaffen vermag. Ich bin mir sicher, die Zukunft wird dieses Urteil bestätigen. Meine sehr Verehrten, ich
erlaube mir, Ihnen vorzustellen ... von Giovanni Battista Condonniere: – ‚Die Geliebten des
Zeus’!“
Er trat zur Seite und machte den Negern ein Zeichen mit der Hand, und diese beiden Burschen, ihre Hinterteile sonderbar herausdrückend und sich wie die Tänzer bewegend, drehten
sich herum, sprangen zu dem zugehängten Kunstwerk und zogen an dem darübergebreiteten
Tuch. Es waren zwei getrennte Tücher, wie sich zeigte, die nun links und rechts herabglitten
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und vom Bilde herunterfielen, es hatte etwas von einer ungehörigen Entblößung – fast schien
es, und dieser Effekt war selbstredend beabsichtigt, als risse ein Vorhang in der Mitte entzwei.
Das Gemälde kam zum Vorschein, und ein Stöhnen, nein, ein Schrei entrang sich den zuvorderst stehenden Versammelten, ein unbeschreiblicher Ton, wie ich ihn nie als Menschenlaut
vernommen, stieg aus den Kehlen auf – dann Getuschel und Geflüster und Bewegung. In
Wogen und Wellen schoben sich Gruppen und Paare und einzelne Personen nach vorne, sobald andere zurücktraten, und das Gescharr der Füße war das lauteste Geräusch im Raum außer einem sonderbaren Laut, der mich an das Atmen eines Riesen gemahnte. Sir Enid Luciter
hatte sich auf die Fensterseite des Podiums zurückgezogen und schien die Besucher des Bildes aus zusammengekniffenen Augenschlitzen zu beobachten.
Langsam gelangte ich mit jenen anderen, die um mich waren, näher an das Bild, das mich mit
jedem Schritt, den ich nach vorne tat, gewaltiger anmutete – schon durch seine pure Größe. Es
mochte sieben oder acht Fuß in der Höhe betragen und gut das Zweieinhalbfache in der Breite
– kein goldener Schnitt, wie mir durch den Kopf fuhr, während mich ein nervöses Zittern
überkam. – Ich fragte mich, wie man es durch Tür und Tor transportiert hatte, - dann ward ich
geschoben und gestoßen, jemand murmelte eine Entschuldigung; ich begriff, daß es Sebastian
Friderick-Horne war, der mich gestoßen, mein alter Freund, den die Flut der Menschenbewegung für einen Augenblick an meine Seite gespült. Schon war ich seiner gar nicht mehr bewußt und hatte Augen nur noch für das, was ich Ungeheures, Unerhörtes, Ungeahntes vor mir
sah.
Da stand das Bild zwischen Dienern und Fackeln auf dem Podest. Es fraß mich auf. Es saugte
mich in sich hinein.
Es band mit tausend Fesseln meine Glieder und Sinne. Es entließ die Zeit aus mir, wie Wasser, das aus einem Zuber abläuft, so daß ich nicht sagen kann, wie lange ich davor verharrte,
bevor ich schließlich beiseite geschoben ward. Mir war es wie die Länge eines ganzen Lebens, und mehr noch als dies: Ich wußte im Innersten meiner Existenz, daß meine Lebensbahn
von diesem Moment an schrecklich aus der Richtung geraten war.
Das Bild empörte mich, denn es war ein schlechtes Bild. Aber es machte mir den Kopf
schwindlig, machte mich besinnungslos vor Verwirrtheit – ich kannte mich selber nicht mehr.
Das Bild ließ mich in einen Strudel aus Verderbtheit und Abscheu sinken, und es entzündete
im selben Moment eine unschuldige Flamme in mir, die seither nie erloschen ist.
Ich ward beiseite gedrängt, und langsam kehrten wohl Sprache und Vernunft in diesen gleißend hellen Raum zurück, aber ich stand abseits gekehrt in der Nähe des Kamins und versuchte, meinen Kopf zurückzugewinnen. Das Bild ... Vernunft und Sprache ...
Es bot eine apokalyptische Landschaft, ein düsteres, wüstes Gebiet aus Fels und Wolken, in
vorherrschendem Blau. Linkerhand klatschte kalt die See weiß aufschäumend an das Gestade
steil abstürzenden Granits. Es gab dieses Land und dieses Licht nicht, das war mir wohl bewußt, nirgends und höchstens am Anfang oder Ende aller Zeit - und trotzdem sahen dieser
Fels, dieses Material, dieses Wasser so zum Greifen echt aus, als habe der Maler das nasse
Gestein und die spritzenden Wogen selbst auf die Leinwand übertragen, nicht nur ein Abbild
ihrer aus Farbe und Öl. Dieses Bild bot in erschreckendem Maß die nackte Augenwirklichkeit, so daß die Frage sich erheben mochte, wo die Kunst dabei blieb, die doch immer eine
Form der Abstraktion enthält. Die Diskussion zwischen Neoklassikern und jenen, die das Personale, das Subjektive, das Irrationale betonen, der notorische Disput zwischen dem Zeitalter
der Vernunft und der Idee des Imaginativen, Spontanen, des Seherisch-Transzendenten kam
mir flüchtig, fetzenartig in den Sinn, und doch war ja all dies enthalten, beide Seiten, die klare
Nüchternheit der Linien und der Raumaufteilung wie die aufgelösten, dramatischen, furchtbaren Durchbrüche archaischen Lichts. In der Gesamtheit konnte William Blake, der unglückli18
che – vielleicht - mehr noch als Vorläufer dieser Kunst ins Feld geführt werden als der von Sir
Enid erwähnte Ingres, fiel mir bei, oder jener unheimliche Schweizer, Henry Fuseli, von dessen grauenvollem Werk „Nachtmahr“ ich vor Jahren Gelegenheit hatte, in Somerset House
verschiedene Versionen in Augenschein zu nehmen. Nächtelang hatten mich weniger der lüstern hockende Alptraumbasilisk selber als das durch den Vorhang brechende Pferd und die
magische Gestalt der dahingeschlachteten, wollüstig gebetteten, träumenden Frau die Ruhe
gekostet! – Gleichwohl: dies hier war ungleich, ungleich schlimmer!
Denn auch hier – die trostlose Apokalypse war nicht unbevölkert - gab es Figuren, Frauen,
Mädchen – ‚Die Geliebten des Zeus’, wie Sir Enid Luciter so liebenswürdig gewesen war zu
bemerken, und sie waren unschwer zu erkennen: Ganz zur Linken und soeben der Gischt der
Brandung entstieg Leto auf den wandernden Fels von Delos, um zu entbinden. Das Wasser
lief aus ihren Haaren, perlte von ihrer weißen Haut, ihrem Rücken, ihrer hilflos bedeckten
Brust, unter der der trächtige Bauch schwoll – sie kehrte uns das halbe Profil zu. Unfern davon, aber etwas weiter im Hintergrund verglühte Semeles schöner, nackter Leib in einer Aureole von zischendem Licht, mit ausgebreiteten Armen ekstatisch zurückgebeugt zu dem bleichen Dunst über ihr, aus dem das tödliche Feuer brach. Demeter, ihr zur Rechten, erkennbar
an dem Ährenkranz ums Haupt und an einer Schar grau verhungernder Leiber, die unter ihrem
Tritt geisterhaft mit den Felsen verschmolzen, war die einzige bekleidete Figur des Ensembles, ihr zur Seite ein weiteres nacktes, sehr junges Mädchen, das durchsichtig war wie
Glas oder Wasser und ihr verjüngtes Gesicht trug: Das mußte ihre Tochter Persephone sein –
gleichwohl ein unheimlicher Effekt. Natürlich war Europa leicht ersichtlich, neben ihrer herabgeglittenen Kleidung bloß und üppig ausgebreitet auf dem feuchten Fels und die Glieder
schwellend, halb liegend, am Boden im Vordergrund, hielt sie das Horn eines Stiers in
schmeichelnden Händen, und es oblag dem gütigen Betrachter zu entscheiden, ob sie das
Horn zurückwies oder es willkommen wünschte. Metis, die hilflose Titanin, war tot und leblos, zerfleischt von den Zähnen des Gottes, ein Opfer, das im Hintergrunde lag, verblutet und
hingeschmettert, uns ihren verwesenden, gespreizten Unterleib zukehrend und den Kopf, das
Gesicht, gebrochen und abgekehrt - unendlich schauerlich und aufreizend zugleich, in jedem
Falle in schockierender Weise wider den guten Geschmack. Und auch Leda, ihr links vom
Zentrum quasi symmetrisch entgegengesetzt, ungewohnt zart und jugendlich gefaßt, mochte
den Betrachter zwar durch ihre skandalöse, makellose, wilde Nacktheit in Erregung setzen,
ihre sich orgiastisch windende Körperlichkeit warf aber zugleich die Frage auf, ob sie auf die
Schönheit des Schwans eindrang oder der Schwan auf die ihre.
Im Zentrum des Gemäldes jedoch erkannte ich Io. Sie war als ein trauriges Fabelwesen abgebildet, als ein Zwitter der sonderlichsten Art. Der Maler hatte sie gebannt im Augenblick ihrer
Metamorphose, als ein tragisches Wesen mit weiblicher Brust und hingegeben kniendem
Leib, doch bereits dem halben, geduldigen Kopf einer weißen Kuh. Ein scheußliches Insekt
saß auf ihrem bloßen Busen und fraß gierig auf sie ein, eine schaurige, überdimensionierte,
über-säuglingsgroße Stechfliege war dies, deren Panzer wie kaltes, graublaues Metall, wie
Kriegsgerät schimmerte, die ihren lüstern gekrümmten Unterleib mit dem widerwärtigen Stachel wider sie richtete, der Stachel verschwand – unerträglicher Anblick – fast in ihrem Nabel.
Ich kannte die Mythologie hinreichend – doch ich mochte gleichwohl nicht daran denken, wie
es wäre, wenn der Stachel diesen Nabel erreichte. Mein Herz schlug wie ein Hammer in meiner Brust. Acht Frauen waren auf diesem Gemälde abgebildet - sieben eigentlich, eine in
Doppelung, Demeter und Persephone - und sieben von ihnen gänzlich unbekleidet - und das
war unbestritten empörend skandalös und unerhört und ungesehen, denn ihre Nacktheit war wie der Rest des Bildes - von der denkbar ungeheuersten Realistik, gleich als ob sie neben
einem standen oder lagerten, was zum erheblichen Teile einfach daran lag, daß die immensen
äußeren Abmessungen des Gemäldes es ermöglichten, diese Frauen- und Mädchenkörper in
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der lebendgetreuesten Größe abzubilden. Aber selbst das Bacchantische, Luzide, verdrehte
mir nicht derart das Hirn wie jene Kleinigkeit, die ich aufgefangen, als ich vor den Bild gestanden -- nichts hatte mir so den Kopf geraubt wie jener halbe Blick, den Io mir gesandt.
Ios halbes Antlitz, die linke Hälfte ihres bezaubernden Gesichtes, ihr halb hochgebundenes,
halb in Locken auf die bloße, weiße Schulter fallendes Haar, das linke Auge feucht in Tränen,
die zarte, elegante Braue, die blasse Wange, der trostlose Mund – die rechte Hälfte war schon
ins Monströse verhaftet, zur Färse entstellt, mir bereits verloren – aber das vielleicht für letzte
Momente im Menschsein verharrende halbe Gesicht auf der Linken traf mich entsetzlich,
schlug mitten in meine blutende Brust – ich bekenne, oh mein Leser, ich weiß nicht, wie ich
mich Dir besser, klarer verständlich machen soll, wenn ich sage: Dieser brechende, nein, dieser bereits gebrochene Blick jammerte mich über die Maßen, er schrie mir um Hilfe, und –
was das schlimmste war - er rief mich – ich wußte es – zu spät, - dieser verspätete Blick
pflanzte den Wahnsinn in mein gebrochenes Herz.
Io ... Io ... wer immer Du seiest, ich wußte, daß ich mich nach dir verzehren würde, so lange
ich lebte, ich wußte, daß das Verlangen nach diesem traurigen Menschenwesen, wer immer es
sei, auf immer eingegraben wäre in mein Blut, der Gedanke an sie, die Sehnsucht nach ihr,
das Bedürfnis nach dem vollen Menschen, dem Mädchen - auf ewig in meinem Kopfe brennen würde wie das leibhaftige Höllenfeuer.
Ich stand in der Nähe des Kamins und nahm kaum etwas von der Gesellschaft wahr, als ich
mich wie schon einmal zuvor am Arme gepackt fand, und die grauen, nichtsdestoweniger
heiteren Augen Sebastian Friderick-Hornes in die meinen leuchteten.
„Nun, alter Freund, was ist dir widerfahren? Du siehst aus, als habe dich stracks der Blitz getroffen. Hast du nicht mit einem solchen Anschlag in Öl und Leinwand gerechnet, nein? Hat
dich das Kunstwerk übermannt? Ich habe dir eine Vernissage angekündigt, mein Bester. Ich
habe“, er winkte mit der Hand, „von Gelegenheiten läuten hören, bei denen es im Hause Sir
Enids beileibe nicht bei einer Vernissage geblieben sein soll ...“
„Seb“, stieß ich stammelnd hervor, „... wie du bei derartigem so gefaßt bleiben kannst ...!“
„Aber was ist dir, mein Lieber?“ lachte er unbekümmert. „Sieh mich an: Ich bin weder
Künstler noch Auktionator und kann dir folglich nichts über die vermutliche Zukunft dieses
großartigen Bildes und sein eventuell ewiges Überdauern in der Geschichte voraussagen. Es
ist insgesamt immerhin ein wenig epigonal, meinst du nicht? Kennst du Blake und Fuseli?
nun denn ... dann weißt du, wovon ich spreche, und spätestens seit Ingres, den unser Gastgeber so kühn war, selbst zu erwähnen, sollte uns auch die blankeste Nacktheit nicht mehr wirklich aus der Fassung bringen, oder täusche ich mich?“
„Das Gemälde ist womöglich schlecht“, entfuhr es mir, „du magst recht haben: Es ist vielleicht zu dreist und zu direkt, ein Appell an das Schmutzige und Grobe, die Verletzung des
Schicklichen, es ist, ich zweifle nicht, der gesuchte Skandal und mithin ein Beispiel, sage, des
schauerlichsten Geschmacks, das mag wohl alles sein, mein Freund, aber ... es hat mir, ich
fürchte, eine schreckliche Wunde geschlagen ... Io ...“
Mein Freund faßte mich, als ich verstummte, ins Auge, und ich erkannte - statt der Heiterkeit
noch des Moments zuvor - nun erstarrtes Erschrecken in seinem Blick und echte Sorge um
mich. „Mein Gott, Domenic“, flüsterte er unterdrückt, „was ist mit dir? Du siehst aus wie eine
Leiche!“
„Ach, es ist ja nichts ... es wird nichts sein“, wehrte ich ab. „Wie derlei Verrücktes schon geschehen kann, wie es mir zustoßen kann ... es ist albern“, ich versuchte zu lächeln ...
„Was ist mit Io?“ fragte er, drehte sich einen Moment in Verwirrung um und versuchte in der
Menge, nein, über die Menge hinweg, Io im Bilde in den Blick zu fassen, aber es gelang ihm
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dies nicht, denn es standen zu viele Mitglieder der Gesellschaft im Wege. Es war ihm auch
nicht wirklich wichtig, sondern er kehrte sich wieder zu mir um und fixierte beunruhigt mein
Gesicht. „Was ist mit Io?“ wiederholte er die Frage.
„Er benutzt natürlich Modelle“, vermutete ich zaghaft, und sah dabei in sein liebevoll ratloses
Antlitz.
„Er benutzt Modelle?“ fragte er mich im Tonfall zurück, als ob ich ihn gerade danach befragt
hätte, ob ich ihn für Mann oder Frau hielte - er verstand nicht im mindesten den Sinn meiner
Frage. „Was, Teurer, heißt, er benutzt Modelle?“ erkundigte er sich gleichermaßen amüsiert
wie empört. „Laß ihn doch Modelle benutzen, Gott, um alles in der Welt! Ja, zweifellos wird
er Modelle benutzen, was glaubst du wohl!? John Constable baute sich die Landschaften, die
er malen wollte, zunächst in klein auf dem Tische nach, du weißt das - und prüfte, bevor er
zum Pinsel griff, an diesen Miniaturen das verschieden mögliche Licht.“
„Ich meine, ob er Modelle benutzt“, fragte ich wie ein Wahnsinniger, „der Maler, der die Geliebten des Zeus gemalt hat, ob er lebendige Modelle benutzt hat, ich spreche von den Frauen
... lebenden Frauen ... ob dieser ... wie hieß er noch ... ob dieser Condonniere ... lebendige
Modelle benutzt hat.“ Ich wiederholte mich verzweifelt und kam mir selber abgeschmackt
dabei vor, konnte aber nichts gegen diese sonderbare Wortflut aus meinem Munde unternehmen.
„Ob er ...“ mein Freund schüttelte den Kopf und rief, halb amüsiert und halb gedämpft, weil
er mich leiden sah, „aber was für eine Frage, Domenic! Schau dir ihre Haut an, wie Gott sie
geschaffen und wie sie leibhaftig neben dir stehen könnten, und du wirst mich solchen Unsinn
nicht mehr fragen! Demnächst wirst du dich erkundigen, ob der Bäcker beim Backen des
Brotes Sauerteig benutzt oder Mörtel ...“
Es gelang mir nicht mehr darauf zu antworten, denn in dieser Sekunde geriet neue Bewegung
in die Versammlung - Sir Enid Luciter, der, wie ich bemerkte, immer noch auf dem Proszenium verweilte, hatte irgendetwas gerufen, dessen Sinn ich, da ich durchaus abgelenkt gewesen, nicht erfaßt hatte. Dann jedoch und sehr schnell wurde wir klar: Er hatte – gewissermaßen als den Höhepunkt des Abends - den Schöpfer jenes Meisterwerkes angekündigt, denn es
betrat aus dem Hintergrunde heraus ein Mensch die Bühne, der im gleichen Augenblick von
einem wohlmeinenden, nein, ich muß es bekennen, mehr als dies: einem stürmischen Applaus
empfangen ward.
Es betrat ein Mensch die Bühne, der, sollte ich ihn kürzestmöglich skizzieren, allemal zu einem Portrait des Sokrates oder Diogenes hätte als sein eigenes Modell sich sitzen können.
Unbestritten sogar eine gewisse Schmuddeligkeit, konzedierte ich - die natürlich aus dem
Gefängnisse respektive der Tonne herrührte - war ihm zueigen - wie er da mit einem halb
frech-siegesgewissen, halb schüchternen, jedoch, wie ich zugeben will, nicht insgesamt unsympathischen Lächeln die Bühne betrat: Maestro Giovanni Battista Condonniere in höchsteigener Person.
Er war fett und recht klein, hatte weiche, bewegliche, fleischige Hände, mit denen er wohl
gerne gestikulierte, er hatte feiste, feuchte Lippen, und er war, ich bemerkte es zuvor, alt, unbestritten alt, in einem Alter zumindest, das ein Sokrates mitnichten erreicht. Er hatte – als er
die Bühne betreten, wurde mir das in einem Augenblick nachgeraden Entsetzens helle – er
hatte die Unverfrorenheit besessen, sich sogar selbst in jenem skandalösen Gemälde zu verewigen – überdies als nichts weniger als derjenige Gott, der diese sieben nackten weiblichen
Gestalten als Geliebte besessen. Denn aus dem allumfassenden, brodelnden Wolkenchaos, das
sich über den kalten Felsen entlud – je länger ich das Bild betrachtete, desto klarer wurde mir
der Sachverhalt – formte sich das Gesicht, sein Gesicht, das Gesicht Giovanni Battista Condonnieres und grinste und linste und loderte aus den Nebeln und ziehenden und zirkelnden
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Sphären, die die zuvor geschilderte Szenerie der grauenvoll gefolterten Frauen novemberkalt
umwehten.
Ich hatte – dies sei bemerkt - die erste Möglichkeit ergriffen, wieder näher auf das Gemälde
vorzudringen – bei welcher Gelegenheit ich übrigens meinen Freund Friderick-Horne erneut
aus den Augen verlor – und ich war seither gleichwohl mehr mit mir selbst beschäftigt oder
dem halben Konterfei meiner geliebten Io, die das einzig verbliebene Menschenauge neben
dem grauenvollen Färsenkopf sehnsuchtsvoll nach mir sandte und mir die pure Verzweiflung
ins Herz senkte, wie nur immer ein Mensch sie fühlen kann.
Vieles von dem, geneigter Leser, was in der Folge dieses hellen Abends unter den Kerzenleuchtern geschah, ist heute in meiner Erinnerung sonderbar verblaßt, weil es mein Hirn nie
wirklich intensiv erreicht – ein Phänomen - nicht unähnlich vielleicht dem unvollkommen
Erfaßten einer Nacht des Trunks. Ja, oh ja, in gewisser Weise war ich trunken und mir selbst
nicht mehr berechenbar - obwohl ich gewiß nicht zu viel des gebotenen Champagners genossen und überdies den einen oder anderen guten Bissen, den die Livrierten geboten, zur Stärkung des Magens zu mir genommen hatte.
Doch ich entsinne mich: Irgendwie taten sich die Frauen jener Gesellschaft hervor – jawohl,
es waren in der Tat eher die Frauen als die Männer – die den Maestro Giovanni Battista Condonniere mit Fragen bestürmten, die er, dort oben heiter gegen das Pult gelehnt stehend, mit
einem mich eigenartig deuchenden Sprachakzent beantwortete – mir schien es nicht Italienisch - und einiges Wesentliche bezüglich des Entstehungsprozesses jenes phänomenalen
Gemäldes erreichte durchaus meinen Kopf.
Sehr richtig, wie er erläuterte: Die Frauen wären einzeln und zu unterschiedlichen Zeiten zuerst in verschiedenen Techniken skizziert und dann in Öl als eigenständige Portraits gearbeitet
worden. Jawohl: Es gab ein wesentlich kleineres, sehr reizvolles, in Holz und Gips gefertigtes
Modell der gesamten Landschaft, dieses war danach zunächst in groben Strukturen vorsichtig
Stück für Stück zeichnerisch vergrößert und schließlich in Öl auf Leinwand gearbeitet worden, wenn auch noch nicht in voller Ausführung der Farben und Strukturen. Und ja: In der
Tat, dieser ganze Katalog fertiger und halbfertiger, kleinerer Werke war am Ende in einem
enormen Arbeitsgang auf dieser einen, letzten Leinwand zu einem gemeinsamen Ganzen gefügt oder komponiert worden, und das war es nun, das endgültige Resultat: „Die Geliebten
des Zeus“.
Ob man Kopien davon erwerben könnte? Ob er gedachte, das Ganze oder vielleicht Details
davon in Silber zu meißeln oder in Kupfer zu treiben – in Zinn, rief ein Witzbold von der anderen Seite her? Ob man beim Meister über kurz oder lang Miniaturen, Gemmen, Aquarelle
des Motivs oder seiner Teile würde bestellen können - Fragen, die mich durchaus ebenso
lockten, und wäre es nur aus dem Grunde gewesen, eine Kopie der Io in Händen zu halten,
um sie ganz bei mir zu besitzen. –
Doch ich hatte mich im Geiste zu dem Zeitpunkt von dem Reste der Gesellschaft bereits so
gut wie verabschiedet und vielmehr in einem Winkel des Raumes ein kurzes Gespräch mit
dem einen der Lakaien angeknüpft, die zuvor die Fackel getragen. Er war nach Beginn der
Diskussion herabgestiegen und hatte, wie der andere auch, den Brand gelöscht, den er in der
Hand gehalten, doch ich hatte ihn, bevor er zur Türe hinaus entwischt war, und ohne daß es
der Versammlung allzu sehr auffiel, zu einem kurzen Dialog gestellt, um meine Sache voranzubetreiben.
„Wie lange sind Sie bei Sir Enid angestellt?“ fragte ich ihn beiläufig und hielt ihn am Arm.
„Im März werden es vier Jahre, Sir“, gab der Mann Auskunft. Er war ein Mensch etwa meines
Alters – aus der Nähe sah ich, daß er unter seiner Perücke unbehaglich schwitzte. Auch schien
er verwundert, daß ich ihn angesprochen.
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„Und war Ihre Aufgabe lediglich das Tragen jener Fackel heutigen Abends dort auf dem Proszenium, mein Freund“, erkundigte ich mich, dabei möglichst unbeteiligt wirkend, „oder sind
Sie auch in irgendeiner Form Zeuge der Fertigung jenes Bildes geworden?“ Ich fühlte, wie
mein Herz schlug, als sei ein Marder in meiner Brust unterwegs.
„Sir Enid war so gnädig, mich die vier Jahre auf seinen Latifundien in Cornwall zu beschäftigen, Sir“, sagte der Diener verwundert, „und so kam ich gar nicht anders umhin, als Zeuge zu
werden der Entstehung des betreffenden Gemäldes.“
„Ach ja“, meinte ich so harmlos wie eben möglich. „Und was können Sie mir über die ... über
die Damen .... ich meine ... die jungen Frauen ...“
Während ich noch sprach, sah ich, wie er erstaunt sein Auge auf mich richtete, aber ich fuhr
fort mit der größten Selbstverständlichkeit, die mir zu Gebote stand: „Kurz, was können Sie
mir über die Modelle berichten, die dem Meister zugeführt worden sind ... in Cornwall bei der
Fertigung des Werks? Verstehen Sie mich? Von wem? Wer hat sie ausgesucht? Woher kamen
sie? Kennen Sie die Namen? Oder Geschichten über ihr Herkommen? Familien? Kurz, wissen
Sie, wohin ich mich wenden müßte, wenn ich die eine oder andere von ihnen zu sprechen
wünschte?“ Ich brauchte all meine Kraft, um meine Stimme hierbei nicht zittern zu lassen.
„Sir“, sagte er und musterte mich in einer Weise, wie es einem Bediensteten im Grunde nicht
zukommt. „Ich fürchte, ich bin nicht die Person, an die Sie derlei Fragen richten sollten, Sir,
warum fragen Sie nicht den Meister Cordonniere selbst ... oder vielleicht meinen Herrn, der
für ihn aufkommt: Sir Enid, warum fragen Sie nicht ihn?“
„Ich werde ihn fragen, ganz gewiß, mein Guter“, lächelte ich ihm zu - mit all dem Rest des
Selbstbekenntnisses, das mir noch zur Verfügung stand, „wollen Sie mir freundlicherweise
Ihren Namen nennen?“
„Mein Name ist o’Haney, Sir“, sagte er und neigte knapp das Haupt.
„Ausgezeichnet, o’Haney“, sprach ich zu ihm, „und besten Dank für Ihre Hilfe.“ – Und er
nickte nach einem letzten Blick auf mich und wandte sich hinaus.
Das Gemälde stand nach wie vor zur Schau, und es drängten sich Gäste vor dem Proszenium,
deuteten mit den Fingern, disputierten. Ich stahl mir einen durstigen Blick auf das halbe, tränenfeuchte Antlitz – Io, die fortan zärtlich und fordernd meinen Weg begleiten würde, bis ich
ihr Geheimnis gelöst hätte, wie mir in schrecklichster und herzerwärmender Weise gleichzeitig klar ward - und ich wandte mich meinerseits zum Ausgang.
Das heißt, ich schob mich durch die Menge der Gäste in Richtung auf die offenen französischen Türen zum Park, in den seither die Dunkelheit gefallen, und trat wieder auf den Rasen
vor dem Hause, der wie eine dunkle, ebene Fläche hinfortreichte bis zum stille strömenden,
silbernen Wasser der Themse. Hinter mir drang das warme Licht der Fackeln, der Lüster und
des Kamins aus den Türen. Ich brauchte etwas Luft und sah zu meinem Erstaunen, daß ich
nicht der einzige im Garten war. Einige Damen standen mit ihren Herren ins Gespräch vertieft, und an den aufgebauten Köstlichkeiten der Speisen und der Getränke verharrten nach
wie vor die Diener in Livree. Ich nahm mir nichts von alledem, versuchte nur, meine Gedanken in die rechte Reihe zu zwingen und mir einen Plan zu machen, wie ich weiter verfahren
könnte. Den unheimlichen, grauhaarigen, bärtigen Herrn mit der Verunstaltung der Oberlippe
sah ich übrigens nicht, nicht hier draußen, und ich hatte ihn auch drinnen nicht mehr erblickt.
Ich hatte ihn, das muß ich offen bekennen, in der Folge dessen, daß uns das Bild präsentiert
wurde, mehr oder minder vergessen ...
Es war, wie bemerkt, fast Nacht geworden in der Zwischenzeit - und letzte Ahnungen von
Licht nurmehr am Firmament. Kaum hätte ich die Wolkenbank noch ausmachen können, die
weiter unsichtbar heraufgerückt war in der Dunkelheit, wäre nicht inzwischen im Osten der
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Mond aufgegangen, der sachte über die Weiden stieg. Tatsächlich, dachte ich flüchtig, so
mochte es mit dem Sommer für dieses Jahr vorbei sein. –
Io ... Io ... Io ..., dröhnte es in meinem Kopf. Was sollte ich tun?! Mein Blick fiel auf den unsichtbar silbern schimmernden Fluß, der nahe, so träge, unter den Weiden vorbeiglitt.
Ich verweilte, indem ich langsamer schritt, am flachen Ufer einen Moment in der Nähe eines
Paares und lauschte, ohne es darauf anzulegen, ihrem Gespräch. Sie waren beide kaum über
mein Alter, die junge Dame ein überaus hübsches Wesen mit kecken Grübchen in den Wangen und betörender Frisur - und er schien ein sehr sympathischer und gutaussehender Mensch,
dem ich ansah, daß er seinen Weg in dem Geschäft, für das er arbeitete, wohl mit Leichtigkeit
machen würde.
„Giovanni Battista Condonniere“, murmelte der junge Mann und ließ den Namen des Maestro
bedeutungsvoll in der Luft schwingen. Er sprach leise, er wollte niemanden außer seiner
Dame mit der Konversation behelligen, und fast kam ich mir sonderbar vor, sie zu belauschen
„Was meinst Du, Lieber?“ wollte sie wissen. Ich glaubte ihrer Stimme anzuhören, daß sie
lächelte.
Ich blieb stehen.
„Nun, ist es Dir nicht aufgefallen?“ fragte er sie.
„Oh, was sollte mir aufgefallen sein?“
„Giovanni Battista Piazetta“, zählte der junge Mann mit trockener Stimme auf. „Giovanni
Battista Tiepolo, Giovanni Battista Piranesi, Giovanni Battista Gaulli, genannt Baciccia, alle
siebzehntes Jahrhundert …” er unterbrach sich, und die junge Dame ließ ein herrlich perlendes, leises Lachen hören.
„So scheint es denn der Vorname der abendländischen Malerei zu sein, Lieber ... was sonst vielleicht sind sie alle getauft?“
„Oh, gewiß sind sie alle getauft, und ich wette, nicht anders übrigens als Jean-Baptiste Pater,
Jean-Baptiste-Oudry, Jean-Baptiste Greuze oder Jean-Baptiste-Siméon Chardin.“
Sie prustete vor Vergnügen. „Das ist nicht wahr!“ stieß sie hervor.
„Oh, es ist absolut wahr, mein Schatz“, entgegnete er unterdrückt vergnügt – „von totem Wild
über lebende Hunde bis zu Stilleben alles, was das Herz begehrt.“
Nun lachte sie so unbeschwert, daß es fast unanständig anmutete – andererseits: Es geschah
dies im Mantel der Dunkelheit an einem lauschigen nächtlichen Flußufer, und sie hatten mich
beide nicht bemerkt.
„Ich nehme ihm zudem den Italiener nicht ab“, wisperte der junge Mann, „ich denke, dies war
ein deutscher Akzent, den ich da hörte.“
„Ob er aus Franken stammt oder Preußen, meinst du, und es nicht zugibt?“
„Gleichviel“, meinte er. „Wie gefällt Dir, nebenbei gesprochen, Johann Baptist Zimmermann
... Frescos ... der arbeitete in der Nähe von München?“
Sie lachte, daß es mich völlig für sie einnahm. Er lachte auch, drückte sie kurz und heiter an
sich, weil er meinte, daß es niemand sah – ich sah es - dann rückte er den Hut zurecht, bot ihr
den Arm, und sie wandelten beide gemessen in Richtung des Hauses hinauf, um sich erneut
unter Menschen zu mischen. Eine Woge der herzlichsten Zugewandtheit für diese beiden
überflog mich angesichts solchen Glücks, und ein Abgrund des Neides und der Frage tat sich
in der nämlichen Sekunde auf – als das halbe, verzehrende Antlitz mir einfiel ... Ich trat noch
näher an das dunkle, fließende Wasser heran ...
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Giovanni Battista Condonniere .... auch mir war der eigenartige Akzent aufgefallen, der mich,
wie bemerkt, nicht Italienisch deuchte …Ein Diener fand mich – und ich kann kaum benennen, wie viel Zeit inzwischen verstrichen als ich sinnend am Ufer stand und in den mittlerweile nachtschwarzen Strom blickte, die
Nacht hereingefallen, doch der Garten bevölkert von gesprächigem Volk nach wie zuvor.
Gewiß, er fand mich, doch ich war solcherart in Gedanken, daß ich zunächst nicht einmal das
Merkwürdige daran entdeckte.
„Sir?“ fragte er. „Darf ich Sie stören?“
„Sie stören mich?“ fragte ich lächelnd zurück. „Aber womit wollen Sie mich denn stören?“
Ich hatte ihn zuvor in der Dienerschar nicht bemerkt, konnte kaum sein Gesicht ausmachen,
hier in der Dunkelheit.
„Sir Enid möchte Sie sprechen, Sir“, sagte er und senkte demütig das Haupt. Sein Gesicht ein Schatten in der Nacht.
Ich gebe zu, daß zu diesem Moment eine kleine Irritation in mir war. „Ich höre“, sagte ich
leise. „Wieso will er mich sprechen? – Sind Sie sicher, daß dies keine Verwechslung ist?“
„Wenn Sie mir folgen wollen“, bat er devot.
Ich versuchte zu überlegen, was denn hier Sonderbares ablief, doch ich bemerkte zu meinem
Erstaunen, daß es mir nicht einmal gelang, dies wenige Denken in ordentliche Wege zu leiten.
Er hatte mich immerhin unter allen und hier im Dunkeln ausgefunden, dieser Lakai – wen, um
alles in der Welt, meinte er denn ausgefunden zu haben? Wie konnte es am Ende sein, daß der
Gastgeber gerade mich wünschte, mein Gespräch wünschte, wo er doch nicht einmal wissen
konnte, daß ich überhaupt hier war - oder wer ich war? Schmerzhafte Feuerglocken läuteten
lärmend in meinem Schädel, daß hier höchst Eigenartiges sich abspielte und daß ich tunlichst
und augenblicklich das Weite hätte suchen sollen. Es hätte bis dahin gereicht, mich dem Anstehenden mittels eines beherzten Sprunges in das Wasser hinter mir zu entziehen, das wäre in
der Tat um ein Leichtes möglich gewesen – und kaum jemand hätte dies bemerkt. Das wäre
bestenfalls verbunden gewesen mit Gefahr für den geliehenen Frack.
Aber gleichzeitig war da in mir diese unaussprechliche Art von ... ja ... was? ... blutigem Zorn,
über Io, dieses Zauberwesen -- von dem ich den diffusen Begriff hatte, daß man es mir mutwillig entzog. Wer war sie, die da nackt und bloß im Zentrum des Gemäldes kniete und sich
grausig und wehrlos in eine Färse verwandeln ließ? Irgendwo im wirklichen Leben war sie
vorhanden, als junge Frau, als Mensch, als Person und Individuum ... und jemand, das spürte
ich, tat ihr Gewalt an.
„Gut“, sagte ich, zuckte die Schultern, gab durch eine Handbewegung mein Einverständnis zu
verstehen, und er nickte, drehte sich um und schritt vor mir her.
Die Dunkelheit machte es, daß unser Gang auf dem bevölkerten Rasen nahezu unbemerkt
blieb. Sonst hätte es wohl durchaus den Eindruck erwecken können, daß vor den Augen der
gierig Starrenden ein Verbrecher abgeführt wurde ins Gefängnis. Nur die Kollegen des Lakaien, die nach wie vor gestreckt am Büffet verharrten, tauschten, wie ich aus dem Augenwinkel bemerkte, den einen oder anderen unauffälligen Blick - ansonsten fand unser Gang
kaum etwas der allgemeinen Aufmerksamkeit. Für eine kurze Sekunde fragte ich mich - und
mußte lächeln bei dem Gedanken - wo mein Freund Sebastian in diesem Moment steckte und
was er unternommen, falls er des Abgangs Zeuge geworden wäre. Ich wähnte mich, ich will
dies ganz deutlich betonen, zu keinem Atemzug, als der Lakai mich geleitete, in etwas ähnlichem wie wirklicher Gefahr.
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Wir näherten uns dem Haus, durch dessen weitgeöffnete Türen das gleißende Licht der Feuer
brach; doch dann schien der Diener es sich anders überlegt zu haben und führte mich rechts
herum, zwischen dem stillen Hundezwinger und dem Anwesen hindurch, entlang der Hausmauer durch die Dunkelheit und in eine Stille, in der nur unsere Schritte in dem Kies noch
von Bedeutung waren. Dort öffnete er eine Tür und winkte mir einzutreten.
Innen war ein Gang, ein Korridor, der vornehmlich als Lagerraum benutzt zu sein schien.
Eine trübe Öllampe erhellte die Flucht. Im Nachhinein erstaune ich, nein, erröte ich fast, wie
mir schamlos die Rückseite, die profane Welt der Dienstboten präsentiert und damit bedeutet
ward, daß ich wohl zu diesen gehörte. Der namenlose Diener, der nur brav seinen Auftrag
erfüllte, führte mich links herum und rechts, durch teilweise namenlose Dunkelheit, in der ich
zu stürzen, anzuecken und zu stolpern fürchtete, die Arme tastend ausbreitete, öffnete dann
jedoch eine Tür und wies mich hindurch, und von einem einzigen Augenblicke zum anderen
befand ich mich, zumindest gerade äußerlich, wieder zurückbegeben in die Welt der Gesellschaft.
Ich betrat einen Salon, dessen Tür der Diener sofort hinter mir verschloß - ich hörte das Umdrehen des Schlüssels; er war nicht mit mir hereingetreten – in dem eine Unzahl von Möbeln,
Teppichen an der Wand und auf dem Boden, Tüchern, Divanen, Ottomanen und arabischen
Lampen und Ampeln sich befand. Es herrschte gleichwohl wenig Licht, so daß ich einige
Momente benötigte, um zu erkennen, daß zwei Personen anwesend waren, die, wie ich so
überrascht zu begreifen genötigt war, sich ihren Gästen zumindest vorübergehend entzogen
haben mussten – zu viel der Ehre! Im Hintergrund stand ein dritter Mensch im Halbdüster, ein
schlanker, ja, dürr zu nennender, dem Anschein nach noch recht junger Mann, dessen Kopf
gleichwohl kahl leuchtete wie ein geschältes Ei, an ein Stehpult gelehnt, und er führte eine geschwinde Feder. Ich bekam ihn während der ganzen Konversation nicht anders als von hinten
zu Gesicht, hörte jedoch, sobald ich nur darauf achtete, das Kratzen seines Schreibwerkzeuges, so als ob er protokollierte, was wir sprachen.
Rechterhand kauerte auf einer Chaiselongue, der Leser mag das ahnen, der Maestro Giovanni
Battista Condonniere - jedoch: der Schöpfer der „Sieben Geliebten des Zeus“ war in der
Folge, wie ich bekennen muß, nur ein gelegentlich - und recht unangenehm albern - kichernder Zeuge dessen, was der andere verlautete. Zur Linken nämlich lagerte der Gastgeber des
Abends, der bedeutende Sir Enid Luciter, in einem Fauteuil und hatte bequem die Füße, auch
den verformten, hoch auf einen Hocker gebettet. Er sah mir entgegen, als ich eintrat, und er
rauchte eine kaum bleistiftdicke, schwarze, vermutlich türkische Zigarre, was in meinen Augen auf unerklärliche Weise einen obszönen Anblick bot.
„Guten Abend“, sagte er kalt und sah zu mir auf. „Ich habe nach Ihnen gerufen - Sir.“
Er forderte mich nicht auf, in einer der zahlreichen Sitzgelegenheiten des Gemachs Platz zu
nehmen – so blieb ich denn stehen – und diese gewollte Frivolität mir gegenüber machte mir
von der ersten Sekunde an bewußt, daß dies hier nicht das zu werden versprach, was es vorgab zu sein.
„Der Grund, warum ich Sie sehen wollte“, sprach Sir Enid und schien im Augenblick mit
einem Stäubchen abgelenkt, das sich auf seinem Ellbogen niedergelassen, während der Rauch
seiner Zigarre in einem steilen Faden zur Decke aufstieg, „liegt darin, daß einer meiner Bedienten mir berichtet hat, daß Sie versucht hätten, ihn auszuforschen? bezüglich des Gemäldes, das wir heute abend präsentiert haben? --- sonders allerdings bezüglich der Damen, die
darauf abgebildet seien? Sie zeigten da, sagte mir mein Mann, ein ... ungesundes Interesse?“
Sir Enid drehte leicht den Kopf, um erstmals an seiner Zigarre zu saugen, die er reglos in der
rechten Hand hielt, gleichzeitig jedoch blieben seine stechenden, lauernden Augen starr auf
mir verhaftet, was einen widerlichen Eindruck bot. Er blies den Rauch aus seinen Lungen und
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verfiel in lüstern stille Betrachtung meiner Person. „Der Name meines Bedienten ist
o’Haney“, murmelte er schließlich und die Erläuterung klang wie in einem diffusen Traum.
„Wissen Sie, ich finde es fast ein wenig beleidigend, junger Mann - ich bezahle diesen Menschen schließlich - wie haben Sie glauben können, daß er auf Ihre dreiste Wißbegier hin ...
mir sofort die Loyalität brechen könnte?“
Ich entsann mich – ich hatte diesen Diener mit meinen ein, zwei unschuldigen Fragen traktiert, eine matte dreiviertel Stunde mochte das her sein, und ich ärgerte mich einigermaßen,
als mir bewußt wurde, wie schnell und direkt die Dschungelpost auf dem Anwesen meines
Gastgebers funktionierte und andererseits, wie töricht ich hatte sein können, nicht genau das
vorauszuahnen. Ich blieb auf Sir Enids Anwurf still und verharrte dort im Raume stehend, so
daß eine lastende Pause entstand.
„Ich ... bin ... Sir ... Enid ... Luciter“, sagte der Gastgeber schließlich unbewegt – er setzte
jedes Wort isoliert in die Stille des Zimmers, ohne die Stimme zu erheben, „und ich gebe, wie
so oft, auch heute für geladene Gäste einen Abend, der ihnen nichts als reine Freude bereiten
soll, verstehen Sie mich wohl, junger Mann? – Mit wem, gestatten Sie mir daher gütigst die
Frage, habe ich das Vergnügen?“
Waren es die Dämpfe in dem Raum, denen irgendwelche süßlichen Substanzen beigemischt
schienen, die träge aus der Glut der Kohlebecken linkerhand aufstiegen, oder war es lediglich
der Rauch der türkischen Zigarre, die der Gastgeber in den ausgezehrten Fingern hielt, irgendetwas in diesem absurden Boudoir atmete den Dunst der Verruchtheit und des Verderbens,
das fühlte ich wohl, und mehr noch als dies, die Atemluft war gewissermaßen schwer und
geschwängert mit dem Ruch von Bösartigkeit und Untergang.
„Mein Name ist Domenic Holland“, antwortete ich knapp und leise und ersparte mir das
„Sir“. Ich fand, daß meine Stimme unmäßig rauh klang anläßlich der harmlosen Mitteilung,
und ich ärgerte mich gründlich darüber. Gleichwohl, mir war, seit ich den Raum betreten,
nicht wirklich ängstlich zumut - denn was, fragte ich mich beständig in halbem Zorn, wollte
er mir im Ernst schon antun?! „Domenic Holland aus der Sippe der van Gelderens, das heißt,
meine Vorfahren hießen van Gelderen – ich heiße Holland.“
„Van Gelderen?“ ließ sich Sir Enid Luciter meinen Urvaternamen genüßlich auf der Zunge
schmelzen, „Holland ... van Gelderen“, und er nahm einen neuerlichen Zug von seiner Zigarre, blies den Rauch in einem langen, trüben, steil aufsteigenden Faden aus, sein Teufelsgesicht so mild wie Wachs. „Die Namen sagen mir gar nichts, Mr. ... van ... Holland.“ Er überlegte. Seine Stimme hatte etwas von der sämigen Schärfe eines verdorbenen Soufflets. „Sie
sind demnach kein Engländer, nein ...?“
„Oh, Sie täuschen sich, ich bin ungefähr so britisch wie Blackfriars Bridge“, warf ich mit gebührender Frechheit hin, denn seine herablassende Art machte mich wohltuend wütend - sein
Erzeuger nota bene war ein französischer Graf gewesen, der sich aus dem Staube gemacht!
Ich hatte unbändige Lust, ihm diesen Brocken hinzuwerfen, aber klügere Einsicht hielt mich
rechtzeitig davon zurück. „Ein Vorfahr meines Vaters kam aus den Niederlanden“, erklärte
ich stattdessen, „doch wüßte ich nicht, welche Kritik Ihrerseits ich deshalb verdiente. Die Namensänderung war der Irrtum eines Beamten der englischen Krone, der die Herkunft statt des
Namens in das betreffende Dokument einrückte.“
„Nun, immerhin“, bekannte Sir Enid, und seine Stimme geriet fast zum Flüstern. „Da heißen
Sie also nicht nur Holland, sondern Sie stammen vorväterlicherseits auch gleich von dort. Nun, das nenne ich apart.“ Er beließ die Augen auf mir, wendete jedoch halb den Kopf zu
dem Maler auf der Ottomane und sagte: „Das ist ungefähr so abgeschmackt, Condonniere, als
wenn Sie Tedesco hießen ...“
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Der stille Maler rechterhand explodierte in einem schwachsinnigen Ausbruch von Heiterkeit
und Gekicher. „Rembrandts Bruder“, keuchte er. „Es muß van Rijns Bruder gewesen sein –
und dieser hier ist zweifellos sein Urgroßneffe ...“
Der Laut war abgeschmackt, unangemessen, nichts als ein sonderlich dummer Anwurf eines
Schwätzers, bevor der Mann zur Ruhe zurückfand. Gleichwohl: ich hörte das sture Federkratzen des Sekretärs zur Linken. Danach ward, da niemand mehr etwas sprach, auch dieser still,
und es versank das ganze Boudoir in absoluter, gräßlicher Lautlosigkeit. Das deutlichste Geräusch verursachten noch die Kohlebecken, die seitlich standen, es klang manchmal wie ein
fast unhörbares Schmatzen, wenn eine Kohle sich bewegte, bröckelnd zerfiel. Rauch zog bösartig zwischen den Ampeln. Man hörte nichts aus den anderen Gebäudeteilen - keine Lebensäußerung der angeregten Gesellschaft, die dort versammelt sein mußte, drang herüber. Ich
wähnte mich in diesem grabesstillen Gelaß wie abgeschnitten vom Rest der Welt. Sir Enids
Augen schienen in der Dunkelheit zu lodern.
„Aber nein, Mr. van Gelderen, oder Mr. van Holland, oder wie auch immer, wie werden Sie
das vermuten! Ich übe keine Kritik“, sprach der Gastgeber nach einer unerträglich langen
Zeit, in der ich zunehmend bebend gestanden, sanft, mit einer merkwürdigen Zurückhaltung,
die mich fühlen machte, wie unversehens leichter Schweiß an meinen Schläfen entstand – er
nahm einen gierigen Zug von seiner Zigarre, die darauf rot wie die Ampeln ringsum erglühte er nahm den Rauch nicht nur in den Mund, wie ich das üblicherweise bei anderen kannte,
sondern sog ihn gierig und krank in die Lungen, „ ... nur daß ich Sie nicht auf meiner Gästeliste finde, junger Mann ...“ Es klang besorgt.
Ich nickte. „Das mag wohl so sein“, gab ich zu und versuchte das Klopfen meines Herzens,
das mir zu Kopfe stieg, zu überhören. „Denn wie auch hätte ich auf Ihre Gästeliste geraten
sein sollen, Sir?“
Erneut war da das unterdrückte Gegluckse und Gegacker des Maestro Condonniere auf der
Chaiselongue rechterhand, der sich jedoch schnell besann und in gebanntes Schweigen verfiel.
„Wie, junger Mann“, erkundigte sich Enid Luciter bei mir - es klang fast traurig, „wenn ich
fragen darf, wenn Sie nicht auf der Gästeliste standen, sind Sie dann hier hereingelangt?“
Ich überlegte, antwortete, antwortete wahrheitsgemäß: „Durch den Einlaß bei der Vorderseite,
Sir. Wie all die anderen. Ich zeigte dort mein Billet vor und ging hindurch.“
Seine Augen glühten im Dunkeln wie die eines urweltlichen Tieres. Wenn er an der Zigarre
sog, war da ein Glitzern in der Iris zu sehen, das mir, ich weiß nicht weshalb, kalte Furcht den
Rücken hinabjagte. Mir fiel plötzlich Frank Purcell ein, den ich natürlich nicht gekannt, aber
ich sah ihn mit gebrochenem Aug’ blutig zerquetscht und zerdrückt unter den Rädern der
Kutsche liegen, die ihn unversehens überfahren - nachdem er nur einmal unbedacht das Wort
gegen jenen undurchdringlichen Menschen erhoben hatte, der mir dort eben auf einige
Schritte gegenüber lagerte.
„Was hat Sie veranlaßt“, fragte er mich vorwurfsvoll – und gleichermaßen amüsiert – er
sprach wie zuvor bedacht und leise - „hierher in dieses private ... Symposion vorzudringen –
was fiel Ihnen“ – das war lauter – „bei, sich unrecht in dieses Tabernakel der Gemeinsamkeit
zu stehlen, uns zu beleidigen, einen Zirkel von Wahlverwandten zu stören, in eine Loge des
Einvernehmens und der Freude an der Kunst einzubrechen ... Sie als ... als gesellschaftlicher
Strauchdieb, denn ... ich wiederhole mich ... ich habe Ihren Namen oder den eines der Ihren
nie gehört.“ Er schüttelte leicht und verwundert den Kopf, schaute mich mit offenem Munde
an, als erwarte er ernsthaft Auskunft.
Ich blieb die Antwort schuldig.
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Luciter beugte sich so plötzlich nach vorne, daß ich mich erschreckte, denn ich glaubte eine
Sekunde, er griffe nach etwas Unheimlichem, einer Schlange, einer Kröte, einem Skorpion
unter seinem Fauteuil, um sie mir an den Hals zu werfen. Die vielerlei Dünste und Dämpfe im
Raum, der Geruch, der gewiß nicht Weihrauch war, das ungewisse, rötliche Licht von den
Ampeln, all das reizte über die Maßen meine Sinne, so daß ich unterdessen in einen Zustand
geraten war, der nachgerade dem des Fiebers nicht unähnlich war. Sir Enid beugte sich jedoch
nur nach vorne und zerdrückte mit einer flinken, sonderbar erbarmungslosen und zuvor sicher
oftmals getanen Bewegung den Zigarrenrest in einer Schale auf einem Dreibein, einer chinesischen Arbeit, die einem Drachen nachempfunden war. Gewiß Bronze, dachte ich lästerlich.
Dann reckte er mir die Hand, die nun leer war, und zwar noch in der gleichen Bewegung, entgegen und fragte: „Darf ich jetzt also Ihr Billet sehen, junger Mann?“
„Mit Verlaub, Sir, nein“, entgegnete ich. „Es ist eine Einladung, sein Sie versichert, die Sie
oder ihre Leute ausgestellt haben, aber Sie werden sie nicht sehen. Sie ist ordnungsgemäß, es
handelt sich nicht um eine Fälschung. Kein anderer Ihrer Gäste mußte seine Einladung zweimal vorweisen, ich werde es auch nicht tun. – Der Abend war sehr aufschlußreich“, setzte ich
hinzu. „Und ich danke dem Gastgeber ...“
Sir Enid ließ matt die ausgestreckte Hand sinken, lehnte sich zurück, wie enttäuscht, saß reglos wie ein Baumstumpf, das Antlitz mit den Stirnhöckern, soweit ich es erkennen konnte,
völlig unbewegt - er war wie ein Schemen unter den Ampeln. Er nickte. „Sie wollen mir bedeuten, junger Mann, daß Sie zwar mit einem gültigen Billett hier sind, daß dies aber jemand
anderem gehört?“ erkundigte er sich angelegentlich.
Ich überlegte und neigte schließlich den Kopf.
„Also: wem?“ fragte er.
Ich dachte einen Augenblick an Finlay Burkitt, meinen Brotherrn, dann an Sebastian Friderick-Horne, meinen alten Freund dort draußen – welchletzterer nichts mit der Einladung zu
tun hatte, der nichts von meinen momentanen Schwierigkeiten wußte - doch ob er mir vielleicht helfen könnte, dachte ich, wenn es mir hier hart auf hart erginge – und ich senkte den
Kopf und schwieg. Denn daß mir nicht bekannt sei, von dem die Karte stammte, das hätte mir
mein Gegenüber gewiß nicht abgenommen.
Er beugte sich vor und nahm eine neue Zigarre aus einem Kästchen, das mit irgendwelchen,
sicher kostbaren Intarsien gearbeitet war - sie waren meinem Auge zu klein, ich konnte sie
nicht erkennen. Er schnitt fingernagelgroße Stücke von beiden Seiten des Tabakröllchens ab
und entzündete es an dem Licht zu seiner Seite, indem er, nachdem er dort das Glas hochgeschoben, das Ende des Röllchens in die Flamme hielt und mit dem Zeigefinger in schneller
Folge auf das andere Ende klopfte. Er betrachtete das, was er tat, seitlich, mit interessiertem
Blick. Er sog gierig den ersten Zug ein.
Mit dem Rauch zusammen entließ er, als er ihn ausstieß, etwas, das klang wie ein wohlmeinender Vorschlag. Er sagte, und der Tabakdunst entwich dabei in grauen Fetzen seinem
Mund: „Ich könnte Sie von einer Schar Diener leibesvisitieren lassen, Mr. van Holland. Jetzt.
Und gleich. Hier auf der Stelle durchsuchen, vor meinen Augen, um dieses Billett zu finden,
verstehen Sie? Es könnte grob dabei zugehen – und niemand würde es hören.“
Ich neigte in Überlegung und Zustimmung den Kopf, obwohl etwas in meinem Inneren flatterte wie ein Vogel in der Falle. „Und ich, Sir, hätte den Abend über längst genug Zeit gefunden, die Karte zu zerreißen und die Fetzchen dem Flusse anzuvertrauen, der an Ihrem Grundstück fließt.“
Während ich dies sprach, fühlte ich die genannte Karte wie das Feuer der Verdammnis an
meiner Seite brennen, denn ich hatte mich ihrer natürlich nicht so entäußert wie vorgegeben.
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„Das eben bliebe zu überprüfen“, nickte er nachdenklich, und trotz seiner äußeren Ruhe
schien er innerlich von einer Wildheit und Verrücktheit, die ihn umgab wie der Hof den Mond
in einer eisigen Winternacht. Es gab eine Pause, in der sein Blick an mir auf und abglitt, jede
kleine Falte meiner Kleidung prüfte, als ob er mich im Geiste schon gierig durchfingerte, eine
Pause, in der ich versuchte, seinen Blick zu erwidern. Es war dies schwierig, denn die
Dunkelheit machte es schwer, seine Augen zu fassen.
Er zuckte desinteressiert die Schultern. „Ich könnte Sie einfach den Hunden vorwerfen lassen“, schlug er unvermittelt vor. Es klang nicht bewegter, als ob er mir eine Partie Schach
anböte.
„Sicher ... entgegnete ich gepreßt, „oder den Krokodilen in der Themse ...?“
Der Maler erhob sich halb von seinem Polster und quietschte vor plötzlichem, unbändigem
Amüsement wie ein Schwein. „Er ist frech“ jauchzte er. „Bei Gott, er spottet Ihrer, Luciter, er
macht sich über Sie lustig!“
Der Gastgeber winkte seinem Kumpan zu schweigen, fast schien es, als ob er über jenen übler
erregt war als über mich und meine vorschnell herausgeplatzte Bemerkung. Er schwang den
mißgestalteten Fuß von der Bank, erhob sich, griff nach dem Stock und ging mühsam zu dem
kratzenden Sekretär hinüber, tuschelte ihm etwas Kurzes ins Ohr, worauf jener sofort die Feder ins Faß zurücksteckte und nach hinten entschwand, wo eine Tür schnell auf- und zuklappte, ohne daß ich ihn genauer in Augenschein hätte nehmen können. Mir war nur bewußt:
Der letzte Zeuge war soeben verschwunden. - Wo war er geblieben, dachte ich, der launige
Gastgeber, der eloquent von Kultur und Geschichte schwätzte und vom Halscollier einer
schönen Frau?! Sir Enid nickte, kam schleppend zu seinem Platze zurück, ließ sich schwer
niedersinken, stellte den Stock ab, faßte seinen Freund ins Auge.
Er zeigte mit seiner mageren Klaue auf mich und erläuterte, an den Maler gewendet und als
ob er es einem halben Idioten erklären müsse: „Er ist nicht frech, Condonniere. Er ist nur
leichtfertig … jung ... sehr ängstlich ... sehr dumm und selbstverliebt. – Doch bleiben wir ein
bißchen ernsthaft, Mr. van Holland: Ich könnte Sie in die Tenne sperren lassen“, fuhr er,
nunmehr an mich gerichtet, fort, „bis der letzte der Gäste gegangen ist heute nacht, und dann
könnte ich Sie herausholen und festbinden und Ihnen den einen oder anderen Knochen brechen lassen. Einen Finger? Einen Zeh? Einen Arm? Was meinen Sie dazu? Gefällt Ihnen der
Gedanke? Ja? Glauben Sie mir etwa nicht, daß ich über genügend Leute verfüge, die das jederzeit für mich tun? - Wie wäre es, wenn ich mich ein wenig mit Ihren Zähnen befaßte?“ Er
nahm einen weiteren, hungrigen Zug von seiner Zigarre und beobachtete mich wie ein Insekt,
wie einen Falter, der aufgespießt am Brettchen zappelt, bevor er ermattet.
„Glühende Kohlen, Sir“, warf ich in zurückhaltendem Tone ein, „werden zweifellos dazu
führen, daß Sie von mir zu hören bekommen, was immer Sie wollen – allerdings werden Sie
keine Gewähr dafür haben, daß es auch die Wahrheit ist, die Sie hören. Das ist die Crux, Sir,
Sie sollten das wissen, mit der körperlichen Tortur, Sir. Die Wahrheit bleibt unter Umständen
auf der Strecke.“
„Unterlassen Sie Ihre vorlauten Invektiven, junger Mann“, sagte er barsch. „Tortur hat nichts
zu tun mit der Wahrheit, das weiß ich doch wohl selbst. - Aber vielleicht macht es mir von
einem bestimmten Punkte ab ja einfach nur Freude, Sie zu zermalmen. - Vielleicht ist mir die
Wahrheit am Ende gleich, was dann? - Es ist nur eine Frage von oben und unten, wissen Sie,
von Macht und Unterworfensein. Einzig das zählt, junger Freund, sonst nichts.“
Er zog mit einer unvermuteten, sonderbar fahrigen Bewegung aus einer winzigen Tasche in
der Nähe seines Revers einen kleinen Gegenstand – ich sah verblüfft, daß es eine goldene
Nadel war, von etwa halber Fingerlänge - und stach sich damit neben seinem linken Auge in
die Haut seiner Augenhöhle. Er drehte die Nadel wie einen winzigen Mörser im Kreise und
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trommelte zugleich leicht mit nervösen Fingern darauf, so daß sie, in seiner Haut steckend,
vibierte wie ein Magnet. Soweit ich sah, trat kein Blut hervor, doch war es gleichwohl ein
gräßlicher Anblick. Er warf den Kopf zurück und bleckte die Zähne. Condonniere, nach einem kurzen, uninteressierten Blick auf ihn, nahm wieder mich in die volle Aufmerksamkeit,
woraus ich schloß, daß er das sonderbare Schauspiel kannte. Luciter verharrte mit dem eingestochenen Dorn, schließlich zog er die Nadel heraus, er zitterte etwas dabei, und verstaute sie
mit geübter Bewegung wieder ruhig bei seinem Revers.
Er starrte auf die glimmende Zigarre in seiner Hand, dann sah er mich an, als sei nichts geschehen.
„Ich könnte Sie auf meinen Ländereien drei Fuß tief lebendig eingraben und ein paar Tage
lang durch einen Schilfhalm atmen lassen“, meinte er, beiläufig, als berichte er vom Kauf
einer Kartoffel. Der Stich mit der Nadel, so schien es mir, hatte das letzte bißchen Vernünftigkeit aus seinem Hirn vertrieben, obwohl er äußerlich ganz ruhig und unverändert blieb. Es
erfüllte mich dieser Mann mit plötzlicher Furcht. Er bewegte vage sein Haupt.
„... oder in der Themse unter Wasser drücken lassen, bis Sie mausetot sind, Sie einfältiger, Sie
plumper, junger Mensch“, murmelte er müde. „Ich habe unten in Penzance eine Maschine, der
könnte ich Sie anvertrauen - kein Hahn würde nach Ihnen krähen. --- Wer sind Sie denn, Mr.
... Mr. ... van Gelderen ... Ich könnte Sie ins Feuer werfen und rösten lassen wie einen Sack
Kaffee.“
Er beugte sich vor, tötete auch diese Zigarre mit der charakteristischen Bewegung in der Drachenschale, erhob sich und hinkte nach hinten ins Finstere, um dort an einer Art Kredenz zu
hantieren. Ich konnte nicht genau erkennen, was er tat – es sah aus, als träufele er sich etwas
aus einer winzigen Ampulle ins Ohr. Es klirrte, als er das Gefäß auf dem Messing niedersetzte. Er hielt sich mit beiden Händen an der Anrichte, sog, als ob er Schmerzen hätte, die
Luft kurz durch die zusammengepreßten Zähne ... und dann trat er – und sein Schritt schien
auffällig neu belebt, seitlich zu einem Marienbildnis an der Wand.
„Nun gut“, meinte er aus seinem Winkel. „Beginnen wir nochmals: - Welche ist es?“
„Welche … was?“ fragte ich zurück, während mir heftig das Herz im Halse schlug.
„Nun, welche … was schon!“ Zum ersten Mal hörte ich etwas wie zornige Ungeduld in seiner
Stimme, aber er hatte sich sehr schnell wieder in der Gewalt. „Sagen Sie mir endlich, Mr.
Holland, welche von diesen Damen es ist, die Ihr junges, blutendes, unerfahrenes Herz in
Aufruhr gebracht?“
Es war der reine Hohn. Er verharrte, während er sprach, dort hinten nahe dem Marienbildnis
im Dunkel, ich konnte ihn kaum erkennen. „Reden Sie: Welcher Schenkel hat Ihre ritterlichen
Instinkte geweckt, verstehen wir uns? Welche unschuldige Lende rief den barmherzigen Samariter in Ihnen auf den Plan? - Sie haben sich nach den ‚Modellen’ erkundigt, mein Freund.
Also, auf welchen glatten Fisch sind Sie aus? - heraus damit!“
Condonniere lachte kurz, gleichermaßen amüsiert und verächtlich. Für einen Augenblick
konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß er an die sieben Frauen dachte und die
Zeit, die er mit ihnen verbracht. Und ich fragte mich verzweifelt, ob etwas Wahres an dem
sei, was Luciter Bösartiges und Anstößiges unterstellte.
„Ich weiß es nicht, Sir“, sagte ich im Tone der Aufrichtigkeit in die Stille.
Luciter war einen Augenblick irritiert, doch noch eine Antwort von mir zu erhalten – mit der
er zudem nichts anfangen konnte. „Was wissen Sie nicht?“ fragte er ungehalten.
In mir brannten Angst und Reizbarkeit. Ich fühlte, daß ich hier ein gewagtes Spiel tat. Aber
meine Io auch nur in Gedanken der Kenntnis dieses Wolfes auszuliefern, war für mich un31
denkbar wie der Tod. Und hätte ich stattdessen blindlings eine der anderen vorgeschoben,
hätte er mich nur fragen müssen, warum diese, und er hätte mich ratlos gesehen.
„Ich weiß es nicht“, wiederholte ich deshalb unwirsch. „Sie haben mich nach meiner Ritterlichkeit und dem Samariter in mir befragt, Sir. Vielleicht müssen Sie jetzt Ihre Diener holen
und Ihre Drohungen wahrmachen, die Wahrheit aus mir herausprügeln, denn die Wahrheit ist,
ich weiß auf derlei Fragen keine Antwort! Welche mich verführt habe, wollen Sie offenbar
von mir wissen, welche denn nun?! – denn Ihnen ist zugetragen worden, ich habe nach den
Damen gefragt! - Nun, Sir, wenn Sie es wissen wollen: alle, die mit dem Horn, die mit dem
Blitz, die reglos Hingeschlachtete zur Rechten, sogar die Schwangere, die aus dem Wasser
steigt. Ich gestehe, ich war verwirrt, ich bin es noch, aber lassen Sie sich sagen, ich war - jeder
auf seine Art - dort draußen beileibe nicht der einzige, der verwirrt war, und ich bin sicher,
das lag durchaus“, ich bedachte sie beide mit abrupten Gesten, „in der Absicht des Künstlers
wie des Auftraggebers. Bitte berichtigen Sie mich, falls ich mich täusche. - Sie haben recht,
Sir, ich gehöre nicht hierher, ich habe mich verboten eingeschlichen, es war eine Anmutung,
eine Wette und ein dummer Streich. Was wollen Sie jetzt von mir hören?! - Ich gebe zu, ich
habe ein Bild wie dieses nie zuvor gesehen und habe mich neugierig benommen. Ich habe –
nein … es nicht einmal gedacht: ich habe es erwogen … man könnte vielleicht ein Rendezvous mit der einen oder anderen haben – soll ich mich jetzt deshalb vor Ihren Augen eigenhändig entleiben? - Ich habe vermutlich mehrere unverzeihliche Fehler gegen die Etikette
begangen, Sir, heute nachmittag und abend, die mir herzlich leidtun. Aber was wollen Sie
noch außer meiner lauteren Entschuldigung? - einen Kniefall?!“
„Was haben Sie erwartet?“ flüsterte er kalt. „Daß man Sie in einen Seitentrakt führen würde,
wo hinter ionischen Säulen die Vestalinnen bereitwillig Ihrer harren – zu Ihrer untertänigen
Disposition? - Für so etwas wie private Dionysien? - Ja, glauben Sie denn, die Mädchen sind
noch hier?“ Er lachte abfällig. „Oder haben Sie gedacht, man stecke Ihnen auf Ihre kindlich
gestellte Frage sogleich einen kleinen Zettel zu, wo sie zu finden seien? Nächsten Donnerstag
um halb vier? - Sie scheinen mir, verzeihen Sie, Mr. Holland, von einer geradezu verzweifelten Naivität. – Vergeben Sie mir, wenn ich hier einen Moment lang deutlicher werden muß. Glauben Sie wirklich, diese Mädchen wären … für Sie da – ich meine: jemals, - für jemanden
wie Sie? - Die, nach denen Sie da lockere Finger ausstrecken, - sie sind für Sie, Holland, terra
prohibita … tabu … - Lassen Sie sich sagen, daß es bestimmte Türen gibt, die Ihresgleichen
verschlossen bleiben - jetzt und in Zukunft – und ich denke, wir sollten das nicht bedauern
oder darüber diskutieren ... -- Menschen sind nicht gleich, Mr. Holland – nicht gleich von
Herkunft, - nicht von gleicher Bildung … und im Resultat … nicht einmal gleich wertvoll, so
ist das nun einmal. - Daher gibt es naturgemäß Freuden und Vergünstigungen, die nicht jedem
offen stehen, ganz einfach. Der Zutritt zu gewissen Salons ist manchem … aufgrund seines
Stallgeruchs verwehrt. - Sie mögen Ihren Hirtenhund vielleicht über alles schätzen, Mr. Holland, aber Sie werden ihn trotzdem nicht mit an der Tafel speisen lassen, nicht wahr?“
„Ich bin kein Hirtenhund, Sir“, brachte ich hervor.
„Nein, das sind Sie in der Tat nicht“, entgegnete er, „ich schätze Sie ja auch nicht über alles
...“
Condonniere kicherte.
Luciter trat zu einem Klingelzug in der Ecke und riß zweimal daran. Ich hörte indessen nichts,
ich vernahm keinerlei Reaktion im Haus
Für einen Augenblick fand ich mich hin und her geworfen zwischen den unterschiedlichsten
Gedanken, Gefühlen und Sinneseindrücken – etwa: sollte ich in einem gewagten Ausbruch
meine Freiheit zu gewinnen trachten? - denn war auch die Tür hinter mir abgeschlossen - ich
entsann mich des unzweideutigen Geräusches, das ich gehört, als der Diener abgegangen - so
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war dies doch bei der Türe, durch die zuletzt der Sekretär enteilt, nicht der Fall gewesen, und
womöglich konnte ich dort entlang im Sturm das Haus verlassen oder zumindest bis in die
Gemeinschaft der versammelten Abendgesellschaft vordringen, die ein weiteres Vorgehen Sir
Luciters gegen mich unmöglich gemacht haben würde. –
Ich dachte, wie ich in diese Entwicklung hineingeraten - mein Auftrag, mein Auftritt - denkwürdig in der Tat der ganze Abend, der mich einer erwartungsfrohen Gesellschaft, unvermutet meinem alten Freunde, ferner einem unheimlichem Gast mit Verstümmelung der Oberlippe sowie einem gänzlich unerlaubten Bildnis zugeführt. - Für einen Augenblick, während
mich dies beschäftigte, dachte ich an ein apartes Gesicht und einen weißen Leib namens Io,
die es in Wirklichkeit irgendwo oder auch nicht geben mochte – und der unsägliche, schmuddelige Menschkloß, der das Wunder vollbracht, solches auf die Leinwand zu bannen, kauerte
kindisch seitab auf der Ottomane, wälzte sich herum und ließ seinen Zeusschädel zwischen
mir und dem Gastgeber, der im Hintergrund verharrte, hin- und herfahren.
„Sie sind mir denkbar gleichgültig, junger Mann“, hörte ich Sir Enids Teufelsstimme kultiviert aus dem Dunkel. Seine Stimme klang, als habe er gerade keine sonders gute Nachricht
erhalten. Er schniefte laut und vulgär durch die Nase, wie ich es in Gesellschaft niemals vernommen.
„Sie sind mir ... wie eine Kakerlake unter einem Kellerstein“, sprach der Gastgeber aus seinem dunklen Winkel, und mir war dies alles wie ein Traum. „Deshalb lasse ich Sie ... noch
ein wenig zappeln, junger Mann. An langer Leine - warum auch nicht? Sie werden es nicht als
Zeichen meiner Wertschätzung, nur meiner Gleichgiltigkeit interpretieren. Wie die Warnung,
die Sie geflissentlich hören:“ – er schlug mit seinem Stock hart gegen die Anrichte, neben der
er stand. „Besudeln Sie nie wieder eines dieser Mädchen mit Ihrer hochfliegenden, minderwertigen Neugierde! Verdrängen Sie künftig jede Erinnerung an die sieben wilden ‚Geliebten
des Zeus’! Lassen Sie jeden Gedanken an eine Frau fallen, die nichts für Sie ist! Und …“, er
schlug erneut mit dem Stock, „fliehen Sie dieses Haus! Stolpern Sie nicht! Bleiben Sie um des
Himmels Willen nicht stehen! Laufen Sie, so weit Ihr Atem Sie trägt! --- Und meiden Sie
künftig meine Augen, beim Gottseibeiuns, mein Freund! Kreuzen Sie nie wieder meine
Pfade! Es möchte am Ende unerfreulich für Sie ausgehen.“
Er legte den Kopf in den Nacken und sprach gegen die Wand wie einen Schwur, wie einen
verhängnisvollen heidnischen Fluch: „Selbst, sollten Sie einstmals ein armes Menschenkind
für sich entdecken, das Sie ehelichen wollen, und sollten dieser Verbindung irgendwelche
kretinen Abkömmlinge entsprießen, so werden auch die, Ihre Bule und Ihre Bastarde, verstehen Sie mich wohl! … mein ursächliches Interesse finden, sollten Sie mich oder meine Kreise
noch ein einziges Mal molestieren! Ich bin schon bereit, mein Freund. Sie werden keine Ruhe
mehr haben. ... Und lassen Sie sich dies hier ernsthaft empfohlen sein, wissen Sie: Es wird nie
enden.“ Er drehte sich plötzlich herum zu mir, in meine Richtung, und trat einen Schritt herzu,
was ihn in den Kreis einer Lampe bewegte, die sein Gesicht und seinen erhobenen Zeigefinger unwirklich aus dem Dunkel riß. Es war ein grauenvolles Antlitz.
„Sie zappeln, weil ich es noch zulasse“, flüsterte er. „... aber ich finde Sie aus … wann immer
ich es will ... – Vergessen Sie das nie: - jederzeit auf Kredit! … kleine Motte im Licht …
kleine kluge Kakerlake … ein Spaß der Natur … Mr. van Gelderen …“ Ich hörte, wie hinter
mir die Tür aufgeschlossen und geöffnet wurde, ich spürte den Luftzug in meinem Nacken,
der Klingelzug hatte Früchte getragen. Ich wußte, ohne mich zu ihm umzudrehen, daß es derselbe Diener sein würde, der mich hergeführt.
„Gehen Sie“, sprach der Gastgeber. „Sie werden hinausgeleitet.“ Er reckte den Arm geradeaus
und zeigte mit dem Finger auf mich. „Der Name war ... Holland. - Mr. ... van Gelderen, Holland, nicht wahr?“
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Diesmal klang es nicht wie ein Schwur, eher wie eine Lästerung, gepaart mit Geringschätzung.
Ich drehte mich wortlos um, trat hinaus und fand mich in dem Gang, den wir gekommen. Der
Diener war der gleiche, der mich hergeführt. Er sprach nicht, ich schwieg, er führte mich einen anderen Weg. Ich spürte im Gehen, wie meine Knie bebten. Der Zorn, der Ekel, der
Schrecken - jetzt erreichten sie mich, und ich mußte mich an der Wand stützen. Auch der Lakai verhielt den Schritt, allerdings blieb sein Blick ohne Mitleid, und er sprach kein Wort. Er
betrachtete mich wie eine Fliege an der Wand, interesselos und nur unwesentlich gestört in
dem, was ihn augenblicks beschäftigte.
Nach einem Moment konnten wir weitergehen, und gleich darauf öffnete er eine weitere Tür,
die uns unter den Nachthimmel führte. Die Luft war kälter, als ich sie in Erinnerung gehabt –
gleichwohl verspürte ich es in ihr wie eine unendliche Erleichterung von dem Schmutz, dessen ich Zeuge geworden.
„Dort entlang“, sagte der Mann, blieb stehen und wies mit dem Arm. Wort und Geste indes
waren überflüssig, denn ich sah, wo ich mich befand: auf der Vorderseite des Anwesens, wenige Schritte vom Hauptportal, durch das vor Stunden ich das Gebäude betreten.
Jetzt stand der Mond groß und klar am Himmel - des gestrigen Tages war Vollmond gewesen,
und sein bleiches, milchiges Licht tauchte alles in eine Aura von übertriebener Schärfe, wie in
der laterna magica - allerdings würde er binnen kurzem von jener voluminösen Wolkenwand
bedeckt sein, deren hart umrissene Ränder er wild beleuchtete, die, von Westen her herandrängend, sich bereits fast über das halbe Firmament hochgeschoben hatte. Wie zur Bestätigung traf mich ein ungestümer Windstoß, als ob das nahende Ungewitter mir sagen wollte:
Hüte dich, ich bin gleich da.
Beidseits der kreisförmigen Auffahrt hinab bis zum Gitterportal vorn an der Landstraße
steckten Dutzende von Fackeln in der Erde respektive in im Erdreich angebrachten kupfernen
Halterungen, und warfen, jetzt im aufkommenden Winde bewegt, ein malerisches und poetisches Licht auf die Umgebung. Ich erkannte verschiedene Bedienstete, die tatenlos oder im
leisen Gespräch miteinander die Zeit verbrachten, bis die Gäste herauskommen und nach ihren Kutschen verlangen würden. Einige der Männer wendeten die Köpfe, als sie die Türe
hörten, durch die ich entlassen ward. Der Diener hinter mir hatte sie eben wieder zugeschlagen und war wortlos entschwunden – und ich stand allein.
2. Kapitel
Nachts auf der Heide
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Ich trat bebend auf die Zufahrt und schritt sie hinab. Ich hörte den weißen Kies unter meinen
Schuhen knirschen. Wo ich vorbeikam, verstummte das Gespräch der Livrierten. Nein, dachte
ich, keine Kutsche für mich, ihr Leute. Dabei taten sie nur ihre Arbeit – wie ich. Es war ein
Spießrutenlauf unter ihren wachsamen, gelegentlich spöttischen Augen. Linkerhand öffnete
sich eine Allee und ich sah dort in den senkrechten Schatten, die das graue Mondlicht warf,
eine lange Reihe von Kaleschen warten, von denen einige erleuchtet waren, andere nicht. Einige kleine Feuer brannten an der Erde, fast hatte es die Atmosphäre eines Zigeunerlagers.
Die Kutscher standen in Gruppen beisammen versammelt. Vereinzelte Pferde traten im Stehen den Boden und schnaubten, andere hatten Futtersäcke umgehängt.
Ich näherte mich dem haushohen Gitterportal an der Straße, das weithin offenstand. Hier gab
es nur einen einzelnen, müßigen Diener, der an dem Mauerwerke des rechten Pfeilers lehnte.
Er löste sich etwas von den Steinen und richtete sich in aufrechtere Standposition, als er mich
kommen sah, dann, als er gewahrte, daß ich zu Fuß sei, empfand er es wohl, daß ich nicht der
Mann sei, für den übertriebene Aufmerksamkeit sich verlohne. Ich blieb in seiner unmittelbaren Nähe stehen und warf einen Blick in den Garten zurück – dort hatte die Dienerschaft ihr
Interesse an mir verloren und war zu Getuschel und Abwarten, wer wohl aus dem Hause herausträte, zurückgekehrt. Mein Herz schlug.
Es schlug nicht nur, weil ich mich in einer Minute würde hinauswagen müssen in die bleiche
Einsamkeit der Nacht, eines sehr langen Fußweges gewärtig, zurück zur Stadt. Um ungefragten Aufenthalt, Beraubung oder gar Ermordung brauchte ich mich um diese späte Zeit nicht
zu sorgen – die Landschaft war menschenverlassen und die Stadt würde still sein, bis ich dort
ankam. Niemand, der Verstand besaß, erwartete um diese Zeit einen Passanten, der gar irgend
Verlohnendes bei sich trüge - niemand würde zu dieser Stunde seine Zeit damit vertun, mir
auf diesem Wege aufzulauern, auch der dümmste Missetäter nicht.
Ich kehrte mich zu dem Diener, fingerte dabei in meiner Westentasche und ließ ein kleines
Silberstück herausfallen, so daß er dies gut sehen konnte. Es kollerte mit deutlichem Aufschlag in den Kies zu meinen Füßen. Ich bückte mich nicht danach, sondern betrachtete den
Livrierten gegenüber. Es war ein ebenmäßig gewachsener Bursche von etwa zwanzig Jahren
oder kurz darüber und von gewiß sechs Fuß Körpermaß, der über ein, wie mir schien, angenehmes Gesicht verfügte. Ich kehrte den Kopf von ihm fort.
„Gesetzt der Fall, ich wollte diesem Hause einmal einen Besuch abstatten“, sprach ich halblaut in die Richtung der Ausfahrt, „ohne daß der Besitzer es wahrnimmt“, denn ich wollte ihn
vor seinen Compagnons nicht in Verlegenheit setzen, „wohin, glauben Sie wohl, junger
Freund, müßte ich mich in dem Falle wenden?“
Ja, in der Tat: Zum zweiten Male an diesem Abend versuchte ich, dem Alderman, Mäzen und
Zinnminenbesitzer Sir Enid Luciter einen seiner Mannen abzukaufen – und sei es auch nur in
einer einzigen, lächerlichen Hinsicht und auf nur geringe Zeit.
„Hierher zu kommen?“ meinte er verblüfft, „ ... ich hielte dies für nicht unbedenklich, Sir.“
Der junge Mann sprach gedämpft und zog sich halbwegs in den Schatten der Pforte zurück –
allerdings, hatte ich den Eindruck, tat er dies nicht meinetwegen, sondern nur in dem Versuche, von seinen Kumpanen nicht im unmittelbaren Gespräch mit mir beobachtet zu werden.
„Unterlassen Sie dies besser, Sir. Nein, Sir. Denn es haben sich schon einige Unfälle ereignet.“
„Bei Gott, ich weiß dies“, murmelte ich, „aber es interessiert mich dennoch aus verschiedenerlei Gründen ungemein. Was ist also, mein Freund? Meinen Sie, daß Sie mir Ihren Namen
vertrauen können - und eventuell dazu auch noch eine Adresse, unter der sich ein ungestörteres Gespräch führen ließe als gerade dieses hier und eben jetzt?“
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Ich spürte es, wie er zögerte – nein, ich sah es nicht, aber ich fühlte geradezu körperlich sein
Ringen mit sich und ahnte seinen begehrlichen Blick, der einzig dem gefallenen Silberbrokken in dem Kiese der Auffahrt galt, und die Anziehungskraft des Metallstücks war es dann
wohl auch, die schließlich im Hadern des jungen Mannes die Überhand gewann. „Franklin
Stifel“, stieß er halblaut hervor, „dies ist mein Name, Sir, - Sie können sich an die Witwe
Coleman wenden in der Frith Street Nummer 15 in Soho – unten im Haus gibt es einen Buchbinder. Diese Dame ist meine Tante, Sir, Gott sei ihr gnädig, und sie wird Ihnen sagen können, wann etwa Sie mich dort antreffen, denn sie gibt mir gelegentlich unter der Woche
Quartier, manchmal am Monatsende, das heißt, falls ich frei bin.“
„Ich danke Ihnen“, flüsterte ich.
Ich neigte nicht meinen Kopf, gab durch keine Bewegung meines Körpers zu verstehen, daß
hier ein Gespräch stattgefunden hatte, eine Übereinkunft getroffen worden war, sondern trat
nun, nachdem sich mein scheinbar wohl besorgt einen Moment über den Wolkenhimmel
schweifender Blick gefangen hatte, langsam aus dem Gitterportal zwischen den beiden
Schmuckpfeilern hervor auf die nächtliche Baumallee hinaus und wandte mich stracks rechts
entlang Richtung London – dabei für einen unvoreingenommenen Betrachter gewiß eine recht
sonderbare Erscheinung abgebend, dachte ich bei mir – obwohl die Dienerschaft mich längst
nicht mehr im Auge hatte - ohne Stock, denn diesen hatte mir ein aufmerksamer Lakai vorhin
beim Eintritt abgenommen, und ich würde ihn zweifellos im Leben nicht wiedersehen: sechs
Schilling beim Teufel!
Hinter mir, überlegte ich, mochte sich der junge Franklin Stifel noch eine kleine Minute gedulden, bevor er sich mehr oder minder unauffällig nach dem Silberstück im Kiese bückte ein weiterer halber Guinea durchaus zweifelhaft investiert. Gleichwohl war mir froher und
erleichterter um die Brust als noch die ganzen Stunden zuvor, die ich im Kreise dieser gefährlichen Gesellschaft zugebracht, und – offen gesprochen – es erfüllte mich in dem Momente
auch ein Prickeln verstohlener, triumphierender Genugtuung, daß ich trotz des dringenden
Gebotes Sir Luciters seiner Worte nicht geachtet und ihm keck die Loyalität eines seiner Bediensteten abgeschwatzt - und so schritt ich denn, im flirrenden Mondschatten der Ulmen, die
beidseits die Straße begleiteten, fürs erste munter aus.
Jenseits der Alleebäume dehnten sich, als erst die Ausläufer des Anwesens, das ich verlassen,
endgültig hinter mir lagen, zunächst noch mit Kartoffel und Kohl bebaute Flächen, es gab
dazu seitab auch ein oder zwei Baum- und Buschgruppen mit flachen Bauernkaten inmitten,
welchletztere stille im Dunkel lagen, dann rissen all diese Merkmale der Zivilisation wie auch
die Doppelreihe der Alleebäume mit einem Male ab – ich wußte dies nebenbei vom Herweg,
den ich in einer Mietdroschke zurückgelegt, so daß es mich nicht wirklich überraschte - und
machten – auch der Weg wurde hier sandiger und schlechter - einer weitläufigen und sanfthügeligen Heide Platz, über die das Mondlicht floß wie graue Milch und auf der ich nun wanderte wie auf einem großen, offenen Teller, den Blick lediglich rechterhand begrenzt, indem
dort am Horizont eine Reihe hoher Pappeln den Flußlauf der Themse säumte.
Ich war allein mit mir in der Stille und lief Schritt für Schritt für mich hin, und es geschieht
dies gelegentlich, wie man wohl weiß, gänzlich ohne Kenntnis und Bewußtsein dessen, der da
läuft: Ich sah die Heide um mich her im fahlen Mondlicht liegen und geisterhaft vorbeigleiten,
ohne es wirklich zu fühlen – es war so, daß man auch entferntere Gegenstände – einen vom
Blitz gespaltenen, schwarzen, kahlen Baum, ein Geflecht von Weiden - gut erkannte, und das
Geräusch, das meine Ohren unbewußt erfaßten, war wohl ebenso sehr das Geräusch des strömenden Blutes in meinem Kopfe selbst wie der tatsächliche Laut meiner stapfenden Füße im
Heidesand; meine Beine taten wacker ihre Arbeit, doch meine Gedanken waren unterdessen
mit gänzlich anderen Dingen befaßt.
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Ich konnte nicht umhin, doch verwandelten sich mir die arglos erdigen Abbrüche am Wegrain, die im Mondlichte glänzten, in die schroffen Felsstürze an der Küste von Delos. In dem
säumigen Säuseln sanfter Böen, die über die nachthelle Heide strichen, vermeinte ich ferne
Wassernebel zu spüren, die von der Brandung aufstiegen. Und erhob sich nicht eben aus dem
wuchernden Heidekraut dort zwischen jenen Baumstümpfen seitab, herüben bei dem halbhohen, abgebrochenen Mäuerchen einer ehemaligen Kate oder was es war, eine schlanke Frauengestalt? War es nicht ein wehendes Gewand, das ich dort im Nachtwind erblickte? Im Weiterschreiten verwandelte sich mir das Wesen, das ich sah, ihr Gewand zerfloß mit eins in der
Luft und glitt von ihrem Leib wie Wasser, als die Frau wandelte, nun schritt sie nackt und
bloß, dennoch zu weit entfernt, um das Gesicht auszumachen – gleichviel, ich wußte, wer sie
war. Und es stockte mir der Atem und ich blieb stehen, doch im nächsten Moment schon war
die Frau, die ich vermeinte gesehen zu haben, vor meinem Auge verschwunden, und eine geisterhafte, fahle Kuh, eine Färse, stäubte lautlos wie Rauch über die Heide, ohne den Boden zu
berühren - und weit in die Ferne hinein und davon ... davon ... Ich stand allein und erschauerte.
Und noch hatte ich mich nicht wieder gefaßt, als mich neues Grauen ergriff, denn jetzt wurde
es dunkel um mich her - und dies war nicht etwa ein weiterer Streich, den mein überreizter
Kopf mir spielte, sondern die rauhe Wirklichkeit dieser Nacht. Es war die einfache Folge dessen, daß die Wolkenwand am Himmel, zuvor schon beständig höher gerückt, den hochstehenden, fast vollen Mond erreichte und ihn jetzt verschlang wie der Wolf in dem persischen Märchen. Es machte dies Naturereignis auf mich einen äußerst schauerlichen Eindruck. Es war
mir hier unten auf der Erde, wo ich einsam über die weite, offene Heide taumelte, wie eine
Riesenfledermaus, wie ein gewaltiger Schatten, wie eine Wand der tiefsten Schwärze, die von
hinten her auf mich zugerollt kam und mich nun lautlos überholte, die Dunkelheit hinter mir
war undurchdringlich, und auch vor mir schwand alles Licht, ich sah es davoneilen wie in
Flucht.
Bereits im nächsten Moment lag ein Streif der glasigen Mondeshelle nur noch auf den sanften
Hängen der Hügel, durch die die Straße sich des weiteren schlängelte, fern vor mir zu erkennen, und dann war auch dies vorbei, und der Mondschein hatte sich gänzlich hinter den Horizont zurückgezogen. Dermaßen schnell war dieser Wechsel eingetreten, daß das Auge sich an
die neuen Verhältnisse erst gewöhnen mußte. Die Heide war nun von einer dumpfigten Finsternis, in der Boden und Luft, Scholle und Stein schwerlich voneinander zu unterscheiden
waren, kaum daß ich die etwas hellere Fährte des Weges vor mir ausmachen konnte, und ich
setzte, als ich weiterging, meine Schritte gebührend sorgsamer als zuvor. Mit den Wolken war
augenblicks ein stoßweiser, ungemütlicher Wind aufgekommen, der den Sand hochstäubte
und der mich deutlich kühler deuchte als noch der des Sommertags im September, den wir
heute glücklich gehabt.
Nach meiner Schätzung mochte es inzwischen längst nach zehn Uhr abends sein. Ich befand
mich noch vier oder fünf Meilen von der äußeren Stadtgrenze, und ich gedachte diese Strecke
binnen zweier weiterer Stunden zurückzulegen, so daß ich – nach der Sperrstunde - gegen
Mitternacht oder längstens kurz danach - und bis dahin sicher rechtschaffen müde - mein
Quartier erreicht haben würde, und ich gab mich im halb besinnungslosen Ausschreiten wieder undeutlichen Gedanken an die geheimnisvolle Gestalt meiner Io hin, ihrer kühlen, bloßen,
von Wasserperlen bestäubten Schulter im Mondlicht, dem sanften Teich ihres einen, noch
unverwandelten Auges, als ein erneuter Schrecken mich unvermutet packte, indem meine
Aufmerksamkeit von einem plötzlichen Geräusche hinter mir angezogen ward:
Ich hörte etwas wie einen entfernten Knall.
Ich fuhr auf dem Absatze herum, hörte nichts mehr, sah allerdings bereits im ersten Momente
in noch einiger Entfernung ein Lichterpaar über der Heide geistern wie zwei Elmsfeuer – und
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war ich Sekunden zuvor noch in blanke Panik gesetzt gewesen ob des Knalls, den ich vernommen – ich hatte an einen Schuß gedacht – so setzte mich dies näherstürmende Doppellicht, auch als ich es in der nächsten langen Sekunde endlich erkannt, gleichwohl in Furcht,
denn ich wußte nicht, wie ihm auszuweichen - hier auf der blanken, offenen Heide. Ich hörte
ein dumpfes, gewalttätiges Rumoren wie unter dem Erdboden, die ganze Heide schien zu vibrieren, und jetzt das Getrappel von Pferdehufen und das wilde Mahlen der Räder im rauhen
Sand, und ich vernahm erneut das, was ich auch zuvor vernommen: das Knallen einer weitgeschwungenen Peitsche: Es war eine große, vierspännige, schwarze Kutsche, die, wie mir
schien, - angesichts der Lichtverhältnisse gefährlich schnell - dort heranpreschte, – und mir
war eindeutig klar, daß ich sie zu fürchten hatte.
Denn wer – ich ließ besorgte Ehemänner in üppigen, themseaufwärts gelegenen Landsitzen
für den Augenblick außer acht, die in Sorge um die Gesundheit der Gemahlin nächtens nach
dem Arzt oder im besseren Fall nach der Hebamme schickten – wer also würde in der Finsternis dieser Nacht seinen Kutscher zu solch lebensgefährlicher Fahrweise veranlassen, wenn
nicht ein mittlerweile bestens von seinen Dienern in Kenntnis gesetzter und deshalb überaus
zorniger gewisser Gastgeber, der es nicht hingehen lassen wollte, daß man sich dermaßen
unmittelbar seinen eindeutigsten Anordnungen widersetzte, und der deshalb, sicher nicht
höchstselbst, jedoch in Gestalt einiger williger Kreaturen, ein flinkes Kommando ausgesandt
hatte, um den frechen Delinquenten flugs aufzulesen und seiner gerechtfertigten und unnachsichtigen Bestrafung zuzuführen.
Immerhin, im nachhinein zugegeben, ich hätte mich blitzschnell seitwärts und dort flach an
die Erde werfen können, um so wahrscheinlich jedem Vorbeieilenden unsichtbar zu sein, aber
bis ich in meinem ganzen Schrecken den tatsächlichen Entschluß gefaßt, war das donnernde
Monstrum bereits heran, das unterirdische Vibrieren zu einem Poltern geworden, ich hörte ein
rüdes „Ho“, die Pferde wieherten und schnaubten, undeutlich nahm ich den Mann auf dem
Bock und im Vorbeistürmen die gewaltige, dunkle, kastenförmige Masse des Wagens wahr,
auch im Inneren schien ein Licht zu brennen, fast schien es mir, als lehne ein Gesicht seitlich
heraus - und in einer Wolke aufstiebenden Staubes, der meine Nase und Augen reizte, war das
Gefährt auf einen knappen, halben Schritt Entfernung – fast hätte es mich getroffen - an mir
vorüber, dann verlangsamte es kühn seine rasende Fahrt und kam auf den nächsten Yards
mahlend und durchaus überstürzt zum Stillstand. Ich sah, in der plötzlichen atemlosen Stille,
wie sich der Kutscher seitwärts beugte und zu mir zurückstarrte.
Dies, Schrecken über Schrecken, gab mich der letzten Gewißheit preis, daß man einzig meinetwegen unterwegs sei, und schon in der nächsten Sekunde fand es sich bestätigt, denn es
öffnete sich dunkel die seitliche Tür an der Kutsche, ich sah, wie der Automatismus die zwei
Stufen einer Stiege herunterklappte und auf dem Trittbrett beziehungsweise dieser Stiege ein
Mann mit, wie ich an den Umrissen ausmachte, einem Zylinder auf dem Kopfe erschien –
also offenbar ein Teilnehmer jenes Festes, von dem ich gerade kam. Ich konnte diesen Menschen dort auf den Stufen unmöglich erkennen, das Licht, das aus der Türe auf sein Gesicht
fiel, reichte bei weitem nicht, jedenfalls mir nicht in meiner Furcht – aber dann sprach er, er
sprach herüber zu mir, und ich dachte, ich hätte niemals eine mir liebere Stimme vernommen:
„Bist du’s, Domenic, oder bist du’s nicht – bei Gott, bist du’s“, fragte er, „oder nur ein Geist,
den wir hier auf der nächtlichen Heide beinahe niedergefahren hätten?“
„Seb!“ rief ich, unendlich erleichtert, aus. „Wie kannst du nur!“
„Was?“ fragte er keck zurück, „wie kann ich was? Dich niederfahren? Dich vermissen? Dir
nachstürzen? Dich suchen? Dir eine Mitfahrgelegenheit nach London anbieten? Oder möchtest du lieber“, er stieg bei diesen Worten gemächlich die Stiege herab und kam durch den
Staub auf mich zu, „möchtest du lieber allein mit dir bleiben und die nächtliche Schönheit von
Acton Heath in dich einsaugen? Obwohl: ’Nächtliche Heide’ – das frommt vielleicht dem
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großen Ossian, mein allerbester Freund, oder Thomas McClellan, wenn wir bei den Zeitgenossen bleiben wollen, aber nicht dir. Du solltest überdies darauf achten, am Ende nicht gröblichst irgendeinem Gaste Sir Enid Luciters zum Opfer zu fallen, denn in den nächsten Stunden
möchte so manche Kutsche diese Strecke und den Weg hinein nach London nehmen. Und ich
bin mir sicher, du willst nicht unter Pferdehufen enden - wie einst Hektor.“ Er blieb bei mir
stehen, ich sah trotz des schlechten Lichtes, daß er grinste und mir einladend Hand und Arm
bot.
Ich ignorierte die Geste. „Hektor war schon tot, als er zu den Schiffen geschleift wurde“, verbesserte ich den Freund. „Wenn du schon jemanden suchst, der wirklich von Pferden geschleift zu Tode kam, warum nicht Oinomaos?“
„Nein! Das zählt nicht, das waren seine eigenen Pferde“, lehnte der junge Friderick-Horne kategorisch meinen Gegenvorschlag ab, und unter solcherlei anzüglichem Freundesgeschwätz
nahm er mich schließlich doch beim Arme und geleitete mich zu seiner Kutsche.
„Eine Bedingung“, bat ich mir vorm Einsteigen aus, „wir fahren von nun an gemäßigter.“
„Oh gerne - Bedingung akzeptiert“, entgegnete er. „Ich hab’ dich ja gefunden.“
Wir kletterten in den Wagen und ließen uns in die Sitzpolster sinken, Sebastian FriderickHorne klopfte von außen an den Schlag, ich hörte, wie draußen der Kutscher schnalzte und
die Peitsche knallen ließ, und nun ging eine gemächliche und bequemliche Fahrt los, die in
nichts mit meiner vorherigen Fußwanderung und noch weniger mit meiner vorherigen Angst
zu tun hatte. Das Schaukeln und Stoßen der Kutsche wollten mich augenblicklich einlullen,
die Schatten der nächtlichen Heide glitten fern und plötzlich unwirklich vor meinem Fenster
vorbei wie in einem Traum – gleichwohl gestaltete sich unsere Konversation binnen kurzem
zu lebhafter, ja angriffslustiger Kraft.
„Es ist schön, so angenehm zu reisen“, sagte ich, fast schien es mir, wie mit weinschwerer
Zunge, so sehr schlug der Unterschied der vorherigen, auch geistig gehabten Anspannung
zum jetzig ermöglichten Zustand wohliger Nachlässigkeit zu Buche, da ich hier, wohlig geschaukelt wie ein Kind, im Sitze ruhen durfte. „Es bietet einen gewaltigen Unterschied in der
Erfahrung, mein Freund“, fuhr ich - durchaus mutwillig – fort, „jeweils, in wessen Schuhen
du stehst, weißt du? - das Drinnen und das Draußen - nimm nur die Tatsache, daß wenig daran
gefehlt hätte, daß mich die Hufe deiner Pferde ... oder die Räder deiner Kutsche, ach, einerlei,
... woher hast du sie?“
„Cromwell & Sons, Chester Lane, East Soho, gut und preiswert“, gab er bereitwillig Auskunft, „... und du?“
Ich bemühte mich aus Höflichkeit meinem Freunde gegenüber um ein Gran mehr Wachheit.
„--- Ich hatte keine Kutsche“, erinnerte ich ihn bissig, „ich war zu Fuß unterwegs.“
„Gewiß, gewiß“, meinte er leutselig und verbiß sich ein Grinsen, „das ist mir nicht entgangen,
glaub’ mir – ich meinte natürlich: in die andere Richtung, heute nachmittag.“ Er zuckte die
Schultern. „Ich kann mir nicht vorstellen, daß du beim Eintritt ins Vestibül den Staub von
sechs Meilen Landstraße aus deinen Beinkleidern geklopft hättest ...“
„Überaus witzig“, gab ich mit erhobenem Zeigefinger zu und setzte mit Würde bei: „Heute
Nachmittag, mein Guter, bezahlte ich eine Droschke. – Du hast mich ja nicht mitgenommen.“
Er lachte freudig auf. „Nein, zum Teufel, in der Tat, Domenic: Woher hätte ich wissen sollen,
daß du eingeladen warst? Gedankenlesen kann ich nicht.“ -„ -- Ich war nicht eingeladen“, sagte ich zwischen den Zähnen.
Er stutzte. „Ja, verzeih’“, lachte er und legte breit lächelnd die Hand auf mein Knie, „du sagtest es, ja, du sagtest es, das hatte ich glatt vergessen.“
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„Glatt vergessen“, murmelte ich und sah empört seitlich aus dem Fenster hinaus.
„Du wolltest mir etwas erzählen“, lenkte er sofort ein. „Komm, mein Freund, etwas darüber,
daß ich dich fast niedergewalzt hätte mit meiner ausgeliehenen Kutsche ... ja? oder wie? Ich
war in Sorge um dich, Bester! Nachdem du das Gemälde gesehen und doch etwas sonderbar
gewirkt hast, warst du plötzlich verschwunden, und ich dachte natürlich: Hat er sich in die
Themse gestürzt wegen dieser ... wie war ihr Name?“
„Io.“
„Io, sag’ ich doch. Wie kann man heutzutage Io heißen? aber einerlei. – Themse, dachte ich,
guter Gott, oder Hundezwinger, und fing an herumzulaufen und schickte meine Augen auf
emsige Kundschaft überall hin ... und irgendwie“, er schüttelte den Kopf, „fand ich das nach
einer kleinen Weile gar nicht mehr amüsant, sondern reichlich verwunderlich, daß ich dich so
gar nicht auftreiben konnte ... und mit der Zeit kam es mir bei, daß du dich womöglich, verstimmt und vielleicht in den dümmsten Liebesqualen dank dieses albernen Bildes - natürlich
zu Fuß - tatsächlich auf den Heimweg gemacht haben möchtest ... es ist schließlich eine
Strecke bis zur Stadt - und Johanni auch schon ein Weilchen vorüber ... Nun gut, zum Teufel,
das Eigentliche, die Vernissage war vorbei, Gastgeber und Maestro auch plötzlich nirgend
mehr auszumachen und die Damen entweder verheiratet oder Gift für den Ruf ... oder zu
schlicht ...– jedenfalls, du begreifst, da beschloß ich schließlich, dich Füchsen und Kaninchen
vorzuenthalten und ...“
„ ... über die Heide zu stauben wie eine Meute Erinnyen ...“ endete ich.
„... dich in Helios’ Sonnenwagen zu bergen, bevor du sonstwie unter die Räder kämest ...“
verbesserte er mich, „und wenn ich im übrigen um ‚Eumeniden’ statt ’Erinnyen’ bitten dürfte
– so haben es schließlich schon die Alten gehalten …“, und grinste breit.
Ich saß im sicheren Lichte der Laterne und ließ meine Blicke über die graugrünen Schemen
der nächtlichen Heide gleiten, die vor dem Fenster vorbeischwankten.
„Denn es hätte tatsächlich natürlich eher der Gastgeber selbst sein wollen“, merkte ich nach
einer gedankenvollen Pause an, „der mich mit einer Kutsche hier hätte niederfahren lassen –
so wie er das mit Frank Purcell de facto getan, nicht wahr? Eine Kutsche“ - ich sprach dies
leiser, denn der gehabte Schrecken wirkte in mir nach - „eine Kutsche ist ein Monstrum, weißt
du, wenn es so zur Nachtzeit auf dich zukommt ...“
„Gemach, gemach, gemach“, mahnte mich der Freund, fast erschrocken, auf dem Sitzplatze
zu meiner Rechten, und starrte mir in die Augen. „Habe ich dich recht erfaßt?“ Und als er mir
in die Augen geblickt, setzte er hinzu: „Wie kannst du dergleichen Anschuldigungen gegen
einen achtbaren Mann der Gesellschaft vorbringen?! Du sprichst von Sir Enid Luciter. Und
wer zum Teufel ist Frank Purcell?“
„Wer ist Frank Purcell?!“ wiederholte ich bitter die Frage. „Wie kann es sein, daß du von ihm
nicht gehört?!“ Ich erzählte ihm in Kürze die Geschichte, wie und warum jener vermutlich
unter die Kutsche geraten war, und Sebastian Friderick-Horne nahm den Bericht mit großem
Ernst und gleichermaßen ungläubigem Lauschen entgegen.
„Oh ja“, sagte er abschließend, „dies kannte ich noch nicht, nein, Domenic, aber ich kannte
diverses andere. Es sind wunderbare Geschichten. Wenn man diesen Anekdoten glauben will,
ist Sir Enid ungefähr das drittgrößte Übel nach der Pest und der Cholera, nicht wahr? Aber,
mein Feund, hast du dir nie gesagt, daß ein Mann in seiner Position einfach ... Legionen von
Neidern und Übelwollenden haben muß, die beständig an seinem Rufe Wühlarbeit leisten, die
seinen guten Namen unterminieren und aus dem Blauen heraus Aperçus und Histörchen erfinden, die ihm schaden sollen? Glaubst du nicht, daß, wenn da etwas daran wäre, man es ihm
über kurz oder lang auch nachweisen könnte - und daß ein solcher Nachweis Konsequenzen
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hätte? Wenn dein Frank Purcell einen Unfall hatte - und das ist bedauerlich und schlimm genug - wieso sollte dann ein Enid Luciter dafür verantwortlich sein, nur weil sich Tage zuvor
die Wege beider einmal zufällig kreuzten? Ich war, wie du weißt, vor etlichen Jahren in Sewastopol, kurz bevor dort Typhus ausbrach. Nun wirst du mich hoffentlich nicht dafür verantwortlich machen!“
Ich winkte unlustig ab.
Das Bild der dort draußen nächtlich vorbeiwandernden Heide dünkte mich in der Sicherheit
der Kutsche so unwirklich – wären nicht die dauernden Stöße und Schläge des Wagenbodens
gewesen, die ich körperlich spürte, ich hätte wohl glauben mögen, daß ich einer Illusion erläge.
„Sie kommen, wenn ich dich recht verstehe, zudem aus ganz unterschiedlichen Sphären“, gab
mein Freund nach einer kleinen Weile zu bedenken. „Ich meine, Sir Enid und Dein Frank Purcell. Wie sollten sie sich treffen, frage ich dich? Ihre Lebenskreise berühren sich nicht. Und
mehr noch: warum sollte der eine dem anderen schaden wollen?“
„Er ist nicht mein Frank Purcell“, stieß ich unwillig hervor. „Ich kenne ihn gar nicht! Jedoch:
Ich bestaune deine Naivität, Seb! Was war mit dem Duell damals, das hat Sir Enid auf Jahre
jeden Posten im Magistrat gekostet. Er hat nachweislich diesen Mann getötet. Er war auf die
gleichen Minen aus wie jener, und er hat ihn getötet.“
Mein Freund lachte laut und innig auf. „Er hat diesen Mann getötet? Oh ja, das hat er, mein
Freund, und traurig, wenn er es nicht getan hätte! Einiger Minen wegen, sagst du? Also schön,
wegen einiger Minen mehr, von denen er sowieso Dutzende besitzt? Laß dir sagen, von einem
Kompagnon meines Vaters, der in Old Bailey Richter ist, weiß ich – er hat den Fall nicht verhandelt, aber von ihm weiß ich es – daß möglicherweise eine Mine eine Rolle spielte … oder
daß man es bequem fand zu erzählen, daß eine Mine eine Rolle spielte. Doch wenn es nicht so
gewesen wäre, sondern eine Angelegenheit unter Gentlemen, was würdest du dazu sagen –
wegen einer Dame – vielleicht hast Du ja gehört, daß es Damengeschichten bei ihm gegeben
hat, früher – und von früher reden wir doch? Jetzt bestaune ich deine Naivität, mein Freund!
Daß man es ihres guten Namens willen in der Öffentlichkeit eine Mine hat sein lassen, und
daß er um ihres guten Namens willen schwieg, was würdest du dazu sagen?“
„Er hat mir heute abend angedroht, er würde mich töten“, schnappte ich meinem Freund ins
Gesicht, und das verschlug ihm fürs erste die Sprache.
„Was hat er getan?“ fragte er endlich.
„Er hat angedroht“, sagte ich, „mir den Garaus zu machen; er meinte, er hätte eine Maschine,
die würde das für ihn erledigen.“
„Er hätte eine Maschine, guter Gott? Was denn für eine Maschine?“ rief Sebastian FriderickHorne aus.
„Was weiß ich, was für eine Maschine! Er sagte ... er würde mich eingraben lassen, auf seinem Grundstück, er würde mich lebendig begraben lassen, aber nicht ersticken, er würde
mich ... dies und jenes, ... er würde mir die Finger brechen lassen, er würde mich foltern, es
waren sozusagen beständige Variationen über einzig das Thema, daß viele Wege nach Rom
führen, er redete darüber, mich zu töten, wenn ich noch einmal sein Anwesen beträte. – Er hat
... er hat vieles gesagt. Er hat sich ungehörig benommen. Hat den Namen meiner Ahnen verlacht, sich über meinen Namen lustig gemacht. Hat mir seine Geringschätzung und Gleichgiltigkeit ausgedrückt. Hat sich geschneuzt wie ein Kneipenwirt ...“
Mein Freund starrte mich offenen Mundes an. „Und dann?“ wollte er wissen.
„Nun, was heißt: Und dann?! Was willst du denn noch hören?“
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„Nun, und dann, meine ich, dann tötete er dich, dann grub er dich ein, brach dir die Daumen
und warf dich seiner Maschine vor, immer hübsch eines nach dem anderen. - War es nicht
so?“
„Sei nicht albern --- dann warf er mich hinaus.“
„Er warf dich hinaus?!“ Die Stimme meines Freundes überschlug sich.
„Gewiß, er schickte mich nach Hause wie ein dummes Kind“, rief ich ärgerlich. „Deshalb
schließlich war ich allein auf der Heide unterwegs. -- Was hätte er sonst auch tun sollen?“
„Was hätte er sonst tun sollen?!“ jauchzte mein Freund und brach in schallendes Gelächter
aus. „Nun, er hätte dich natürlich eingraben, an sonderbare Maschinen verfüttern und dir die
Knochen brechen lassen sollen, was denn sonst?! Er würde es natürlich nicht nur angedroht
und ausgemalt haben, wenn er es denn nicht anschließend auch in die Tat umgesetzt haben
würde, meinst du nicht? – Meinst du nicht?! Ich bitte dich! Allen Ernstes, Domenic, warum
sollte er dir derartige Dinge erzählen – und sie dann unterlassen zu tun? Oder anders herum
gefragt: Wenn dir dergleichen von ihm nicht zugestoßen ist, warum in der Welt sollte er es dir
dann zuvor erzählen? Dir Angst machen ... wie sagtest du ... wie einem Kind?“
„Er hat mir Angst gemacht“, sagte ich und schauderte.
Seitab im Felde sah ich weißlich eine Wegkreuzung und an ihr eine Reihe dunkler Gebäude
mit einem hohen Schornstein liegen. Dies, dachte ich undeutlich, mußte wohl schon die
Mühle von Hammersmith sein. Wie schnell wir vorankamen!
„Höre, Domenic“, sprach mein Freund. „Bester, lieber Freund: Geringschätzung und Gleichgiltigkeit nanntest du es vor ein paar Augenblicken – und zwar im selben Atemzug.“ Er
schüttelte verwundert das Haupt. „Du mußt dich von mir fragen lassen: welches von beidem?
Denn entweder hat er dir seine Geringschätzung ausgedrückt - wenngleich es mich auch sehr
sonderlich deucht, daß irgendjemand ohne Not und erkennbaren Anlaß jemand anderen einfach so hinsichtlich der empfundenen Geringschätzung unterrichtet, nicht wahr? – aber, bitte,
dann war das wenigstens etwas, -- oder aber du bist oder warst ihm gleichgültig - nun, dann
erst recht, Grundgütiger: Was sollte ihn dann zu dem von dir geschilderten pittoresken Auftritt bewogen haben? – Wie auch immer, mein Freund: Geringschätzung oder Gleichgiltigkeit: Für welche der beiden Empfindungen entscheidest du dich, denn die eine, summa summarum, schließt die andere deutlich aus.“
Ich schwieg hierzu, denn in den Tiefen meiner Seele war mir – und dies gleich während des
Aufenthaltes in dem schwülen Ampelzimmer - schemenhaft der nämliche Widerspruch aufgefallen. Nur wie er mir auch aufgestoßen sein mochte, so nutzte er mir, anders als meinem
Freund hier in der sicheren Kutsche, vorhin nichts zur Hinwegredung der Bedrohung, geschweige denn ihrer Erklärung, denn ich befand mich ja unleugbar inmitten der beschriebenen
Situation.
„Es ging um das Bild“, sagte ich.
„Es ging um das Bild? Welches Bild? – Oh ja, natürlich, verzeih mir, welches schon!“
„Ich habe mich bei einem Diener danach erkundigt, ob er eine Möglichkeit sehe, Kontakte zu
den lebenden Modellen dieser Figuren zu knüpfen“, erklärte ich.
„--- Du hast was?“
„Du hast es gehört.“
„Ja, verstehe ich dich recht“, er schlug in komischer Verzweiflung die Hände zusammen, „du
bist dort nicht eingeladen, gehörst, nennen wir das Kind beim Namen, nicht zur Gesellschaft,
ißt gleichwohl an der Tafel mit und willst hinterher noch in die Töpfe gucken?!“
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„Die anderen haben sich nach Kopien des Bildes, nach Broschen, Gemmen, Ausschnitten und
Duplikaten erkundigt. Sie werden sich die wollüstige Europa demnächst für die stille Kammer
aufziehen lassen“, rief ich empört.
„Nun, das werden sie – so laß sie doch“, auch er sprach lauter. „Aber sie gehörten dazu, verstehst du, sie waren eingeladen! Von welchem Stern bist du denn gefallen? Quod licet Iovi
non licet bovi. Hast du noch nicht gehört, daß England ein demokratisches Land ist?“
„Was in diesem besonderen Fall bedeutet?“ erkundigte ich mich gereizt.
„Was in diesem Fall bedeutet“, meinte er und senkte die Stimme wieder auf normales Maß,
bewegte ausdrucksvoll die Hände „daß in dieser Gesellschaft nicht ein jeder alles darf ... Es
gibt Unterschiede ...“
„Du bist ja ein Zyniker“, rief ich. Ungefähr das nämliche hatte ich von Luciter gehört.
„Nein, bin ich nicht – denn wer sind wir denn, dies zu ändern? Und wer wollte es denn ändern
wollen? - es wäre schlicht sehr unvernünftig, nicht wahr?!“
„Oh, ich verstehe dich“, sagte ich, „da gibt es die, die bei Cromwell und Sons ihre Kutschen
mieten ... und es gibt die, die zu Fuß unterwegs sind“, und ich konnte es nicht hindern, daß für
den Augenblick neben dem Spott eine gewisse Bitterkeit in meiner Stimme mitschwang. Ich
spürte, wie er mich überrascht ansah.
„Ich denke, du bist der Zyniker, mein Freund“, meinte er kopfschüttelnd.
„Preiswert und gut, Sebastian“, erklärte ich. „Für jemand, der vierspännig unterwegs ist, mag
‚preiswert’ ein relativer Begriff sein. Cromwell and Sons - wahrscheinlich direkte Nachfahren
von Sir Oliver - war das nicht das Fuhrgeschäft, bei dem du Referenzen vom Princen of
Wales vorlegen mußt, um überhaupt bedient zu werden?“
Der Freund lachte amüsiert. „Ja“, sagte er, „es ist wahr: Sie beschäftigen dort Experten für
Heraldik, die zunächst dein Familienwappen prüfen und bewerten, ehe sie Dir einen Wagen
anvertrauen.“ Er legte die Hand kurz auf meine. „Beruhige dich, mein Bester, immerhin habe
ich dich aufgelesen, und du bist mit mir unterwegs, auf dem schnellsten Wege heimwärts, ist
es nicht so?“
„Wer wollte das abstreiten ...“, murmelte ich.
„Und falls du es wissen willst, warum ich dort war“, fuhr er fort, „so hat es weniger mit meinem dauernden Bedürfnis nach sensationellem Zeitvertreib zu tun oder gar der Sucht, mich
angemessen unter meinesgleichen zu bewegen ...“, ich hörte den Spott heraus, „als vielmehr
mit der Tatsache, daß – aber ich möchte dies nicht in der Journaille wiederlesen, liebster, bester Freund, dies vorweg – es hat mit der Tatsache zu tun, daß Sir Enid wohl mit dem Gedanken spielt, unsere Kanzlei in den glücklichen Kreis derer einzubeziehen, die gelegentlich für
ihn arbeiten dürfen. Mit Deinem ausgeprägten Feingefühl hast Du ja schon konzediert, daß im
Umkreis von Sir Enid ab und an die Notwendigkeit juristischer Beratung besteht.“
Draußen ergoß sich das Mondlicht wieder bleich und unheimlich über den Wegrain und die
Ferne, und es herrschte eine milchige Helle allenthalben. Das hieß, daß die Pferde so sehr
vorwärtsgestürmt waren, daß wir ein weiteres Mal unter den Wolken hervorgebrochen waren
und unter freiem Himmel fuhren. Mein Freund bewegte den Zylinder in seinem Schoß.
„Nun fischen viele in dem großen Teich“, meinte er, den Blick gesenkt, „und es gibt Kanzleien wie die unsere wie Sand am Meer. Es wäre daher keine Art läßlicher Sünde, derartige
Angebote auszuschlagen – verstehen wir uns? -- Und in solchem Fall kommt eben der Prinzipal der Firma öfter in den Besitz solcher Biletts wie dasjenige des heutigen Abends, er kommt
dazu wie die Jungfrau zum Kinde. - Er ist siebzig, hat Frau und Enkel, und nach dem Tag in
der Kanzlei wärmt er sich vorzugsweise die Füße am heimischen Kamin. – Das gesellschaftli43
che Ereignis andererseits gänzlich zu versäumen überschritte, das wirst auch du einsehen,
nicht nur die Grenze zur Unhöflichkeit, sondern rein geschäftlich die zur Dummheit ... und so
geschieht es in diesem Fall wie immer in solchen Fällen und wie in tausend Firmen der gleichen Art: Der dankbare Juniorpartner muß den Kopf hinhalten, darf sich den Abend um die
Ohren schlagen, vom Buffet kosten ... und zweifelhafte Gemälde studieren.“
Sebastian Friderick-Horne lehnte sich nach dieser Erklärung grinsend zurück in die Polster,
strich die Knie glatt und erwartete seinerseits, was ich dazu zu äußern hätte.
„Ihr wollt für diese Canaille arbeiten?“ fragte ich verblüfft, „ihr wollt ihr weiter helfen, das
Gesetz zu beugen, Menschen straflos zu betrügen und zu töten? – Ich finde das unanständig.“
„Wie findest du das?!“
Ich blickte ihn an und sah ihn dasitzen, mit seitwärts gedrehtem Kopf, mich anstarrend.
„Ich sagte, ich fände dies unanständig“, wiederholte ich. „Es ist zutiefst unmoralisch, nicht
Rechtens. Und es ist dies noch das mildeste Urteil, das ich abgeben kann!“
„Aber ich bitte dich, Domenic!“ Erstmals war auch so etwas wie ein Vorwurf in der Stimme
meines Freundes zu vernehmen, wenngleich es ihn immer noch mehr Mühe kostete, sich das
Lachen zu verbeißen als durch zu große Ernsthaftigkeit das Gespräch zweier Freunde zu stören. „Und was ist mit dir, mein Feiner? Wie würdest du das beschreiben, was du tust? Was ist
der Zeitvertreib deiner Zunft? Ihr seid unanständig neugierig, forscht Leute aus und führt sie
an der Nase herum. Ihr appelliert im Grunde an das Niederste im Menschen! Wenn ihr Unrat
findet, breitet ihr ihn genüßlich aus. - Im Herzen seid ihr dankbar dafür, wenn Dinge nicht im
Lot sind, denn nur dann könnt Ihr Aufregendes darüber schreiben. Das hat etwas Heuchlerisches, es ist sträflich. Ihr schmuggelt Euch ein, wo ihr nicht hingehört, ihr sagt die Unwahrheit, ihr seid etwas – verzeih mir - von gesellschaftlichen Schmarotzern. Und – laß mich dies
hinzusetzen - insofern, als ihr dies im Sinne des Gelderwerbs tut, seid ihr sogar käuflich.“
„Aber letztlich immer im Dienste der Wahrheit. Und man stellt sich prinzipell nicht auf die
Seite der Starken, zumal nicht, wenn sie schlechte Menschen sind wie dieser da.“
„Gott, Wahrheit“, Sebastian Friderick-Horne ließ ein trauriges Lachen hören, „was ist die
Wahrheit? - Was ist zum Beispiel deine Wahrheit, Domenic? Die Wahrheit, laß dir sagen, ist
zumeist eine Sache der Perspektive, du in meinen Schuhen, ich in deinen. - Die Wahrheit ist
wie die Liebe, nicht zu messen, nicht zu bewerten, keine feste Größe. Die Wahrheit ist ...“ er
ließ suchend die Hände durch die Luft wirbeln, „... die Wahrheit ist überall und nirgends,
mein Freund - wollte ich bitter sein, so würde ich behaupten, es gibt sie nicht ... oder nur für
Sekunden.“ Er rieb sich die Stirn, und wirkte mit einem Male müde.
Ich beobachtete ihn. „Du hast vorhin, als wir uns auf dem Fest trafen, eigenartige Bemerkungen gemacht“, brachte ich vor. „Du sagtest, daß es wohl wieder sonderbar würde. Du sprachst
von menschlicher Niedertracht, Monstrosität, seelischen Verletzungen, du erinnerst dich? ...
Da hast du doch genau von dem gesprochen, wovon ich rede – oder was hast du gemeint?“
Draußen bewegte sich einförmig die Heide. Das Mondlicht hatte etwas Magisches. Es saugte
all meine Gedanken auf. Es ergoß sich wie ein verderblicher Saft über den spritzenden Felsen
von Delos.
Er ließ die Hand von den Augen sinken. „Ach, mein Liebster, Süßester, Bester“, sagte er
schwach. „Was bist du mir nur für ein Mensch?! Ich frage dich aufs Neue: Von welchem
Stern bist du gefallen?! Wie sind denn die Menschen deiner Ansicht nach? Bringst du es
wirklich fertig, deine Zeitgenossen zu beobachten und nicht zu sehen, wie sie sind?! Da
schießt du dich ein auf den einen, den großen Bösen, Beelzebub persönlich, Sir Enid Luciter.
Wie? Das ist ein wirklich bequemes Bild, weißt du? Es suggeriert, daß man, wenn man nur
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diesen einen vernichtete, wahrlich das Paradies auf Erden wiedererrichten könnte, aber ich
fürchte, das ist gänzlich falsch gesehen. Gröblich naiv anzunehmen, daß die Schlechtigkeit so
einfach auszurotten sei. Außerdem – so wie ich dich fragte, was ist Wahrheit, könnte ich dich
auch fragen: Was ist Schlechtigkeit? Der Morast des Geldes? Ist es vielleicht diese Tee-Gesellschaft, die sich, wenn der Abend kommt, an einem in mancher Hinsicht schmutzigen Bilde
delektiert? Oder ist es eher die Tatsache, daß diese Gesellschaft unter sich bleiben möchte und
sich nicht mit den Flechtenbehafteteten und Skrufulösen aus Lambeth mischen mag? Lieber
Gott, Bester, du bist wirklich in mancher Beziehung wie ein Kind! Zumindest siehst du die
Splitter in den Augen der anderen und nicht die ... nein, von Balken zu sprechen, wäre in deinem Falle wirklich unangemessen, aber die Splitterchen in deinem eigenen Aug’.“
„Splitter?“ fragte ich, jedoch nur mit halber Empörung, denn im Grunde wußte ich, worauf
dies hinauswollte.
Er lachte. „Du hast dich unstatthaft benommen, die conduite mit Füßen getreten, du bist ein
Spion, bist eingedrungen, wo du nichts zu suchen hast“, der Freund zählte schmunzelnd
meine Verfehlungen auf, „und dafür möchte dich Sir Enid nun am Galgen sehen.“ Seine
Stimme, voller Wärme, amüsierte sich über den Gedanken, aber bei mir wollte die rechte
Freude nicht einkehren.
Ich hatte seit einiger Zeit draußen gelegentlich einzelne Häuser im Feld erblickt, und soeben
hielt unser Gefährt an der Schranke, die den Stadteingang bezeichnete. Ich nahm undeutlich
die Stimmen unseres Kutschers und des Wächters draußen wahr. Dann rollten wir wieder,
ohne daß der letztere zu uns hereingeschaut hätte. Als ich das nächste Mal hinausblickte, war
es keine Landstraße mehr, sondern es gab Zäune und angelegte Gärten, zurückgesetzt Häuser
darin. Der Wind spielte in den Bäumen. Nirgendwo brannte mehr Licht. In wenigen Minuten
würden wir auf gesetztem Pflaster und in einer weiteren Viertelstunde unter den ersten Straßenlaternen dahinfahren.
„Es hat dies alles mit dem Bilde zu tun“, grübelte ich laut. „Ich erkundigte mich dort drinnen
recht arglos nach der einen der abgebildeten Figuren ... nichts sonst. Was, wenn ich ein anderer Maler wäre? Dabei, Condonnieres Gemälde ist fertig, ich nähme ihm das Modell nicht
einmal weg ... und selbst, wenn ich es täte ... dergleichen kommt vor! – Kein Grund! Ich habe
nicht das Gemälde geschmäht oder es beschädigt, ich habe es nicht gestohlen, habe dies auch
nicht vor, habe nicht etwa ein besseres zur Hand, mit dem ich jenes ausstechen könnte, ich
stehe in keinerlei Konkurrenz zu Condonniere oder Sir Enid, habe mich nur ... arglos nach
dem Modell erkundigt ... und wenig später werde ich in das besagte Hinterzimmer zitiert, wo
der Hausherr mich gräßlich auf Leben und Tod bedroht“, fuhr ich fort. „ Das ist nicht das
rechte Maß der Dinge, will mir scheinen. Und ich sehe nicht den Grund, mein Freund. Es muß
mit dem Bilde zu tun haben.“
„Nun, was konkret hat Luciter mit dir gemacht?“
„Oh, er hat mich nicht angerührt. - Hauptsächlich interessierte ihn, wie ich in die Gesellschaft
gelangt sei und, nachdem er dies erfahren hatte, heischte er mein Billet zu sehen.“
„Oh, Lieber, und warum verwundert dich das? – Er ist immerhin der Gastgeber!“
Ich zuckte die Schultern.
„Und - hast Du es ihm gezeigt, das Billett?“ Der Freund beobachtete mich atemlos.
„Bewahre, wo denkst du hin!“
„Kein Wort von Burkitt?“
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„Aber nein, ich sage es dir doch. Ich will mein Handwerk behalten – auch, wenn Du nicht viel
Erfreuliches darüber zu sagen weißt ... und auch, wenn ich es im Grunde ungern ausübe, wie
ich dir zu anderer Zeit längst eingestand.“
„Und was setzt du nun aufs Papier?“
„Das weiß ich noch nicht. Das findet sich.“
„Jedoch, es verwundert dich schon jetzt, daß Sir Enid etwas einwenden könnte?“
„Dies nicht, bei weitem nicht, du mißverstehst mich. Nur geschieht es mir nicht unentwegt,
daß man mir deshalb und wegen ungleich weniger sofort mit dem Tode droht – mit Dampfmaschinen, die Knochen zerbrechen, mit einem Grabe bei lebendigem Leibe, der Erlaubnis,
unterirdisch begraben liegend tagelang durch einen Halm zu atmen, der wahlweisen Bedrohung, von bäuerischen Knechten in der Themse ertränkt oder ins Feuer geworfen zu werden
wie ein Sack Nüsse.“
„Das alles hat er dir angeboten?“
„Oh ja. So ungefähr.“
„Nun, das war sehr unfreundlich von ihm“, meinte mein Freund und ich hörte, obgleich ich
nicht in seine Richtung blickte, wie er grinste.
„Du kannst dich nur lustigmachen“, sprach ich vorwurfsvoll. „Was willst du jetzt von mir?
Soll ich dir erzählen, daß ich nur Spaß gemacht habe, dich nur belüge? Was für ein Freund
bist du? Was willst du von mir hören? Daß ich geistig umnachtet bin und das ganze nur geträumt habe? Willst du behaupten, daß ich das nicht erlebt habe, zuvor in dem Zimmer mit
den tausend Ampeln?! Daß ich es mir nur einbilde? Mit dem Maler auf dem Canapé und dem
Sekretär im Hintergrund, der alles mitkritzelte? Gott im Himmel – vor einer Stunde bin ich
noch in diesem Raum gewesen! -- Du hast eingangs selbst gesagt“, ich faßte einen neuen Gedanken, „daß der Gastgeber und der Maler die Gesellschaft verlassen hätten, daß du sie nicht
mehr gesehen hättest, daß sie die Gäste sich selbst überlassen haben - wenig comme il faut,
findest du nicht? daß sie der eingeladenen Gesellschaft den Rücken gekehrt haben, ja? Ist das
gesellschaftlicher Takt? – nun, wo, glaubst du, haben sie sich aufgehalten?! Wo?! ... Ich sage
dir ... ich sage dir ...“ Ich verstummte, denn fast war inzwischen meine eigene Geschichte mir
widerwärtig und unglaublich.
Mein alter Freund betrachtete mich von der Seite, und beinahe dachte ich, daß er nur nach
Worten ringe, mir genau dies zu erklären, was ich zuvor angedeutet: daß ich in ein Asyl gehen
sollte, mich ärztlicher Obhut anheimgeben, mich beruhigen. Aber dann schüttelte er nur sonderbar müde den Kopf und erkundigte sich traulich: „Aber wer, Bester, bist du denn, Domenic
... verzeih mir, wer bist du, daß ein Sir Enid dir dermaßen zusetzen würde?“
„Wer war ein Frank Purcell“, fragte ich bitter, „und ein Sir Enid hat ihm dennoch zugesetzt.“
„Mein Freund, mein Freund“, beschwichtigte mich der alte Kamerad. „Versündige dich nicht
und laß den armen Menschen ruhen. - Aber Enid Luciter? -- Ich will anders fragen: Welche
Bedrohung zum Teufel stellst du denn für ihn dar?“
„Das eben weiß ich nicht“, sagte ich scharf, „aber ich werde es herausfinden, verstehst du?
Ich habe das Notwendige in die Wege geleitet. - Ich bin von dort geflüchtet, verstehst du,
nein, vertrieben worden. – Was meinst du wohl?! Ich habe sogar meinen Stock eingebüßt.“
„Deinen Stock“, fragte er mit mildem Interesse und musterte die Umgebung meiner Knie.
„Dann sieh zu, daß er dich nicht verhext. Normalerweise reicht ein Taschentuch des Opfers,
das, in Säure getaucht, dem letzteren unendliche Schmerzen zufügen kann.“
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Ich ging auf seinen Spott nicht ein. „-- Und außerdem war Luciter nicht der einzige, der mich
dort bedroht hat“, sagte ich. „Da war vorher noch jemand anders.“
„— Da war vorher noch …?“ Er ließ den Satz unvollendet, staunte nach einer schweigsamen
Sekunde, in der er knallend die Hände zusammengeschlagen, und diesmal mischten sich
gleichwohl Überraschung und beginnende Sorge in seine Frage.
„Ich weiß nicht, du müßtest ihn auch gesehen haben“, erklärte ich möglichst ruhig. „Es war
beim Vortrage ein Mann dort zugegen, um die fünfzig vielleicht, vornehm genug gekleidet,
grau- oder silberhaarig, mit einem ebensolchen Barte, ein attraktiver Mann, wenn ich so sagen
darf ...“, einen Moment irrte mein Wortfluß unbestimmt ins Leere, und ich mußte mich scharf
konzentrieren, um das zu vollenden, was ich im Sinne hatte zu sagen, „jedoch besaß er eine ...
eine Verstümmelung im Gesicht ... eine Hasenscharte“, schloß ich. „Er besaß eine Hasenscharte.“
Am veränderten Tone draußen hörte ich, daß die Pflasterung der Straße begonnen hatte. Die
sacht schwingende Laterne an der Decke der Kalesche mit dem Schwanmotiv, ihren hübsch
geschliffenen Glaswänden und den goldenen Ziselierungen und Durchbrüchen an den Kanten
und am Boden nahm meine Aufmerksamkeit gefangen – ich starrte blicklos in das Licht und
begriff erneut an diesem Abend meine Müdigkeit.
„Du fragst dich sicher –“, sprach ich, ohne mein Gesicht zu wenden. „und insofern natürlich
fragst du mich - was ich gegen diesen Mann habe – und warum. Ist es so? Nun, das ist im
Grunde sehr einfach zu erklären ... oder sehr schwer.“ Ich lachte etwas. „Frag mich nicht. Er
hat mir nichts getan, wirklich nichts, wir haben kein Wort miteinander gewechselt ... es war
nichts ... er hat mich nur ... nur angesehen ... Er hat mich angesehen.“
„Er hat dich angesehen?“
„Ich weiß“, sagte ich mit dem Versuch eines Lächelns. „Das ist, wirst du mit einiger Berechtigung sagen wollen, wahrlich wohl kein Grund, gleich den Informer zu rufen, nichtsdestoweniger ... er hat mich angesehen, verstehst du?“
„Nun, ehrlich gesagt, im Augenblick verstehe ich wenig“, äußerte mein Freund verwirrt. „Er
hat dich angesehen? Das hat meines Wissens das Parlament noch nicht verboten, mein Bester,
daß der eine den anderen ansieht, was also im Ernst willst du tun? Wo liegt der Grund deiner
Klage?“
„Es war während der Ansprache Sir Luciters“, erläuterte ich, ohne direkt zu antworten. „Du
standest in dem Moment direkt vor mir. Du müßtest ihn gesehen haben, halb links von Dir.“
„Ich weiß wohl, du sagtest so, Lieber. Gleichviel ...“, er zuckte in drolliger Verzweiflung mit
den Schultern. „Natürlich bin ich nicht herumgegangen und habe Gesichter skizziert ... wie
offenbar du ... Ich habe niemanden gesehen ... nicht die Dame ohne Unterleib und nicht das
Kind mit zwei Köpfen, nicht die Frau mit der Schlangenhaut und auch keine Gentlemen mit
einem Auge mitten auf der Stirn. Niemanden mit Hinkefüßen – vom Gastgeber einmal abgesehen – und niemand mit schiefer Schulter. Es war immerhin eine Vernissage, keine Matinée
im Zirkus. Nein, ich bedaure sehr, dir nicht dienen zu können.“
„Er war da, und er hat mich angeblickt, jener Silbergraue, als ob ich auf dem Tisch gelegen
hätte, bereit zur Vivisektion“, bekannte ich leise, aber ich sagte es mehr ins Leere hinein als
zu meinem Freunde - indem ich begriff, daß er mich in diesem Punkte nicht verstand. „Er
hatte Schlangenaugen, Seb, er hatte einen gespaltenen Gaumen, eine zusammengenähte
Lippe, einen kalten Blick. Er war gut gekleidet, reich, interesselos und böse. Er war ein Dämon im grauen Frack - allein gebannt in dieser Situation und nicht fähig zu tun, was er wollte,
durch die Anwesenheit der restlichen Gesellschaft, - und er zeigte mir mit seinem Blick: Ich
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bin auf Deiner Spur, Domenic Holland, hüte Dich, mir zu begegnen, wenn du alleine bist. Er
will mir schlecht ...“
„Ich bitte dich“, stieß mein Freund hervor und packte mich an der Schulter. Eine unaussprechliche Mischung von Amüsement und kaltem Entsetzen spielte in seinem Blick. „Sir
Enid Luciter trachtet wie selbstverständlich nach Deinem Leben und jetzt die Hälfte seiner
Gesellschaft ebenso? Obwohl sie nicht einmal wissen, wer du bist? – ist das nicht ein wenig
viel für einen einzigen Abend? Abgesehen davon, daß du dir die Frau deines Lebens erspinnst
aus einem Gemälde-Machwerk heraus, wie es, das möchte ich gern konzedieren, noch nicht
viele gegeben hat? Ich bitte dich redlich, mein Freund, fahre nicht fort - weil ich mir am Ende
sonst Sorgen um dich machen müßte, und das ganz gewiß nicht der Fallstricke wegen, die
deine Umgebung dir schnürt, sondern ganz sicher nur aus Bedrohnissen heraus, die sonderbar
hinter deiner Stirne existieren ... und sonst nirgendwo ...“ Er tippte mit dem Finger beklommen an seine eigene Stirn.
Ich drehte den Kopf und blickte aus dem Fenster, wo die flachen Häuser der Vorstadt längst
den repräsentableren Bauten des Zentrums Platz gemacht hatten. Das Geräusch der Räder
klang von den hohen Fassaden zurück, in denen die Fenster dunkel und blicklos blieben. Sebastian Friderick-Horne beugte sich fort von mir, klopfte auf seiner Seite außen an die Tür
und rief ein kurzes Kommando zum Kutscher hinauf, denn hier mußten wir weiter nach Norden abbiegen, so denn mich mein Freund bis in die Nähe meiner Behausung fahren wollte. Ich
ließ es geschehen und lehnte matt in meinem Polster, sah zu der schwingenden, messingnen
Schwanenlampe auf.
„Hör zu“, sagte ich nach einer Weile, während der es still zwischen uns geworden war. „Ich
will, daß du etwas für mich tust.“
„Jederzeit – alles“, meinte er, und obwohl dies für jeden Außenstehenden sicherlich spaßig
geklungen haben würde, wußte ich doch, daß es ihm ernst völlig war mit dieser Versicherung.
Meine Gedanken gingen zurück.
Die Freude unserer langjährigen Freundschaft verdankte sich im Grunde der Tatsache der
Bekanntschaft unserer Väter. Der meine war zur See gefahren, vom Bootsjungen mühsam
aufgestiegen, die letzten Jahre seiner Existenz als 2. Offizier auf einem East Indiaman. Er
hatte immer gehofft, daß ich in seine Fußstapfen treten würde, aber genauso beständig hatte
ich jedes derartige Ansinnen zeitlebens abgelehnt. Der Wunsch, auskömmlich für meine
Mutter und mich zu gesorgt zu haben, falls die Fährnisse des Schicksals es nötig machen
sollten, hatte seine Schritte einstens - es lag so weit zurück, daß es meiner Erinnerung nicht
zur Verfügung stand, ich wußte dies nur aus Erzählungen - in das Anwaltsbüro eines aufstrebenden Advokaten gelenkt, der damals noch draußen in Mile End in einem Büro am lauschigen Flußufer residierte, - und jener wackere, junge Mann, der natürlich der Vater meines jetzigen Freundes gewesen, hatte danach über viele Jahre in selbstlosester und geschicktester
Weise in allen Dingen, die es zu regeln galt, meine Belange vertreten.
Und bitter nötig war dies gewesen, hatte sich mein Vater doch traurigerweise als ein Mann
von erheblichem Weitblick erwiesen - ein gräßlicher Sturm südlich der Komoren, keine Ungewöhnlichkeit in diesen Breiten wohl, nichtsdestoweniger jedoch von tödlicher Gewalt, hatte
ihn im Jahre eins Schiff und Leben gekostet. Meine gute Mutter hinwiederum hatte der Gram
über den frühen Tod des Vaters bald nach dessen Ableben selbst hinweggerafft – eine Erkältung, an der man im Grunde nicht starb. Von da an waren offiziell zwar ein Mensch mit dem
sprechenden Namen Pickwell und seine Haushälterin, eine Miss LaGrange, in die Belange
meiner halbwüchsigen Erziehung eingetreten, Leute, die ich kaum kannte und an die ich
kaum, jedenfalls nicht die besten Erinnerungen habe – ich wußte jedoch oftmals nicht, was
ich getan hätte, wenn mir der Freund und sein wackerer Vater nicht zur Seite gestanden wäre.
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Der grausame Zufall wollte dann, daß nur wenige Jahre hernach, jünger als meine, auch seine
Mutter - eine, wie sie in meiner Erinnerung dastand, bildhübsche Frau, der er wie aus dem
Gesichte geschnitten schien – dahinging, – da waren wir uns in unserem kindischen Alter
gegenseitig zum Trost geworden. Sebastian übernahm hinfort im Sinne ihres Angedenkens zu
seinem eigenen Namen auch ihren Mädchennamen; der Vater und Witwer, da Anwalt, hatte
dies möglich gemacht - was mir beide, wäre dies überhaupt noch nötig gewesen, längstens als
Menschen mit dem größten Herzen ausgewiesen hatte.
Es verstand sich beispielsweise in dieser Zeit für den „alten“ Friderick – der, nebenbei gesprochen, in seinen besten Vierzigern stand - von selbst, daß wir Knaben, wiewohl wir im
Grunde nicht dem gleichen Stande angehörten, doch die gleichen Erzieher bekamen. Später in
Oxford, obwohl Seb dort studierte und ich nicht, hatten wir gemeinsam so manche Zeit miteinander verbracht. Hinter den Gärten des Christchurch College und an den hohen, schmiedeeisernen Zäunen der St. John’s Library hatten wir uns verabredet, um – wir waren jung und
forsch - den vorbeigehenden Mädchen auf die Röcke zu starren, da war unsere Freundschaft
gleichsam in Eisen gegossen worden.
Denn ich hatte die früheste Gelegenheit wahrgenommen, aus dem Pickwellschen Haushalte
auszubrechen, ohne zur See zu gehen, mir jedoch meine ersten eigenen Pennies, zunächst in
London, dann in Oxford, wohin ich dem Freunde gefolgt war, mit Botengängen und Schreibarbeiten verdient. Man erkannte bald ein gewisses kalligraphisches Talent, ich wurde dazu
herangezogen, Gelegenheitsdichtungen, Mahnungen oder Rechnungen abzuschreiben, ich
verfaßte im Auftrag Anträge und Briefe - zum Poeten, was mich durchaus sehr ansprach, das
begriff ich jedoch von selbst, hätte es bei weitem nicht gereicht. Dann, zurückgekehrt nach
London, hatte ich, bevor mir der glückliche Schritt gelungen und ich bei der einst von Ralph
Griffith gegründeten „Monthly Review“ untergekommen war, sogar eine zeitlang beim
„Lady’s Magazine“ getändelt, wo es zu meinen Obliegenheiten gehört hatte, elegante Illustrationen zu sortieren und Schnittmuster zu kommentieren.
Nun, dies alles lag weit zurück, und inzwischen war Sebastian Friderick-Horne längst aufgestiegen in die Mitverantwortung der einst von seinem Vater und dessen Compagnon gegründeten, ehrwürdigen Kanzlei Salander, Friderick & Sweet, nahe Charing Cross. Sein Vater, bei
schwacher Gesundheit, lebte zurückgezogen auf dem Lande - es sorgte, wie ich wußte, eine
Witwe für ihn, welchletzterer Seb von seinem monatlichen Salär nicht Unwesentliches für
diese Pflege zukommen ließ. Ich hatte lange nicht mehr die Muße und den Mut gefunden, dort
draußen meine Aufwartung zu machen, doch suchte er ihn, den alten Vater, regelmäßig in
seiner Klause auf. Ich hatte gelegentlich Schilderungen jener Besuche erfahren, und es waren
diese zu dem unumgänglich menschlich Gegenwärtigen, jedoch so unendlich Traurigen zu
zählen, das uns in solchen Gesprächen immer bewußt macht, wie schnell im Grunde auch uns
Jungen das Leben entgleitet.
„Was ist es, das ich für dich tun soll?“ fragte Sebastian Frideric-Horne.
Ich hatte den Kopf abgewendet und ließ blicklos die Fassaden dort draußen Revue passieren,
während wir uns meinem Quartiere näherten. Ohne ihn anzusehen, spürte ich dennoch, wie
der Blick meines Freundes ratlos und beunruhigt auf meinem Hinterkopf verharrte.
„Du bist“, sprach ich bedächtig, „wir haben es zuvor wieder festgestellt, eher als ich ein Mitglied jener Kreise, um die es mir geht. Das heißt, ich werde zwar das meinige selbst tun, um
zu dem Erfolge zu gelangen, den ich mir wünsche, aber auch du solltest in den nächsten Tagen und Wochen deine guten Verbindungen spielen lassen, deine Fühler ausstrecken und zu
erforschen gelangen, was immer du ausfindig machen kannst über die Herstellung jenes Bildes.“
Ich sah ihn an. „Du weißt, wovon ich rede.“
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Mein Freund ließ eine deutliche Pause eintreten, die weniger Kritik als nur Besorgnis verriet,
und äußerte dann bedächtig und gänzlich ohne solche Neckerei wie noch kurze Zeit zuvor:
„Ich soll mich, mein Lieber, über die Herstellung des Gemäldes unterrichten, über die Geschichte des Malers und des Mäzens, denke ich - wie im ganz besonderen die Herkunft und
den Verbleib, nehme ich an, jener jungen Damen, die dem Meister gesessen – mit deutlicher
Präferenz jener einen, die ...“, hier konnte er es nicht unterlassen, ein winziges Zögern, wie
um nachzusinnen, einzufügen, „jener, meine ich, welche die Io gespielt ...?“
„Ich bin dir aufrichtig verbunden“, murmelte ich.
Für einen Augenblick, als der treue Freund meiner Jugend unbedacht-unschuldig solche
heiklen Begriffe wie die „Herkunft“ und den „Verbleib“ und „gespielt“ angesprochen, geriet
mir, unangenehm, fast schmerzhaft, die bigott-süßlich-salbungsvolle Stimme Sir Enid Luciters erneut vor das Gedächtnis, wie er sich larmoyant darüber verbreitet, daß in jenem anderen
Jahrhundert Caravaggio, der große Meister, nur Modelle aus dem Vierten Stande benutzt
habe, um Heilige abzubilden. Was, dachte ich, würde es am Ende sein, wenn das Modell meiner göttlichen Io ein Fischweib aus den Hütten von Jacob’s Island war oder Schlimmeres Abschaum aus dem Schlamm der bezahlten Häuser des anderen Themseufers?
„So sei es“, bestätigte in diesem Moment mein Freund mit einem Neigen des Kopfes. „Ich
werde Mr. Edelman und Mr. Pfeiffer, die emsigen Gehülfen der Kanzlei, darauf ansetzen,
Domenic, werde selber allenthalben die Ohren spitzen, ferner Erkundigungen bei Mr. Sweet
selbst einziehen, welcher die besten Beziehungen zum Court of Common Council pflegt unauffällig und nur, versteht sich, falls es sich ergibt, daß wir gemeinsam im ‚Old Oak’ dinieren - was in jüngster Zeit nicht mehr so häufig geschieht, er wird alt und seine Zähne beginnen unerbaulich zu werden - ich werde, kurz, mein Mögliches tun und dir recht bald Auskunft
erteilen über das wie auch immer geartete Herkommen und den Verbleib der Dame deines
Herzens – die, wie ich mir an dieser Stelle – sei mir nicht böse - zu bemerken gestatte, die
Dame deines Herzens ist, ohne daß du sie jemals von Angesichte gesehen ...“ Er atmete einmal tief und schwer, so als ob er eine staubige Dachtreppe erklommen, und ließ die Hände in
einer ausdrucksvollen Geste zur Seite fallen.
„Ich bin dir aufrichtig verbunden“, wiederholte ich matt.
Er beugte sich vor, um mir besser in die Augen sehen zu können. „Ich will mich gerne bekümmern“, sprach er sanft, „und sorgen um die Dinge, die du mir aufgetragen, und ich denke,
ich werde oder wir werden in vernünftiger Zeit Namen und Aufenthalt deiner Io sicherlich
eruiert haben ... aber ich bitte dich als Freund, halte deine fünf Sinne beisammen und betritt
nicht eine Straße, die in die Irre führt und in die Nacht ... du hörst, was ich sage.“
Ich hatte keine Gelegenheit, auf die im Tone wahrer Besorgnis vorgetragenen Worte des alten
Kameraden direkt zu antworten, denn soeben verlangsamte der Kutscher - dem ihm erteilten
Auftrag gemäß - den Tritt der Pferde, das Gefährt, das uns glücklich hierher gebracht, kam zu
einem Stillstand, und ein flüchtiger Blick aus dem seitwärtigen Fenster belehrte mich, daß wir
am Eingange jener Gasse zum Halt gekommen waren, die, im Borough von Holborn gelegen,
von der Hauptstraße abbog und nach hundert oder wenig mehr Schritten, eine Art engen Hof
bildend, zwischen drei und viergeschossigen Häusern aus gemauertem Stein blind endete. Es
war dies die Stelle, wo sich mein Heim befand.
Zu wiederholten Malen hatte mich früher der Freund hier an der Kreuzung abgesetzt, wenn
auch nicht während der letzten Monate, denn wir hatten uns immerhin einige Zeit nicht gesehen. In das tote Stück Weges hineinzulenken, verbot sich, wie wir wußten, seit wir es vor Jahr
und Tag in der Tat versucht, ich wohnte in dem Geviert im Grunde, seit ich zurück in London
war, wenn auch nicht immer im gleichen Haus – damals waren wir offenbar noch wahrhaft
jung gewesen – und an jenem Tage wohl auch nicht mehr ganz nüchtern. Jedenfalls hatte es
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die erklecklichsten Schwierigkeiten und, weil die Tiere wild wurden, das Geschimpfe von
Nachbarn gekostet, Pferde und Kutsche rückwärts wieder herauszuzwängen. Wir hatten später
manches Mal darüber gelacht, wenn wir daran zurückdachten.
„Nun denn“, sprach Sebastian Friderick-Horne. „Meine Aufträge sind geborgen“, er klopfte
an seine Schläfe. „So komm du nur gut nach Hause, Domenic ... meistere die letzten Schritte,
laß dir unterwegs nicht von bösen Zauberern auflauern mit ihren Teufelsmaschinen, oder gar
Zyklopen oder verwunschenen attischen Statuen ...“
„Ich weiß, du spottest meiner und hältst nicht mit dem rechten Ernste dafür, was mir heute
abend zugestoßen ist“, murmelte ich. „Ich gäbe einiges darum, dir beweisen zu können, daß
ich dies nicht träumte - nun, vielleicht kann ich es ja eines Tages ... Gleichviel, mein Lieber,
... sei vorerst bedankt für deine tätige Hilfe, für die Reise, deine Gegenwart und Wegbegleitung, es war unvermutet und schön, daß wir uns wieder einmal gesehen – du wirst mich wissen lassen, sobald du etwas erfährst?“
Er nickte mir zu. Wir reichten uns zum Abschied die Hände, ich spürte seine Wärme. Dann
öffnete ich die Tür, sah zu, wie von allein die Stufen herausklappten, stieg hinab auf den
Fahrdamm und schloß den Schlag. Innen kam Sebastian Friderick-Horne ans diesseitige Fenster und blickte heraus. Der Kutscher klickte mit der Zunge, die Pferde setzten sich in Bewegung, Sebastian hob die Hand und winkte, und fort war er, einen Moment später hörte ich
nurmehr das Geräusch der Räder hinter der nächsten Biegung verklingen, und dann stand ich
allein.
Das runde Pflaster der Straße, die Schornsteine und abgeschrägten Dächer, die Vorbauten und
Gauben, die winzigen Gärtlein hinter den schmiedeeisernen Gittern, die Häuser ringsum, mir
vertraut und doch nicht vertraut in der gespenstischen Helle der Mondflut, verharrten still wie
tot, mit dunklen Fenstern. Ich blickte zum Firmament, sah die Sterne funkeln und die blendende Mondscheibe bald aufs Neue erreicht von der aufziehenden schwarzen Wolkenwand.
Als ich mich kehrte und in die Gasse bog, denn ich wollte meine Haustüre erreichen, eh das
Mondlicht mich verließ, bellte in der Nachbarschaft ein Hund, sonst blieb es gänzlich still, bis
auf meine Schritte auf dem Pflaster. Das Mondlicht gleißte geisterhaft, wie zur Mittagszeit
einer abgestorbenen Welt, und machte die Schatten doppelt undurchdringlich und schwarz.
Ich ging, leise, lautlos, um niemanden zu wecken, an den Gärtlein entlang, sah die Blumen im
Licht, erkannte Hahnenfuß und Spitz-Wegerich, Astern und Dahlien so deutlich wie bei Tage.
Die vorgebauten Schuppen und die Zäune warfen scharfe, lebendige Schatten in die Gärten
und über die sandigen, schmalen Zuwege.
Hinten, wo die Gasse endete, lag im Winkel rechterhand mein Eingang im Dunkel. Ich trat
herzu, prüfte kurz und leise die verschlossene Tür und beugte mich dann nach dem Schlüssel,
den ich unter dem Stein am Zaune fand. Meine wackere Wirtin, Mrs. Hamlet, hatte ihn dort
hinterlegt – ich konnte verläßlich darauf rechnen, wenn ich mich verspätete; zudem pflegte
ich sie im vorab von abendlichen Ausgängen zu unterrichten.
Gerade, als ich den Schlüssel ins Schloß schob, wurde der Mond zum zweiten Male verdunkelt und ein kalter Wind kam die Straße herauf, der mich frösteln machte. Ich nahm undeutlich wahr, wie die Blumen in den Gärten sich beugten, ein Wispern strich um die Winkel und
Rinnen, fast schien es mir, als ob in der Bewegung der Natur das Seufzen von Frauen hörbar
wurde, das Zischen einer Gischt, die über Felsen spritzt, weiße, undeutliche Gestalten, die am
Ende der Gasse heraufstiegen – ich legte die Hand über die Augen.
Der Freund hatte recht, ich durfte mich keineswegs den Gesichten und Schwachheiten der
Nacht hingeben; ich stieß die Tür auf, trat voran und drückte sie vorsichtig hinter mir zu –
drinnen empfing mich die Finsternis des Treppenaufstiegs. Aber wie immer, wenn uns eine
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Stätte aus langen Jahren vertraut ist, findet der Fuß sicheren Tritt, auch wenn das Auge blind
bleibt. Man läßt sogar die knarrenden Stufen aus. Ich tastete mich an der Wand entlang, stieg
leise dem zweiten Stockwerk entgegen, denn dort unter dem Dache befand sich meine Stube.
.....
Ich öffnete die Tür, trat ein und versperrte sie hinter mir mit dem Riegel, blieb stehen und
versuchte meine Augen an den Rest schwachen Lichtes zu gewöhnen, das noch durch das
Fenster drang. Ich trat herzu, indem ich das Bett vermied, und öffnete es für den Augenblick,
um Luft einzulassen und die dumpfigte Stickigkeit der Mansarde zu lindern, die ich zuvor
viele Stunden nicht betreten.
Mein Blick ging auf die schemenhaften Umrisse der Dächer und Schornsteine gegenüber,
über die eine Katze schlich, und hinab in die Gasse, die jetzt unter mir in völliger Dunkelheit
ruhte. Linkerhand der Flecken an der Hauptstraße, wo ich aus der Kutsche des Freundes gestiegen, lag verlassen und still.
Der Mond war verborgen, und ich nahm, was ich erblickte, eher wahr wie ein Tier, das wittert, als daß ich es wirklich sah. Aus den schwarzen Wolken am Himmel strich es unsichtbar
und unhörbar wie mit kalten Geisterfingern herab, der Wind flüsterte über die Firste gegenüber wie von lockenden Sirenen, er tastete kühl nach meinem Gesicht, umfächelte mich, liebkoste mich, wie ich dort im offenen Fenster stand. Ich blickte genauer hin. Wie finster es war!
Wie Zinn floß es schwarz um Giebel und Gauben, etwas entfernt, gegen einen Schornstein
gelehnt, nahm ich plötzlich schemenhaft eine Frau, deren Gesicht ich nicht erkannte, auf der
abschüssigen Dachfläche wahr, sie hielt sich vorm Abbrutschen an einem Rohr und blickte in
meine Richtung.
Ich stieß hastig das Fenster zu.
Mit bebenden Fingern suchte ich im Dunkeln nach den Lichtern und steckte eines davon auf.
Sobald es brannte, traten die Wände der kleinen Stube, die ich bewohnte, der Stuhl, das Bett,
beruhigend aus der Finsternis. Ich war in Sicherheit. Ich entkleidete mich, versorgte als erstes
den geliehenen Frack am Haken an der Wand und schlüpfte in mein Nachtgewand. Doch
wollte und konnte ich mich noch nicht zur Ruhe begeben. Ich beugte mich über den Sekretär,
um einen Bogen zu brechen und die Tinte bereitzustellen. Schließlich war ich, des helfenden
Freundes eingedenk, viel früher nach Hause gekommen als noch bei meinem Aufbruche vermutet, und da halfen denn keine Anstalten mehr, es duldete keinen Aufschub, sondern ich
griff nach der Feder, und während der nächsten Stunden brachte ich meinen Bericht zu Papier.
Ich lobte glühend den Glanz des Festes, beschrieb die herrlichen Roben der Gesellschaft,
führte die gereichten Speisen auf und betonte ihre Schmackhaftigkeit, äußerte mich wohlwollend zu Üppigkeit und Reichtum von ‚Morass Manor’, des ganzen herrschaftlichen Anwesens, malte liebevoll Sonne und flirrendes Laub über den grünen Rasen - sparte jedoch bei der
Hauptsache auch den sensationellen, wenn nicht zweideutigen Charakter des Bildes wie der
Kunst des Maestro Condonniere mit Hinweis auf Blake und Fuseli nicht aus. Ich unterließ es
ferner nicht, auf die schillernde Biographie des Mäzens, Zinnminenbesitzers und Aldermans
Sir Enid Luciter einzugehen sowie jüngster Geschehnisse zumindest andeutungsweise Erwäh52
nung zu tun, so daß sich beim Leser bei aller Anteilnahme und Freude insgesamt doch eher
ein Erstaunen über eine gewisse Décadence einstellen mochte - daß sich in die Verzückung
über wundervolle Garderoben und schmackhafte Bissen auch der Duft des Dégoutanten mischen sollte. Mir lag daran, beim Leser eine Ahnung von Ablehnung gegenüber gewissen
Maßlosigkeiten hervorzurufen, daß möglicherweise ein Hauch von Mißbilligung empfunden
wurde hinsichtlich solcher Gleisnerei.
Ich hörte durch das dünne Glas meines Fensters, während die Feder über das Papier kratzte,
den Constable am Fuße der Gasse, dort wo sie in die Hauptstraße einmündet, die elfte Stunde
und später auch die Mitternacht ausrufen, und ich befand mich wie im Fieber. Zur halben ersten Stunde jedoch, als ich den Sand darüberwarf, war ich endlich zufrieden mit mir, las es
noch einmal zur Kontrolle und bereitete mich alsbald zum Bett.
Daß ich über mein privates Erlebnis kein Wort verlautet, verstand sich von selbst, hatte ich
doch kaum daran gedacht, während ich die Seiten füllte.
Nun jedoch, da ich im Dunkeln ruhte, das Talglicht gelöscht war, kamen die Geister zurück
zu mir. Draußen vor den Fenstern stöhnte der Wind und drückte knisternd gegen die Scheibe.
Bloße, weiße Gestalten rührten unten am Zaune und seufzten um Hilfe und Einlaß, glitten
über das Pflaster und tanzten einen Reigen von Verlorenheit und Trauer, besonders eine, mit
kühler Schulter und den Kopf halb zur Färse verwandelt, schluchzte, gefangen, im Beet der
verblühenden Astern und Dahlien.
Später, als ich schlief, wurde es schlimmer. Da schwebte ich mit dem gleißenden Mondlicht
weit über der Heide auf einem sonderbaren Fluggerät, eine Maschine, die ihre Krallen in mich
schlug, ein Monstrum, das entfernt an eine archimedische Schraube gemahnte, und aus dem
ich hilflos von den Wolken hing.
Im Traume wußte ich wohl, daß ich nur träumte, wachte im Traume sogar auf und schlief
gleichwohl unruhig weiter.
Ich fürchtete abzustürzen, doch was mich am meisten erschreckte – ich konnte es von hier
oben erkennen – das waren die grünen Finger der Heide, die unerbittlich nach der Stadt London gegriffen hatten, Pflanzenmörder, die herankrochen und die Häuser überwucherten wie
ein grauenvoller Urwald, eine lebende Flechte, die alles erstickte. Die Stadt, die ich kannte,
sie lag in Ruinen, als ob längst keine Menschen mehr hier lebten, als ob vor Generationen der
letzte von ihnen gegangen war und die grausame Natur ihr Königreich zurückgewonnen hatte.
Und dann bemerkte ich, daß es ja keineswegs monströse Schlingpflanzen waren, wie ich zunächst geglaubt, die die geborstenen Steine überwucherten, sondern ... es war Zinn, vorwärtsquellend, drängend wie ein Vulkanausbruch, grau und halbflüssig im flüssigen Mondschein,
Zinn, das einem widerlichen Brei gleich durch Türen und Fenster drang, das als Schleim in
den Gassen klebte, während Sir Enid Luciter mit seinem Stock auf das Pflaster schlug und
immerfort „Minerale ... alles Minerale“, rief. „Minerale, Minerale – wie Edelstein!“ –
In seiner Gesellschaft fand sich der Graue, er war in eine Zwangsjacke gebunden und grinste
boshaft, und ich sah, wie das Zinn einzig aus dieser unheimlichen Quelle, seinem gespaltenen
Kiefer tropfte und sickerte. Er spuckte und sabberte, und noch mehr Zinn drang aus der grauenvollen Scharte hervor. Ich schrie und schwang herum und mir wurde schwindelig ...
… und ich sah mich selbst von hoch oben in meiner Dachkammer liegen, dort, wo ich jetzt in
Wirklichkeit lag ... jedoch längst erstickt und verwest ... und gefoltert von der glänzenden
Maschine.
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3. Kapitel
„Ye Olde Bell
Finley Burkitt war ein Mensch, der mit beiden Beinen im Leben stand, zu der Zeit, von der
ich berichte, hoch in den Siebzigern. In jeder anderen Zunft hätte man gesagt, er wäre mittlerweile zu betagt gewesen, sie ferner auszuüben. Sollte indes jemand bei ihm solches von
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ferne geäußert haben, so wäre er verlacht worden, nicht zuletzt von ihm selbst. Das heißt, ich
will hier getreu in der Darstellung bleiben: Er wäre nicht verlacht worden, denn es gehörte zu
Burkitts hervorstechendsten Charaktermerkmalen, nie zu lachen; selbst, wenn er sich einen
Spaß erlaubte, und das tat er durchaus des öfteren.
Finley Burkitt, mit fünf Fuß, drei Zoll nur eher mittelgroß, dabei hager und knorrig wie ein
Stock aus dem Walde, sehnig und immer noch kräftig wie ein junger Stier, kam, so schien es
uns Jüngeren – und wir, die wir unter ihm arbeiteten, waren alle jünger als er - jeden Tag, den
der Herrgott werden ließ, ein Stück ausdrucksloser und weiser zur Arbeit.
Es hieß, er hätte einstmals als junger Mensch - wie ich bei einer Zeitschrift für die Damenwelt
– noch beim „Female Spectator“ die Grundzüge des Handwerks erlernt und danach bei der
TIMES unter John Walter, dem Älteren, seine ersten Lorbeeren eingestrichen und genug des
guten Namens erworben, um schließlich gemeinsam mit einem jüngeren Geldgeber, der vor
Jahren verblichen war, auf eigene Verantwortung den ‚Monthly Mercury’ ins Leben zu rufen.
Das Blatt besaß seit seiner Gründung einen außerordentlich trefflichen Leumund - was sich
in seinem geschäftlichen Erfolge aussprach; dies war von Bedeutung, denn das Feld der Journale und Magazine wurde damals wahrlich von einer großen Anzahl direkter Konkurrenten
beackert - und zweifellos war der Erfolg in erster Linie ihm selbst zuzuschreiben.
Finley Burkitt war seit fast drei Jahren mein Brotgeber. Im Grunde wußte ich wenig Privates
über ihn. Es kam niemals dazu, daß man sich außerhalb des Comptoirs begegnete – er hätte es
sich auch, da war ich sicher, verbeten. Alles, was sich herumgesprochen hatte, war, daß er
abseits der Dienststunden das Leben eines Einzelgängers führte, er hatte keine Familie, und
manche munkelten, er lebe möbliert irgendwo draußen in Hackney. Das mochte stimmen oder
nicht, niemals hätte irgendeiner von uns ihn darauf befragt oder angesprochen. Da war keiner
von uns, nicht die Setzer mit ihren Bleikästen, hinten unter den deckenhohen, stets sauber
geputzten Fenstern, die zum Hof gingen, oder die Redakteure an ihrem langen Tische gegenüber oder die Lohnschreiber wie ich, der ihn nicht verehrt hätte wie einen Heiligen, und ähnlich still, wie in einer Kirche, bis auf das gelegentliche Klacken der Lettern in den Holzkästen
und das Kratzen der Federn, war es auch, wie immer, an diesem Vormittag im Comptoir, so
daß man das Ticken der großen Uhr an der Rückwand hörte, die Mr. Burkitt dort, vis-à vis
von seinem Pult, hatte anbringen lassen.
Jetzt saß er und las meinen Bericht. Ich wartete auf dem Bock an meinem Platz, nicht allzu
ferne von ihm, und betrachtete das Ofenrohr quer unter der Decke, das nach hinten zu den
Fenstern verlief. Wir hatten auch einen Kamin auf der Wand hinter Mr. Burkitts Podest, der
aber nie angezündet wurde, weil es sich gezeigt hatte, daß im Winter dieser Raum trotz des
erheblichen eisernen Ofens in seiner Mitte sowieso nicht beheizbar war. Jetzt, im beginnenden Herbst und noch recht früh am Morgen, wo es kühl war und der Tau an den Fenstern heruntertroff, das verstand sich von selbst, wurde nichts befeuert, manche der Männer trugen
deshalb Fingerlinge.
Mr. Burkitt setzte die Blätter meines Berichts ab und äußerte halblaut: „Mr. Holland?“ Er
hatte eine angenehme Stimme, die jünger klang, als er war. Die anderen an ihren Tischen und
Pulten unterbrachen die Arbeit nicht – es war dies eines der sehr angenehmen Dinge unter den
wohl gut zwanzig Männern in diesem Raum, sie waren alle ernsthaft an ihrem Tun interessiert, wir kannten uns über Jahre gut genug, keiner neidete dem anderen seine Stellung: Wir
kamen uns etwa vor, schien mir – hätte dies mein Vater doch noch erfahren! - wie eine eingeschworene Schiffsbesatzung – und unser Ozean war das öffentliche Wort.
Ich eilte zu ihm hin und blieb aufmerksam vor seinem Pulte stehen. Finley Burkitt las einige
Zeilen noch einmal, klopfte dann gegen die von mir in der letzten Nacht beschriebenen Bogen, blickte ungnädig auf und erkundigte sich: „Sie sind also ein hingebungsvoller Sammler
von Tellern und Spielzeugsoldaten, Mr. Holland?“
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Ich war außerordentlich überrascht, verblüfft. „Nein, ehrlich gesagt ... ich wüßte nicht, Sir.“
„Aha. Und was sonst könnte Zinn mit Kunst zu tun haben?“
Jetzt hatte ich verstanden. „Nun, die Idee stammt von Sir Enid Luciter, Sir.“ Ich zeigte auf das
Papier, das er in Händen hielt. „Ich habe das auch genauso vermerkt: Er beliebte in seiner
kleinen Rede diese amüsante Verbindung zu knüpfen.“
„Ah, ich verstehe, ich verstehe“, meinte Finley Burkitt. „Aber nicht alles, was dieser Mann
äußert, ist per se originell, Mr. Holland.“
Ich zuckte die Schultern. „Nein, Sir. Ganz gewiß nicht, Sir. Sie haben recht, Sir.“
Er nickte. „Nun gut, dann entfernen Sie das. Sie beschreiben ja hinlänglich das Bild selbst.
Wir wollen unseren Lesern überlassen, ob es etwas mit Kunst zu tun hatte oder nicht.“ Er
blickte auf, mir direkt in die Augen. „Sah es wirklich so aus?“ knurrte er.
„Sir, ich habe mich bemüht, es so augengetreu wiederzugeben, wie es mir möglich ist.“
„Vielleicht sollten wir das an einigen Kanten etwas lindern und schleifen“, schlug er vor, „wir
werden schließlich auch von verheirateten Damen gelesen.“
„Ich verstehe, Sir. Ich werde mich darum bemühen.“
Er hatte längst den alten Kopf wieder gesenkt, blätterte, fand etwas anderes. „Dann dies hier,
Mr. Holland. Wer, in Dreiteufels Namen, ist Frank Purcell?“
„Mr. Burkitt, ich habe den ungeklärten Tod von Frank Purcell deshalb aufgenommen ...“
„Mr. Holland“, unterbrach er mich. Seine Stimme klang verdächtig geduldig
„Sir?“
„Mr. Holland, wie weit kennen Sie mich?“
„Mit aller gebotenen Zurückhaltung, Sir, ...“
„Dann ersparen Sie mir gütigst das zweifelhafte Bonmot, daß Sie mich kennenlernen werden“, äußerte er.
„Bitte, Sir?“ Ich wartete auf eine Erklärung.
Er klopfte auf das Papier. „Würden Sie ein gräßliches Kutschenunglück als überzeugende
Folie für einen Essay über ein glänzendes gesellschaftliches Ereignis, sagen wir, eine Vernissage, betrachten?“
„Nein, Sir. Normalerweise natürlich nicht, Sir, aber in diesem Fall ...“
„Oder finden Sie, daß Scheußlichkeiten wie Epedemien von Stäupe oder, sagen wir, Kutschenunglücke generell in ein Periodikal gehören?“
„Natürlich nicht, Sir. Aber hier haben wir doch ...“
„Mr. Holland, ich nehme an, Sie haben diesen Unfall genau recherchiert?“
„Sir, bitte? --- Nun ... ich habe davon gehört. --- Meinen Sie, ob ich beim Friedensrichter gewesen bin?“
„Sie haben also davon gehört ...“
Er öffnete den Spanbeutel an seinem Gürtel, um etwas Glut und Zunderpilz herauszuklauben,
kramte in den Schubladen seines Pultes und brachte schließlich eine kleine weiße Pfeife aus
Porzellan ans Tageslicht, die er genüßlich stopfte und in Brand setzte. Man sah, daß er sich
äußerst wohlfühlte dabei.
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„Mr. Holland“, begann er schließlich aufs Neue, als der erste weiße, wohlriechende Dunst ihn
umschwebte.
„Sir?“ äußerte ich abwartend.
„Mr. Holland“, brachte er vor, dicke Rauchwolken ausschmatzend, „eine zur Mitternacht im
Kehricht der Straße zerquetschte Brust paßt ... kaum zu einem attraktiven Décolleté im Kerzenschein ... so wie geronnenes Blut vorm Mund recht wenig zu den schmackhaften Erlesenheiten eines üppigen Buffets – haben wir uns da verstanden?“
Ich breitete etwas hilflos die Hände aus. Was hätte ich darauf erwidern sollen?
„Sie nehmen das Kutschenunglück aus ihrem Text, Mr. Holland“, sagte er leise. Es war keine
Frage, keine Bitte.
„Selbstverständlich, Sir.“
Burkitt nickte selbstzufrieden. „Andererseits ... dieser Frank Purcell“, murmelte er und zog
mit der Linken meine Bogen zu Rate, „war, wenn ich Ihre Einlassungen ganz recht verstehe,
ein Kollege von uns ...?“
Ich hob die Schultern. „Er arbeitete für die Konkurrenz, Sir, ... für den ‚London Tattler’.“
„Das war es, was ich meinte - ein Kollege“, murmelte Finley Burkitt zustimmend und stieß
dicke Rauchwolken aus. „Nun, in diesem Falle, Mr. Holland, sind wir ihm da nicht eine gewisse liebevollere Besorgnis schuldig - nein? finden Sie nicht?“
„Mr. Burkitt, Sir?“ Ich überlegte, ob der alte Teufel eigentlich wußte, wie glücklich er mich
mit all dem machte?
Er blickte mich über meine Blätter an, ließ sie fallen und schob sie mir zu. Ich nahm sie von
seinem Pulte auf.
„Das“, sagte er und zeigte darauf, „können Sie, sobald Sie gütigst die besprochenen Modifizierungen aufgenommen haben, Mr. Meredith zum Setzen bringen, Mr. Holland. Ein Gran
Leiblichkeit indes wie auch das Schicksal des unglücklichen Mr. Purcell bleiben aus Geschmacksgründen strikt ausgespart.“
„Gerne, Sir. Sehr wohl, Sir. Natürlich.“
„Letztere Angelegenheit hingegen“, sprach Finley Burkitt, und seine Stimme spielte dabei
sonderbar zwischen Härte und Weichheit, „sollten Sie zum Ziele einer eigenen Erforschung
machen. Es wird sich weisen, was Sie über kurz oder lang ermitteln können, und ich will nicht
ausschließen, daß das Ergebnis vielleicht Thema eines ganz eigenen Berichtes sein wird. Wir
sind nicht in Zeitnot, Mr. Holland.“ Er schmauchte genüßlich an der Pfeife. Er tat dies nicht
etwa, um unterdessen weitere Überlegungen anzustellen. Was er zu sagen hatte, das stand
längst fest und klar in seinem Kopfe. „Suchen Sie die Witwe und ihre Kinder auf, sobald Ihre
Zeit es erlaubt“, ordnete er mit leiser Stimme an, „und – ja ...! – sprechen Sie mit dem zuständigen Friedensrichter, falls Sie solch einen auftreiben können. --- Fegen Sie den Unrat beiseite, der über all dem lagert, Mr. Holland.“ Er lächelte nicht, da er niemals lächelte. Sein
Blick kehrte sich nach innen. „Liebevolle Besorgnis, Mr. Holland ...“ Er machte eine entlassende Geste mit der Hand.
Ich neigte den Kopf, drehte mich auf dem Absatze, um zu meinem Platz zurückzugehen.
„Ah, Sir“, hörte ich in meinem Rücken.
„Mr. Burkitt, Sir?“
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Er blickte mir ins Antlitz, nickte, deutete mit dem Pfeifenstiel auf die Blätter vor meiner Brust
und sprach: „Sie haben diesen Pergamenten gar nicht alles anvertraut, nicht wahr, Mr. Holland? Nicht das Wesentliche?“
In meinem Kopf setzte sich ein Karussell in Gang. Wie konnte er ahnen, womit ich mich insgeheim befaßt? Woher um Gott wußte er, welcher Feuerbrand des letzten Abends in mein
Herz gesenkt worden war? Woraus schloß er, daß mein Leben, zumindest meine Ängste, zum
Gegenstand eines tändelnden Experimentes geworden waren?
„Ich weiß gänzlich nicht, was Sie meinen, Sir.“
„Oh, natürlich wissen Sie, was ich meine“, murmelte er nachsichtig. „Das Papier zwischen
den Zeilen, die Sie niederlegten, spricht zu mir, Mr. Holland., das werden Sie nicht hindern
können – ich bin schließlich kein unerfahrener Jüngling mehr.“
„Sir?“
„Hat das Billett, das Ihnen dort Eintritt gewährte, das ich Ihnen einhändigte, Mr. Holland,
Ihnen irgendwelche Schwierigkeiten verschafft?“
„Nein, Sir, unbedingt nein, das würde ich nicht sagen. Was immer sich zukünftig als Problem
abzeichnen könnte, Sir, es ist gewißlich nicht von Ihnen verursacht, sondern bestenfalls Folge
meines privaten Ungeschicks in der Angelegenheit.“
„Ich verstehe“, sagte er. „Das tut mir leid.“
„Ich danke Ihnen für Ihr Mitgefühl, Sir. Aber verschwenden Sie es nicht an einen Unwürdigen.“
„Einerlei“, er winkte mit der Hand. „Erledigen Sie verantwortlich Ihre Arbeit, Mr. Holland.
Ihre Manuskripte, das wissen Sie, finden nicht selten mein Wohlgefallen. Ich sähe es sehr
ungern, Sie zu verlieren ... sagen wir ... an eine Kutsche.“
Einen Augenblick, der mir wie eine wahre Ewigkeit schien, schauten wir uns direkt in die
Augen, dann verneigte ich mich stumm und zog mich zurück.
Ich saß nun an meinem Pulte, lauschte auf das Ticken der großen Uhr und das Klappern der
Lettern in ihren Holzkästen. Draußen wanderte die milde Herbstsonne gemächlich über den
Hof – oh gewiß, an diesem Tage schien das unfreundliche Versprechen der gestrigen abendlichen Wolkenwand fast wie vergessen, der Himmel hatte sich abermals aufgetan. Gelegentlich
schaute ich zu Finley Burkitt hinüber, der selber in seine Arbeit vertieft war, bemühte mich,
die geforderten Streichungen in meinem Texte anzubringen, hantierte wacker mit Lineal und
Feder, besserte die entstandenen Lücken durch geistvolle Einfügungen am Marginum aus und
war doch mit dem Kopfe nur halb bei der Sache. Da fühlte ich einerseits die Wärme unvermuteten Einverständnisses zwischen dem alten Manne dort herüben und mir - und gleichzeitig
die kalten Besorgnisse der Nacht, die kranke Furcht, die aus dem Bedürfnis eines reichen
Teufels resultierte, mir blind zu schaden, eines grausamkeitstrunkenen Hinkefüßigen, der entstellte Eishaarige mit gespaltener Lippe zu seinen Gästen zählte und von schmutzigen italienischen Malern Bilder anfertigen ließ, die mir das Innerste zuoberst kehrten.
Gegen vier Uhr des Nachmittags entstand herüben bei Meredith, der unser erster Setzer war
und zufällig am Eingange seinen Sitzplatz hatte, eine diffuse Bewegung. Ich nahm, indem ich
aufblickte, einen Jungen von zwölf oder dreizehn Jahren in zerlumpter Kleidung mit einer
Mütze auf dem Kopfe wahr, der von der Straße heraufgekommen sein mußte und sich mit
Meredith in einer flüsternden Diskussion befand. Für einen kurzen Augenblick gedachte ich
meiner eigenen beruflichen Vergangenheit der Boten- und Laufburschenzeit, ohne das aufgeregte Getuschel auf der anderen Seite einem genaueren Eingedenken zu unterziehen – wie der
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Rest der Belegschaft auch, der sich – ich hatte dies vermeldet – stets gewohnheitsmäßig eher
bei der eigenen Arbeit hielt als der des Nachbarn.
Dann jedoch wurde ich erneut aufmerksam, als Meredith selbst sich meinem Platze näherte,
mit einem gefalteten Schriftstück in der Hand, und mir, als ich hochschaute, damit Zeichen
gab.
„Der Bursche dort drüben möchte dies an Sie weitergereicht wissen“, sprach er in unterdrücktem Tone und deutete über die Schulter.
Ich sah den Knaben immer noch bei der Türe stehen und zu uns herüberstarren. Ich verhehlte
nicht meine Überraschung und streckte den Arm aus. Meredith überließ mir das Schreiben,
das in der Tat in Tinte auf der Außenseite meinen Namen trug. Es kostete mich indes nur eine
knappe Sekunde, um zu erkennen, daß es die Hand Sebastian Friderick-Hornes war, die dies
notiert.
„Oh gewiß“, sagte ich zu Meredith, „bitte warten Sie noch einen Augenblick.“ Ich erbrach
schnell das Schreiben, es war knapp, und überflog es mit meinem Blicke, um zu erforschen,
ob es eine unmittelbare Antwort heischte. Dies war nicht der Fall. Ich fingerte in der Tasche
meiner Weste nach einem Penny und reichte ihn dem Kollegen. „Danke, Meredith. Geben Sie
dies dem Jungen, wenn Sie so nett sein wollen“, bat ich. „Und sagen Sie ihm, es sei gut.“
Unser erster Setzer nahm nickend das Geldstück in Empfang und kehrte zur anderen Seite des
Raumes zurück, während ich mich ein weiteres Mal in die Zeilen des Freundes vertiefte. Sie
lauteten:
„Geschätzter, Guter!
Zwar finde ich, das darfst du mir herzlich glauben, keinerlei Schwierigkeit, die
Zeitläufte des regulären Tages mit Tätigkeit zu erfüllen, aber seit gestern okkupiert mich selbstredend nur das eine oder andere, das du mir aufgetragen! Wie
anders! – Nein, Lieber, Bester, im Ernst: Ich war es mir selbst nicht vermutend,
und sicher ist dies ein bedeutender Zufall, aber bereits heutigen Morgens scheint
sich in deiner Sache etwas getan zu haben – so höre denn folgendes:
Ein Klient - es wird - und es muß dich auch nicht interessieren, wes behufs er
die Dienste unserer Kanzlei beansprucht (es geht um den Kauf einiger Ländereien – dies beiseite), - mit dem ich soeben tagte, vertraute mir – und es wird
dich dies des äußerst intimen Verhältnisses versichern, in dem unsere Kanzlei
sich mit dem nämlichen Klienten befindet – er vertraute mir ganz neben dem eigentlichen finanziellen Geschäfte unserer beruflichen Verbindung die Tatsache
an, daß er jüngst einen namhaft lohnenswerten Abend im Kreise einiger wertvoller Compagnons und Damen im Süden unserer Metropole verbracht habe.
Dabei sei man wohl auch in den Genuß einer dramatischen Darbietung gekommen. Shakespeare war es anscheinend nicht, wenn ich, verzeih mir, den Aussagen des Betreffenden Glauben schenken darf, aber etwas hinreichend Bemerkenswertes war es doch gleichwohl, um eine Woche hernach vor meinem Ohre
Erwähnung zu finden.
Diese Gesellschaft, kurz, vielleicht auch nur der nämliches Klient, mit dem ich
konferiert, jedenfalls, fand sich nach der Vorstellung flugs in einer belebenden
Konversation mit einer jungen Dame versunken, die maßgeblich bei dem dramatischen Bühnenunternehmen mitgetan – und die Schilderung ihrer Existenz
enthüllte, daß sie - und es läge noch nicht lange zurück – draußen in Cornwall
einem Künstler zum Bilde gesessen, der ein Tableau aus der griechischen Geschichte im Sinne gehabt. -- Nun, Mythologie, geliebter Freund, oder Ge59
schichte - Cornwall hin oder her - das Ganze scheint mir doch hinlänglich derart
in einer einzigen Reihe mit dem, was dich interessiert, daß ich mich hier nicht
entprechen mag, dir davon Mitteilung zu tun.
Zum genaueren Verweis, mein Guter: Die dramatische Truppe zelebriert ihre
Kunst noch die ganze Woche im Innenhof des „Ye Olde Bell Inn“, die Adresse
verlautet als „22, The Mill’s Cross“. Wenn du Lust verspüren magst, das Gespräch mit der jungen Dame zu suchen, so unterlasse es nicht, mir hernach Mitteilung von dem ergötzlichen Vorgange zu tun. Bis dahin, hoffe ich, alter
Freund, deine Lebensgeister mit der Nachricht in gebührenden Aufruhr versetzt
zu haben und verbleibe, dich treulich küssend
Dein alter Kamerad Seb
Ich lächelte vor mich hin auf den Tisch vor mir, und nach zwei- oder dreimaligem Lesen der
Nachricht faltete ich das Blatt in seine ursprüngliche Form und versenkte es in meine Tasche.
So hatte ich doch auch einmal schnelles Glück gehabt, dachte ich bei mir, so würde es also
bereits heute so weit sein, daß ich einem jener ‚Modelle’ des Maître Condonniere Aug’ in
Auge gegenüberstünde – wie ich nun wußte, einer Schauspielerin! Ein Geheimnis aufgedeckt!
Wie würde es sein, nachher, nach Dienstschluß? – ich konnte es mir kaum vorstellen – und es
kaum erwarten. Da war etwas Sonderbares in mir, etwas, das ich vorher nie von mir gekannt.
Ich würde mutwillig entgegen der ausdrücklichen Weisung Sir Enid Luciters, gegen seine
wilden Warnungen und Drohungen handeln und mich verboten einem von diesen Wesen nahen. Und was, bittesehr – ich lachte heimlich bei mir – was im Ernst wollte er dagegen tun?! Ich fühlte ein eigenartiges Kribbeln tief in mir … und es bereitete mir Angst gleichzeitig …
und Lust …
.....
Das „Ye Olde Bell Inn“ lag an einer der breiteren Häuserzeilen in Southwark, nur wenige
Schritte vom Ufer der hier majestätisch dahinströmenden Themse entfernt. Der Sand in der
Straße war tiefer als anderenorts und gemahnte den Passanten an den Strand der See, wenn
nicht gar eine ferne Wüste im Morgenland. Einige Pferde tollten seitwärts in einem Gehege.
Die Wirtschaft selbst war nicht anders als die meisten hier in der Gegend, nach hinten zu rings
um einen Hof gelegen, in welchem die Darbietungen stattfanden, mit den Fenstern der vermieteten Zimmer auf ebendiesen Hof. Ich kam um ein Erkleckliches zu spät, weil ich den
Weg unterschätzt hatte, dies brachte mich um den Genuß der Vorstellung, denn verspätet
wollte ich nicht hineintreten – aber ich hörte eine gute Stunde lang das Gejohl und Geklatsche
aus dem rückwärtigen Gebäudeteil, während ich vorn im Gastraum mein Ale nippte.
Dann war die Vorstellung vorüber, und das Volk wie etwas später die Darbietenden selbst
strömten herein. Die letzteren erkannte man an ihrer größeren Farbigkeit, an der Lautstärke
und dem Frohsinn, die sie verbreiteten. Allerdings, eh ich sie genauer ins Auge hatte fassen
können, waren sie seitwärtig auf eine Terrasse ausgewichen, die sich zwischen den Häuserzeilen öffneten, und von wo, wie ich vorhin bei einem kurzen Rundgange bemerkt, man den
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Blick aufs Wasser hatte, über dem jetzt jenseitig, über Westminster, blutrot die Sonne unterging.
Ich wartete ab, bis sich genügend Volkes heraußen angesiedelt hatte, dann nahm ich meinen
Becher und folgte dem Tross. Ich fand einen unbeanspruchten Platz im Winkel bei der Hauswand, von wo sich mir ein herrlicher Blick auf die Streifen der sinkenden Sonne bot, die
Schattenrisse der Feiernden davor. Mehr als ihre Schattenrisse, denn ich brauchte gar nicht
lange zu forschen, da hatte ich sie im Menschengebräu ausgemacht.
Und es war dies, geneigter Leser, da es mir zum ersten Male zustieß, ein Augenblick so sonderbar, so atemnehmend, daß ich kaum instand bin ihn, zu schildern. Wie wenn man an einen
unbekannten Platz kommt, den man lange kennt, von einer Zeichnung, einem Stich, einer
Lithographie – Stonehenge ... oder Gloucester Abbey ... und nun ist man doch leibhaftig da
und geht dort herum mit den eigenen Füßen, in dem Bilde, das da einst nur war ... ein Traum,
den man geträumt, und plötzlich begegnet uns gespenstisch die nämliche Situation im Leben
... das Bild von einem Unbekannten über dem Tisch der Eltern ... und dann trifft man diesen
Menschen in der Straße ... ein Anblick, anrührend und wunderlich und kaum zu begreifen.
Ich kannte das schwarzhaarige Mädchen von dem Bilde gestern – da hatte sie die Europa gegeben, halb zur Rechten - schwellend, bloß, unzüchtig, mit dem Horn des Stiers. Hier war sie
ein junges Weib wie hundert andere, in weißer, geschürzter, ausgeschnittener und gebundener
Bluse und einem langen Rock von dunkelstem Rot, die bloßen Füße einmal hier auf der Bank,
einmal dort und einmal geschwinde über den Boden huschend. Sie schenkte den anderen ihrer
Truppe Wein und Bier aus wie eine Kellnerin, eine Zigeunerin, eilte ins Haus und kam mit
dem Kruge wieder hervor. Auch trug sie goldene Ringe in den Ohren, die sie auf dem Bilde
nicht getragen.
Dies war ein junges Mädchen aus dem Volk, zwanzig oder zweiundzwanzig Jahre alt, und sie
bedeutete mir nichts. Ich will damit sagen – es war nicht sie ... nicht sie ... und natürlich hatte
ich im Traume nicht geglaubt, daß es so einfach sein würde, sie zu finden, ihr zu begegnen. Es
wäre dies wohl unvernünftig gewesen anzunehmen, die Imagination eines schlichten Toren,
dies war mir klar. Es war nicht sie, und dennoch ... sie war kongenial die aus dem Bilde ... der
Maestro Condonniere mochte ein Lump, ein Taugenichts, ein dummer Mensch und alles andere als ein Künstler sein, aber ein höllisches Talent besaß er zweifellos, nämlich das, einem
Menschen sein Abbild zu rauben. Sie war von der Leinewand gestiegen, hatte sich das Gewand eines jungen Mädchens aus dem Volke übergeworfen und nahm hier einen Ausflug von
dem Bild. Schlag Mitternacht würde sie zurückmüssen auf die Leinewand, gebannt und erstarrt in weiterer regungsloser Nacktheit, das Horn des Stieres empfangend.
Der Lärm der Trinkenden erstarb vor meinen Ohren. Ich spürte, wie mir, obwohl es eher kühl
war, der Schweiß an die Schläfen trat. Wenn dies eine Probe bedeutete zu weiterem, das mir
irgendwann im Schoße der Zukunft zuzustoßen bestimmt war, so jagte es mir in diesem Augenblick schon eine abscheuliche Furcht den Rücken hinunter. Dies war sie, das junge Mädchen, und sie bedeutete mir, wie ich anmerkte, absolut nichts. Sie war Europa, nicht Io ... aber
wie würde es erst sein, wenn ich Io begegnete? ... Ich hatte es nie bis zuende durchdacht ...
gräßlich ... wunderbar ... ich sehnte mich danach, gewiß, doch gleichzeitig erschrak ich davor
bis in die abgründigsten Tiefen meiner Seele. Dieses Mädchen hier, auf der Leinewand eine
brünstige Europa, war im realen Leben eine Bühnendarstellerin und ein junges Ding, das im
Wirtshaus mit den anderen scherzte und tändelte. --- Was war Io ...?!
Wenn ich sie denn traf!! ... Ich hatte bisher mit einer mir aus den Schatten meines Bewußtseins zukommenden Sicherheit erwartet, daß ich sie treffen würde – aber was war, wenn ich
sie nicht fand?!
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Ich lehnte mich zitternd an das Gebälk des „Ye Olde Bell“ in der erblassenden Sonne, beobachtete das Mädchen, das ich gefunden, von ferne und überlegte mir, wie ich unbeobachtet
ein, zwei Worte mit ihr wechseln könnte. Gelegentlich der Tatsache, daß sie ein weiteres Mal
hineinschlüpfte, wohl um einen neuen Krug Weines zu holen, folgte ich ihr nach. Die
Gaststube mit ihren Bänken, den von Rauch gedunkelten Wänden, der niederen Decke, die
hölzerne Pfeiler unterstützten – dies war ein altes Haus – empfing mich wieder. Hier war es
mittlerweile menschenleer, alles Volk draußen, um den Herbstabend zu genießen. Hinter dem
Ausschank im Kerzenlicht stand allein der Wirt und wischte Becher und Gläser trocken. Er
blickte auf, als das Mädchen zu ihm kam, ich war zu entfernt, hörte nicht, was sie miteinander
sprachen, aber es sah sonderbar vertraut aus. Er bückte sich und füllte den Krug nach, den sie
ihm gereicht. Sie, in einer gedankenlosen Bewegung, polierte unterdessen das Tablett, das sie
trug. Noch bevor ich den Schanktisch erreicht hatte, stellte der Wirt den Krug auf das Tablett,
lächelte und tätschelte dem Mädchen die Wange. Sie ging hinaus, ohne darauf zu reagieren.
Ich setzte mich etwas entfernt und spürte, wie er mich beobachtete. Schließlich kam er zu mir
heran, mit dem Tuch in der Hand.
„Haben der Herr noch einen Wunsch?“
„Oh nein“, winkte ich ab – um im nämlichen Augenblicke zu bemerken, daß mein Becher leer
war. Er und ich, wir lachten gleichzeitig, nicht zu herzlich, denn wir kannten uns nicht, doch
es war eine spaßige Gelegenheit. „Oh doch“, verbesserte ich mich. „Natürlich trinke ich noch
einen Krug, Herr Wirt.“
Ich beobachtete, wie er den Schanktisch hinunterschritt und mir den Trank bereitete. Der Becher lief über, er schob mit einem Schieber den Schaum herunter. Er brachte mir das Gebräu.
„Ich war zu spät“, merkte ich an. „Ich habe das Theaterstück nicht sehen können.“
„Oh, die Truppe gastiert die ganze Woche, Sir“, sprach er. „Holen Sie es nach.“
„Das werde ich wohl tun“, versprach ich. Im Herzen wußte ich, daß ich es nicht tun würde.
Natürlich nicht – wozu auch? Aber man äußert so viel, das nicht der Wahrheit entspricht, sobald es nur um Menschen geht, die uns nicht wirklich etwas bedeuten. Er war ein Mann in
mittleren Jahren mit schütterem Haar, nicht fett, nicht mager, ich hätte nicht zu sagen vermocht, ob ich ihn in anderer Umgebung morgenden Tages von anderen Menschen hätte unterscheiden können. Unser Gespräch stockte. Er beobachtete mich, ich schaute ihm dabei zu.
„Es ist schön heraußen“, murmelte ich. „Womöglich der letzte schöne Herbsttag des Jahres.“
„Das kann gut sein“, stimmte er zu. „Gestern zu Abend zogen schon Wolken herauf, da
dachte ich, es sei vorbei für dieses Jahr.“
„Oh ja, ich habe das gleiche geglaubt.“ Ich schaute in meinen Becher. „Ich werde wieder ein
wenig hinausgehen“, stellte ich fest, „bis es dunkel ist.“
„Tun Sie das, Sir.“ Er wies mit der Hand. „Die anderen halten es ebenso. Die Luft ist mild.“
„Das junge Mädchen, das eben hier herinnen war“, sprach ich, „sie nimmt wohl an der Truppe
teil, spielt Theater?“
Unvermutet traf mich ein Blick der plötzlichen, allerschärfsten Aufmerksamkeit, das Gesicht
des Wirtes wirkte weniger blaß als zuvor, seine Züge waren mit eines konturierter, so daß ich
recht erschrak. Ich überlegte verwirrt, was diese Reaktion verursacht haben mochte und fand
nichts - eine solche Frage, zumal im Wirtshaus gestellt, was war dabei? Er antwortete nicht,
beobachtete mich, wischte den Schanktisch mechanisch mit einem Lappen ab, obwohl dies
nicht nötig war.
Ich dachte daran, wie ich gestrigen Abends, keine vierundzwanzig Stunden lag es zurück,
diesen Diener im Hause Luciters erstmals unschuldig nach den Mädchen befragt, und was
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sich daraus entwickelt. Vermaledeit! - Ich verwünschte mein Pech - wollte es mir denn partout nicht gelingen, irgendwann auch nur eine einzige harmlose Frage in meiner Angelegenheit vorzubringen, ohne daß gleich die gesamte Umgebung in höchsten Alarm geriet?!
Oder konnte die feindliche Stille, die hier zwischen uns eingebrochen war, nur ein dummes
Mißverständnis sein, fragte ich mich. - Ich nickte ihm indifferent zu, schob mich von meinem
Hocker und machte mich auf den Weg nach draußen.
„Sie ist meine Tochter, Sir“, sagte er mit halber Stimme.
Fast hätte ich von meinem Becher verschüttet. Natürlich! Ich Tollpatsch! Daher die Vertrautheit. Deshalb ging sie beim Servieren zur Hand. Ich hätte mich innerlich ohrfeigen mögen für
meine Naivität. „Oh“, sagte ich, hielt inne und überlegte, wie weiter ich mich äußern sollte.
Denn mir war zweierlei klar: Was ich sie hatte fragen wollen, konnte ich schlechterdings ihn
nicht fragen, schon um sie nicht in Verlegenheit zu setzen, und zweitens, ich hatte mit Glück
das denkbar ungeschickteste Vorgehen gewählt, um mit diesem Mädchen jemals ins Gespräch
zu finden. Denn nach der zuvor getanen Einlassung hätte ich den Wirtsvater als Argus zur
Seite bei allem Künftigen, das ich überhaupt verstand zu tun. Ich lächelte ihn an, um einen
Augenblick zu gewinnen, aber selbst das Lächeln mißriet mir zur Geste der Verzweiflung.
„Nun“, sprach ich, „eine Tochter, die den Thespiskarren besteigt ... wenn das kein Grund für
väterlichen Stolz ist ...“
„Es ist kein Brotberuf“, sagte er schroff und beäugte mich mißtrauisch. „Was wollen Sie von
meiner Tochter?“
„Oh bitte“, ich breitete in einer bemühten Geste hoffentlich überzeugendster Unschuld meine
Hände aus, „da haben Sie mich mißverstanden. Ich wollte nichts von Ihrer Tochter. Mir war
nur aufgefallen, daß sie wohl zu den Künstlern gehört, und als ich sie hier herinnen wiedersah, wie sie die Krüge füllen ließ, gemahnte mich das an sie und ich fragte ... Ich habe mir“,
und dies entsprach schließlich der Wahrheit und machte mein Argument, wie ich hoffte, überzeugender, „ich habe mir nichts dabei gedacht, hier im Wirtshaus mich nach einem Mädchen
zu erkundigen, die ich nicht kannte.“
„Wir sind Wirte seit Generationen“, sagte der Wirt hart, „wir betreiben dieses Geschäft seit
hundert Jahren. Wenn es Gott gefällt, wird meine Tochter es dereinst übernehmen – ich habe
keine Söhne. Meine Frau ist tot. Das ist eine Form des Handwerks, gegen die niemand etwas
einwenden wird, Sir.“
Ich schwieg dazu. Womit hatte ich diesen Vortrag verdient?
„Eine solche ist meine Tochter nicht“, sagte der Wirt rauh.
Ich schnappte nach Luft und fühlte, wie mein Herz stolperte. Das also war es, was er vermutet! Dafür hielt er mich! Ich war empört! Gleichzeig warnte mich ein guter Engel, jetzt nicht
allzu laut zu protestieren – denn das hätte meinen Auftritt nur unglaubwürdiger gemacht. Ich
verfluchte indes mein sonderbares Geschick oder Erbteil, in der genügend schwierigen Mission, in der ich unterwegs war, selbst da mißverstanden zu werden, wo es nichts mißzuverstehen gab.
„Herr Wirt“, sprach ich mit einiger Strenge. „Ich selbst bin kein Vater – ich hoffe, ich werde
es einigen Tages sein, und sollte das erste ein Mädchen werden, so will ich Gott dafür danken
und mich darein fügen. Zweifelsohne werde ich all die Kümmernisse erfahren, die jeder Vater
der Welt erleidet, wenn er ein Mädchen aufzieht - und es mag wohl auch wahr sein, daß sein
Weg ein steinigerer ist, wenn er eine Wirtschaft führt, als wenn er, sagen wir, Zimmermann
wäre oder Pfannengießer. Dann, Herr Wirt, führen Sie Ihre Wirtschaft aber auch so, daß es
Ihre Klienten zufrieden sind und verdächtigen Sie nicht unbescholtene Gäste wie mich. Ich
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habe geglaubt, mich nach diesem Mädchen erkundigen zu dürfen, weil mich ihre Kunst interessiert, nicht aus solcherlei Gründen, wie Sie sie belieben zu unterstellen.“
„Verzeihen Sie“, fiel er in meine letzten Worte. „Vergeben Sie einem einfachen Manne, Sir,
der sich allezeit fürchtet. Es liegt gerade zwei Jahre zurück, am 18. Juno, das war der Mittwoch nach Pfingsten. Da sind meine beiden Söhne vor Waterloo heldenhaft gefallen. Diese
Tochter ist das einzige Kind, das mir verblieben ist, und meine Frau ist bereits seit anno 12
bei Gott, ihre Lunge ... Das Leben, Sir, ist nicht nimmer leicht.“
„Nein, das ist es nicht“, gab ich, sogleich weichgestimmt, zu.
Ich trat wieder an den Schanktisch heran und legte die passenden Münzen für meine Zeche
auf das blankgescheuerte Holz.
„Sir?“ fragte er. „Sie haben den Becher noch nicht geleert.“
„Es ist gut“, sprach ich. „Ich sagte Ihnen ja, ich würde noch ein Weilchen hinausgehen, dort
unter Gottes Himmel sitzen. Dann brauche ich hernach nicht mehr hereinzukommen.“
Er rang mit sich, schob mir die Münzen entgegen. „Tun Sie einen Trunk auf Kosten des Hauses“, schlug er vor.
„Nein, Herr Wirt, ich danke Ihnen“, sagte ich. „Behalten Sie getrost das Geld.“
Ich wär’ mir doch allzu sehr wie ein Lump vorgekommen, diesen Vater zu betrügen, denn
befragen wollte ich seine Tochter ja nach wie vor. Der arme Mann. Ich dachte an die Pose der
lüstlich sich räkelnden Europa auf dem Bilde und konnte mir nicht denken, daß es ihm gefallen hätte. Nun, und wie es wahrhaftig zur Entstehung dieser Szene gekommen war, das blieb
ja ferner noch dahingestellt. Mir war bei unserer Unterhaltung klargeworden, daß er nichts
von dem Kunstwerk, nichts von Sir Enid oder dem Maestro Condonniere ahnte. Und ließ
mich dies folgern, daß diese Tochter das eine oder andere Geheimnis vor ihrem Vater hütete,
was ihrem Charakter zumindest eine weitere Facette lieh.
„Es ist gut“, wiederholte ich und wandte mich zur Tür.
Er blieb still hinter mir, wünschte mir keinen guten Abend. Ich fühlte, wie er meinen Gang
beobachtete. In der Tür, so wollte es der Zufall, stieß ich mit der Wirtstochter zusammen, die
soeben einige Krüge hereintrug. Ich trat zurück wie ein vollendeter Gentleman, sie lächelte
mich flüchtig und gewohnheitsmäßig an, dankte mit einem Neigen des Kopfes und schlüpfte
an mir vorbei hinein, ich trat hinaus. Ich hatte sie nicht angesprochen. Es wäre zu ungeschickt
gewesen angesichts des Vaters, der mich – ich hatte mich zwar nicht umgedreht, um dies zu
überprüfen, aber ich war mir dessen gleichwohl sicher - quer durch die Gaststube beäugte wie
ein Luchs. Mich und seine Tochter.
Draußen suchte ich mir linkerhand ein Plätzchen nahe bei der Straße, wohldurchdacht, dicht
an der Hauswand, dort, wo sie fensterlos war und das Strohdach niedrig herüberhing und deshalb, so hoffte ich, einigen Schutz gegen neugierige Einblicke von drinnen her bieten mochte.
Das Volk, es lachte, sang und trank wie zuvor, nur der pittoreske Sonnenuntergang war unterdessen verblichen, ein Streifen von Helligkeit, fast grünlich, verbieb noch am Himmel über
dem Fluß.
Als das Mädchen wieder heraustrat, baumelten ihr brennende Windlichte am Arme, welche
sie beidseits der Tür im Spalier aufhängte. Einige der jungen Leute riefen ungeduldig nach
ihr, ich verstand den Namen, den sie nannten, jedoch nicht. Sie lachte und antwortete etwas
dergestalt, daß jene ihr lieber helfen sollten, anstatt dumme Bemerkungen zu machen, und
sogleich trat sie wieder ins Haus ab.
Mit ihrem heiteren Wesen nahm sie mich für sie ein. Ich überlegte und wartete. Ich bekenne,
daß inzwischen eine gewisse Erregung mich erfaßt hatte hinsichtlich dessen, was ich hier zu
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tun beabsichtigte. Als das Mädchen erneut erschien, hatte sie weitere Lichter dabei und stellte
sie auf denjenigen Tischen ab, an denen die Mehrzahl der Menschen saß. Dadurch, daß ich
mich allein und betont abseits der anderen niedergelassen hatte, blieb für mich kein Licht übrig. Sie schaute zwar kurz herüber, schien mich aber in der nächsten Sekunde vergessen zu
haben. Sie hielt sich zumeist bei den anderen jungen Menschen auf, der dramatischen Gruppe,
bei den Leuten, die sie kannte. Sie setzte sich scherzhaft neckend auf diesen Schoß oder jenen, wies allzu dreiste Zugriffe oder allzu deutliches Nesteln an ihrem Busen zurück, zwischendurch jedoch hatte sie ein waches Auge für die Bedürfnisse der anderen Gäste, wenn
jene den Blick oder die Hand hoben, um ein weiteres Getränk zu fordern. Ich zitterte etwas –
war dies von der abendlichen Kühle? - und nippte an meinem Becher.
Ich beobachtete tatenlos die Menschenschar, sah, wie der Rest der Helligkeit am Himmel verglühte, stellte Überlegungen an, über welche der Brücken mein Heimweg nachher führen und
wie viel Zeit er mich kosten würde, denn die Fähren hatten, wie ich wußte, mit der Dunkelheit
den Verkehr eingestellt.
Dann, als das Mädchen mitten in Heiterkeit und grobem Gelächter wieder einmal den Blick
schweifen ließ, überflog dieser auch mich, und ich faßte geschwind Mut und hob flüchtig den
Arm, wie um ein weiteres Ale anzufordern. Mein Herz klopfte vernehmlich, aber schließlich
mußte irgendetwas geschehen, wenn ich diesen Abend meine Untersuchung noch vorantreiben wollte. Was half es mir, hier alleine im Dunkel zu sitzen, meinen Kopf zu zergrübeln und
trübsinnig vom Rest meines längst schalen Bechers zu kosten.
Sie hatte mein Zeichen gesehen und nickte mir zu, und es waren kaum einige Augenblicke
verstrichen, da löste sie sich von der Gruppe und kam herüber zu mir.
Sie trat an den niederen Tisch und suchte aufmerksam meine Augen. „Der Herr, so ganz allein
im Dunkeln - was kann ich tun, Sir?“ Sie hatte ein nettes Lächeln, ihre Augen gänzlich ohne
Arg. Mir dagegen ward der Mund trocken.
„Ein Ale“, bestellte ich – es war dies mein drittes, und ich bildete mir ein, bereits das zweite
im Kopfe zu spüren.
„Ein Ale, bittesehr“, bestätigte sie, freundlich nickend, und machte Anstalten, vom Tische
zurückzutreten.
„Aber das ist nicht der Grund, warum ich dir gewinkt habe“ setzte ich leise hinzu. „Ich
möchte mich vielmehr gern mit dir unterhalten“, stieß ich hervor.
Sie hielt in der Bewegung überrascht jäh inne, ließ einen Moment verstreichen, ließ ein ungekünsteltes, angenehmes Lachen hören, das nichts von Hohn oder Schelmerei hatte. „Oh gewiß, Sir“, sprach sie bedauernd. „Das wollen viele. Aber es geht nicht.“ Sie musterte mich
neugierig aus ihren dunklen Augen.
„Wie heißt du?“ fragte ich.
Ich spürte, wie sie zögerte, innerlich zurückwich.
„Aber warum wollen Sie das wissen? Ich sagte Ihnen doch, ich spreche nicht mit Herren, sofern es über meine Arbeit hinausgeht.“
„Mit mir werden Sie sprechen müssen“, unterbrach ich sie. Ich legte alle Dringlichkeit in
meinen Ton. Mir schien, daß sich an dem anderen, großen Tische die Aufmerksamkeit bereits
uns zukehrte - ob der Länge der Konversation, die wir führten. „Ich möchte dich nicht … mit
… ‚Europa’ anreden müssen“, setzte ich drängend hinzu.
Sogar bei dem kaum vorhandenen Lichte erkannte ich, wie schlagartig ihr das Blut aus dem
Gesichte wich. Ich hatte sie zu Tode erschreckt. Ich hatte versucht, genau dies zu vermeiden –
es war mir nicht gelungen. Das Mädchen tat mir zu Herzen leid.
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„Ein Ale, der Herr“, sprach sie schließlich mit blassen Lippen. „Ich komme gleich zurück. –
Mein Name ist Rosetta, Sir … Rosetta Manderlay – ich bin die Wirtstochter hier.“
„Das Letztere ist mir schon bekannt“, sagte ich. „Ich habe mit Ihrem Vater gesprochen.“
„—Mit mei …“
„Er weiß von nichts“, flüsterte ich hastig, „und ich werde ihm auch nichts sagen. Seien Sie
unbesorgt.“
Sie brauchte eine Sekunde, um sich zu fassen. „Ein Ale, der Herr“, wiederholte sie zitternd
und löste sich vom Tisch. Als sie zur Wirtshaustür hinüberging, schien es mir, als ob sie taumele. Ich machte mir einige Sorgen, daß die Burschen und Mädel an den anderen Tischen es
sehen könnten, aber nachdem zwei oder drei dort über Gebühr noch ein kleines Weilchen zu
mir herübergestarrt hatten, wendeten sie ihre Aufmerksamkeit wieder zueinander und ich atmete fürs erste auf.
Rosetta Manderlay. Welch ein hübscher Name doch! Er dröhnte in meinem Kopfe wie eine
Glocke. Mir war schwach, wenn ich nur daran dachte, wie ich fortan Schritt für Schritt das
Geheimnis dieses Bildes entschlüsseln würde und … ihr … ihr … dabei immer näher käme.
Der Beweis war erbracht, daß es funktionierte: Rosetta Manderlay. Europa war Rosetta Manderlay und Rosetta Manderlay war Europa. Und so sollte es mir auch mit den anderen gelingen!
Und, dachte ich, es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn sie … Io … ausgerechnet die
letzte jener sieben wäre.
Ich war derart in Gedanken, daß es mich eine gute Weile kostete zu bemerken, daß sie nicht
zurückkam – da war etwas wie Erschrecken in mir. Am anderen Tische schien ebenfalls schon
Verwunderung über ihr pötzliches Verschwinden Platz zu greifen, und ein, zwei Blicke irrten
herüber zu mir. Das konnte mir nicht recht sein, Unruhe erfüllte mich. Ich überlegte mir, ob
ich aufstehen und vorgeben sollte, den Abtritt aufzusuchen - oder gänzlich das Grundstück
verlassen – ich hatte meine bisherige Zeche bezahlt - wahlweise auch erneut in den Innenraum vordringen, um wenigstens nachzusehen, was sich dort abspielte? Vielleicht den Vater
nach seiner Tochter befragen, wie!? – Dummkopf, schalt ich mich innerlich. Du hast ihn sowieso schon aufgebracht und möchtest am Ende das Mädchen noch in ernsthafte Schwierigkeiten stürzen.
Aber die Blicke der jungen Männer am anderen Tisch in meine Richtung wurden deutlicher,
und ich fragte mich, wann es zu spät sein würde, irgendetwas zu entscheiden. Oh, wie ich dies
haßte, jeden Abend in dergleichen beunruhigende Situationen zu geraten! --- Bleibe ruhig, du
Narr!
Schließlich tauchte sie auf, und mit ihrem strahlenden Erscheinen waren all meine Gedanken
von zuvor - wie auch die Unruhe am Tisch gegenüber, die sich darin geäußert hatte, daß dort
die Gespräche, wie es mir schien, zuletzt leiser geführt worden waren - wie weggeblasen. Das
Lachen schlug erneut über der kleinen Runde zusammen, Rosetta trug ein Tablett, schwer
beladen mit Krügen – sie kam als erstes zu mir herüber und setzte einen von ihnen vor mir ab.
Sie sprach kein Wort zu mir, hier aus der Nähe konnte ich sehen, daß ihr Lächeln ermattet
wirkte, vielleicht gab sie ihrer Schwäche auch nur eine Sekunde nach, solange sie all den anderen den Rücken kehren konnte. Dann war sie davon und trug die Krüge zum anderen Tisch.
Sie war ein wirklich schönes Mädchen, wie mir beifiel, mit einem seelenvollen, freundlichen
Antlitz und üppiger, hochgewachsener Figur. Am anderen Tische sprach man, und sie fiel
ungezwungen in das nachfolgende Gelächter ein. Nur ein, zweimal in der folgenden Stunde
irrte ihr Blick flatterhaft sekundenlang zu mir, und dann sah ich, daß ihr Frohsinn aufgesetzt
war und daß eine sonderbare Angst sie peinigte.
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Dies tat mir im tiefsten Grunde herzlich leid, mußte ich doch annehmen, daß meine Person
und mein Plan auf sie einzig Ursache ihrer Angst waren. Wie leicht, glaubte ich, müßte es mir
doch möglich sein, das arme Kind zu beruhigen, ihre Seele zu befreien, ihre Stirne zu glätten,
wenn sich doch nur recht bald die Gelegenheit dazu ergab! --- Oh, ich Einfaltspinsel. Statt
heldenhafter Bilder, Mädchenseelen zu erleichtern und jungen hübschen Dingern Dienste zu
erweisen, hätte es mir besser angestanden, meinen eigenen Kopf in Sorge und Vorfurcht zu
zergrübeln.
Natürlich ist es eine alte Wahrheit, kostbarer Leser, daß wir hinterher stets klüger sind als
zuvor – trotzdem ficht mich heute manchmal der Gedanke an, ob ich nicht zumindest einen
Teil des Furchtbaren hätte vorausschauen müssen, das längst wie eine übermächtige Woge
schicksalhaft auf die Gegenwart zugerollt kam. Aber ich fürchtete dergleichen keineswegs,
vor allem aus der völligen Mißdeutung dessen heraus, daß ich zu jenem Zeitpunkt fest glaubte
zu wissen, worauf und vor allem auf wen ich mich eingelassen hatte.
Das Glück meiner kleinen Stunde dort im nächtlichen Garten des Wirtshauses wurde zudem
durch die Tatsache gestärkt, daß ich zunächst, als mir das Mädchen den Krug mit dem Ale
gebracht und sich dann wortlos fortgekehrt hatte, erschrocken wie gleichermaßen empört gewesen war, daß sie so wenig auf meine Bitte hin reagierte – irgendeine kleine, kurze, verstohlene Bemerkung von ihren Lippen hatte ich schon erwartet. Dann jedoch, als ich den
Krug das erste Mal zum Munde führte, fühlte ich, daß, festgehalten durch den Tau des Trinkgefäßes, ein Zettel daran klebte, den ich mir in den folgenden Minuten auf dem Tische glattstrich.
Es war annähernd zu dunkel, um ihn zu entziffern, außerdem enthielt er, was mehr als selbstverständlich war, viele Fehler, das Mädchen besaß jedoch eine sehr ausgeprägte, schöne
Handschrift, die Lettern wie gemalt, und die Rührung sowohl über die Idee, daß sie solcherart
mit mir in Beziehung trat, als auch das Bewußtsein der Tatsache, daß es eben dieses Memorandum war, das sie so lange von der Rückkehr abgehalten, rührte mein Auge zu Tränen.
Dann saß ich über den Zettel gebeugt, das Haupt auf dem Tische aufgestützt wie ein Trunksüchtiger – und dafür hielten mich gewiß die anderen Gäste an den anderen Tischen - und
buchstabierte mir die Nachricht Wort für Wort zusammen. Rosetta Manderlay hatte mir geschrieben:
„Werther Herr!
Warten Sie bis zur Sperstunde. Wenn das Gasthaus ferschlossen ist steige ich
aus dem fenster und komme zum Flusufer, wo der Herr mich erwarten kann am
Lahgerplatz wo das Bauholz ligt. Dann können wir uns sprechen. Sie werden
mir nichts tun ich weis es den sie sind ein guter mensch. Und sie werden meinem Fater nichts sagen
Dafür dankt ihnen und es grüst sie
Rosetta Manderlay
.....
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Wenn man erst einmal den Hort der Gastlichkeit, den trauten Lichtkreis der Windlaternen im
Garten des Wirtshauses verlassen hatte, tauchte man in eine Finsternis ein, wie man sie sich
tiefer kaum ausmalen kann. Die Straßen und Wege von Southwark waren um diese Nachtzeit, anders als jene am Nordufer und in der Innenstadt, nicht nur menschenleer, sondern hier
drang auch aus keinem einzigen Hause noch der Schein irgendeines Lichts.
Anders als gestern war der sacht abnehmende Mond heute düster verschleiert, fiel nur für
Sekunden durch irgendein Wolkenloch, riß dann wohl den weißen Sand der Straße einen Augenblick ins Licht, enthüllte die vertäuten Kähne auf dem glucksenden Fluß und beleuchtete
das unübersichtliche Gewirr der Planken am Ufer und die niederen Katen auf der anderen
Seite des Weges, zwischen welchen sich gelegentlich schiefe, ungehobelte Bretterwände
entlang eines Hofes erstreckten, wo undeutbares Gerümpel zu Haufen lag.
Im nächsten Augenblick schon war alles wieder im tintenschwarzen Schlund der Nacht versackt - und das Fließen des Wassers rechterhand und das leise Knirschen der eigenen
Schritte, wenn man so sagen darf, bedeuteten fast das bessere Mittel zur Orientierung.
Man konnte das Wasser riechen, brackig und von Abfall durchsetzt, man hörte Katzen und
Ratten auf den Planken und Brettern der Stege bolzen und fauchen, ein gelegentliches Klatschen im Wasser, ein harter Schlag gegen Holz, das Zurren eines Taues - sonst war es so still,
daß man den eigenen Atem vernahm.
Ich hatte aus Gründen, die der Leser erraten mag, das dritte Ale zum größten Teile stehengelassen und mich bereits längst vor Eintritt der Sperrstunde aus dem „Ye Olde Bell“ verfügt. Dabei hatte ich mich recht unauffällig benommen, so daß ich nicht das Interesse womöglich irgendeines unlauteren Zeitgenossen unter den Gästen erregte, der mir in die tiefe
Dunkelheit nachgeschlichen wäre, und ich war auch geschickt genug gewesen, nicht zur
Straße, sondern gleich durch die Gartenpforte zum Ufer hin auszuweichen, da mir nicht
deutlich war, wo ich sonst einen Durchgang zum Fluß hätte finden können.
Ich machte mich bereit, nach einem Lagerplatz für Bauholz Ausschau zu halten - und hoffte,
es gäbe nur den einzigen, immerhin, gerade in letzter Zeit nahm die Bautätigkeit in der Metropole einen deutlichen Aufschwung – andererseits, ich hielt das Mädchen für durchaus vernünftig genug, mir in ihrer Nachricht wirklich nur sinnfähige Angaben getan zu haben. Ich
kam in der Finsternis an einem sehr weißgestrichenen Kirchlein auf der dem Ufer abgewandten Straßenseite vorbei, vermutlich jenem, dessen Läuten mir schon zuvor im
Wirtshausgarten die Viertelstunden verkündet, und um ein Kurzes darauf sah ich schemenhaft über die Dächer hinweg auch die Windmühle aufragen, die dem Straßenzuge offenbar
den Namen gegeben.
Ich schlich mich lautlos durch die tiefe Dunkelheit dieses mir fremden Stadtbezirks, stets unangenehm gewärtig, augenblicks zu straucheln oder mir das Bein aufzuschlagen an einem
Hindernis, das ich nicht rechtzeitig erahnt. Daß ich mich wohlfühlte, wäre eine äußerst lästerliche Lüge gewesen. Ich fürchtete mich. Ich hatte Angst vor Hunden, die aus irgendeinem
Grundstücke hervorbrechen könnten, aber - Gott sei es gedankt - es bellten keine in dieser
Nacht. Ich kam mir, obwohl ich mich auf dem Boden Londons befand, unendlich fern meiner
Heimstatt vor.
Zehn weitere Wegminuten später machte ich hier am Themseufer endgültig kehrt, da der jedenfalls bei dieser Finsternis - gangbare Weg gänzlich aufhörte. Es war nun schlammig
ringsum, hier öffneten sich irgendwelche Koben, ich hörte Schweine im Schlafe grunzen,
und ich hatte wahrlich keine Lust, mit einem der schmutzigen Tiere zusammenzustoßen.
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Ich tastete mich, leise mit mir selber schimpfend, den Weg zurück, und meine Gedanken bewegten sich um die Frage, ob das Mädchen, aus welchem Grunde auch immer, mich etwa
absichtlich in die Irre geschickt, ob es also, kurz gesagt, einen Bauplatz wie den angedeuteten
vielleicht überhaupt nicht gäbe, oder aber ob er einfach zur anderen Seite hin lag und ich nur
zunächst die falsche von zwei möglichen Richtungen ausprobiert.
Das letztere wies sich kaum einige Zeit später als das Richtige nach, nachdem ich an dem
Kirchlein und der Mühle zurück und bald danach auch am Lichte, Gelächter und Getuschel
des Wirtshausgartens vorbeigekommen war, da erhob sich zwischen der Straße und dem Ufer
eine stabile Mauer aus weißen Ziegeln mit einem hohen Tor, dahinter erhebliche Gevierte
von aufgestapelten Bohlen aufragten, überflüssigerweise gab es sogar ein Schild, das mir
zeigte, daß ich mich am verabredeten Orte befand.
Zudem, ich lauschte, hatte das Mädchen den Treffpunkt viel näher am heimischen Anwesen
gewählt, als ich vermutet, wäre ich nur gleich in die richtige Richtung gegangen, hätte ich
mir einen annähernd halbmeilenlangen, unbequemen Umweg erspart: denn ich konnte das
sporadische Gelächter vom Wirtshause her hören. Ich schüttelte in der Dunkelheit verdutzt
den Kopf: Das Schicksal nahm mich offenbar nicht ernst – oder wie mußte ich verstehen, wie
gehässig es selbst im Unbedeutenden seinen Schabernack mit mir trieb? In der Tat: Längst
war die vertrackte Angewohnheit mir aufgefallen, bei jeder sich bietenden Alternative im
nachhinein immer nur die zweitbeste Wahl getroffen zu haben. Gute Gelegenheit hatte mich
sogar schon mit dem alten Freunde Seb in Disput darüber gebracht – er hatte mir allerdings
den Spaß verdorben, indem er frech grinsend behauptet, jenes Phänomen bei sich – und zwar
ständig - genauso gründlich beobachtet zu haben wie ich. Ich wartete dort, im Augenblicke
lächelnd, im Dunkeln vor der weißen Mauer und mußte unwillkürlich an den Schwan von
Stratford denken: Vielleicht, wer weiß, waren wir ja alle nur … der eine wie der andere …
des Glückes dumme Toren …
Nun, einerlei … hier stand ich und hatte eine Verabredung. Das neuerliche Läuten des
Glöckleins der Kirche indes zeigte mir, daß es immer noch zwei Viertel bis zur Sperrstunde
waren. Mochte danach der Abschied von den jungen Burschen nicht leicht fallen oder der
Vater noch das Aufräumen des Anwesens fordern, mochte es hiernach Zeit heischen, das
Einnehmen der Nachtruhe vorzutäuschen - mir war klar, daß ich meine Ungeduld noch ein
erhebliches Weilchen würde zügeln müssen.
Ich schaute mich um – oder vielleicht sollte ich eher bei der Wahrheit bleiben, indem ich bemerke, daß ich mich herumtastete - ob sich für mich etwas wie ein Plätzchen finden ließ, das
mit größerer Bequemlichkeit aufwartete als die Spur vor dem großen Tor, wo ich zunächst
wartend, leise, schnöde auf- und abgeschritten war, und wie es der Zufall wollte, entdeckte
ich nach einem kleinen Weilchen gegenüber, wo die Katen mit ihren dunklen Fenstern standen, nahe bei einem Schuppen, neben einer mit einem Seil versperrten Einfahrt hinein in einen unübersichtlichen Hof, aber auf der Straßenseite, einen Hackklotz, in dem sogar noch ein
Beil steckte, welches ich nun leise herauszog und daneben zur Erde setzte.
Ich tastete die prospektierte Sitzfläche mit der Hand ab – sie schien trocken und sauber – und
ich ließ mich, in den Winkel gelehnt, nieder, um die Zeit bis zu dem ersehnten Treffen abzuwarten. Sehr merkwürdig, wenn ich es bedacht hätte, in welcher Situation ich mich befand aber ich bedachte es nicht - in der Nacht auf dem Grund und Boden fremder Menschen, die
ich nie gesehen, mit dem Kopf gegen ihre Hauswand gelehnt lagernd und in Erwartung eines
Mädchens, von der kaum mehr als ihren Namen kannte … allerdings die verbotene, weiße
Frucht ihrer Schönheit.
Mich bewegten einige träge Gedanken darum, wie ich später in der Nacht, nach Eintritt der
Sperrstunde, nach Hause gelangen sollte, aber ich machte mir keine wirklichen Sorgen. Eine
Brücke mit weichherzigem Posten oder ein Ruderboot würde sich finden, auch wenn es teuer
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wurde, dies war mir die Angelegenheit wert. Vielleicht hatte ich Glück und konnte mich einer Gruppe anschließen, die hinüberwollte. Ich hatte dergleichen schon unternommen, allerdings war dies eine Weile her … die Jugend … ich lächelte in der Erinnerung …
Die Häuser ringsum lagen stille, lautlos zogen die Flecken des Mondlichtes über die Dächer
und die breite, sandige, helle Fläche des Fahrdammes dahin, und ich wartete ab.
Dann, letztlich, war mir die Zeit doch schneller vergangen als geglaubt, das gelegentliche
Läuten des Glöckleins hatte mich eingeschläfert – oder war es das Ale? – ich tat, hellwach
mit eines, die Augen auf, weil ich irgendetwas vernommen, und da bewegte sich geisterhaft
eine Gestalt drüben auf der Straße bei dem großen Tor.
„Ich bin da“, flüsterte ich ins Dunkel, erhob mich von meinem Sitz und trat über die ebene
Fläche. Eine Mondbö huschte über die Dächer und den weiten, weißen Sand und enthüllte
mir das Mädchen in fast schmerzender Klarheit, ihre besorgten, dunklen Augen, die Wangen,
die Lippen, die Stirn, wie sie mir entgegenblickte. Sie war gekleidet wie zuvor, hatte sich nur
gegen die Kühle der Nacht ein Tuch um die Schultern gewunden, dessen wahre Farbe ich bei
dem vorherrschenden Lichte nicht auszumachen vermochte.
„Ich dachte, wir hätten uns verfehlt“, sprach sie bebend in unterdrücktem Tone.
Ich winkte ab und murmelte, als ich herantrat, etwas Beruhigendes, ich mochte ihr nicht gern
die Schande bekennen, daß ich eingenickt war. Nun standen wir in der Finsternis einander
dicht gegenüber, blickten uns in die Augen, und keiner von uns wußte recht, wie anzufangen.
„Sie haben mich bestellt, Sir“, flüsterte sie. „Wie haben Sie mich ausgefunden?“
„Zunächst“, stellte ich mich vor, „mein Name ist Domenic Holland. Es tat mir herzlich leid
und ich bedaure dies immer noch, daß ich dich vorhin erschreckt habe. Ich habe mich redlich
bemüht, dies zu vermeiden, aber ich sah, es ist mir nicht gelungen.“
Wie sie, sprach auch ich im Flüstertone, für einen kurzen Augenblick kam mir in den Sinn,
daß wir einen sehr sonderbaren Eindruck machen mußten für irgendjemand, der uns aus dem
Schutze der Nacht heraus beobachtet hätte.
„Ich habe keine unredlichen Absichten gegen dich“, versicherte ich ihr. „Du darfst unbesorgt
sein. Nur hoffe ich, daß du mir einige Fragen wirst beantworten können, die mir dringend auf
dem Herzen brennen. Zu dem, wie ich dich gefunden habe – dies ist ein Zufall, fast zu kompliziert, um ihn hier in Kürze zu erläutern. Ein Bekannter, ein Freund, kennt einen anderen
Mann, der dich und deine Truppe in dem dramatischen Stück hat spielen gesehen, und es
verhält sich wohl so, daß du dich mit ihm hinterher unterhalten haben sollst … du verstehst
… über das Bild, um das es mir geht.“
Wenn es eine Spur heller gewesen wäre vor jenem Lagerplatz - da bin ich sicher – hätte ich
ausmachen können, wie sie zutiefst errötete. Hier im Dunkeln blieb dies Erröten, dies Zögern
lediglich ein unbestimmter Eindruck, dessen ich mich nicht erwehren konnte, obwohl ich
dergleichen nicht wirklich sah.
„Ich dachte mir, daß es um das Bild geht, weil Sie vorhin ‚Europa’ zu mir sagten“, wisperte
sie nach einer Pause, es klang auf merkwürdige Weise hoffnungslos. „Jedoch …“
„Ja?“ drängte ich, als sie nicht weitersprach.
„Aber ich habe doch zu niemand darüber gesprochen“, flüsterte sie nachdenklich. „Ich würde
dies nicht tun, Sir, nicht zu fremden Herrn. Dies Gemälde ist nun nichts, mit dem ich mich
schmücken würde. Wahrlich nicht.“
„Zu niemandem?“
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Sie warf die Haare zurück, indem sie nachdachte. Ich spürte die Bewegung dicht an meiner
Seite mehr als ich sie mit den Augen wahrnahm.
„Dann ist John der Schlingel gewesen“, äußerte sie nach einem kleinen Weilchen. „er muß es
wohl gewesen sein, der böse Schelm …“
„Wer ist John?“
„Oh, niemand“, flüsterte sie. „Ein Freund, ein Kamerad, der in der Truppe den Hanswurst
spielt. Er würde wohl um mich anhalten, wenn es der Vater nur erlaubte … aber…“ ich
spürte, wie sie verloren lächelte, „er ist ein schrecklicher Luftikus.“
„Ihm hast du also doch etwas verraten?“
„Etwas“ sagte sie vage, „nicht viel. - Nicht alles.“
„Und mir?“ fragte ich sie sacht. „Würdest du mir auch etwas verraten?“
Sie drehte das Antlitz fort und versuchte mit den Augen die Weite und Dunkelheit der Straße
zu durchdringen, versuchte auszumachen, ob da jemand anderes war außer uns. Seitlich wisperte und gluckste das Wasser der Strömung. Mir ging etwas wie ein Schauer über den Rücken. Das Mädchen kehrte den Kopf zurück zu mir, und sie blickte mich an.
Hätte ich es unterbrechen können in diesem Augenblick! Oh hätte ich sie zurück nach Hause
geschickt zu ihrem Vater und in die Sicherheit des heimischen Quartiers! Aber manchmal
verwest ein Gedanke hinter unserer Stirn, bevor wir ihn überhaupt gedacht. Und manchmal
schreitet eine Macht, die wir nicht benennen können, mit wahrhaft wollüstiger Grausamkeit
über unsere Häupter und zertritt rigoros und infernalisch, was doch als Sünde gar nicht gemeint gewesen war.
„Ich gehöre nicht zu denen“, sagte ich dringlich. „Wenn ich zu denen gehörte, Rosetta, dann
wüßte ich doch, nicht wahr? --- und müßte nicht fragen.“
Ich nahm wahr, wie sie überlegte. Kaum hörbar sagte sie: „Es mag wohl angehen - hier in der
Dunkelheit.“ Sie hob plötzlich ihre Hand und legte sie mir sanft auf den Arm – sonderbar
vertrauliche Geste. „Fragen Sie“ sagte sie weich.
Ich war verwirrt, mußte mich fassen. Sie ließ ihre Hand sinken.
„Höre, Rosetta“, flüsterte ich. „Ich möchte zunächst verstehen, wie es angefangen hat. Ich
kann mir nicht denken, daß irgendein … Mensch in die Wirtschaft deines Vaters kommt, an
einem Tische platznimmt, mit dem Finger auf dich zeigt und sagt: ‚Du da, folge mir’. Oder
zu deinem Vater: ‚Gib mir deine Tochter’. Da mag er ein hoher Herr sein oder nicht. Wir leben nicht mehr im Mittelalter.“
Sie stöhnte leise auf, in heißer, banger Erinnerung, wie mir schien, und flüsterte: „Es ist natürlich nicht so, wie Sie sagen, Sir, und doch … auf eine Weise … ist es so. Es kommt niemand und zeigt mit dem Finger, nein. Aber es kommt jemand und erkundigt sich beim Vater,
ob er bereit ist, für einen reichen Herrn ein Fest auszurichten … in einem großen Hause in
Mayfair - und Sie erkennen in diesem Mann denjenigen, der an den Tagen zuvor bereits
zweimal stumm dagewesen ist, Sie nur lange angeschaut hat. Er sagt, daß er genug Personal
finden muß, um die Herrschaften zu bedienen. Wenn er das nächste Mal kommt, will er vom
Vater wissen, ob seine Tochter auch bei denen sein wird, die bei Tische bedienen, denn auch
brauche es eine Küchenhilfe. Ob ich einschenken könne und tranchieren. Es ist so einfach
und doch so verwirrend zugleich.“
„Ja … ja …“, flüsterte ich
„Auf dem Fest tun wir unser Bestes, und es sind auch andere junge Mädchen und junge Männer da, die servieren. Der Vater ist es zufrieden, denn er wird großzügig bezahlt. Während
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die Herrschaften speisen, ist sogar Zeit für den einen oder den anderen von uns, sich auszuruhen und von den wieder herausgetragenen Speisen zu stibitzen. Wir sitzen in der Küche
und plaudern und lachen mit der ersten Köchin, die eine zutrauliche, ältere Person ist. Wir
werden in einen Salon gebeten zu einem Herrn, der nicht mit den anderen speist, aber aus
einem kostbaren Pokal trinkt. Wir werden dort hereingebeten, wir Mädchen, alleine, zu zweit
oder zu dritt. Der Herr bittet uns, von süßem Konfekt zu naschen. Er befragt uns, wie wir
heißen und woher wir kommen. Im Hintergrund, im Dunkel, bemerke ich mit eines, sitzt der
andere, der jüngere, welcher zuerst bei uns in der Wirtschaft gewesen ist, stumm, mich nur
mit den Blicken musternd. - Er fragt mich plötzlich, ob ich mir ein Goldstück verdienen
will.“
Rosetta Manderlay stand im Dunkeln vor mir und schluckte. Ihre Rede war von einer brennenden Atemlosigkeit, die mich zutiefst berührte. Ein leiser Wind kam von der Themse auf
und umfächelte unsere Gesichter. Sie fuhr flüsternd fort:
„‚Ein Goldstück?! – Aber was ist das für ein Dienst, Herr?’ frage ich ihn. - ‚Oh, es ist ein
leichter Dienst’, sagt er. ‚Du mußt einem Maler sitzen.’ - ‚Was ist das: sitzen?’ will ich wissen. - ‚Oh, es ist, wie der Name sagt, nur recht stillesitzen’, sagt er, ‚und der Maler macht
unterdessen ein Konterfei von dir.’ - ‚Ein Konterfei ist wohl ein Bild?’ frage ich ihn. - ‚Oh
ja’, lacht er, ‚es ist ein Bild, mein Kind, und du bekommst ein Goldstück dafür.’ - ‚Und das
Konterfei, Sir?’ frage ich, ‚werde ich hinterher auch ein Doppel davon erhalten können - für
den Vater?’ - ‚Oh ja, gewiß doch’, lacht er, ‚wenn du willst. Aber sage es ihm nicht vorher. Denn es soll doch eine Überraschung sein.’ - ‚Und jener Maler?’ will ich also von dem jungen Herrn wissen. - ‚Oh das’, sagt er, ‚das ist ein berühmter Meister aus Teutschland, der extra nach Cornwall gekommen ist, um ein Bild von griechischen Göttern zu malen. Dafür
braucht er junge Mädchen wie dich als Vorlage. Du mußt Dir nichts denken dabei.’ - ‚Aber
Cornwall’, sage ich verwirrt, ‚das ist ja entsetzlich weit weg, Sir. Nie wird mich der Vater
nach Cornwall bringen.’ - ‚Ach, bist du noch nicht in Cornwall gewesen?’ erkundigt er sich
und ich beantworte es ihm. - ‚Bist du noch nie gereist?’ will er wissen und scheint sehr erstaunt, als ich sage: ‚Nein.’ - Er flüstert vertraulich mit dem alten Manne, der mir den Konfekt angeboten hat, und kommt zu mir zurück und sagt: ‚Aber du mußt es dem Vater ja nicht
sagen, mein Kind, wenn du das Goldstück verdienen willst. Es wäre vorerst dein Geheimnis
… dein Geheimnis … und ein Goldstück für die Brautschuh, das ist nicht zu verachten …’ Der alte Mann zieht mich zu sich heran und spricht zu mir. ‚Du mußt hierher in mein Haus
kommen, mein Kind, wenn ich es dir sage, sagt er. Dann nimmt dich Mrs. Sullivan in einer
Kutsche mit nach Cornwall, dich und die anderen. Denn du bist nicht allein. Oh, nein. Und
du kennst Mrs. Sullivan. Das ist die Köchin. Nicht wahr, du kennst sie doch?“ - Ich denke an
die lustige Person in der Küche und sage ‚Sehr wohl, Sir, ja, ich kenne sie.’ - ‚Willst du ein
Goldstück schon jetzt?’ fragt mich der alte Mann freundlich. ‚Schau, ich gebe dir eines, sauber und glänzend, hier und jetzt’, er spricht etwas Lateinisches, ‚schau, hier ist es, da, nimm
es, wenn du es willst, und du braucht gar nichts dafür zu tun. Hier, nimm es nur, wenn du es
magst’, und er drückt es mir in die Hand. – Der junge Herr führt mich hinaus, und draußen
im Dunkel hält er mich fest am Arme und sagt: ‚Wenn du geschickt bist, mein Kind und
wenn du noch manch anderes Goldstück verdienen willst, dann hältst du dem Vater gegenüber reinen Mund, denn er würde es nicht erlauben.’ - Und ich denke an den guten, alten
Vater, der draußen bei den Kutschern sitzt und einen Becher leert und denke bei mir: Da mag
er wohl sehr recht haben, der junge Herr.“
„Weiter!“ flüsterte ich dringlich, als das Mädchen schwieg, und berührte sie auffordernd am
Arme. Ich spürte die Wärme und Weichheit ihrer lebendigen Haut durch das Gewebe, dachte
einen verwirrten Augenblick daran, wie schutzlos und hingegeben und schön ich sie gesehen
auf dem infamen Gemälde. Dabei ging es mir nicht um sie, nicht um Rosetta. Aber mir war
klar, daß Io … Io … daß sie all dies ähnlich durchlebt haben mußte.
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„Er sprach also zu mir, der junge Herr, dort im dunklen Korridor“, wisperte sie. „Er sprach:
‚Sage deinem Vater, du würdest auf eine Weile in einem Haushalte verlangt … in Clapton
oder Hampstead, für eine Freundin, deren Mutter erkrankt ist. Oder erfinde etwas anderes,
Passenderes, mein Kind - ich kenne deine Verhältnisse nicht. Sage, es sei auf zwei oder drei
Wochen, so lange wird dich der Vater wohl entbehren können, und nenne ihm eine Adresse,
nicht zu nah und nicht zu weit, so daß er dir nicht nachreist, um dich zu besuchen, doch auch
keine Sorge um dich ihn martert andererseits’ – und ich erstaune ein wenig darüber, wie genau der junge Herr sich das alles schon im voraus bedacht hat. Aber ich fühle das Goldstück,
das der alte Herr mir gegeben hat, im Mieder und sage mir, daß all dies nicht schlecht sein
kann. Es muß nicht einmal sein, denke ich, daß ich es auf immer für mich behalten werde,
das Goldstück, ich kann es auch für den Vater aufheben, wenn er verunglückt oder krank
oder alt wird und nicht mehr arbeiten kann.“
Der Mondschein spülte heran wie eine weiche Welle, und für eine kurze Spanne standen wir
im Lichte wie des Mittags auf einer Straße, nur daß da keine Leute waren um uns herum,
sondern Stille und bleiches Schweigen. Von ferne hätte man uns für ein Liebespaar halten
mögen.
„Sprich weiter“, bat ich das Mädchen.
„Ja, Herr, aber jetzt kommt der schwerere Teil.“ Sie schlang wie fröstelnd das Tuch enger um
die Schultern.
„Ich werde dir helfen“, versprach ich.
„Ja, Herr“, flüsterte sie tonlos und schwieg.
„Eines Tages also tauchte der junge Herr wieder in der Wirtschaft deines Vaters auf, nicht
wahr?“ vermutete ich, als sie nicht weiterreden konnte, „und er erinnerte dich an das … das
Versprechen, das du dem alten Manne gegeben: daß du kommen würdest, wenn er dich
riefe?“
Ich zitterte selbst. Auf eine verdorbene Weise klang diese Geschichte wie ein böses, kurioses,
verqueres Märchen von Riesen und Hexen aus alter Zeit.
„Fast so war es“, gestand sie leise ein, „nur daß es diesmal ein Diener war, der kam, den ich
nicht kannte.“
„Und du gingst also wieder hin in jenes große Haus in Mayfair?“
„Ja, am nächsten Tage, dies war an Peter und Paul.“
„Ich verstehe. Und dann?“
„Wir reisten nach Cornwall, Sir“, sagte sie, „denn es war wohl Cornwall, ich weiß es nicht.“
„Was heißt das, du weißt es nicht?“
„Nun, man sagte uns, es sei Cornwall, aber ich weiß es nicht. Wir reisten zwei Tage mit der
Kutsche, Sir, und blieben über Nacht in einem Gasthof. Der lag in einem Dorfe und hieß
‚The White Hart’. Ich habe noch nie in einem fremden Gasthof geschlafen. Am zweiten Tage
abends kamen wir an – es war ein Ort namens Botallak.“
„Botallak liegt in Cornwall“, bestätigte ich. „Es mag denn stimmen, was man euch gesagt
hat. Sprich weiter.“
„Wir wurden in ein Haus eingewiesen, Sir. Es war ein großer, dunkler Landsitz. Es war ein
einzelnes Haus, Sir, aber es war in die Länge gestreckt, fast wie ein ganzes Dorf, es sah aus,
als ob es aus vielen verschiedenen Häusern zusammengesetzt sei. Es gab auch Pferdekoppeln
dort, mit seitwärts gelegenen Nebengebäuden – Scheuern, viele Schuppen. Bei dem Haus
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war ein hübscher Brunnen mit einem Schindeldach darüber und es hatte eine Treppe vor dem
Eingang, da erhoben sich rechts und links zwei Einhörner aus Stein.“
„Einhörner?“ unterbrach ich sie überrascht. Nach der Beschreibung, grübelte ich, mußte es,
war man erst einmal dort, doch wahrlich ein Leichtes sein, das Anwesen ausfindig zu machen. Jetzt hielt mich eine bebende Spannung in eisernem Griff. Ich nahm kaum die Situation
noch wahr, wie wir dort beide standen im Staube der nächtlichen Straße, während seitwärts
das Wasser floß und murmelte.
„Gut, gut“, sagte ich. „Sehr gut, tapferes Mädchen!“ Ich berührte vorsichtig mit den Fingern
ihre Lippen. „Du sagtest ‚ihr’, ‚ihr’ seid gefahren, ‚ihr’ kamt in das Haus. Was meint das genau: ‚ihr’?“
„Die Mädchen und die Köchin und der junge Herr.“
„Die Mädchen? Aha - du warst also nicht alleine?“
„Nein, Sir, wir waren zu viert. Ich und drei andere.“
„Ihr wart …“ – die Irritation durchfuhr mich wie ein schmerzender Blitz. Bösartig und
überraschend wie ein geheimes Geschwür verspürte ich eine elende Enttäuschung in meiner
Brust. Oh Gott, dachte ich entsetzt – riß hier die so hoffnungsvolle Spur einfach ab?
„Vier?“ stammelte ich. „Weshalb nur vier? - Nicht sieben? - Ihr wart nicht vielleicht sieben?“
„Ich und drei andere“, antwortete Rosetta Manderlay flüsternd. „Was haben Sie, Sir? - Ist
Ihnen nicht gut?“
„Oh nichts, nichts, es ist nichts“, murmelte ich. Ich packte sie, diesmal an beiden Oberarmen,
und roch den süßen Duft ihrer Haut. „Erzähle nur weiter, Rosetta. Sag mir etwas darüber,
wer die anderen waren?“
Vielleicht, nun, oh bei Gott, dachte ich, war sie bei den wenigen, bei den drei anderen dabei
…
„Nun“, sie schloß die Augen, als sie überlegte, „da war eine, die war ein Dienstmädchen bei
einer reichen Familie.“
„Aha, du weißt sicher ihren Namen?“
„Ja, sie hieß … Stella … Stella Floyd, glaube ich. Aber wir nannten sie nur Gossamer, weil
sie so zart und zerbrechlich war. Sie weinte oft. Wir alle weinten oft.“
Zart? Zerbrechlich? Ich war fast wie im Fieber. Konnte es meine Io sein?
„Welche Rolle hat sie denn gespielt?“
„Was meinen Sie mit ‚Rolle’, Sir? Wir haben nicht gespielt wie auf dem Theater.“
„Nun, dir ist doch bekannt, daß auf dem fertigen Bilde ihr alle, ihr sieben, ich meine, nicht
nur ihr vier … sondern daß ihr alle zu siebt vereint wart zu einem einzigen Tableau?“
„Nun, Sir, ich weiß nicht, was ein Tableau ist, aber daß alle Mädchen zusammen auf dem
Bilde zu sehen waren und daß es mehr waren als nur wir vier, habe ich aus dem geschlossen,
Sir, was ich verschiedentlich hörte.“
„Ich meine …“ Es kostete mich einige Mühe, meine Ungeduld zu bemeistern. „Ich meine:
Du, liebe Rosetta, warst die Europa in dem Bilde, verstehst du?! Europa … Europa, verstehst
du, das war die Tochter des Königs von Phönizien, die von Zeus auf die Insel Kreta entführt
wird, um dort … nun, du mußt es nicht verstehen, es ist einerlei … Sage mir nur eines: War
dieses Mädchen … Gossamer … diese Stella Floyd … war sie nun die Persephone … oder
die Leto oder vielleicht Metis? War sie die Io?“
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Rosetta Manderlay atmete tief. „Mir sagen all diese fremdländischen Namen nichts, Sir, verzeihen Sie mir. – Ich weiß nur, daß der Meister mich selbst gelegentlich, wenn er guter
Stimmung war, ‚Europa’ nannte … Deshalb wußte ich vorhin, als Sie mich ansprachen …“
Sie unterbrach sich mitten im Satz und starrte, anscheinend auf’s Höchlichste beunruhigt,
neben meiner Schulter vorbei die Straße hinunter. Ich fuhr augenblicks, halbwegs zu Tode
erschreckt, herum, sah nichts, nur die langgestreckte, weiße Mauer des Lagerplatzes, aufgestelltes Gerümpel, Boote, mit dem Bauch aufgebockt nach oben – die menschenleere Straße,
das huschende Mondlicht – ich blickte wiederum in ihr Gesicht.
„Was ist denn, Rosetta … was hast du …?“
„Ich weiß nicht“, wisperte sie, mühsam beherrscht, leiser als zuvor. „Mir war … mir war, als
hätte ich da hinten etwas gesehen …“
„Was … was hast du gesehen?“
Sie sagte mit merkwürdiger Stimme nach einer verwunderten Pause: „— da ist jemand gesprungen …!“
„Da ist …?“ Etwas ging mir kalt das Rückgrat entlang. Ich schaute mich abermals heftig um,
konnte aber wie zuvor nichts ausmachen, kehrte mich zurück zu dem Mädchen.
„Gesprungen?“ fragte ich ungläubig. „Was meinst du damit: ‚gesprungen’ … gerannt?!“
„Ja“, flüsterte sie, „…gerannt …“
Ich schaute zum dritten Male hin, ohne irgendeine Bewegung zu erkennen. „Sieh, Rosetta“,
bat ich leise, „da ist niemand … wer sollte da rennen?! … wenn da jemand wäre, würde er
nicht durch Rennen auf sich aufmerksam machen, sondern sich verstohlen bewegen, meinst
du nicht? - nicht wahr? …. Er würde vielleicht schleichen …“
Das Mädchen hatte jedoch im Augenblick nur noch Augen für das unübersichtliche Gelände
hinter mir. Mir selbst, muß ich gestehen, lagen mittlerweile die Nerven derart bloß, daß ich
bei jedem Plätschern einer Welle bald hätte zusammenzucken mögen.
„Ich bitte, lassen Sie mich laufen, Sir“, bat die hübsche Wirtstochter aufgeregt. „Wir stehen
schon zu lange beisammen. Ich habe Angst, daß der Vater etwas merkt, falls er aufsteht.“ Sie
drehte sich in annähernder Panik in der anderen Richtung, nach ihrem Vaterhause in der
Ferne um und starrte die mondhelle, staubleere Partie der nächtlichen Straße hinauf.
„Ich bitte dich, Rosetta“, flehte ich. „Sprich zu mir, es ist so wichtig für mich! Du mußt mir
erst noch einige Fragen beantworten! Ich bitte dich dringend!“
„Ich will Ihnen ja helfen, junger Herr“, stieß sie hervor, und es war mir eigenartig, daß sie
mich genau so nannte wie jenen Menschen aus ihrer unheimlichen Erzählung. In meiner
Verwirrung langte ich nach ihr und strich mit der Hand über ihr Haar. Sie ließ es geschehen.
„Sage mir, bitte: Wer waren die beiden anderen Mädchen, die mit dir und Stella Floyd waren?“
Sie seufzte, gab sich Mühe, war jedoch jetzt von einer steigenden Furcht befallen.
„Die eine … ich weiß ihrer beider Namen nicht, Sir … die eine hatte große Angst. Sie hatte
einen Namen, hat ihn auch genannt, aber ich konnte ihn mir nicht merken.“
„Ah ja?“
„Es war nicht wirklich ein Name“, flüsterte Rosetta Manderlay zur Erklärung. „Sie sagte, sie
hätte keinen Namen. Es war … es war statt dessen … es war ein französisches Wort, von
dem ich die Bedeutung nicht kenne.“
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„Eine Französin?“ fragte ich überrascht.
„Nein, nein, keine Französin, sie ist wohl Engländerin wie ich. Aber es war kein Name, Sir,
den sie trug, nur ein Wort. Sie hatte keinen Namen.“
Sie blickte mich im Dunklen an. Ihre Augen waren ganz dicht vor mir. Was war das für eine
merkwürdige Geschichte?
Mondlicht huschte über uns hin. Seitlich knarrten die Taue an den Bootsstegen, das Wasser
raunte sanft. Ich fühlte den überaus angenehmen Duft des Mädchens, das bei mir stand – etwas wie ein Hauch von Koriander und Saffran und Vanille, und ich schloß für einen Augenblick die Augen. Fern hörte ich dünn das Glöckchen des weißen Kirchleins schlagen.
„Was weißt Du noch?“ erkundigte ich mich flüsternd.
Rosetta Manderlay legte den Finger an die Lippen, als sie überlegte. „Sie trug einen Ring am
Finger, mit einem großen roten Herzen aus Edelstein“, wisperte sie.
Nun gut, auf dem Bilde war selbstverständlich keine von ihnen mit einem Ring dargestellt
gewesen, außerdem mochte es natürlich überhaupt nichts heißen. „Einen kostbaren Ring?“
forschte ich, von dieser neuen Tatsache gleichwohl etwas überrascht.
Sie machte eine kleine, skeptische Geste. „Ich glaube wohl, daß er sehr kostbar war, aber ich
kenne mich nicht gut aus mit Edelsteinen.“
Ich schüttelte verwundert den Kopf, konnte mir, offen gesprochen, keinen Reim darauf machen. Denn wenn dem so war und dieses andere Mädchen mit dem französischen Namen, der
kein Name war, das Mädchen, das obendrein einen kostbaren Ring trug - wenn das so war,
wie es zu sein schien - wieso hatte sie es dann nötig, auf nebulöse Angebote jener Herrschaften in Mayfair anzuspringen?
„Und du kannst mir also nicht sagen … nein, du sagtest es schon … du kannst mir nicht sagen, welche von ihnen auf dem fertigen Bilde dies war, die mit dem sonderbaren Namen und
dem Ring, meine ich, welche Position sie eingenommen hat? Ob sie an der Erde knien mußte
oder stehen, oder sich zurückbeugen; habt ihr euch nicht unterhalten des nachts, wenn ihr alleine wart? - oder ob sie einen Fuß hochgesetzt hat auf einen Schemel oder halb auf dem Rücken gelegen hat, so wie du?“ Ich errötete fast selbst, als ich den letzten Satz sprach.
„Nein, ich weiß dies nicht, Sir. Wir haben nicht darüber gesprochen.“
Ich war enttäuscht. „Nun gut, schon gut“, ich nickte.
Wieder kam ein Fetzen Mondhelligkeit die Straße heraufgesegelt.
„Und die andere, das letzte Mädchen?“
„Das war kein Mädchen“, wisperte Rosetta, „das war eine Dame.“
Ich sah sie überrascht an, mußte wohl auch fast lächeln. In der Tat, lächeln! -- Doch hätte ich
auch nur um ein weniges den Schleier der Zukunft heben können, weiß ich heute, so hätte ich
wohl eher weinen müssen … oder fortlaufen in wilder, ungeregelter Flucht von jenem mondhellen Platze auf der nächtlichen Straße, wo ich mit dem schönen Mädchen ahnungslos stand.
„Was soll das heißen, Rosetta? Eine Dame?“
„Sie war eine Dame … aus gutem Hause … und verheiratet …“
„Das ist wohl nicht gut möglich.“
„Doch, Sir, deshalb hat sie uns ihren Namen auch nicht genannt. Ich muß sagen, daß sie sich
etwas Besseres dünkte als wir anderen, es hieß, daß ihr Gatte krank sei und daß ein junger
Anwalt für sie sorge … aber es war auch so, daß … nun …“
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„Nun wie? Was willst du mir sagen?“
Rosetta griff nach meinem Arme, hilflos, wie eine Ertrinkende. „Es geschah Schlimmes in
jenem Hause mit den Einhörnern. Man flößte uns Tränke ein. Wir mußten uns gegen die Sitte
entblößen, der Meister selbst, wie er sich von uns nennen ließ, zog uns die Kleider herab,
wenn wir nicht so wollten wie er. Er zwang mich, die Beine vor ihm auszubreiten. Er schrie
mich an, ein anderes Mal lachte er nur wie ein Idiot. Er malte selten. Er kam zu uns, auch in
der Nacht, er berührte uns, er tat uns Gewalt.“ Helle Tränen rannen jetzt über ihre Wangen.
„Das andere Mädchen … Stella … Gossamer … sie meinte, daß sie ein Kind erwarte. Ich
weiß es nicht, denn ich habe sie nicht mehr gesehen danach …“
Das Entsetzen spülte über mich hin wie ein Schwall stinkender Lauge. „Und du …? Hat er
dich …?“
„Ja“, flüsterte sie, „… wie die anderen … aber ich bin nicht in Umständen …“
„Oh, Gott“, flüsterte ich.
Mit der Zeit standen wir eng umschlungen, hielten uns eng aneinander fest. Helles Mondlicht
kam die Straße herauf wie eine Rotte fahler Hunde.
„Diese Dame, von der ich gesprochen, die die Gattin eines reichen Mannes war“, wisperte
Rosetta Manderlay an meinem Ohr, „ sie war gänzlich anders als wir … sie fand Vergnügen
daran …“
„Ich verstehe“, murmelte ich, obwohl ich nichts verstand.
„Wenn es geschah, in den Nächten, daß der Maestro zu uns kam“, flüsterte Rosetta, „dann
geschah es immer in dem Raum, wo wir gehalten wurden, auf dem Lager oder am Boden,
und die anderen blieben zumeist dabei. Bei der reichen Dame war es anders, sie blieb nicht
die ganze Zeit bei uns, nur selten verbrachte sie mit uns gemeinsam, dann sprach sie nicht
mit uns, und wenn es bei ihr geschah, dann wurde sie dazu von Lakaien abgeholt, gelegentlich auch von dem Mann mit dem falschen Fuß, dem Alten aus der Villa in Mayfair.“ Rosetta
Manderlay schüttelte sich in Ekel, als sie von Sir Enid sprach. „Dann hörten wir sie oben in
den hellen Räumlichkeiten lachen und sich vergnügen … und wir hörten Gläserklingen und
manchmal Musik …“
„Der, wie Du sagst, mit dem falschen Fuß, ist der auch zu dir gekommen?“ erkundigte ich
mich leise und strich sanft ihr Haar.
„Nein, es war immer nur der andere … der Maler, der das Bild gemacht …“
Wir schwiegen zitternd, hielten uns nur umfangen wie die Kinder in dunkler Nacht, sprachen
nicht mehr, flüsterten nicht mehr. Seitlich rauschten die Wellen des Flusses ihr ewiges Lied.
Schließlich löste ich mich von ihr, ließ ihr schweres Haar durch meine Finger gleiten.
„Höre“, sagte ich. Ich fingerte in der Tasche meiner Weste und fischte dort ein kleines Stück
Bütten hervor. „Dies ist eine Karte mit meinem Namen darauf, Rosetta, die mir mein Brotherr drucken ließ“, erklärte ich und schob sie ihr in die Hand. „Bei Lichte wirst du sie lesen
können. Und sie verrät nicht nur meinen Namen, meinen Beruf und meinen Arbeitsplatz,
sondern das Haus, in dem ich lebe, falls du eines Tages Hilfe benötigst und mich erreichen
willst. Denn ich werde dir helfen, rufe mich deshalb nur - jederzeit!“
Hätte ich nur nicht solchen Unsinn geschwatzt! Aber manchmal tun und sagen wir Dinge in
der besten Absicht, und das Schicksal kehrt sie dann gröblich und arglistig bejammernswert
gegen uns.
Sie hielt die Karte in der Hand und ließ eine Träne darauf fallen. „Ein Billett wie die großen
Herren“, flüsterte sie, in halber Frage.
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„Ja, Rosetta, aber du weißt, daß du dich nicht fürchten mußt. Ich bin kein großer Herr.“
„Ja, ich weiß wohl, Herr.“
Ich nahm ihre Hand in die meine und hielt sie sanft.
„Soll ich dich jetzt nach Hause begleiten?“
„Nein, junger Herr“, sprach sie. „Es ist nur ein kurzes Stück Weges, wie du weißt. Und ich
möchte nicht, daß am Ende noch der Vater dich sieht.“ Sie lächelte tränenfeucht.
.....
Ich sah ihre hohe, schöne Gestalt die weiße Wüste der nächtlichen Straße hinuntergehen, als
ein neuer Mondschwall kam, und dann, einen Augenblick später, sah ich nur mehr die leere,
ebene Fläche des Sandes, auf dem sie gegangen.
Schurken, Schufte und Schelme schliefen wohl längst, als ich meinen Weg heimwärts durch
die verlassenen, dunklen Straßen machte. Keinen Angriff auf meine Geldbörse, keine Anfechtung meines Lebenssaftes, nur einen überaus barmherzigen Brückenwächter vermag der
Chronist zu vermelden. - Ich gelangte in jener Nacht, schon halbwegs im Schlafe, nach einem anstrengenden Fußmarsch durch die große Stadt nach Hause, als der Tau von den Dachkanten troff und das rosige erste Licht des Tages die Dächer von London küßte.
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2. Teil
Oktober, derTod
4. Kapitel
Beulah Lane
Io, geneigter Leser, jenes Zauberwesen, war nicht nur gebannt im Zentrum eines obszönen
Gemäldes, sondern es hielt meinen Geist gefangen im Zentrum all meiner Träume, all meiner
stillen Stunden, meiner Sehnsüchte und Wünsche. Es gab indes auch das tätige Erwerbsleben,
und hier hinein durfte die feenhafte Io nicht reichen. Ich hatte Obliegenheiten nachzukommen, Pflichten zu erfüllen – gelegentlich hatte ich nur zu erledigen, was Anstand und Sitte
geboten. Finley Burkitt hatte mir, wie berichtet, einen diesbezüglichen Wink gegeben, und so
befand ich mich denn heutigen Tages nach den offiziellen Stunden im Comptoir, auf den Pfaden einer gänzlich anderen, gleichwohl unumgänglichen Geschichte, die mit meiner Io nicht
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das Geringste zu tun hatte. Fast eine Woche lag es zurück, daß ich Rosetta Manderlay getroffen, der Oktober stand nun endgültig auf dem Anschlage. Ich stieg aus der Droschke, die ich lediglich geliehen, um an diesem mir unbekannten Quartier nicht zu Fuß einzutreffen - nun zeigte es sich, daß dies nicht notwendig gewesen wäre:
Wiewohl noch frisch vom Geruch des Mörtels, atmete dieser Bezirk bereits den ungesunden
Odem von Armut und Verwesung.
Die Häuser auf der Westseite der Beulah Lane in Bethnal Green waren noch im Bau - respektive ihre Errichtung kaum begonnen. Es gab daher zur Linken bislang nicht mehr als ein
verwirrendes Konglomerat von Holzgerüsten - auf denen zu dieser Zeit des Tages die Arbeit
jedoch längst ruhte. Die Zeile der gelblich-roten Ziegelgebäude auf der rechten Seite indes alle bereits zur vollen Höhe zweier Stockwerke und einer zur Straße hin abfallenden Mansarde ausgeführt - badete sanft im Lichte der sinkenden, milden Endseptembersonne, die
schräg durch das Bohlenwerk der Holzlabyrinthe fiel.
Bereits nächstes Jahr würden diese Domizile im Schatten der neuerrichteten Häuser gegenüber liegen. Der Grund und Boden des Viertels, welches hier mit großer Kraft aufgeschlagen
wurde, entstammte, wie ich wußte, ursprünglich dem Besitze der Monastery of St. Pancras gleichviel, der Anblick der geraden, kurzen Straße stimmte mich bereits beim ersten Anblick
trübe.
Ich entlohnte den Kutscher, die Droschke rumpelte davon, und ich schritt in der Mitte des
Fahrdammes, zwischen Bausand und feuchter Kiesstreu, wo eine Rotte schlechtgekleideter
Kinder spielte - die mit ihrem Spiele jedoch einhielten, schwiegen und mich neugierig beobachteten, als ich mich näherte - an den schmalen Behausungen im Spätnachmittagslichte
dahin und äugte nach der Nummer 8. Bereits der vierte Eingang belohnte die Suche.
Das Haus glich, wie es bei dergleichen Ansiedlung üblich ist, seinen Nachbarn wie ein Haar
dem anderen und war so denkbar schmal, daß es zu ebener Erde kaum mehr als einem Fenster
neben der Türe Raum bot. Nicht das kleinste Gärtlein schmückte den Bereich vor der Pforte,
keine Stufen leiteten hinan, es gab weder Säulen noch Ziergiebel über dem Eingange, alles
war lediglich zum schlichtesten Nutzen konstruiert. Der Blick durch das Fenster war verdeckt,
nicht nur, weil es innen dunkel war, sondern weil weiße Gardinen dem zudringlichen Auge
wehrten.
Ich blieb stehen, richtete Weste und Halsschleife, nahm den Zylinder, den ich trug, in die
Linke und bediente den Klopfer an der Tür. Ein kleines, handgeschrienbenes Schild dabei
bedeutete mir: Unter dem Obdache 8, Beulah Lane, Bethnal Green, hauste, wie ich im Übrigen in der vergangenen Woche ausgeforscht, die Witwe des unglücklich verblichenen Frank
Purcell.
Auf mein Klopfen tat sich lange Zeit nichts, die spielenden Kinder in der Straße waren längst
zu ihrer Zerstreuung mit dem Holzreifen zurückgekehrt, dann jedoch öffnete sich die Pforte
des Hauses und ein Knabe von vielleicht sieben oder acht Lenzen, ohne Schuhe, ärmlich, aber
sauber in Kniebundhose und linnenes Hemd gekleidet, schaute mir fragend ins Gesicht.
„Guten Tag“, sagte ich freundlich zu ihm. „Ich bin gekommen, um deine Mutter zu sprechen.“
„Meine Mutter ist krank, Sir,“ antwortete der Knabe mit verzagter Stimme. Im Hintergrunde
lehnten drei Kleinere, zwei Mädchen und ein weiterer Junge, ängstlich befangen am Geländer
einer Treppe, die hinaufführte.
„Das höre ich ungern“, äußerte ich. „Es ist gleichwohl dringend, daß ich mich mit ihr unterhalten könnte. Willst du laufen und ihr sagen, daß ein Mann gekommen ist? Vielleicht läßt du
mich ein, um solange zu warten?“ Ich nestelte eines der Billets aus meiner Tasche und reichte
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es ihm. „Gib dies deiner Mutter. Darauf steht geschrieben, wer ich bin und daß ich bei einem
öffentlichen Journal arbeite - wie seinerzeit dein Vater.“
Ich zögerte etwas, ihn an seinen Vater zu gemahnen, fürchtete, am Ende einen Tränenfluß zu
erzeugen, aber sein Gesicht wie das der hinten lehnenden Kleinen blieb unbewegt bzw.
schüchtern-neugierig auf mich gerichtet.
„Ich darf keinen Fremden einlassen, Sir“, sagte der Knabe. „Aber ich will der Mutter den
Zettel bringen.“ Darauf schloß er die Türe, so daß ich mich genötigt sah, die nächste Weile
wartend auf der Straße zu verbringen. Um dies auf die Umgebung nicht allzu sonderbar wirken zu lassen – ich konnte nicht verläßlich ermitteln, wie viel Paar wißbegieriger oder
mißtrauischer Augen mich unterdessen aus Fenstern und Haustürritzen beobachten mochten –
trat ich hinüber an den Rand der Baustelle, stieß hier mit dem Fuße prüfend dagegen und fuhr
dort mit dem Finger entlang, ganz ein an der Sache interessierter Passant.
Schließlich jedoch öffnete sich die Türe am rückwärtigen Hause wieder und machte somit
meiner Qual ein Ende – ich lasse mich äußerst ungern in der dargestellten Weise bestarren –
und die Witwe Mrs. Frank Purcell erschien dort in der Öffnung. Sie war eine trotz der vier
Kinder fast mädchenhaft schlank gebliebene, zierliche Frau in ihren Mittzwanzigern, in ein
weites Kleid aus einfachem braunen Mousselin gehüllt und mit einem weißen Brustbesatz. Ihr
Gesicht war bleich, zart, tief von Kummer gezeichnet.
Was mich jedoch bei ihrem Anblicke so unmittelbar bannte, daß ich für die Dauer einer langen Sekunde buchstäblich unfähig war, mich ferner zu bewegen, war nicht die Tatsache - die
auch das weite Kleid nicht verbergen konnte - daß ihr nur noch sehr wenige Tage verblieben
bis zu einer weiteren Niederkunft, sondern: die Erkenntnis - obwohl ich mich, wie bemerkt,
auf ganz anderem Pfade glaubte zu bewegen … daß mir hier, im ungeheuren Namen der
Götter, feucht und jugendlich, soeben der Gischt von Delos entstiegen, leibhaftig … die Leto
aus jenem Bilde gegenübergetreten war.
.....
Der einzige Raum, gleich hinter der Eingangstüre und somit zu ebener Erde gelegen, sparsam
möbliert, diente, wie verschiedenes Gerät und der Herd anzeigten, den Bewohnern als Wohnraum und Küche. Im Hintergrunde gab es eine Treppe sowohl in den Keller als auch eine ins
obere Stockwerk, nebst einer mit einem Haken gesicherten, einfachen Türe zur Hinterseite
hinaus. Hier, am Küchentische auf harten, schmucklosen Stühlen, hatte Eusebia Purcell mir
einen Sitzplatz angeboten, hier saßen wir uns im schwindenden Licht des Tages gegenüber,
sie vor dem hinteren Fenster. Der Blick dort hinaus zeigte auf siebzig oder achtzig Schritt
Entfernung die nächste Reihe gleicher Behausungen mit dem aufragenden Gewirr von
Schornsteinröhren über den Dächern. Die Fläche zwischen beiden Gebäudezeilen war durch
diverse Bretterzäune und Schuppen parzelliert und wurde zur Bereicherung des Speisezettels
als Gemüse- und Obstgarten genutzt. Allerdings wirkten, nicht nur, weil es Herbst war, sondern die Anlage noch gänzlich neu, die Beete und gestutzten Bäumchen recht dürftig.
Mrs. Purcell hatte die Kinder leise und freundlich die Treppe hinauf befohlen, wo, wie ich
vermutete, der Schlafraum des Hauses liegen mochte, und nun war von ihnen nichts zu hören.
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Die junge Frau weinte nicht, hatte auch zu Beginn nicht geweint, als ich mich eingeführt und
mein ursprüngliches Vorhaben, sie zu dem nunmehr einige Wochen zurückliegenden Tod
ihres Gatten genauer zu befragen, vorgestellt - längst war in der Mühsal ihrer Tage ihre
Trauer über den Verlust der ungleich drängenderen Sorge gewichen, wie vier und demnächst
fünf Kinder durchzubringen seien.
Ihr geduldiges Gesicht und ihre junge Gestalt waren trotz der Existenz, die sie genötigt war zu
führen und – ich will dies hier ganz deutlich anmerken - trotz der Geburten, die sie gemeistert,
von einer anrührenden, wenngleich müden, stillen Schönheit – einer bemerkenswerten
Schönheit, die, wie ich mit Zorn im Herzen bemerkte, jene Buben natürlich erkannt. Ja, in
meiner Brust tobte ein Tumult, ich war mir unsicher, wie ich es zu bewerten hatte, daß jene
die … ja, was? … Abgeschmacktheit? - Rücksichtslosigkeit? – Kühnheit? … besessen, als
Vorlage für eine Schwangere eine Schwangere heranzuziehen.
Und während ich nun mit ruhigen, bestimmten Fragen einerseits versuchte, Licht in das Dunkel um das Kutschunglück zu bringen, mit dem - ich will ganz offen sein – wütenden Wunsche, einen Nachweis zu führen, der auf möglichst unleugbare Weise diesen obskuren Wohltäter der Menschen, Sir Enid Luciter, in Verbindung mit der Katastrophe setzte, und während
ich mir behufs dessen auch das Tun und die Belange Mr. Purcells unmittelbar vor seinem
Ableben nacherzählen ließ, glitten meine Gedanken gleichzeitig fiebernd die ganze Zeit auf
einem gänzlich anderen Wege nebenher, nämlich wie es zu erreichen sei, diese arme Frau,
ohne ihr wehe zu tun oder gar zu nahe treten zu müssen, auch zu jenen anderen ominösen
Begebnissen auszuforschen, die die Entstehung eines gewissen Gemäldes hervorgebracht.
Sie hatte es mir sogar gestattet, Notizen zu unserem Gespräche anzufertigen, ich schuldete es
der Tatsache, daß ich das gleiche Metier ausübte wie ihr verblichener Gatte. Sie hatte mir den
Artikel, den letzten, den er je in seinem Leben verfaßt, zu lesen und die Erlaubnis, ihn zu kopieren, gegeben - es war jener, von dem ich nur nach Hörensagen vernommen, jener, der die
Spitzen gegen Sir Enid enthielt. Und mehr als Spitzen waren dies nicht, wie ich nun gänzlich
überzeugt und erstaunt wahrnahm, harmlos, witzig, auf die hohe Stirn Sir Enids abhebend
oder seinen unglücklichen Zunamen – kein Wort zu den Unfällen in seinen Minen, zu den
Ehrenhändeln und Vertreibungen aus dem Rat der Aldermen, allerdings zu gewissen überlieferten Dreistigkeiten und Ungereimtheiten finanzieller Natur, die einem Manne der öffentlichen Politik und auf dem demokratischen Boden unseres Vaterlandes nicht gut anstanden.
Dieser Kommentar war das Rückrat des Artikels, der Text beileibe nicht nur dazu geschrieben, amüsant zu unterhalten. Aber: Dafür hatte der Schreiber sterben müssen?!
Erneut setzte ich meine eigene Verfehlung, ungefragt und uneingeladen auf ein Fest des
Nämlichen vorgedrungen zu sein, ins Verhältnis mit den Vorwürfen, die man Mr. Purcell
vielleicht in bestem Ernste hätte machen können – und erneut bedrängte mich unbändiges
Entsetzen ob der Maßlosigkeit der Reaktion in beiden Fällen.
Das Unglück als solches, wie mir die Befragung Mrs. Purcells erbrachte, hatte sich gegen elf
Uhr des Abends in Park Lane ereignet, einer beleuchteten Straße, nicht weit entfernt von the
Tyburn, wo früher einer der drei Galgenplätze gestanden und wo man jetzt den marmornen
Triumphbogen errichtet hatte, der von Buckingham Palace fortgetragen worden war. Das
hieß, es war eine gute, eine aufstrebende Gegend. Mr. Purcell war von einem alten Bekannten,
einem Jugendfreund, einem Redakteur gekommen - sie hatten, wie jener angab, bestenfalls
mäßig gezecht, da Mr. Purcell in der Nacht noch arbeiten wollte - und trotzdem war der
Letztere, nachdem er nur den Park durchquert, auf den ansonsten gänzlich verlassenen Fahrdamm hinausgetreten, von dieser Mietkutsche niedergefahren und ein Stück mitgeschleift
worden. Die Droschke war, wie die wenigen Passanten, die das Unglück verfolgt, berichtet
hatten, außerordentlich schnell gefahren und sie war leer gewesen – beides hing, wie sich bei
der Einvernahme herausstellte, damit zusammen, daß der Kutscher, ein bis dato unbescholte82
ner Mensch, zur vollen Stunde für einen Auftrag in Kensington erwartet worden war, der ihm
lukrativ genug erschien, was die Geschwindigkeit seines Gefährts anbetraf, an diesem Abend
vielleicht etwas leichtsinnig zu verfahren.
Wie dem sei, Mr. Frank Purcell verschied noch am Unfallort, was den herbeigerufenen
Constable der Aufgabe überhob, für einen Transport ins Hospital zu sorgen, statt dessen
wurde die entseelte Hülle in die Morgue von Westminster verbracht.
Was mich ratlos machte: Ich konnte auch bei längerem Überdenken des Gehörten nirgends
diejenige Masche des Gewebes entdecken, die gewissermaßen aus dem Muster geraten sein
mußte, wenn ich nur recht hinsah. Welche Leute auch immer hieran beteiligt schienen, seien
es der Jugendfreund und Redakteur, die wenigen anwesenden Passanten oder der eilige Kutscher gewesen – es schien mir bei jedem dieser Menschen äußerst weit hergeholt, hier
schnöde Mietlinge Sir Enids oder insgesamt ein Komplott zu vermuten, abgesehen von der
Tatsache: Wer von all denen hätte es wohl erzwingen können, daß der bedauernswerte Mr.
Purcell gerade im rechten Moment freiwillig den Fahrdamm betrat? War, mit anderen Worten, dies am Ende doch nichts anderes als das gewesen, für das die Welt es sowieso hielt: ein
bedauernswertes Unglück und ein schrecklicher Zufall - und mein Verdacht nichts als eitles,
parteiisches Wunschdenken?
Und gerade, als ich bereit war, derartiges notgedrungen, wenn auch recht widerwillig zu akzeptieren, überflog ich den kopierten Artikel äußerst flüchtig ein weiteres Mal im in diesem
Augenblick mir noch zuhandenen Original, und der Atem wollte mir schier stocken ob meiner
bisherigen Blindheit! Myrsilos Ludo …
Wie eigenartig verhält es sich doch mit der menschlichen Aufmerksamkeit! Ich hatte von dem
Fall vernommen, in dem eine große Menge kostbarer Diamanten von den gierigen Erben beinahe nicht aufgefunden worden wären, obwohl der verblichene Besitzer sie sozusagen unter
aller Augen versteckt hatte, nämlich in einem geschliffenen Weinglase liegend - sozusagen
jedem wohlfeil zuhanden im offenen Bord an der Wand - und auch war mir die Begebenheit
vertraut, bei der ein wertvolles Pergament fast dem Verluste anheimfiel, indem es ahnungslos
zur Verpackung wertlosen Trödels herangezogen worden war. Genauso: Die gottgewollte
Saat der Sterne am nächtlichen Himmel benötigt erst das geschulte Auge, um sich zu den bekannten Sinnbildern und Mustern zu ordnen, und aus dem Bereiche der Zoologie ist uns das
Phänomen bekannt, daß sich das Raubinsekt als Pflanze tarnt.
Gleichviel, hier hatte ich gesehen und doch nichts gesehen. Der Artikel war, wie unendlich
viele, unterzeichnet mit einem originellen, angenommenen Namen. Das war derart frequentierte Praxis in unserer Zunft, witzige Neckerei oder schelmisches Anagramm zumeist, daß
ich kaum noch ein Auge darauf verschwendete, zumal man ja in der Regel wußte, von wem
der Artikel kam – wie in diesem Fall. Nun jedoch, verspätet, fast zu spät, fiel mir das „Myrsilos Ludo“ ins Auge, mit dem Frank Purcell gezeichnet – und mir wurde mit der schneidenden Helligkeit eines Blitzes klar, daß die geheime Botschaft an Sir Enid nicht im Artikel selber ruhte, sondern in diesen letzten zwei Worten danach.
Myrsilos, auch Kandaules genannt, war dem Bericht Herodots von Halikarnassos zufolge der
König von Lydien gewesen. Ich will den Leser hier nicht über Gebühr langweilen, er kennt
die Mär von Gyges und dem unsichtbar machenden Ring, weiß, wie Gyges heimlich Ludo,
das Weib des Myrsilos, in Nacktheit und Schönheit gesehen und was Gräßliches daraus entstand. Traurig, traurig, dachte ich, wie traurig, hier wie dort, war Myrsilos also durch die
Hand des Gyges geendet. Allerdings - dies beiseite, befand ich, daß Sir Enid alles andere als
die edle Gleichsetzung mit dem neuen Könige verdient – wiewohl sich eine Parallele darin
ergab, daß es auch von Gyges hieß, daß er einer der reichsten Menschen seiner Zeit gewesen.
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Wie dem jedoch sei, hier führten die Geschichten von Frank Purcells Unfall und die des Gemäldes von den sieben Geliebten des Zeus mit einem Male wie durch ein groteskes Wunder in
eine einzige zusammen. Der griechischen Materie des Gemäldes angemessen - mit diesem
Pseudonym – und das hatte damals niemand als ein Eingeweihter, also Sir Enid, verstehen
können – hatte Frank Purcell jenen unterrichtet: Schurke, ich weiß von dem Bilde.
Und ich sah es immer noch nicht - und verfluchte meine Untauglichkeit - wie das nachfolgende Unglück gemacht worden - gleichviel: Ich war mir sicher, wegen dieser Botschaft, wegen dieses Bildes war Frank Purcell gestorben.
Ja, er hatte von dem Bilde gewußt. Und ich hielt vieles darum, daß seiner Gattin dies bekannt
gewesen. Und so schob ich denn den Artikel des unglücklich Verblichenen endgültig beiseite,
wie ich sichtbar und der jungen Frau am Tische gegenüber deutlich zum Zeichen auch meine
Notizen schloß und den Stift hinter dem Revers einsteckte.
„Mrs. Purcell“, sagte ich warm. „Ich danke Ihnen für Ihre Auskünfte. Ich glaube, Sie werden
sich unterdessen versichert haben, daß Sie in mir einen braven Freund sehen können, von dem
Sie niemals im Leben irgendwelche Unbill erreicht. Das eine meiner Anliegen, nämlich Ihrem
dahingegangenen Gatten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, will ich fürders nach bestem
Vermögen betreiben, ich bekenne offen, ich kenne die endgültige Lösung noch nicht – Sie
indessen haben mir in der Sache so gut geholfen, als Sie vermocht, und, wie ich es Ihnen sage,
ich danke Ihnen! Nun jedoch - und lassen Sie mich Ihnen das gestehen: es geschieht dies für
mich selbst äußerst überraschend, da ich erst seit einer schmalen Minute Zusammenhänge
erkenne, die ich zuvor nicht in der Ferne erahnt - können Sie mir vielleicht noch in einer anderen Sache zuhanden sein, die ich unabhängig von der Ihren seit einer guten Woche betreibe.
-- Mrs. Purcell … es geht um ein Gemälde, für das … Sie im Sommer … einem Maler … in
Cornwall gesessen.“
Ich trug das Letzte leise, mit der größestmöglichen Rücksicht vor, um sie nicht zu verprellen,
und so war denn auch das Ergebnis, Gott zum Lobe, ausnehmend moderat, dieses Wesen mir
gegenüber von einer Vernunft und Besinnung, die ich für mich selbst in gar mancher Sachlage
gewünscht hätte.
Sie senkte lediglich einen Augenblick das Haupt und sprach dann, mir gerade ins Auge blickend: „Ich weiß, Mr. Holland, worauf Sie hinwollen.“
Ich nickte ihr zutraulich entgegen und erkundigte mich: „Ich kenne den bösen Kniff, Madam,
wie man die Opfer ausgewählt. Darf ich fragen, wie man in Ihrem besonderen Falle verfahren?“
Mrs. Eusebia Purcell entschloß sich dazu, starr auf ihre im Schoße gefalteten Hände niederzulächeln. „Nun, Mr. Holland. Ich weiß - mehr der Ungerechtigkeit, als sie meinem Manne
und zuvor mir widerfahren, hält die Schöpfung gewißlich nicht für uns bereit. Nun denn. In
meinem Falle ist es, wie Sie hören werden, die einfachste Geschichte der Welt.“
Ich wußte nur, ich war vor Tagen auf einem Feste gewesen - im Kreise einer verderbten Gesellschaft. Ein Bild war enthüllt worden dort, der Akt dieser Enthüllung fast selbst eine unzüchtige Handlung. Sieben entblößte Frauen – und eines der magischen Wesen saß mir nun
im Halbschatten einer ärmlichen Bürgerküche gegenüber und ließ mich in ihr Herz blicken ...
womit konnte ich ihr das danken?
„Es verhält sich so“, erklärte Mrs. Eusebia Purcell, „daß ich seit meinem ersten Kinde unserer
Sippe ein Zubrot zu verdienen imstande bin, indem ich in einigen guten Häusern als Amme
arbeite. -- Das habe ich all die Jahre getan. Es hat mit Empfehlungen der Herrschaften zu tun
und mit Vermittlung.“ Die Stimme klang nachdenklich, die junge Frau, die durch derartige
Prüfungen gegangen war, klang sanft, als sie sprach: „Ich habe es nicht geahnt, Mr. Holland,
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was eines Tages auf mich zukam, ich muß dies bekennen, es ist auch gewiß ein Fehler von
mir: Eine Familie in Cornwall, hieß es, ein Bote fragte bei uns an. Nun war ich zu dem Zeitpunkt bereits in guter Hoffnung und die Milch demnach versiegt, gleichviel, sprach der Bote,
ich sollte mich vorerst nur vorstellen -- nun, dachte ich, und sprach ausgiebig mit meinem
Manne darüber - warum nicht, da sie ein Erkleckliches mehr zahlen wollten als üblich – und
reiste.“
„Sie hatten dort ein Kind … es war ein erbärmliches Spiel … das Kind war viel zu alt, um der
Brust ernstlich noch zu bedürfen, einer Brust überdies, die der Milch entbehrte … lächerlich.
Eine Mutter erblickte ich nicht. Ich sprach bei dem Besitzer des Anwesens, einem vornehmen,
verwachsenen Herrn mit Gehstock, vor und ließ deutlich den Wunsch blicken, in mein Haus
nach London zurückzukehren. Gewiß, lachte er, liebe Frau, mit der Zeit – es ist ja noch ein
gutes Stück bis zur Entbindung. Es wurde schlimmer … dieser Maler portraitierte mich, da
ich stillesaß, während das Kind an meiner trockenen Brust saugte.“
Unterdessen war der Abend geworden, die Dämmerung sank hinter dem Fenster mit den ärmlichen Gärten und der Häuserzeile gegenüber, die gepeinigte, junge Frau gegenüber wurde
mir mehr und mehr einzig zur schwarzen Silhouette vor der Aussicht.
„Ich lag des Nachts wach, jede Nacht“, berichtete Eusebia Purcell mit leiser Stimme, „und
überlegte mir, wie ich von dem Anwesen flüchten könnte. Es eröffnete sich mir kein gangbarer Weg, nicht für die lange Reise, nicht in meinem Zustande. Mich hielt die Gewißheit bei
Bestand, daß sie mich nicht his zur Niederkunft oder darüber hinaus dort behalten würden. –
Unterdessen … die Tage … der Maler .. der Maestro …“ sie stieß verachtungsvoll die Luft
aus, „eines Tages kam das Kind nicht mehr … und er kauerte sich statt dessen zu mir …“ Ich
sah, wie sie zitterte.
„Und das haben Sie hernach Ihrem Gatten erzählt?“
Sie sah mich mit schwerem, düsterem, gleichwohl schmerzlich offenem Blick an. „Nun, er
war mein Gatte …“, erklärte sie einfach und hatte damit alles Notwendige gesagt - eine Pause
sank zwischen uns, die eine Fortsetzung des Gespräches, wie mir schien, fast unmöglich gemacht hätte.
„Mrs. Purcell“, bemühte ich mich nach sehr, sehr langer Zeit um den Anschluß. „Sie wissen,
daß Sie nicht die einzige waren, die für ein höchst verabscheuungswürdiges, zweifelhaftes
Unterfangen herhalten mußten. Da waren andere junge Frauen mit Ihnen, die ebenso gequält
wurden, nicht wahr?“
Was war dies für ein grauser Moment, für eine höchst höllenkalte Situation! Zur Hälfte kam
ich mir vor wie gerade einer dieser Schufte selbst, indem ich das junge Weib mit meiner Zudringlichkeit, etwas zu erforschen, das nicht eigentlich sie betraf, im Grunde ebenso ausnutzte
wie jene Rottenhunde selbst, andererseits hatte sich in meinem Hirn unaustränkbar der zehrende Gedanke verbissen, daß ich für Io … für Io, für Io … die Halbverwandelte, für Io, die
ich liebte … am Ende doch noch etwas tun können müßte … um ihr rechtzeitig Hilfe angedeihen zu lassen und sie zu retten. Zu retten … für mich …
Io schwebte herein über die Treppe linkerhand und vermählte sich grausig zauberisch mit dem
trägen Licht, das von den armseligen Gartenflächen draußen kam, sie weinte bitterlich und
schrie nach mir, doch lautlos, tränenlos, schwebend über unseren Köpfen, halb Färse, halb
Mädchen, auf daß ich sie endlich erlösen mochte von dem Übel der teuflischen Metamorphose. Ein graues Maschineninsekt kreiste unsichtbar, die Luft nehmend, unter der Decke der
armseligen Behausung und stach nach ihr, stach, stach …
„Da waren andere junge Frauen“, wiederholte ich. „Was können Sie mir über sie berichten?“
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„Wir waren sieben“, flüsterte sie. „Das weiß ich von meinem Gemahl, der dies vor seinem
Tode erforscht. Sieben von uns auf dem fertigen Bilde. Aber nur zwei andere habe ich in meiner Zeit gesehen.“
Ich saß ihr gegenüber und praktizierte, während ich äußerlich unbewegt blieb, die kälteste
Mathematik. Es tat mir zutiefst leid, denn ich fühlte, daß ich mich ihr gegenüber ins Unrecht
begab, aber für mich zählte in diesem intensiven Augenblicke nur das eine, nur Sinn für die
Magie der Zahlen. Zwei andere und Mrs. Purcell also, dachte ich. Das machte drei. Dazu die
Wirtstochter Rosetta Manderlay und die drei anderen, die sie getroffen. Das machte sieben.
Sieben – fazit: ich kannte sie alle, ergo: sie würden alle auffindbar sein … und eine von ihnen
war jene, die die Io gegeben, war Io … war Io … zweifellos …
„Sagen Sie“, forderte ich die junge Witwe auf.
Sie saß mir gegenüber im letzten Dämmer des Fensters hinter ihr, die Züge ihres Antlitzes
längst nicht mehr zu deuten.
„Die eine war eine Spanierin“, hörte ich ihre ruhige, schöne Stimme.
„Eine Spanierin?“ fragte ich überrascht.
„Ja.“ Eusebia Purcell überlegte. „Sie stammte ursprünglich aus Córdoba. Man hörte noch ihre
fremde, südliche Zunge, wenn sie sprach. Sie erzählte traurig und viel von ihrer Heimatstadt,
die wunderschön sein muß, von der Brücke über den Fluß, der träge dahinfließt, von der maurischen Kathedrale, in die mitten hinein eine christliche Kirche gebaut ist, von den arabischen
Gärten und den engen Gassen im Judenviertel.“
„War sie Jüdin?“
„Nein, sie war ein katholisches Mädchen.“
Welche Klippen des Schicksals, überlegte ich, mochten in dieser Zeit ein spanisches Mädchen
nach England verschlagen haben?
„Sie hieß Lozano, Asunción Lozano, ein schöner Name, wie ich finde. -- Sie sagte, sie hätte
zuletzt als Gouvernante gearbeitet.“
Mrs. Eusebia Purcells Stimme wehte durch den ärmlichen, am Ende des Tages dunklen Raum
wie eine sandwarme Brise, die vom Meer kommt. Jedes Wort, das sie tat, verschaffte mir einen sonderliche Sicherheit.
Ich flüsterte unwillkürlich. „Wissen Sie ihren Brotgeber?“
„Nein … aber ich könnte ihn ermitteln.“
Mein Herz schlug. „Wie das?“
„Nun, eine spanische Gouvernante“, sprach Eusebia Purcell sanft, „- wie viele Familien, Mr.
Holland, glauben Sie, in London werden spanische Gouvernanten haben? Zudem entsinne ich
mich, daß es wohl ein Haus in Finsbury war oder Upper Holloway. Es gibt viele Burschen
hier im Viertel, die sich einen Penny verdienen wollen.“
Ich atmete tief. „Ich wäre Ihnen … sehr verbunden und würde selbstverständlich für die
Unkosten aufkommen“, sagte ich und war zutiefst von ihr beeindruckt, von ihrem kühlen,
ruhigen Mut. Erstmals an diesem Nachmittage kam das Bewußtsein in mir auf, daß dieses
tapfere Wesen mir gegenüber trotz des fürchterlichen Schicksalsschlages, den sie erlitten, den
rechten Weg für sich und ihre Kinder weiterhin finden würde.
An der Treppe wurden Geräusche hörbar, und der Knabe – es war wohl der, der mir die Tür
geöffnet, ich erkannte seine Stimme, obwohl ich ihn im Dunkeln nicht sah - erkundigte sich,
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ob er eine Kerze aufstecken dürfe, und die junge Mutter erlaubte es ihm. Sie fragte, ob ich
wünschte, daß sie auch uns eine entzünden sollte.
„Mrs. Purcell“, sagte ich. „Keine Kerze für mich. Sie werden baldmöglich zu Ihren Kindern
nach oben zurückkehren wollen, dann reicht eine Kerze aus. Sie haben mir sehr geholfen. Ich
will mich auch sogleich verabschieden. -- Nur sagen Sie mir noch, was Sie von dem letzten
Mädchen wissen - dem anderen, das mit Ihnen war.“
„Ich bedaure, da weiß ich nicht viel, Mr. Holland. Ich kenne ihren Vornamen, der lautete Virginia, aber niemals hat ein Name weniger zu ihrer Trägerin gepaßt.“ Das Geheimnis ihrer
letzten Silhouette im kaum mehr vorhandenen Gegenlicht, das Rätsel ihrer Stimme berührte
mich wie ein Arkanum aus einer anderen Welt, als sie über dieses fremde Mädchen sprach.
Wie in eine andere Zeit versetzt, wie am Schürzensaume meiner Mutter … im Schutze vor der
kalten Welt, in Sicherheit …
„Sie war frech und gewöhnlich“, sagte Mrs. Purcell im Dunkel, „ein nicht sonderlich hübsches, aber ein kaltherziges Ding, Mr. Holland, mit einem auffälligen Blutschwamm auf der
Wange, wollte nichts mit uns zu tun haben und wir auch nicht mit ihr. Sie war die einzige, der
das alles nichts ausmachte, was dort mit ihr geschah. Im Gegenteil, sie lachte gelegentlich
über uns, hatte nur Spott und Bemerkungen übrig, lachte uns aus, wenn eine von uns weinte.“
„Das ist sonderbar“, murmelte ich. „Man sollte doch normalerweise glauben, daß junge
Frauen in einer derartigen Situation zusammenstehen und füreinander eintreten.“
„Sie haben mich nicht verstanden, Mr. Holland. Sie war ein gefallenes Wesen, ein – wie sagt
man – Mädchen der Straße. Sie betonte zu öfteren Malen, daß ihr die Arbeit besser gefalle als
ihre sonstige, und die Waschgelegenheiten in jenem Cottage seien ebenfalls vorzuziehen.“
Ich schwieg betroffen. Ich dachte - und für den Moment stand mein Hirn mir still - was es
bedeutete, falls diese es wirklich war, die der Io ihre Erscheinung geliehen? Ein halbes Gesicht? – vielleicht hatte Condonniere nur den scheußlichen Blutschwamm auf der Wange verbergen wollen, den Mrs. Purcell erwähnt?!
Ich dachte an Io. Dieses unglückliche halbe Antlitz, diese kühle Schulter, diese unschuldige
Brust -. Ein Mädchen der Straße? - Noch nie hatte ich geleugnet, daß sich bei uns Menschen
das Abbild der wahren Seele nicht immer offen im Angesicht zeigt, daß ein Schurke natürlich
mit dem reinsten Engelsgesichte daherziehen mag und ein verworfenes Weib uns mit bestrickendem Liebreiz betört. Wie umgekehrt in einer häßlichen Hülle das blutendste Herz schlagen mag, in einem Krüppel die Barmherzigkeit zur höchsten Blüte gelangt und vielleicht auch
in einem alten Menschen das Feuer jugendlichen Begehrens brennt. Wer wollte bestreiten,
daß der Mensch per se ein Antagonismus ist - was, dachte ich beklommen, wenn mir das
weitere Schicksal dergestalt eine Enttäuschung bereithielt?
Und dann, schon in der nächsten Sekunde, war dieser elende Gedanke, den ich im Ansatze ja
zuvor mehrfach schon verspürt, wieder verbannt aus meinem Kopfe, und zwar mit Hilfe eines
äußerst vernünftigen, beruhigenden und einfachen Arguments. Wenn es sich so verhielt, daß
Mrs. Purcell, wie sie mir da gegenübersaß, als Vorlage für die trächtige Leto hatte herhalten
müssen, und wenn es einige Berechtigung hatte, in dem Horn, das Europa hielt, den beinah
witzigen Verweis auf die Urform des Trinkbechers und insofern auf die Zunft der Wirtstochter zu sehen, von der er die Figur gewonnen - wenn der Maler seine Kunst also dermaßen unmittelbar aus der Wirklichkeit bezog, so kam diese Virginia - wie auch immer - als Urbild nur
für eine einzige der anderen Figuren in Frage!
Jawohl, ich entsann mich der Metis, der Titanin, die wie Kehricht auf die rechte Seite des
Gemäldes hingeschleudert lag, auf dem Rücken liegend, ihre verfaulende Lende wie unabsichtlich, gleichwohl anstößig geöffnet, dem Betrachter bot, während das Gesicht des Wesens
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uns absonderlich fremd und abgekehrt blieb. Mir schienen, so weit ich bisher in meiner
Kenntnis der Sachlage fortgeschritten war, die schamlose Pose selbst, auch die Symbolik des
Gesichtslosen wie des Fauligen, Fortgeworfenen, ja, des Verworfenen, kurz, die Betonung des
ekel Leiblichen gegenüber der Seele unbedingt ein gerüttelt Maß an deutlichen Verweisen auf
die wahre Herkunft des Mädchens zu enthalten – davon ganz abgesehen, dachte ich in betroffener Erkenntnis, daß der Maler ihr Gesicht eben auch deshalb nicht zeigte, um die erwähnte
Verunstaltung zu verbergen …
Als ich so weit gedacht, kam der Atem mir glücklich wieder. Ich nestelte meine Geldbörse
hervor und legte einen Guinea auf den Tisch. Mrs. Purcell, die zuvor nach ihrer letzten Bemerkung geschwiegen, da sie mich zu Recht in Gedanken gewähnt, mochte jetzt wohl schemenhaft meine Bewegung wahrgenommen haben und vielleicht auch deuten können – was
ich indessen auf den Tisch gelegt, hatte sie bei dem kaum noch vorhandenen Lichte im Raum
gewiß nicht erkannt. Ich hoffte, daß sie sich später um so mehr freuen, daß sie es nutzen können würde für sich und ihre Kinder.
„Mrs. Purcell“, sagte ich dankbar und erhob mich. „Sie können nicht wissen, wie sehr Sie mir
geholfen haben. Vielleicht erfahren Sie dies ja eines Tages, wenn unser Schicksal uns erst
beide in bessere Bahnen gelenkt hat. Jetzt lassen Sie mich Abschied nehmen und alles erdenklich Gute wünschen.“ Ich lächelte, was sie im Dunkeln natürlich nicht sehen konnte. „Ihnen und den Kindern. Auch dem Kommenden. Haben Sie schon einen Namen?“
„Felix“, sagte sie leise, „falls es ein Junge wird. Und ich bin mir gewiß, daß es einer wird. Ich
habe mich nie getäuscht. Er wird ganz nach seinem Vater sein …“
„Felix“, wiederholte ich, „… ein guter Name … der all seine Versprechen halten wird, da bin
ich sicher.“
„Gott wird es fügen“, stimmte sie zu.
Sie erhob sich - ob ihres Zustandes etwas mühsam - und kam hinter dem Tische hervor, um
mich zur Tür zu begleiten, denn sie mußte sie hinter mir verriegeln. „Und verzeihen Sie mir!“
„Wofür?“
„Daß ich mich krank melden ließ, als sie kamen. Nach dem Tode meines Gatten kam zu viel
Besuch, der nicht ehrlich zu uns war. Wie, verzeihen Sie, Ratten, die plötzlich Witterung aufgenommen hatten. Es ist schwer, wenn der Vater der Kinder dahingerafft wird. Menschen, die
sich noch nie bei uns hatten blicken lassen. Oder entfernte Cousinen meines Mannes, die doch
nur sehen wollten, ob vielleicht von aufgeteilter Habe etwas für sie abfiel – welch ein kurioser
Gedanke … Und, beiseite gesprochen: Ich war … zuvor schon … seit Cornwall, sehr vorsichtig geworden an der Türe …“
„Mrs. Purcell“, sprach ich, „Sie benötigen diese Rede nicht! Niemals hat eine Frau mir mehr
Respekt abgenötigt - seien Sie dessen versichert! Wann immer in Zukunft Sie eine Frage haben oder Hilfe benötigen, so bitte ich Sie, denken Sie gütig an das Billett, das ich Ihrem Jungen gab.“ Mir fiel noch etwas anderes ein. „Wenn Sie eventuell tätige Hände brauchen“, ich
deutete vorsichtig gegen ihren Leib, „so könnte ich bei meinen beiden Schwestern anfragen,
die allerdings in den Dales und York leben. Ich stamme selbst von da.“
Mrs. Eusebia Purcell öffnete die Tür, was etwas Licht hereinließ. Ich sah, daß sie lächelte.
„Da wird die Anreise länger dauern, als mir noch zur Verfügung bleibt, Mr. Holland“, murmelte sie. „Aber sorgen Sie sich nicht, ich war bislang immer noch selbst in der Lage, zur
rechten Zeit für Tücher und heißes Wasser zu sorgen.“ Sie reichte mit ihre zartgliedrige,
schmale Hand. „Leben Sie wohl, Mr. Holland – und sollte ich in der Suche nach der Spanierin
erfolgreich sein, so erhalten Sie umgehend Nachricht von mir …“
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Ich neigte den Kopf. Da war vor mir Leto, anrührend hilflos in ihrer Porzellanhaut, ihrer
matten, zarten, müden Schönheit, da war sie, wie sie trächtig der gischtenden und hinter ihr
schwindelig zurückfallenden Woge entstieg. Der Fels sah bläulich und gefährlich aus, scharfkantig und wasserglatt. Die Zeile der Häuser in Beulah Lane, die Gerüste gegenüber, verschwammen im ersterbenden Licht.
„Leben Sie wohl“, murmelte ich.
Dann schritt ich in der tiefen Dämmerung des Tages die Straße hinunter.
5. Kapitel
Dies bin nicht ich, die hier singt
Wir schrieben inzwischen Mitte Oktober. Der Herbst war unwiderruflich über London gekommen, mit Regen, empfindlicher Kühle, Wind oder, sobald dieser einmal abflaute, Nebel.
Von Rosetta Manderlay hatte ich nichts mehr gehört - und was hätte ich auch hören sollen.
Drei Wochen lag jene denkwürdig vertrauliche Nacht in der Finsternis von Southwark jetzt
zurück. Dennoch bekenne ich, stand mir manchen Abends auf dem Heimweg vom Kontor,
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den ich zu Fuß erledigte, ihre schöne strotzende Gestalt vor Augen, ich vermeinte sogar ihren
sanften, warmen Duft zu verspüren, wie damals, als sie neben mir verweilte. Zu mancher
Schlummerstunde in meiner Mansarde bedauerte ich, das „Ye Olde Bell“ damals nicht ein
weiteres Mal aufgesucht zu haben, um die dramatische Darbietung anzusehen, bei der sie
mittat. Andererseits erzeigte sich die Arbeit, die ich tagtäglich zu erledigen hatte, als Leib und
Geist durchaus erschöpfend - auch wenn man wie ich noch zu dem jungen, aufstrebenden
Volk gehörte - und so war recht bald der Zeitpunkt verstrichen gewesen, diesen Besuch noch
zu unternehmen, das Stück unterdessen gewiß abgesetzt und die Truppe, wenn sie denn überhaupt noch existierte, mit den Proben zu einem anderen dramatischen Werk befaßt.
Ebenso hatte ich von Mrs. Purcell keine Nachricht bekommen, was bedeutete, daß sie in der
Frage jener spanischen Gouvernante nicht weiter vorgedrungen war. Wenn ich so grübelte,
zieh ich mich sofort der Selbstsucht und schämte ich mich des bloßen Gedankens – denn sie
würde mit der Niederkunft und der Aufzucht des Neugeborenen, den ungezählten zusätzlichen Handgriffen, die das im Haushalt gewöhnlich bedeutete, zumindest in der nächsten Zeit
mehr als vollauf beschäftigt sein. Hier wußte ich, daß der Zeitpunkt käme, ihr erneut meine
Aufwartung zu machen, und sei es aus Höflichkeit und mich nach dem Kinde zu erkundigen,
aber – ich bemerkte dies zuvor – mir war das Tagwerk so erfüllend, daß alles außer demselben, so sehr es vielleicht geboten gewesen wäre oder mich sogar lockte, eher zur Pflicht denn
zur Freude geriet.
Ich will nicht verhehlen, daß ich mich in die Arbeit auch hineinstürzte, weil nach einer Phase
der Euphorie, in der ich zunächst geglaubt hatte, meinem Fabelwesen unmittelbar auf der
Fährte zu sein, dann, als nichts weiter geschah, eine starke Hoffnungslosigkeit mich befiel, bis
hin zu der Frage, ob sie die Richtige für mich denn überhaupt sei - hatte ich doch zu einer
mitternächtlichen Stunde, als ich im Bette erwacht war und über meinem Kopfe die Katzen
über die Dachschindeln lärmten, mich plötzlich nicht einmal ihres AntliTzes mehr erinnert!
Auch beunruhigte mich meine Hingezogenheit zu Rosetta Manderlay. Was war mein Herz,
fragte ich mich manches Mal, wenn ich wach lag und meine Gedanken mich erdrückten – ein
kecker Sperling, der hierhin hüpfte und dorthin?
Zu viel, fand ich, blieb unbeantwortet all die Zeit. Was war, wenn ich Io einst treffen sollte,
und sie wäre auch wirklich genauso, wie der Maler sie getroffen und wie ich sie sah, und ich
liebte sie wahrhaftig – doch sie erwiderte meine Neigung nicht? Warum sollte sie meine Neigung erwidern? fragte ich mich in kaltem Entsetzen – kannte sie mich doch nicht! Wie groß
waren die Aussichten, war die Wahrscheinlichkeit, daß sie die gleichen Empfindungen für
mich hegen würde wie ich für sie? Hatte ich mich hier an eine völlige Schimäre verloren? -Was also war, wenn ich ihr gleichgiltig blieb, schlimmer noch, sie mich flüchtete … oder –
anderer Einfall – wenn sie am Ende gebunden war? -- Tagtäglich, bei der Mittagsmahlzeit im
Bureau, ließ ich meinen panischen Gedanken freien Lauf, so sehr, daß William Carlisle, der
als Redakteur für Gesellschaftliches bezahlt wurde, mich eines Tages ansprach und sich erkundigte, was mir denn auf der Seele laste.
Ich legte mein Brot beiseite. Ich war so verwirrt, daß ich eine fingierte Untersuchung vorgab,
die mir Kopfzerbrechen bereite – es ginge um einen Ehrenhandel, das hieße, es ginge um einen sich eventuell abzeichnenden Ehrenhandel, eine Geschichte um die Untreue einer Frau,
bei dem es nun für den Zeitungsmann, für mich, darauf ankäme, im voraus zu ermitteln, ob
das Duell stattfinde oder nicht, und wo es denn stattfinde, falls eines stattfinde. Ich wußte zu
jenem Zeitpunkt nicht, ob William Carlisle mir auch nur einen Fingerbreit dieser unsinnigen
Geschichte glaubte – ich selber kam mir hinterher wie ein völliger Tölpel vor – ich hatte
schließlich ohne Not einen anderen Menschen geharnischt belogen, und ich entschied mit
Mut, es ihm bei Gelegenheit zu gestehen und ihn um Verzeihung zu bitten. Dazu indessen,
wie sich zeigen wird, kam es nicht.
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Ein anderes Mal, zuvor schon, in meiner Kammer, eines sehr frühen Morgens - draußen lag
noch die finsterste Nacht - als der Schlaf mich gemieden hatte wie so oft in letzter Zeit, war
ich aus dem Bette aufgestanden, hatte eine Kerze entzündet und, auf- beziehungsweise absteigend nach der Konkretheit, eine schriftliche Liste verfaßt mit den Namen oder Kennzeichen
der sieben Frauen, soweit sie mir bisher bekannt, ein Dokument, das ich seither im Sekretär
meiner Stube verwahrte. Diese Liste las sich folgendermaßen:
Rosetta Manderlay
Mrs. Eusebia Purcell
Stella „Gossamer“ Floyd Virginia ?
Asunción Lozano
?
?
-
Europa
Leto
?
Metis (?)
?
?
?
(Wirtstochter)
(Mr. Frank Purcells Gattin)
(Dienstmädchen)
(Dirne)
(Gouvernante)
(Gattin aus gutem Hause– Anwalt)
(Mädchen ohne richtigen Namen,
Französisches Wort, Herzring)
Ich hatte danach diesem Papiere Dutzende von Malen die Vorkenntnis dessen abzuringen versucht, wer von jenen nun Io sei und hatte doch jedes Mal nur in vorausschaubarer Ernüchterung einige mathematische Plattheiten ausgeforscht, zu deren Erkenntnis es im Grunde der
Erstellung der Liste nicht bedurft. Ich kannte zwei der Frauen von Angesicht, Rosetta Manderlay und Mrs. Eusebia Purcell, das bedeutete, das Io eine von den fünf übrigen war, ich verband mit einer weiteren, jener Virginia, die stärksten Vermutungen, so daß ich meinte, die
Anzahl der Wahrscheinlichkeiten auf vier begrenzen zu können – im Grunde auf drei, denn
aus einem Grunde, den ich selber schwer bestimmen konnte oder schonungslos meinem gezielten Wunschdenken zurechnen mußte, wollte ich einfach nicht annehmen, daß Io verheiratet sei, Gattin aus gutem Hause, die schamlos den kranken Gatten hinterging. Vielleicht am
Ende auch mit seiner Einwilligung handelte? Ich bedeckte meine Augen.
War Io eine Person, die wirkliche Freude hatte an etwas, über das jene andere, die Gefallene,
das Mädchen von der Straße, Virginia, lediglich geurteilt, die Waschgelegenheiten in dem
Cottage seien dem, was sie sonst kenne, bei weitem vorzuziehen? Nein, oh nein, etwas unsagbar Schmutziges ging von dieser reichen, verheirateten Dame aus, dessen war ich mir sicher,
und ich konnte mir meine Io nicht als Zentrum solcher Verworfenheit vorstellen. Aber Sicherheit? Gar Gewißheit? Am Ende Wahrscheinlichkeit? -Einerlei, es blieben drei, von denen ich sogar zwei Namen kannte. War also meine Io ein eingeschüchtertes Dienstmädchen, das Stella Floyd hieß? ... Gossamer ... das konnte stimmen ...
das paßte, Gossamer klang warm ... es klang nett ... zutrauenerweckend … nach Sonne ...
Sanftheit … einer Seele, die um Geborgenheit rang … oder war sie ein heimwehkrankes junges Ding aus Spanien, das tagsüber seelenvoll eine Handvoll Kinder hütete ... verantwortungschwer … im Glauben an Gott … oder ein Wesen, das sich im Grunde überhaupt noch
nicht aus dem Nebel schälte ... ein Nichts mit einem teuren Schmuckstück an der Hand ... kein
Name ... nur ein französischer Begriff? -- Konnte jemand Éloge heißen? ... oder Coeur? ...
oder ... Espoir? – Viele Nächte sahen mich wach in jener Zeit … zu Beginn des Oktober, und
die Morgende waren träge.
Dabei, es galt zu tun. Die Stunden, die ich im Comptoir verbrachte, waren Tag für Tag von
emsiger Tätigkeit erfüllt. Finlay Burkitt überhäufte einen jeden von uns mit Aufgaben. Der
‚Monthly Mercury’ erschien zum 15. jeden Monats, und in den Tagen unmittelbar vor diesem
Termin pflegte die Heftigkeit der Arbeit allenthalben sich in Ansätzen gar zur puren Hysterie
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zu steigern, und das bei gestandenen Männern wie William Carlisle oder James Meredith, die
ich zuvor schon erwähnt. Und ich will weder so bescheiden noch so unbescheiden sein, mich
selbst von dieser Tatsache auszuschließen. Wenn der uneingeweihter Leser über der Lektüre
unserer periodischen Ergüsse vielleicht nicht recht das Herzblut und den Schweiß würdigend
zu erkennen vermochte, weil unsere Gazette sich mühelos las und dies ja auch sollte, so halte
ich hier doch fest, daß ein jedes Mal die Kraft zwanzig findiger Köpfe und eines ganzen Monats in dieses Bündel Papier gebannt war. Denn es galt nicht nur, aus dem Bureau zu laufen,
Bekanntschaften zu schließen, Gespräche zu führen, Termine wahrzunehmen, auf Empfänge
zu gehen, im Pub die Ohren zu spitzen, hochzustapeln und in Camouflage zu wandeln, Kontakte mit Militärs und Politikern zu pflegen, einen intimen Draht zu den Portiers und Blumenverkäufern zu knüpfen, kurz: Informationen zu sammeln, sie zu verwalten, eventuell an
Dienstkameraden weiterzureichen, bevor es allein zu einem Entwurf dessen überhaupt kam,
worüber man zu schreiben beabsichtigte.
Am 15. Oktober nun war der „Monthly Mercury“ an den Straßenecken unser nebligen Metropole druckfrisch zu erhalten, meinen Bericht vom fast einen Monat zurückliegenden gesellschaftlichen Ereignisse im Landhaus an der Themse auf der vierten Seite verborgen, und all
das spätherbstliche Sonnenlicht zwischen den Zeilen zauberte fast eine Vergangenheit zutage,
so verklärt, wie sie auf dem Anwesen Sir Enid Luciters im Grunde niemals geherrscht. Mir
kamen mit einem Male die Anwürfe und Verdächte, die ich doch gemeint hatte, deutlich genug im Texte untergebracht zu haben, sehr, sehr halbherzig, überaus feige und scheu vor, und
eine sternenweit entfernte Sorge, daß mich, gerecht, doch unerwartet, aus geheimnisvoller
Höhe vielleicht die Rache für eine unausgesprochene Unbotmäßigkeit träfe, verflüchtigte sich
mir in jenen Tagen in den Bereich der absoluten Nichtigkeit und Lächerlichkeit.
Eine Kutsche? Welche Kutsche hätte mich niederfahren sollen wie Frank Purcell?
Da war es auch, daß jener schon zuvor erwähnte William Carlisle eines lichtlosen Abends, als
wir nach des Tages Dienst annähernd gemeinsam aus der Tordurchfahrt traten und ich überlegte, ob ich den weiteren Abend der ernsthaften Arbeit in meiner Kammer oder eher dem
Vergnügen in einem der Wirtshäuser in Stepney widmen sollte, wo es dem Vernehmen nach
höchst fragwürdige Unterhaltung zu bestaunen gab – ich verspürte, offen gesprochen, gnädiger Leser, in jener Phase, verursacht durch insgeheimes Warten und allgemein quälend wahrgenommene Ereignislosigkeit vermutlich allzu stark die Sinnlosigkeit meiner ganzen Existenz
– da also war es, daß, beim Durchschreiten der Tordurchfahrt, eines Abends der erwähnte
William Carlisle mich von der Seite her mit einem wissenden Zucken der Augenbrauen ansprach und sagte: „Höre mir gut zu, Holland, ich glaube, ich habe da etwas für dich!“
„Oh ja?“ fragte ich, im Herzen nur zur Hälfte interessiert, eher noch behaftet mit der Nachgeburt schlechten Gewissens, das ich dem Arbeitskameraden gegenüber empfand, da ich ihm
jene haarsträubende Lügengeschichte aufgetischt.
Auf diese genau jedoch, oh Verblüffung, nahm jener in dieser Sekunde Bezug. „Du hast mir
da unlängst etwas angedeutet, Holland“, sagte er, „das ich im ersten Augenblick für eine
greulich schlechte Mär gehalten habe, mit der du mich nur aus deiner Nähe verjagen wolltest,
verzeih’ mir – jetzt aber glaube ich in der Tat anders darüber. Es ging um diesen eventuell
anstehenden Ehrenhandel, du erinnerst dich, eine Frau, die schamlos ihren Gatten betrog?“
„Ja“, sagte ich mit unstetem Herzen, denn ich erinnerte mich allzu genau.
„Nun, ich glaube“, tuschelte William Carlisle in mein Ohr, „gestrigen Abends habe ich die
Betreffende kennengelernt.“
Ich weiß nicht, ob Du mir folgen kannst, oh mein Leser! - Denke Dir nur etwas recht Wirres
aus, erzähle es dem gleichgiltigen Nächsten, wenn der Fall es vielleicht gebietet, und vergiß
es danach oder bedaure Deine Torheit, daß Du es erzählt. - Und dann warte den Tag ab, an
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dem dieser Nachbar kommt und Dir als blanke Wahrheit bestätigt, was Du Dir seinerzeit nur
aus den Fingern gesogen … Ich möchte wohl Deine Verblüffung vor mir sehen.
„Wen hast du kennengelernt?“ fragte ich, ungläubig, innerlich erstarrt zu Stein.
„Nein, nun, nein, kennengelernt wäre zu viel“, nahm er sein vorlautes Wort zur Hälfte zurück,
„aber ich habe, meine ich, Einblick genossen in die nämliche Geschichte, die du erwähnt. –
Hast du nicht etwas von einem kranken Gatten gesagt? … und einem jungen Anwalt, der in
die Sache verwickelt sei?“
Und an dieser Stelle, wohlgeneigter Leser, überliefen die kältesten, sonderlichsten Schauer
mein Rückgrat, denn ich war mir ziemlich sicher, daß ich dergleichen ihm, William Carlisle
gegenüber, niemals erwähnt. Irgendwo aber läutete eine Glocke dünn in meinem Hirn, daß ich
genau jenes irgendwo anders schon gehört oder erfahren. -- Und dann war es wieder bei mir,
klar wie die Sonne bei Tag: Rosetta Manderlay hatte solches gesagt: ein kranker Gatte, ein
junger Anwalt – die reiche Dame auf dem Bildnis!
„Was ist das?“ fragte ich.
„Ich war auf einem Empfange“, sprach William Carlisle, „zur Hälfte privates Vergnügen und
zur anderen ein offenes Ohr, ein aufmerksames Auge für die Dinge, die wir vielleicht für unser Kompendium brauchen.“ Er nahm seinen Hut ab und bürstete ihn mit dem Ellenbogen.
„Ich hörte es mit, am Schanktisch nebenbei, es war nicht für mich bestimmt.“
„Was hast du gehört?“ fragte ich. „und wo hast du es gehört?“
„Oh, ich glaube nicht, daß dich das letztere wirklich interessiert“, grinste er. „Es geschah …
genug … im Schatten von Whitehall. Ach, eh du mich quälst, der Count von Greffi hatte geladen und die ganze … entschuldige … Bagage rückte an. Ich mitten herinnen. Der König war
nicht dabei, Gott schütze ihn“, William Carlisle lachte. „Nun, wie auch immer: Der Abend
zog sich, mein Lieber, und vermutlich hätte ich dem, was ich plötzlich über die Schulter hörte,
nicht die geringste Beachtung geschenkt, hätte sich mir nicht plötzlich diese eigenartige Verbindung zu dem geknüpft, was du mir des anderen Tages erzählt. Also, da sei eine Dame,
vernahm mein erstauntes Ohr, die mache ihren Gatten zu einem Hahnrei, wie es bestenfalls
der französischen Komödie gezieme. Das Gehörn auf seinem Kopfe reiche mittlerweile hin,
um als Trophäe in Windsor die Wand zu schmücken. Indes, genug des Schabernacks, der
arme Schlingel liege krank, er sei gelähmt, du verstehst mich. Und ein Sachwalter sei involviert, vom Fache der Advocati diaboli, wenn ich das recht verstand. -- Nun gut, das Köstliche
folgt: Sozusagen als Crème Chantilly auf der Torte, als deus ex machina in der Tragödie, als
Pointe im Impromptu vernehme ich, die Dame habe … im Kreise anderer Geschlechtsgenossinnen, nebenbei bemerkt … jüngst zu einem Gemälde gesessen, das - wiewohl unmittelbar
der griechischen Götterwelt entnommen, wogegen man als Förderer und Liebhaber abendländischer Kultur sicher nichts einwenden kann - sich doch auszeichnete durch anstößigste Blöße
der Haut und Deutlichkeit gewisser leiblicher Positionierungen. Höre, Holland, mir scheint
die besagte Dame es inzwischen zu einer Art Bekanntheit unter bestimmten Conaisseurs gebracht zu haben. Und wenn du mich nett bittest, will ich dir gern ihren Namen verraten.“
Wir standen, inzwischen die letzten, in der offenen Tordurchfahrt nahe der Fleet Street, und
ich starrte den Arbeitsgenossen vermutlich offenen Mundes an, denn er lachte.
„Also sage ihn schon“, stieß ich hervor, „du siehst ja doch, daß es meine Geschichte ist.“
„Wohl wahr, Holland, wohl wahr – und was bekomme ich dafür?“
„Du bekommst alles, was du willst, Carlisle“, versprach ich. „Wenn ich eine Tochter hätte,
dürftest du um ihre Hand anhalten.“
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Er schmunzelte hellauf. „Nun, das ist ein gutes Wort“, sagte er, „das nenne ich ein Versprechen! Willst du mir also Bescheid geben, sobald du die Treffliche fürs Leben gefunden und
die versprochene Tochter gezeugt?! Ob ich es noch bei Sinnen und Gesundheit erlebe …?“ Er
kehrte zu dem Ernste, in dem ich ihn zumeist kennengelernt, zurück und erkundigte sich:
„Also denn, mein guter Holland, geht es im Kopfe, oder brauchst du dazu Stift und Papier?“
.....
Ein Diener tat mir die Türe dort auf, wie ich einen solchen bisher nur vom Hörensagen vernommen, in weißen Handschuhen, deutlich nach Essence absolue duftend, vom Feinsten gewandet, doch, was die Belange des Alltäglichen betraf, kaum von dieser Welt. Mein Unglück
mochte es gewesen sein, daß ich eben dieser Welt der Sterblichen entstammte, so kostete es
mich etliche Mühe, an der offenen Tür sein Gehör zu finden. Immerhin, daß ich über eine
Deutlichkeit und Direktheit verfügte, die er möglicherweise aus seiner eigenen Zeit kannte,
mittlerweile indes strikt zu leugnen gezwungen war, öffnete mir nach einer Minute des unerfreulichen Disputs doch schließlich jene Pforte, und ich fand mich nach Durchschreiten
zweier umfänglicher Hallen in einer Antechambre wieder, wie sie auch Hertford House am
Manchester Square wohl angestanden hätte. Hier ließ der Diener mich allein, nachdem er mir
Schirm und Zylinder abgenommen, um der Lady von meiner Visite Bescheid zu geben, wie er
murmelte, aber – lag es an der Größe des Anwesens oder der Tatsache, daß er unterdessen die
Lust verloren, seinen Auftrag auszuführen – zeitweilig kam mich die Vermutung an, ich
würde dort wohl für die Ewigkeit und einen halben Tag verweilen müssen.
Zweimal kamen Dienstmädchen, unterschiedliche, in den Raum, beide Male glaubte ich, ich
werde aufgefordert zu folgen, aber beide Male fand ich mich im Irrtum. Sie stutzten, grüßten
und gingen wieder. Sonst geschah nicht viel.
Immerhin, die Muße konnte ich nutzen. Hatte ich mich die ganze Woche zuvor, seit William
Carlisle mir Namen und Ort genannt, Lady Fiona de Cato, New North Road in Clerkenwell,
nicht weit vom Regent’s Canal, noch gefragt, welche der Gefährtinnen des Zeus wohl durch
jene, die ich nun treffen würde, verkörpert sein mochte, so fand ich diese vordringende Frage
bereits unmittelbar nach dem Eintritt in den Raum beantwortet, denn als der Diener mich verließ, drehte ich mich, um ihm nachzuschauen, um, und so geriet ein kleineres Portrait in Öl an
der Stirnwand in meinen Blick, von dem ich annehmen mußte, daß es niemanden anders als
die Herrin des Hauses darstellte. Anders war die Ähnlichkeit jener Gesichtszüge mit denen
auf dem Bilde, das ich vor einem Monat in Sir Enids Haus gesehen, nicht zu erklären. Wobei
doch ein Unterschied sogleich ins Auge fiel – dieser Maler hatte sich bemüht, einen Ausdruck
von Güte und Geduld in die Züge der Frau zu legen, die er abgebildet, während in dem Condonniereschen Werke eine sonderbare Kälte im Ausdruck der Figur vorherrschte.
Eine Sorge immerhin, die ich, wie erläutert, durchaus verspürt, war mit dem ersten Anblicke
jenes Konterfeis fortgeblasen gewesen wie der letzte Schnee des Winters in der Märzsonne: -
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Nein, erkannte ich und dankte Gott, Lady Fiona de Cato war nicht Io, Io nicht Lady Fiona.
Und im Grunde: Wie hätte sie es sein sollen!
Denn erneut war ich bestürzt über meine Ignoranz! Wenn ich bisher nur die grundsätzlichste
Logik in meinen Gedanken hätte walten lassen, dachte ich - nicht wenig über mich selbst erzürnt - wenn ich doch nur das, was ich mich in diesen Wochen bereits zwei- oder dreimal
genötigt gesehen hatte, neu zu entdecken: nämlich daß die Figuren in dem Gemälde selbst
jeweils Schlüssel darstellten auf diejenigen, nach denen sie gemalt, so hätte es mir wahrlich
beifallen sollen, dies Spiel ein weiteres Mal zu treiben und mir vorab die leichte Frage zu beantworten: Für wen auf jenem Bilde kam Lady Fiona de Cato überhaupt in Frage?
Nun gut, ich hatte es verfehlt, dies vorab richtig zu erraten, und erst dieses Bildnis sehen müssen! Nun gut, dachte ich aufgebracht, nur weiter so! Aber einerlei, jetzt wußte ich: Wenn sie
sich erst herbeiließ, die Dame des Hauses, mit mir zu sprechen, falls dies geschähe, so würde
der einzig bekleidete Charakter auf dem Condonniereschen Bilde mir gegenübertreten:
Demeter - die Korngottheit, die Erdmutter, die nicht nur die Früchte der Welt brachte, sondern
gleichzeitig als Verursacherin von Hungersnöten galt – so hatte Condonniere sie abgebildet –
ein wahrhaft janusköpfiges Weib! Demeter, die Nebengattin, nach anderer Überlieferung Gespielin des Zeus - die ihrerseits ihn hinterging, indem sie mit dem Kreter Jasion Pluto zeugte.
Demeter, Mutter in rührender Angst um Persephone, ihre Tochter, die Hades, der Bruder des
Zeus, ihr geraubt. Die Stifterin der Hochzeit, der Geburt und der Gesundheit - die doch stets
gleichermaßen ein eigenartiger Draht zu den Nachtseiten der Dinge verband – Demeter, Göttin der Unterwelt, genannt Erynis, die Rächerin, Melaina, die Schwarze, ihre bekannten Namen … – Demeter: Ausrichterin der eleusischen Mysterien!
Kurz, auf wen mochte dies besser passen als auf Fiona de Cato, die, wie man beinahe sagen
durfte, ebenfalls eleusische Mysterien veranstaltete, wenn ihr Gatte dies nicht sah, die sich
einen jungen Jasion hielt, auch wenn er nicht aus Kreta stammte, sondern dem Vernehmen
nach nur aus einer Londoner Kanzlei. All dies hatte mir, wie gesagt, Carlisle vertraut - und
noch ein mehreres. Der Gatte war Militär-Offizier, Italiener mit französischen Vorfahren, aus
Lucca gebürtig, der um das Jahr 12 noch unter Napoleon gekämpft und – eine eigene Geschichte für sich - kurz vor dessen flämischer Niederlage die Seiten gewechselt und unter
Wellington weitergedient hatte. Dort hatte ihn das Glück – nicht im Kampfe – verlassen, sondern er war beim Besteigen einer Barkasse im Hafen von Oostende sehr unglücklich gestürzt,
übel unter Wasser eingeklemmt worden, fast erstickt und seither von der Mitte an abwärts
gelähmt. Dies hatte ihn nicht gehindert, noch im Jahre 15 ein junges, bildhübsch blühendes
Mädchen der Londoner Gesellschaft zu ehelichen, die entfernt aus der Linie Sir Thomas
Grosvenors herstammte, eben jene Fiona Reva Winter, um deren Audienz ich heutigen Tages
nachkam.
Ich saß auf einem der vergoldeten Stühle französischen Stils, die am Rande standen, schaute
in mein eigenes vervielfachtes Konterfei in diversen Spiegeln, schenkte auch den anderen auf
den Wänden hängenden Gemälden den einen oder anderen Blick, es gab zudem bei einigen
Wandborden Porzellan zu sehen, das ich für Chelsear Fertigung hielt, ich bewunderte gebührend die Uhr auf dem Kamingesims – eine zweifellos wertvolle, kalbskopfgroße, in Bronze
getriebene Arbeit mit diversen Engeln, die einen stark verzierten Globus stützten, und ließ mir
im übrigen – ich bin nicht im Besitze eines eigenen Chronometers - von eben dieser Uhr die
schier unglaubliche Spanne Zeit vermelden, die ich wartend in diesem Raume verbrachte.
Von ferne hörte ich das Geklapper von Personal in der Küche. - Gerade, als mir die Gedanken
zur Gegenwart und zur eigenen Kindheit ausgingen und nachdem ich im Kopfe die Fragen
des Königshauses und der Zeitläufte wohlwollend begleitet, ich mich entschieden hatte, es
genügend sein zu lassen und nach meinem Schirm und Hut zu verlangen – ich würde andere
Wege finden, diese Burg mangelnder Rücksichtnahme zu schleifen, ich würde derartige Hyb95
ris zu belehren wissen, Hochmut kam vor dem Fall – oh, gewiß, in mir kochte hellauf die lodernde Wut, mich behandelt zu sehen wie ein Almosengänger, ein Bittsteller, ein Sappeur gerade in diesem kritischen Moment schlich der vorbezeichnete Diener wieder in den Saal
und verkündete von der Türe her, daß Lady de Cato nunmehr bereit sei für die Audienz.
Ich zerbiß mir jederlei Bemerkung, denn er konnte am Ende nichts dafür, sondern erhob mich
nur schweigend und folgte ihm durch eine weitere Halle, die durch eine höchst blutrünstige
Sammlung antiker Waffen beeindruckte, schließlich eine straßenbreite, gänzlich weiße Marmorstiege treppauf und durch einen länglichen Korridor in eine Art großes, luftiges Gewächshaus hinein, einen Wintergarten, durch dessen übermäßige Glasscheiben sich der Blick weit
öffnete auf die sumpfigte, sich davor ausbreitende, von dunklen Kanälen durchzogene Landschaft von Clerkenwell in Nebel, Abend und Regen.
Fast stockte mir der Atem, fast hätte mich dieser Anblick mit allem versöhnt, das das elende
Warten in mir aufgestaut, jedoch hütete ich mich vorbedacht, innerlich zu erschlaffen, sondern widmete meine Aufmerksamkeit viel mehr der Herrin des Anwesens, die mich linkerhand, zwischen allerlei Palmengewächs und duftender Chrysantheme und bei allerlei angezündetem Licht, weich auf einer Chaiselongue oder einem Diwan ruhend, erwartete. Oh ja,
es war Demeter, Lady Fiona de Cato, oder gleichzeitig auch Persephone, ihre Tochter, denn
Condonniere, wie ich nun mit abschlüssigem Urteile vermelden kann, hatte sie gleich zweimal getroffen, sowohl in dem jugendlichen Mädchen, dem fast noch Kindlichen der Persephone, als auch der Mutterfigur, die sie in einigen Jahren sein würde, ansonsten jedoch - wie
von mir vorausbesehen und nun zum dritten Male wahrgenommen - lebendig und leibhaftig
mit Haut und Haar aus dem täglichen Leben geschnitten. Lady Fiona de Cato war, wie die
anderen, die ich bislang angetroffen, eine ausnehmend schöne, junge Person in der Mitte ihrer
Zwanziger.
Da ruhte sie, in halb liegender Position, in einem Kleide, wie ich es noch nie gesehen. Es erinnerte mit dem gerafften weißen Stoff über Brust und Schulter, während die andere, die
rechte Schulter bloß blieb – nichts, das man dieser Tage trug! - an eine römische Toga oder,
ja, gewiß, auch an das Gewand, das sie als Demeter in dem Bilde getragen, und ich fragte
mich, ob sie es vielleicht extra für diesen Besuch hervorgeholt und angezogen hatte und ob es
daran lag, daß ich so lange hatte warten müssen.
Aber warum denn – inwiefern konnte sie wissen, warum ich gekommen?! Denn ich hatte keinen Zusatz auf dem Billett vermerkt, welches ich dem Diener mitgegeben – so kannte sie nur
meinen blanken Namen, Adresse und das nämliche über den ‚Monthly Mercury’. Sie hielt die
Karte zwischen ihren eleganten, schlanken Fingern, als ich eintrat, und fächelte sich in einer
angedeuteten Bewegung Luft damit zu, eine Grille, die mich sonderbar dünkte, denn weder
reichte die Größe des Papiers im Entferntesten zu dem angedeuteten Behufe aus, noch war es
andererseits überhaupt warm in dem Gefilde.
Sie blickte mir mit offenem Interesse entgegen, der Diener hatte an der Türe kehrtgemacht.
Kein anderer Mensch war hier zugegen, keine mit dem Stickrahmen befaßte Begleiterin in
Blickweite - ungewöhnlich genug, wie ich befand - und so trat ich zögernd näher.
„Ah, Mr. Holland“, sagte sie mit einem fast schüchternen Lächeln auf den Lippen und einer
mich augenblicklich sehr angenehm dünkenden Stimme, „selten genug, daß ein Mitglied der
schreibenden Zunft uns hier heraußen aufsucht. – Womit können wir Ihnen helfen?“
Mein Zorn fühlte sich angesichts dieser geradezu strahlenden Erscheinung sofort um ein weiteres besänftigt. Ich gestand mir eine gewisse Verblüffung ein: Ich kannte sie ja kaum eine
Sekunde, aber das, was ich sah und hörte, wollte mir so wenig mit dem zusammengehen, was
ich zuvor über sie vernommen, daß ich sogleich bereit war, eines von beidem, die Gegenwart
oder die Vergangenheit, dem Bereich der Lüge zuzuordnen. Gleichzeitig jedoch leitete mich
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eben dieser Umstand – wie natürlich die sonderbare Tatsache, daß sie mich allein empfing zu einer besonderen Form der Wachsamkeit, ich wappnete mich gegen jeden Anwurf geistiger
Verführung und machte mich innerlich ganz kalt.
Mein Lächeln fiel daher weniger zugewandt aus als das ihre, als ich ihr entgegnete: „Um
Hilfe komme ich in der Tat ein, Madam, - ich wollte, es hätte andere Wege gegeben, eine
Möglichkeit, die Ihnen meinen Besuch verspart hätte. Denn ich mag nicht heucheln oder vorgeben, daß es ein angenehmer Grund wäre, der mich zu Ihnen führt.“
Solcherart war ich selten bei irgendjemand mit der Türe ins Haus gefallen – und nun bei dieser Dame der Gesellschaft - aber ich hatte nicht nur immer noch das Bedürfnis und das unbestimmte Gefühl, etwas von der unerträglichen Wartezeit wieder gutmachen zu müssen, sondern es diente mir dieser Überfall zur Kontrolle ihrer Reaktion, fast wie in einem wissenschaftlichen Experiment, kühl bis ans Herz, denn was würde sie nun tun? Ich rechnete mit
allem bis hin zu einem Läuten nach dem Diener, der mich der Schwelle verwiese.
Statt dessen war alles, was geschah, daß ihr schüchternes Lächeln verblich, daß es eine winzige, kaum wahrnehmbare Pause, ein Zögern in ihrer Haltung gab, dann machte sie eine
leichte, elegante, einladende Bewegung mit der Hand, die mir bezeigte, daß ich auf einem der
Sessel ihr gegenüber platznehmen solle.
Ich sah mich um, zog den Sessel einige Inches näher heran – eine weitere gezielte Provokation, die sie mit einem Heben der Augenbraue aufnahm – dann ließ ich mich nieder. „Ich
danke Ihnen, daß sie mich empfangen“, sprach ich und empfand dieses wechselweise Vorgehen ihr gegenüber als sehr geschickt.
„Nun, nun“, meinte sie. „Es bezeigt sich die Dankbarkeit verschiedener Menschen immer sehr
unterschiedlich, das weiß ich wohl. Also lassen Sie uns hören, in welcher Angelegenheit ich
Ihnen behilflich sein kann.“
Nun machte sie also ihrerseits nicht mehr viele Worte und entzog mir einen Teil der gebräuchlichen Höflichkeit, wie ich mit Verblüffung wahrnahm – in der Tat: eine erstaunliche
Frau. Sonderbar, sehr sonderbar, aber auf irgendeine beunruhigende Art bemerkte ich, wie
mich das für sie einnahm. Hatte ich sie falsch behandelt, fehleingeschätzt?
„Madam“, sprach ich sehr förmlich. „Es geht um ein Gemälde, auf dem Sie die Demeter und
die Persephone geben.“ – Mit der Türe ins Haus …
„Ah das“, meinte sie sofort, ohne Überraschung, ohne Leidenschaft, fast ohne Gefühl. „Und
welches ist da das Problem, Mr. Holland?“ Sie blickte mich interessiert an.
„Mrs. de Cato, es war mir, bevor ich hierherkam, bereits bekannt, daß es Ihr Problem nicht
ist“, sagte ich, nun mit einiger Schärfe im Ton. „Es war dieses Gemälde jedoch, wie ich zwischenzeitlich erfahren habe, durchaus ein Problem einiger anderer junger Frauen.“
„Und das ist Ihr Problem?“ fragte sie.
Ich ließ dies unbeantwortet.
Fiona de Cato warf einen abschließenden Blick auf meine Karte, dann legte sie sie mit einer
müden Bewegung beiseite. „Was sind Sie, Mr. Holland?“ fragte sie sanft. „Was haben wir
hier? Eine Art Robin Hood auf dem Felde der Jungfräulichkeit? Den weißen Ritter in glänzender Rüstung? Das mag ich Ihnen nicht glauben. Mr. Holland, Sherwood Forrest liegt in
einer anderen Richtung, ganz bestimmt nicht in London.“ Eigenartig erstorben klang ihre
Stimme, als sie das sprach, und sie senkte den Blick dabei. Eine Pause trat ein. Ihr Verstummen hatte fast etwas Hypnotisches, fand ich - dann, eine Sekunde später, als ich mich selber
gerade einer Art Mattigkeit hingeben wollte, blickte sie mir plötzlich mit neuer Aufmerksam-
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keit ins Gesicht. „Mein Gott …“, stieß sie halblaut hervor. „Sie sind das. – Sie müssen das
sein … Mr. Holland … Sie also …!“
„Was?“ fragte ich irritiert. „Was muß ich sein?“
Sie ließ ein perlendes, kleines Lachen hören. „Oh, mein Gott, daß ich nicht sofort darauf gekommen!“ Ihr Lachen klang, als ob sie sich über sich selbst amüsiere, es war kein Spaß auf
meine Kosten. „Sie sind das!“ wiederholte sie.
„Mylady - wollen Sie sich bitte erklären?!“ forderte ich sie ungestüm auf.
Sie winkte mit ihrer Porzellanhand ab, erbat sich damit Aufschub und äußerte sogleich: „Oh
ich habe Ihren amüsanten, vorwurfsvollen Artikel im „Monthly“ gelesen, Sir! Sie sind der
junge Mann, der sich dort eingeschlichen haben und das Bild betrachtet haben soll und sich
dann ungeschickt nach dem Mädchen, der kleinen Wilden erkundigt hat … Ja, haben Sie denn
Sir Enid nicht verstanden, Mr. Holland, der Ihnen doch sehr deutlich angeraten hat, ihr Interesse auf andere Dinge zu lenke, wie?! -- Sind Sie immer noch dabei?!“
Ich muß bekennen, ich fühlte mich plötzlich sehr unbehaglich angesichts der Wendung, die
unser Gespräch hier nahm, und meine Gedanken schlugen Haken wie aufgescheuchte Hasen.
Erstmals war da so etwas wie Furcht. Sir Enid? Was wußte sie denn von dem? Welches Verhältnis pflegten die beiden überhaupt? Saß er am Ende, lauernd auf mich, im Nebenzimmer?
Hatte es deshalb so lange gebraucht, bis man geruht, mich heraufzulassen, um erst ihm die
Möglichkeit zu geben, von ferne herbeizueilen? Immerhin, jetzt kannte er, wenn er nur Einblick in meine Karte nahm - die dort bei ihr lag - meinen Namen und das Haus, wo ich
wohnte.
Sollte ich die Karte an mich reißen und von diesem Orte flüchten? Verschwinden wie ein
Dieb? Aber da war jenes andere, dachte ich … die Erwähnung der „kleinen Wilden“ … Mir
drehte sich bunt der Kopf.
Fiona de Cato hatte mich ausgiebig betrachtet. „Luciter, du alter Bösewicht“, lachte sie unterdessen und legte vor Vergnügen eine Hand aufs Herz, „wenn ich dir das sage, wer mir heute
einen Besuch abgestattet …!“
„Wollen Sie mir drohen?“ fragte ich, alarmiert.
„Pardon?“ erkundigte sie sich. Sie blickte mich an, gänzlich unentschieden zwischen Heiterkeit und Unverständnis.
Sie lagerte dort mit ihrem römischen oder griechischen Kleide, die rechte Schulter und die
Fesseln entblößt, und das Licht der Ölschalen und die Schatten der großen Pflanzen spielten
geheimnisvoll auf ihrer Frisur.
In mir stieg momentan etwas wie eine kleine Panik auf. „Ist Sir Luciter im Haus?“ begehrte
ich zu wissen. Ich konnte es nicht hindern, wie mir schien, daß meine Stimme gar etwas
schrill dabei klang. „-- Mylady, wer ist im Haus außer uns?“ Ich sah mich um. „Ist Ihr Gatte
anwesend?“
Das Glöcklein einer weiteren Uhr, die ich nicht sehen konnte, schlug in dieser Sekunde fünf –
fast fuhr ich bei dem Tone zusammen, so sehr erschreckte er mich - danach ward die Stille um
uns her nur noch größer. Fiona de Cato war aus ihrer Tollerei zurückgekehrt. Sie ließ die
dunklen Flechten ihrer Haare träge auf die Schulter fallen und musterte mich erneut mit großer Ernsthaftigkeit.
„Aber warum heischen Sie denn das alles zu wissen?!“ meinte sie schließlich. „So viele Fragen auf einmal!“ Da war bald etwas wie ein spöttischer Vorwurf in ihrer Stimme. „Wir sind
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alleine, junger Mann, bis auf Samuel, den Diener. Warum fragen Sie? Wollen Sie mir eine
Liebeserklärung machen?“
‚Junger Mann’, dachte ich, - ‚junger Mann’ - vermutlich war ich zwei oder drei Jahre älter als
sie … Ich antwortete nicht.
„Junger Mann“, wiederholte sie, „Sie kommen hier zu einer Visite, Sie lassen das, was Sie als
Kinderstube vielleicht genossen haben mögen, ganz offensichtlich draußen vor der Tür, wagen es, unverschämt gegen eine Dame zu sein …“ abermals lachte sie hellauf, um dann zum
Ernste zurückzukehren, „und dann fragen Sie mich am Schluß, ob ich Sie bedrohe. Ich – Sie!
Das ist schon sehr kurios, junger Mann, sehr kurios, finden Sie nicht?!“ Sie ordnete mit übertriebener Sorgalt eine Falte ihres Gewandes über dem Knie, erwartete aber nicht wirklich eine
Antwort von mir.
„- Ich hätte Sie für ein weitaus Wenigeres längst hinauswerfen lassen können -“, sprach sie,
„ist Ihnen das helle? Aber ich habe es nicht getan. – Nein, denn ich habe das dringende Gefühl, junger Mann, daß wir das Getändel nun einstellen sollten, sondern uns stattdessen wirklich unterhalten, meinen Sie nicht? wenn ich Ihre Probleme lösen helfen soll und Sie“, sie
lachte abermals, „Sie vielleicht einige der meinen, wer weiß.“
Sie strich mit ihrer schönen Hand gedankenverloren über ihre bloße Schulter, schaute währenddessen in die Pflanzen über ihrem Kopf. „Vielleicht sollten Sie die herzliche Güte besitzen, Mr. Holland, und mich endlich darüber aufklären, was Sie über mich erfahren zu haben
glauben. Das muß wohl etwas sein, das Sie in Ihren Augen berechtigt, derart mit mir umzuspringen! Nun, denn wohl, heraus damit, und nur keine falsche Scheu – ich bin gewappnet.“
Ich saß ihr gegenüber, die Gestalten von Demeter und Persephone glitten atemnehmend durch
Nebel, und ich fand die Replik aus dem Munde dieser Frau in jederlei Hinsicht anrührend, ich
hätte sterben wollen vor Scham bei dem Gedanken, ihr Unrecht getan zu haben. Ich kam mir
vor wie der gröbste Bauernklotz. Und mein Hirn raste, raste, ja, denn ich wollte ihr durchaus
sagen, was ich wußte, wie von ihr verlangt, aber gerade ihre mutige Herausforderung zur
Schonungslosigkeit machte es mir schwer, solcherart zu verfahren.
Ich suchte ihre Augen, die sie mir bereitwillig bot. „Zunächst“, sagte ich zögerlich, „verzeihen
Sie einem Simpel, der aus den besten Absichten heraus …“
„Oh, lassen Sie dies“, fiel sie mir ins Wort, „lassen Sie dies nur, wir sind uns ja einig …!“
Mich traf ihr weicher Blick. „Heben Sie nur endlich an!“
Draußen hinter den großen Fenstern strichen fahle Nebel durch die blaue, nasse Dämmerung
über dem Sumpfland. Hier herinnen malten Licht und Schatten stimmungsvoll Reflexe auf
Fiona de Catos Haut wie selber auf einem Gemälde.
„Ich habe das Bild gesehen, Mylady“, sagte ich. „Habe es gesehen vor vielen Tagen, habe
darüber nachgedacht und weiß immer noch nicht, wie es endgültig zu nennen. Das ist der Anfang. - Habe dann einige der jungen Frauen kennengelernt, die dazu gesessen und habe gehört, daß dieses Sitzen nicht nur künstlerische Hintergründe kannte, sondern die unguteste
Qual für die Beteiligten. - Es waren Frauen, Mylady, die dort in Cornwall gegen ihren Willen
festgehalten, unanständig ausgenutzt wurden … Und dann hörte ich, daß da aber eine gewesen, die, ganz anders als die anderen, statt dessen die reine Freude gehabt an dem Spektakel
… eine Frau: Sie, … verzeihen Sie mir, Mylady … und als sich das bislang Vernommene
klärte, hörte ich, daß Sie, die Nämliche, Madam, nicht nur dies vollbracht, sondern daß Sie
gewohnheitsmäßig Ihren kranken Gatten hintergingen, ferner daß Sie eleusischen Orgien auf
ihrem Anwesen Raum böten, überdies mit einem jungen Notar verquickt seien … genug, um,
offen gesagt, vergeben Sie mir, das nachgerade Schlechteste zu denken, bevor ich hierher
kam. – Wie weiter? - Hier nun erfahre ich, daß Sie wirklich nicht Opfer sind wie die anderen,
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sondern im besten Einvernehmen zu stehen scheinen mit Sir Enid Luciter, Mylady, den ich, so
fürchte ich, beim besten Wollen und Willen nicht als meinen Freund mir bezeichnen darf …“
„Ja, gewiß, mit dem letzteren haben Sie wohl recht“, sagte sie und kehrte den Kopf zur Seite.
Ihr Blick ging unter den Palmen hervor, wo sie saß, hinaus durch das Glas der großen Scheiben in die kalte, feuchte Dämmerung, und es lag eine eigenartige Sehnsucht in ihrem Blick.
Ein geheimnisvoller Magnetismus schien mir die schöne Frau mit dem kalten, abendlichen
Land dort draußen zu verbinden. Nur wußte ich nicht, ob ihr Blick das Land hereinsaugte oder
der Nebel sie hinaus.
„Kein Opfer, hm?“ sprach sie. „Und meinen kranken Gatten hintergehe ich. Das also ist es,
was man sich erzählt, ja? Kein wirklich guter Rohstoff für den Ruf einer Dame, finden Sie
nicht?“ Sie kehrte mit dem Blick zurück zu mir, und er ruhte auf mir mit einer Art melancholischer Lust. „Mein Gatte, mein Gatte … Kennen Sie ihn? Nein? Da tut er Ihnen wohl leid,
mein kranker, hintergangener Gatte …? Was seid Ihr Mannsvolk doch für eine eigenartige
Spezies, wie, Mr. Holland? Sie sind keine Frau, sondern ein Mann, Mr. Holland, oh, daß man
das merkt!“
Sie brach ab und nippte aus einer Tasse Tee, die seitwärts stand. Fast sah es aus, als vergesse
sie über dem Getränk meine Anwesenheit. Ihre träumerischen Augen glitten ins Leere.
„Sie sind als Frau … gleichzeitig immer … in einer Position“, murmelte sie. „Ganz gleich,
was Sie tun, Mr. Holland, es ist so. Nicht die Person ist das Wesentliche, sondern das Bild,
das Idol von ihr. Dieses Bild, die Stellung haben Sie als Frau nicht selbst verursacht, aber Sie
sind darin gebunden wie die Fliege im Bernstein. Nun, wer hat das Abbild, die Stellung denn
bewirkt? mögen Sie sich vielleicht fragen, zumal es eigentlich immer nur das Bild, die Position ist, die kommentiert wird, nie die Frau dahinter.“
Sie setzte das Getränk in nachsichtiger Schwermut ab. „Sagen Sie mir, Mr. Holland: Warum
glauben Männer Gerüchte? – Sind sie es doch stets, die sie selbst machen ...“
Sie kehrte einen kurzen, fast verzweiflungsvollen Blick in die blaue Landschaft draußen, und
dann schien sie wieder zu erwachen, kehrte zurück zu mir. Ihre Finger spielten mit einem
Bande, das den Stoff über ihrem Busen raffte, ohne daß sie es spürte.
„Verzeihen Sie mir, Mr. Holland, vergeben Sie Ihrerseits mir – darf ich Ihnen verspätet ebenfalls eine Tasse Darjeeling anbieten?“
„Ich danke sehr, nein, danke“, sagte ich und verharrte in atemlosem Schweigen.
„Was meinem Gatten in Flamen an der Küste geschehen ist, nachdem der Krieg aus war, ist
schlimm, wahrhaft schlimm, Mr. Holland. Es sind dies die Streiche, die das Schicksal uns
spielt, wenn die Hölle sich wahrlich auftut - von Gott will ich hier nicht reden, um nicht am
Ende Ihre Gefühle zu verletzen. - Was meinem Gatten geschehen ist, ist mehr, als irgendjemand verdient. Niemand verdient das, Mr. Holland, und sei er der schlimmste Verbrecher,
wobei mein Mann kein Verbrecher ist, nur ein Mann, nur ein Mann … Was meinem Gatten
geschehen ist, ist mehr, sage ich, als irgendjemand ertragen kann, Mr. Holland, und wenn er
Mitgefühl dafür erhält, so erhält er es von mir, und wenn irgendjemand auf seiner Seite ist,
dann bin es ich, denn ich bin seine Frau. Doch ich wage es nichtsdestoweniger, Ihnen die impertinente Frage zu stellen, ob Sie es gerecht finden, wenn so ein Mann … so ein … Mann …
mit einem Unfall … ob er daherkommen kann … und auf ein zwanzigjähriges Mädchen, das
die Welt nicht kennt, zeigen darf und sagen darf: Diese.“
Sie blickte mich an mit einer Glut, die mich versengte.
„Lassen Sie uns ruhig weiter ehrlich reden, Mr. Holland, Sie waren, verzeihen Sie, derjenige,
der damit angefangen. Was bekommt ein Mädchen dafür, daß es verheiratet wird?“ Sie fuhr
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mit ihrer schönen Hand flüchtig im Kreise. „Oh, schauen Sie nur, was es bekommt. Die Umstände mögen zweifellos unterschiedliche sein, je nach den Umständen, in die man geboren,
woran niemand auf der Welt etwas ändern kann … und schauen Sie nur, Mr. Holland, ich
habe großes Glück gehabt dabei, großes Glück, ich bekomme sogar Tee, wenn ich welchen
verlange.“
In ihren dunklen Augen, die ich wie gebannt fixierte, war eine wilde Trauer, die mir ins Herz
schnitt wie mit Messern.
„Es ist natürlich ein Unfug, wenn ich mich beklage, Mr. Holland“, stieß sie hervor. „Denn mir
geht es doch vorzüglich. Ich habe zu essen. Ich habe es warm im Winter. Das haben viele
nicht, ich weiß – und Gott schaut zu, ich weiß es, verzeihen Sie! – Es geht mir vorzüglich,
denn ich bin eine reiche Frau, Mr. Holland. Ich werde allerdings keine Kinder haben, das
nicht. Reich, aber keine Kinder, Mr. Holland, das nun nicht. -- Und dann kommt dieser deutsche … dieser deutsche Maler daher und malt mich … mit einer Tochter, die es nie geben
wird. Ob es mir Freude bereitet hat? Wollen Sie das wirklich wissen? Mein Gatte, Mr. Holland, Sie fragten mich nach ihm, nein, er ist nicht anwesend. Und Sie werden zu Ihrer Zeit
kaum das Glück haben, ihn hier anzutreffen. Wenn er hier wäre, würde ich ihn jede Stunde,
jede Sekunde an Dinge erinnern, die er nicht tun kann! Bei Gott! Mein Gatte, Mr. Holland,
leidet. Er leidet wie die Hölle, weil er mich zum Weib erkoren. Sagen Sie nicht, das habe er
vorher gewußt. Was seid Ihr Männer doch für ein Volk! Er straft sich für die Untat, mich geehelicht zu haben, Mr. Holland, indem er mich meidet. - Kein Opfer? Nein? Wirklich kein
Opfer? Opfer von wem? -- Und noch etwas, das Sie vielleicht wissen sollten. -- Mein Mann
ist ein Spieler, Mr. Holland, und ich kann es ihm nicht verdenken. Denn was bin ich ihm, was
kann ich ihm sein, meine Anmut, wenn ich denn welche besitze, nimmt er als Vorwurf, und er
hat sonst nichts, nichts -- und so bringt er das Geld meiner und seiner Familie durch. Und
dies, Mr. Holland, gelingt ihm schneller, als ich es je für möglich hielt. Und ich möchte zu all
dem anderen … ich möchte nicht … ich möchte nicht …“
Für einen kurzen schwachen Moment deckte sie die Hand über die Augen, und ich sah ihre
schönen Schultern hilflos zucken. Aber es war kein wirkliches Weinen, nur ein Aufstöhnen,
ein vorübergehender Krampf, und er ging sehr schnell vorüber.
„Das ist wahr, Mr. Holland: Er ist nie anwesend, mein Gatte - aber glauben Sie ernstlich, ich
werfe mich deshalb vorbeireitenden Anwälten an den Hals? – Meine Familie hat …“, fuhr sie
fort, „… meine Familie … hat ein Anwaltsbüro in der City of Westminster mit den finanziellen Belangen unserer Ehe beauftragt … und das, Mr. Holland, ist auch schon alles. Übrigens:
Anwälte kosten Geld. Ich schaue zu, wie es weniger wird. – Ich schaue, wie es weniger wird.“
Sie schluckte, wie um einen Bissen zu verspeisen, der sich ihr widersetzte.
„Nun gut, einfache Berechnung: -- Wissen Sie, wie viel mir Sir Enid, jawohl, mir, wenn ich
dem dummen, schmutzigen, albernen Deutschen sitze, für das Bild geboten hat? – Zwei Jahre,
Mr. Holland, zwei Jahre – zwei Jahre die Spielschulden meines Mannes, das hieß plus minus
Null im täglichen Leben. Zwei Jahre Atem, für ein Bild, Mr. Holland, von mir und meiner
ungezeugten Tochter. -- Er weiß nicht einmal davon, mein Gatte. Und trotzdem, wenn Sie nun
glauben, daß es mir, wie Sie sagten, wirklichen Spaß bereitet und daß ich Enid Luciter oder
diesen Deutschen dafür liebe …?!“
„Hören Sie auf“, unterbrach ich sie und drängte meine Tränen zurück. „Ich hätte Sie nicht
antasten dürfen.“
„Ach was“, winkte sie harsch ab. „Was haben Sie denn getan? – Ihre Probleme … meine
Probleme … nun habe ich Ihnen die meinen unterbreiten dürfen, das habe ich in Jahren nicht
gedurft, bei wem wohl auch, und dafür ist ein gänzlich Fremder gerade recht. -- Es ist
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schließlich wie ein Sturm oder Gewitter. Wenn es erst vorübergezogen …“ Sie blickte sinnend hinaus in den blauen Abendnebel.
„Lassen Sie mich niederknien und Ihre Hände küssen“, flüsterte ich.
„Ach, reden Sie doch keinen Unsinn“, sprach sie, hart, fast wieder heiter. „So weit werden wir
es nicht kommen lassen. -- Sie sind aus ganz anderem Grunde hier.“
Ich schwieg.
Es war so still zwischen den Palmen, daß ich draußen unwirklich den Abend sinken zu hören
meinte. Jetzt, wo das Licht nachließ, meinte ich von ferne über das Sumpfland die Kirchturmspitze des Dorfes Saint Marylebone auszumachen.
„Es ist das Mädchen, richtig? Die mit dem Ring?“ fragte Fiona de Cato in die Stille. „Es ist
die kleine Wilde?“
„Ich weiß es nicht“, stammelte ich unsicher. „Sie haben sie so genannt.“
Wir sahen uns an.
„Sie trägt einen Ring aus mindestens 24 halbkarätigen Rubinen in Herzform“, berichtete Fiona de Cato, „viel zu vermögend für so ein Mädchen. Vielleicht ist sie ein Bastard, vielleicht
ein Findel, vielleicht eine verwechselte Gräfin …“ Fiona de Cato lächelte. „Ich weiß es nicht,
wo der Lump Enid sie aufgetrieben hat. Er schweigt darüber hartnäckig. Und sie sprach auch
nicht davon.“
Als sie den Ring erwähnte, griff sie, ohne es zu spüren, nach jenem an ihrer eigenen rechten
Hand und drehte ihn. Es waren keine Rubine dabei, wie ich sah, sondern Bergkristall oder
Mondstein. Das Licht der Ölflammen leuchtete über ihrer Schulter und glomm in ihrem Haar.
Jetzt wirkte sie sehr sanft, fast wie ein Kind, wie entladen von einer schlimmen Last. Ich
dachte an die alten Märchen, in denen Wünsche in Erfüllung gehen, wenn man an Ringen
dreht.
„Ich weiß leider nicht, welche es ist“, sprach ich. „Es ist die, die auf dem Gemälde die Io gespielt hat. Ich bin mir bei dreien der sieben unsicher. Ich weiß, daß eine wohl eine spanische
Gouvernante sein soll, die Asunción Lozano heißt und eine ein Dienstmädchen sein muß, das
Stella Floyd heißt und Gossamer genannt wurde. Und eine weitere war dabei, die heißt, wie
ich gehört, Virginia, aber diese kommt wohl kaum in Frage.“
Fiona de Cato nickte mir zu, versonnen lächelnd. „Ich bin mir sicher, Mr. Holland, Sie suchen
die kleine Wilde.“
„Weshalb nennen Sie sie so? Wie war denn ihr Name?“
„Nun“, fragte Fiona de Cato, „wie würden Sie jemanden nennen, der bei Nacht aufs Dach
springt, um die Flöte zu blasen? Wunderschön, nebenbei bemerkt. Der Mond stand über den
Weiden, die Tiere waren unruhig im Schlaf, und darüberhin wehte diese wundersam traurige
Melodie … wir haben sie kaum herunterlocken können. Sie meinte, sie sei somnambul. Oder
was sagen Sie, wenn jemand einen Tag darüber weint, daß er keinen Namen habe? Keinen
wirklichen Namen, aber ein französisches Wort, das sie indessen geheimhielt. Sie spielte Tischerücken mit uns und meinte, daß sie ihren Vater spüren könne. Was sagen Sie zu einem
Mädchen, das Sie nach stundenlanger Suche im Schweinekoben auffinden, mit entblößten
Brüsten, die sie weinend den Schweinejungen zum Saugen anbot.“
„Was hat sie getan?“ fragte ich entsetzt.
Fiona de Cato bewegte ausdrucksvoll ihre schlanken, schönen Finger vor der Stirn. „Was ich
Ihnen sage, Mr. Holland: Dieses Kind ist nicht …gesund … nicht gesund … und jetzt, Mr.
Holland, bei allem, jetzt ist dieses arme Mädchen tot.“
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„Nein“, stammelte ich, „das kann nicht sein.“
„Doch, sie ist tot“, nickte Fiona de Cato. „Und Sie werden sie nicht finden.“
„Warum sagen Sie dies?“
„Weil sie tot ist, Mr. Holland, jedenfalls nicht erreichbar für Sie.“
„Mylady!“ rief ich, „Madam, Sie wissen, wo ich Sie finden kann.“
„Nein, Mr. Holland, Sie täuschen sich, das weiß ich nicht. Vielleicht ist sie bei Sir Enid
geblieben – in Cornwall oder in seinem Cottage hier in London. Das Haus, das Sie kennen. Im
übrigen“, sie lächelte etwas, „versparen Sie sich das ‚Mylady’, Mr. Holland, – ‚Madam’, das
genügt vollauf.“
„Mylady, verzeihen Sie, Madam, wie meinen Sie das, bei Sir Enid?“
Fiona de Cato lehnte in ihr griechisches Gewand gehüllt auf der Chaiselongue, bewegte sacht
die Füße und schaute rätselhaft zu mir herüber.
„Sie ist nicht abgereist mit uns anderen. Sie blieb in jenem Cottage bei den Einhörnern. Sie
liebte die Einhörner. Eines Nachts lief sie hinaus, weinte und umarmte sie …“
„Oh Gott!“ stammelte ich.
Draußen war nun endgültig die Nacht gesunken, hinter den Scheiben nur noch ein ungewisses
Blau zu erahnen, auf dem Glase aber die feinziselierte Spiegelung der Lampen, der Pflanzen,
und unserer beider Figuren, die einander dort draußen auf dem Blau gegenübersaßen. Es war
still in dem Wintergarten oder Landschaftszimmer, so daß ich die Pflanzen glaubte atmen zu
hören … die weißen, glatten Fliesen am Boden sogen meinen Blick auf. Weiße Fliesen …
weiße Unschuld … weiße Einhörner …
„Sie müssen nun gehen, Mr. Holland“, sagte Fiona de Cato schließlich. Sie sprach sehr leise,
fast liebevoll - gerade als die unsichtbare Uhr ein weiteres Mal schlug. „Sie sind schon viel zu
lang in meinem Hause, und eine Dame, solange sie allein ist, hat, wie sie wissen, gar recht auf
ihren Ruf zu achten. Ich sollte trotz der prekären finanziellen Situation des Haushaltes die
Ausgabe nicht scheuen und mir eine Gesellschafterin nehmen, was meinen Sie, Mr. Holland?“
Ich sah sie über den Abstand zwischen unseren Stühlen hinweg reglos an und wußte, daß sie
nicht ernsthaft eine Antwort von mir verlangte. Wieder sank eine Pause zwischen uns, in der
ich die Palmen miteinander flüstern hörte.
„Sie sollten sich dieses Mädchen aus dem Kopfe schlagen, Mr. Holland, wissen Sie das?“
sprach Fiona de Cato nach einer weiteren Zeit sehr ruhig.
Ich schaute auf und blickte die makellose Frau in der römischen Robe an.
„Schon um Ihrer eigenen Sicherheit willen. Denken Sie an Sir Enid.“
Ich nickte, wortlos.
„Ich will Sie nicht bedrohen, Mr. Holland, das wissen Sie jetzt, ja?“
Ich nickte abermals. „Jaja“, sagte ich.
Es gab wieder diese große, flüsternde Stille zwischen uns.
„Sie werden sie aber trotzdem weitersuchen, habe ich recht?“
„Ja, gewiß, das werde ich tun“, gab ich zu. – „Das muß ich tun, Mrs. de Cato.“
Fiona de Cato zog ihre Schultern zusammen - es sah aus, als ob sie fröstele. Sie erhob sich
von dem Diwan und schritt in der weißen Toga, die ihre reine Haut entblößte, hinüber ins
Halbfinstere des riesigen Blumenzimmers, zu einem Sekretär, der dort im Ungefähren stand.
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„Sie hat mir ein Gedicht geschrieben“, hörte ich ihre Stimme von ferne. „Sie beherrschte die
Schrift, Mr. Holland, kam eines Nachts zu mir und lehnte sich an mich. ‚Ich habe etwas geschrieben’, wisperte sie und zeigte mir den Zettel. ‚Aber es ist nicht für dich bestimmt, sondern für den, den ich liebe’, sagte sie. Wollen Sie den Zettel sehen?“
„Ja“, murmelte ich schwach.
Fiona de Cato zog einen Schub auf, und ich hörte dort Papiere knistern. Sie suchte nicht lange
und hatte schon gefunden, was sie gesucht. Sie kam mit einem Bogen in der Hand zu mir zurück. Ich erhob mich halb, dankte und nahm ihn entgegen, während sie wieder auf dem Diwan
niedersank.
Ich hielt das Papier dem Lichte entgegen und las:
Dies bin nicht ich, die hier singt,
Es sind die Blumen, die ich gesehen,
Dies bin nicht ich, die lächelt,
Es ist der Wein, den du gekostet.
Es ist der Wind in deinem Haar,
Es ist der Schatten, dem du dich gibst,
Dies bin nicht ich, die hier singt,
Es sind die Blumen, die du gebrochen.
Ich las dies, las dies und fühlte, wie mir die Tränen heiß über das Gesicht rannen.
6. Kapitel
Das dunkle Tor
Noch jeder von uns wird durch dieses dunkle Tor gehen.
Von einem gewissen Standpunkt aus betrachtet, nein, nicht dem des ausgemachten Christen –
gleichwohl: ein Standpunkt, den ich der Vollständigkeit möglicher Argumente halber hier einmal angeführt wissen will, ihn gleichsam theoretisch für den Moment in die Rechnung einbeziehend, was der Leser mir verzeihen möchte - von diesem Standpunkt aus muß man wohl
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befürchten, daß, wenn man erst einmal tot ist, gänzlich nichts am Ende von uns verbleibt nichts unsichtbar Schwebendes mehr über unseren Köpfen, nichts in unsern im Grase verfaulenden Leibern, nichts, nichts, das mit Berechtigung noch Bewußtsein oder auch nur menschlich genannt werden dürfte.
Nein, - bestenfalls magere Erinnerung, die mag es einige Zeit noch dämmernd geben – die
bleibt natürlich erhalten, sofern man uns vielleicht geliebt, doch solche Erinnerung ist, wie
wir wissen, gänzlich außer uns, und ich spreche hier ja von dem innern, subjektiv-eigenen
Erleben. –
Da mag man sich, günstiger Leser, im Geiste allemal mächtige Konstrukte bauen - und sie
Hades nennen oder Paradies, oder da möge man sich gar eitle Mausoleen aus Stein errichten
oder Pyramiden - nichts führt im Sinne dieser Argumentation, nichts, an der eigentlichen
Grundwahrheit vorbei, daß dann nichts mehr, gar nichts mehr von uns übrig sein kann, das
von Wesen ist. Wie immer unsere Existenz und das Bemühen all unserer ganzen Lebenszeit
war: Am Ende nurmehr - wie Rauch, wie Wasser, wie Spinnweben, ein Nichts … Es ist ein
einfacher und logischer Schluß und in der körperlichen Tatsache ein unumkehrbarer Schnitt im Grunde doch die einfachste aller Ideen. Wir werden zu Erde - und die hat kein Gefühl.
Noch in den letzten Tagen, als der Oktober trübe zuende ging, eilte ich nach dem Tagwerk
allabendlich in meine Klause heim, um darüber nachzusinnen, was Fiona de Cato wohl damit
gemeint, daß sie das namenlose Mädchen als gestorben bezeichnet. Natürlich wußte sie,
natürlich wußte auch ich genau, daß dem nicht eigentlich so war. Aber warum ließ sie mich
sie dann nicht finden, wenn sie mir doch hätte helfen können? Sie hatte auf dem Diwan geruht, in ihrer halb enthüllenden, halb verschleiernden Toga selbst ein unlösbares Geheimnis
und mich wortlos angesehen.
Ein weiteres Mal war ich in der Dämmerung um das stille Anwesen in der New North Road
und am naheliegenden Kanal entlanggestrichen, ohne den Mut zu finden, an der Klingel zu
läuten und den Diener und die Hausherrin aufzustören. Ich wußte im Innern, daß es auch keinen Zweck gehabt hätte, in sie zu dringen. Auf magische Art war ein rätselhaftes Siegel des
Schweigens auf ihre Lippen gefallen, kurz nachdem sie mir gegenüber noch so offen zum
Exempel über ihren Gatten gesprochen. Aber wenn es um die geheimnisvolle Io aus dem Gemälde ging, verfiel sie in Stille und Undurchdringlichkeit. Und das Gespenstischste daran
war, daß ich stets den Eindruck gewann, daß Fiona de Cato mich eigentlich mochte - und daß
es deshalb ihr Anliegen war, mich zu schützen. Zu schützen, aber wovor oder vor wem?
.....
Dann, Ende Oktober, bei abnehmendem Mond, geschah erstmals derart Grauenvolles,
Schreckliches, daß es mir einige Mühe macht, es Dir, geschätzter Leser, nun in der gebotenen
Gefaßtheit zu unterbreiten. Es hatten diese Ereignisse eine noch harmlose unmittelbare Vorgeschichte, die darin bestand, daß Mrs. Hamlet, meine Wirtin, die Königin meiner Mansarde,
die ich wohl schon zuvor am Rande erwähnt, der gute Geist meiner Stube - auf die seit Jahren,
sofern es zum Beispiel um Beratung hinsichtlich der Tagesbekleidung in Abstimmung mit der
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aktuellen Witterung ging, da sie, wie sie zu sagen pflegte, jeden Umschwung bereits Tage
zuvor in den Knochen verspüre, immer der allergrößeste Verlaß war - daß mir also Mrs.
Hamlet mit geheimnisvoll zusammengezogenem Munde einen gefalteten Zettel präsentiert
hatte, der, wie sie mir mitteilte, schon am Abend zuvor von einem Burschen abgegeben worden, die Sendung allerdings, der ich zu spät nach Hause gekommen, mir dessenthalben nicht
mehr unmittelbar habe überreicht werden können, worauf sie sich nun beeile, heutigen Morgens … sie habe, nebenbei, dem Burschen einen Penny verabreicht, den sie mir auf die Rechnung aufzuschlagen gedenke …
Kurz, es war dies, wie ich lesen konnte, eine Nachricht der von mir so überaus verehrten Mrs.
Frank Purcell, nur wenige Worte lang, in ungeübter, aber schöner Hand, die nichts als ein
Initial und eine Adresse enthielt: „A.L. – Copeland, Marylebone, 12, Canonbury Square“. –
A.L. – offenbar Asunción Lozano – der Brief bedeutete mir, daß die tapfere Person tatsächlich
wie versprochen den Aufenthalt der spanischen Gouvernante im Schoße einer Familie namens
Copeland ausfindig gemacht hatte. – Ich faßte den festen Entschluß, die Witwe und ihre Kinder in allernächster Zeit abermals aufzusuchen, um meinen Dank abzustatten - wie natürlich
den Besuch am Canonbury Square selbst zu tun - und erbat mir deshalb von Finley Burkitt für
einen weiteren Abend in naher Zukunft ein vorzeitiges Dienstende, welches er mir – ich kann
den besonderen Umstand dieser laufenden Vergünstigungen in Verbindung mit seiner erstaunlichen Person nicht genügend hervorheben – ohne weiteres gewährte.
So kam es, daß ich – es dunkelte bereits - am späten Nachmittag des 29. Oktober – ich denke,
ich werde dieses Datum nie mehr vergessen können, selbst wenn ich es wollte - am Canonbury Square vorstellig wurde. Es war ein großes, nobles Stadthaus, in dem die Familie Copeland residieren sollte. Ich läutete an der Tür des Verwalters, eines mißtrauischen Menschen,
der in einem Häuschen im Garten nebenbei lebte.
Er öffnete, gleichwohl ungenügend bekleidet – er schien mir recht wenig in den vornehmen
Bezirk zu passen – die Tür und fragte mich knapp und nicht sonderlich zuvorkommend: „Ja?“
„Mr. …?“ fragte ich höflich zurück, denn ich hatte das Schild an seiner Türe nicht entziffern
können und heischte nach seinem Namen. Ich hielt ihm gleichzeitig das Billett entgegen, das
mich als der öffentlichen Presse zugehörig auswies. Wie ich aufgrund des unleserlichen
Schildes vermutet hatte, konnte er nicht schreiben und so auch nicht lesen. Er hielt mein Billett falsch herum und gab vor, es eindringlich zu studieren.
„Nun, und?“ bellte er schließlich unfreundlich, als er damit fertig war.
„Mr. …?“ wiederholte ich sanfter, wenngleich deutlicher. Diesmal schien er mich zu begreifen.
„Sparen Sie sich den Mister, Sir“, sprach er grob. „Alle nennen mich hier Barabbas.“
„Nun, Mr. Barabbas“, blieb ich gleichwohl umgänglich, „wie Sie haben lesen können, bin ich
von der Zeitung geschickt. Ich spreche hier vor, weil mich eine Unterredung mit Mr. Copeland oder jemandem von der Familie interessiert.“
„Dr. Copeland“, sagte er, „Sie meinen Dr. Copeland.“
Ich hob die Hände. „Oh bitte, ich wußte nicht, daß er Arzt ist.“
„Dr. Gideon David Copeland“, grollte der Verwalter, „ist der Direktor des Middlesex Hospital
hier in Marylebone, überdies leitet er das St. Joseph’s Orphanage for Women and Children in
der Cord Street in Lambeth.“ Er musterte mich gleichermaßen tückisch wie stolz, die großen
Namen der genannten Institutionen fehlerfrei hervorgestoßen zu haben. Zudem war ein gewisses unangenehmes Selbstgefühl in seinem Blick, etwa des Sinnes: „Da staunst du wohl,
welch hohem Herrn ich diene!“
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Ich hätte ihm womöglich darauf antworten können, daß zumindest im Falle des genannten
Witwen- und Waisenhauses es jeglicher Wahrscheinlichkeit entbehrte, daß Dr. Copeland
sogleich der Leiter dieser nützlichen, aber doch wohl, wie schon im Namen erkenntlich, eher
christlich geleiteten Einrichtung sei - vermutlich zutreffend mochte es sich immerhin damit
verhalten, daß er die bedauernswerten Insassen dort ärztlich versorgte. Indessen, es ging mir
ja in Wahrheit nicht um den zweifellos verehrenswerten Dr. Copeland, als vielmehr nur um
die kleine, spanische Gouvernante, die seine Kinder betreute. - Ich hatte mir lediglich in meiner Phantasie ausgemalt, daß es anders kaum zu bewerkstelligen wäre, dieses Mädchen zu
treffen, als über die Familie nachzufragen, bei der sie angestellt. Nun hatte mir das Schicksal
als zusätzliche Hürde diesen komplizierten Zerberus namens Barabbas in den Weg gestellt, eh
überhaupt erst an die Familie heranzukommen sei. Deshalb überlegte ich.
Er nahm mein Überlegen für das Resultat seiner beeindruckenden Vorstellung, er sah sich
vermutlich als Erster Leibdiener oder auch Klinge des Königs, - und wer war ich wohl, hier so
nolens volens um Audienz einzukommen?! Immerhin, es lag in seiner Gewalt, zu gewähren
und zu verweigern, und deshalb erkundigte er sich schließlich: „Was wollen Sie denn von
dem Doktor?“
„Ich wollte mich erkundigen“, sprach ich, „ob er Kinder hat.“
Barabbas kratzte sich vernehmlich unter dem äußerst mangelhaften Hemde, das er trug. „Was
wollen Sie denn von den Kindern?“ fragte er, noch eine Spur alarmierter als zuvor.
„Ich will nichts von den Kindern“, wehrte ich ab. „Ich möchte nur mit der Gouvernante der
Kinder sprechen.“
Es begann mir eine Art Spaß zu bereiten, diesen dummen Menschen zu verblüffen oder an der
Nase zu führen. Allerdings war mir nicht gewärtig, daß bereits der nächste Moment mir selbst
allen Spaß vergällen würde.
„Was soll das?“ fragte er finster, trat einen Schritt von mir zurück in die Dunkelheit seiner
Tür und fingerte ratlos mit meinem Billett. „Sind Sie ein Public Informer?“
In einer Sekunde hatte er mich genau da, wo ich zuvor ihn geglaubt hatte zu haben, im verwirrenden Feld der grauen Nebel und Unsicherheiten, im Sumpf der Unkenntnis.
„Aber wie meinen Sie das?“ stieß ich aus. „Ich bin nicht von der Polizei, was für ein Unsinn!
Ich bin, ich habe es Ihnen doch gesagt“, ich zeigte aufgebracht auf die Karte in seiner Hand,
„ich bin von der Presse. Lesen Sie doch nur!“
„Einerlei, Mister … nun, Mister … Mister wie auch immer – wollen Sie am Ende eine Meldung schreiben, ja? – Sie wollen also eine Meldung schreiben! Eine Meldung in der Zeitung?“
Er stand im Dunkel seiner Tür, das Gesicht schwer deutbar.
„Eine Meldung, um Gottes Willen, Barabbas, eine Meldung worüber?“
Er stieß mir plötzlich meine Karte wieder entgegen und brachte hervor: „Da! Nehmen Sie hin!
Gehen Sie! Gehen Sie weg! Ich habe nichts mit Ihnen zu schaffen!“ Und er trat hastig zurück,
um die Türe zu schließen.
„Halt, aber nein, halt!“ rief ich erschrocken und drückte gegen das Türblatt. „Was benehmen
Sie sich wie ein Einfaltspinsel, Barabbas? Was soll das? Womit habe ich Sie erschreckt? Das
lag nicht in meiner Absicht.“
Gleichwohl, die Türe schloß sich. Er war sowieso kräftiger als ich, zudem verwehrte es sich
mir unzweifelhaft, ihm etwa mit der vollen mir zur Verfügung stehenden Kraft zu widerstehen – es war schließlich seine Tür.
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„… Wollen Sie ein Silberstück?!“ rief ich schließlich in halber Verzweiflung, unmittelbar
bevor der Riegel ins Schloß schnappen mußte – und das älteste aller Mittel funktionierte wie
vorauszusehen, der Gegendruck unter meiner Hand ließ unmittelbar nach, und die Türe
schwang wieder auf. Dort stand Barabbas im Dunkel.
Es gab, als die Türe wieder aufgetan war, eine Pause einer äußerst intensiven Stille zwischen
uns, dann konnten wir von vorne beginnen.
„Zeigen Sie mir zuerst das Silberstück“, forderte er.
Ich fingerte es aus meiner Westentasche zutage und hielt es ihm zur Ansicht hoch. Er nickte
befriedigt.
„Nun, also“, sprach ich. „Werden Sie mir den Weg in den Haushalt ebnen, ja oder nein?
Werde ich zu Dr. Copeland vorgelassen werden können und Erlaubnis erbitten, mich mit seiner Gouvernante zu unterhalten, ja oder nicht, wie?“
„Dr. Copeland ist nicht anwesend, Sir“, gab er vorsichtig Auskunft. „Er ist selten unter der
Woche anzutreffen, da er zumeist in einem der Hospitäler nächtigt.“
„Ich verstehe“, sagte ich. „Und was ist mit seiner Gattin? Ob ich die wohl sprechen könnte?“
Er trat etwas vor, so daß ein wenig Licht auf sein ungelenkes Antlitz fiel. Er lächelte, fand ich,
für die Verhältnisse unziemlich frech.
„Ich denke“, sagte er, „daß wir damit weder dem Gatten noch ihr einen Gefallen tun, meinen
Sie nicht, Sir? Sie ist verheiratet und schließlich mit den Kindern und Bediensteten allein im
Haus. Meinen Sie, Sir, daß es schicklich genug ist, unter diesen Bedingungen um eine Unterredung nachzukommen?“
Ich dachte eine Sekunde an den geschehenen, gänzlich unschicklichen Besuch bei Mrs. Fiona
de Cato und - doch, ja - obwohl er, Barabbas, sachlich betrachtet, sicherlich absolut recht
hatte, ergriff mich eine grobe, innerliche Wut ob dieses ungehobelten Burschen. Was glaubte
er: Wie lange noch sollten wir beide dieses lächerlich kindische Spiel unter seiner marginalen
Haustüre weiter betreiben?
„Nun gut“, sagte ich. „Ich scheine Sie gänzlich mißverstanden zu haben, Mr. Barabbas. Ich
dachte, Sie wollten dieses Silberstück, das ich Ihnen anbot. Was, zum Teufel also, haben Sie
mir dafür zu bieten? Und ich verspreche Ihnen, weitere Ablehnungen und Hindernisse werden
mich nicht befriedigen!“
„Sie wollen die Gouvernante sprechen?“ fragte er angelegentlich. „Diese Ausländerin?“
„Gewiß“, sagte ich. „Kennen Sie ihren Namen?“
„Ich kenne ihren Namen nur ungefähr, Sir, denn es ist ein ausländischer Name. Etwas Spanisches wohl, habe ich mir sagen lassen. Ein hübsches kleines Ding, ja, das kann man sagen.“
Er schmatzte unappetitlich mit den dicken Lippen, was bei mir die ekelsten Gedanken zeugte,
ehe er durchaus schwärmerisch, unangenehm mit den Augen rollend, fortfuhr: “Oh ja, Sir, ich
habe sie oft gesehen, wenn sie mit den Kleinen in den Park gegenüber ging, oder wenn sie
hier bei uns im Garten saß und Süßigkeiten unter ihnen verteilte. Jeffrey, Questid und Lydia,
Sir, das sind die Kinder von Doktor Copeland, Sir.“
„Asunción Lozano?“ nannte ich den Namen, der mir seitens der Witwe Purcell zugetragen
worden war. „Ist das der Name, den das fragliche Kindermädchen trägt?“
Er zeigte zögerndes Wiedererkennen.
„Ja, Sir, gewiß, Sir, genau so spricht es sich aus. Ein reizendes Kind, Sir, ein ganz reizendes
Ding, ganz reizend: Asunción Lozano.“
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So viel Reiz von seiner Seite erzeugte mir Übelkeiten.
„Und“, sprach ich, „wie stelle ich es an, mit diesem ‚reizenden Ding’ eine arglose, kurze Unterredung zu führen?“
Mutmaßlich hörte man meiner Stimme die brennende Ungeduld an, die ich zu jener Sekunde
empfand, Barabbas jedoch war nicht der Mann, solcherlei Feinheiten auch nur entfernt gewahr zu werden.
„Das spanische Kindermädchen sprechen, Sir“, meinte er bedenklich und wiegte das fette
Haupt. „Das wird, fürchte ich, nicht gehen.“
Ich holte tief Atem.
„Treiben Sie mich um Gottes Willen nicht in den Irrsinn!“ sprach ich, knapp angebunden.
„Welches drollige Detail der Etiquette haben Sie wohl vorzubringen, das mich hindern sollte,
mit Ihr zwei, drei Worte zu wechseln? – Ich erinnere Sie an das Silberstück, das Sie erringen
wollen, Mann!“
Er überlegte einen Augenblick mit listigem Gesicht und fragte mich dann: „Möchten Sie
vielleicht ein Bild von ihr sehen?“
Ich war irritiert.
„Natürlich will ich sie sehen“, sprach ich ungeduldig. „Deshalb bin ich hier, Barabbas – Sie
begreifen bemerkenswert flink. Nur genügt mir ein Bild unter den gegebenen Umständen
nicht. Ausdrücklich - und ehe Sie mich wieder mißverstehen: Ich will mich auch mit ihr unterhalten!“
Er blickte einmal verschwörerisch links und rechts in den Garten, wie um zu ermitteln, ob uns
etwa jemand bei unserem Tun beobachte, dann trat er von seiner Türe zurück und winkte mir
dringlich mit der Hand einzutreten. „Kommen Sie, Sir, ich will Ihnen etwas zeigen.“
Ich war sofort überrascht, beunruhigt, unentschieden. Was nun plötzlich sollte dies? Womit
durfte ich mir seine Bereitwilligkeit von einem Augenblick auf den anderen erklären, mir helfen zu wollen, mir sogar mehr zu bieten, als ich überhaupt verlangt: ein Bild von ihr?
Ich erwartete ernsthaft nicht, Asunción Lozano in dem ärmlichen Verwalterhäuschen anzutreffen. Meinte er vielleicht, daß ich mehr Silber bei mir hätte als angezeigt? Wollte er mich
in der düsteren Unterkunft erschlagen und berauben? Was, zur Hölle, sollte ich dort in der
Finsternis?
„Hören Sie“, lachte ich - und trat einen Schritt zurück - „ich wüßte nicht, was mich veranlassen sollte, dort zu Ihnen in dies Haus zu treten. Was immer Sie mir dort herinnen zeigen wollen, ich bin sicher, Sie können es herausholen und mir hier auf der Schwelle zeigen.“
Er schaute mich an mit einem Blick, in dem manches zu lesen stand – daß er das Silber haben
wollte, daß er sich über mich und meine Furcht belustigte, daß er sich von mir beleidigt sah
durch ungesagte Unterstellungen - und indem ich eine lange Sekunde in diesem Blicke gelesen, entschied ich mich um … und drang mit einer groben Bewegung an ihm vorbei in diese
Hütte vor, deren Inneres, wie ich jetzt sah, aus einem einzigen Raume bestand. Ich blieb im
Halbdunkel stehen, während er hinter mir schnell die Türe schloß.
Es roch moderig in der Kate. Bett und Tisch waren zuhanden, und es war eine ältere Frau
anwesend, die steif wie selber ein weiteres Möbelstück auf einem Stuhle an der Wand sitzend
reglos verharrte. Sie war von dunklem Typus und besaß einen starken Flaum auf der Oberlippe. Sie hatte einen dermaßen reglosen Blick, daß ich zuerst glaubte, sie sei blind. Dann aber
beobachtete ich doch, wie sie vorsichtig ihre Augen nach mir richtete. Sie war seine Gattin,
wie ich unbedingt vermutete – und sie blieb dort auch im Folgenden bewegungslos sitzen und
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äußerte kein Wort – es war ein sonderbarer und unheimlicher Anblick, und ich fragte mich
einen Augenblick verwirrt, wie es sich wohl an der Seite eines solchen Wesens lebte.
Barabbas war hinter mir eingetreten, an mir vorbeigeschlüpft und niedergekniet. Er hatte den
Deckel einer unter dem Fenster stehenden Truhe zurückgeschlagen und kramte in Tüchern
und Gegenständen. Schließlich hatte er gefunden, was er gesucht. Er erhob sich, hielt es in der
Hand, betrachtete es, gegen das Fenster geneigt, für sich selbst eine Minute, drehte sich
schließlich zu mir und winkte mir, neben ihn zu treten. Er hielt es mir hin. Es war ein kleines,
goldenes Medaillon an einer Kette, anrührend zart gearbeitet, wie ich sah, nach arabischer Art
gewirkt und durchbrochen. Er hielt es in seinen klobigen, schmutzigen Fingern, und wiewohl
der Wert des Schmuckstückes nicht allzu hoch liegen möchte, deuchte mich dieser Griff doch
wie eine Entweihung.
„Es ist ein Bild darin“, sagte Barabbas rauh, und ich hörte seiner Stimme verwundert an, daß
sogar ein Mensch wie er von etwas wirklich Edlem, Schönen ergriffen sein konnte.
Ich nahm das Medaillon vorsichtig entgegen, trat selber gegen das Fenster und löste den Verschluß, dessen Feder mit einem leisen Schnappen aufsprang. Im nächsten Moment blickte ich
auf ein winziges Bildchen, ein Portrait, mit Kohle oder Nadel gezeichnet, welches, obschon es
nicht die glatte Kunstfertigkeit des Condonniereschen Gemäldes besaß – vermutlich hatte sie
es selbst angefertigt - doch mit genügend äußerer Ähnlichkeit ausgestattet war, um das Mädchen untadelig zu erkennen. Gewiß, dies war Asunción Lozano, die katholische, spanische
Gouvernante, im Gemälde des italienischen Meisters die nackte schöne Semele, in der Erfüllung der Ekstase weit zurückgebeugt, gotthingegeben - und doch dem Verderben geweiht. Ein
Schauer überwehte mich … wieder war ein Steinlein des Mosaiks an seinen gerechten Platz
gefallen …
„Wo haben Sie das her?“ fragte ich und drehte mich vom helleren Fenster herum.
Barabbas langte danach, ich verwehrte es ihm. „Nein“, sagte ich grob, „zuerst: Wo haben Sie
es her?“
Er musterte mich tückisch, auch mit Furcht, daß er das Schmuckstück nicht zurückerhalte.
„Ich habe es gefunden“, raunzte er.
„Ah … Sie haben es gestohlen“, verbesserte ich ihn.
„Gefunden habe ich es, Sir“, bellte er hart. „Sie hat es verloren, drüben im Park, als sie mit
den Kindern aus war. Sehen Sie doch selbst … die Kette ist gerissen.“
Ich blickte auf den Fund in meiner Hand, und siehe da, er befand sich im Rechte, eines der
winzigen Glieder war gebrochen. Er langte erneut danach, aber ich zog es abermals zurück.
„Nein“, sagte ich.
„Es ist mein Amulett“, sagte er.
„Es ist ihres“, sagte ich. „Warum haben Sie es ihr nicht zurückgegeben?“
„Das wollte ich, Sir“, grollte er. „Aber es hat sich nicht ergeben.“
„Hat sich nicht ergeben“, äffte ich ihn.
Er zuckte die Schultern und beobachtete mich wachsam.
„Unsinn“, sprach ich. „Sie sind nicht ehrlich, Mann! Geben Sie Obacht: Ich werde es behalten
und es ihr selbst zurückerstatten. Und jetzt gehen Sie hinüber in das Haus und melden Sie
mich an! Nun los, machen Sie schon!“
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Er blickte mich von unten herauf an, und in seinem Auge spielte eine mordlustige, kleine
Flamme. „Es geht nicht“, sagte er.
Dies verblüffte mich, denn es klang diese kurze Äußerung auf eine derart sonderbare Weise
unaufgeregt, geradlinig, ja, ehrlich, daß ich es mir nicht verstattete, in der beabsichtigten
Weise weiter mit ihm zu verfahren. Stattdessen fand ich mich genötigt, innezuhalten. Es war
da ein neuer Ton zwischen uns. Ich wußte mit einem Mal, daß er mir eine Wahrheit zu offenbaren hatte, von der ich nichts geahnt. Ich gab ihm das Medaillon zurück, das er mit kaum
einem Zeichen der Erleichterung entgegennahm.
„Nun?“ fragte ich ihn alsdann grob. „Warum geht es nicht?“
„Weil sie tot ist, Sir“, sagte er einfach.
„Weil sie …?!“
Er hatte leise gesprochen, empfindsamer mit einem Male, als ich es ihm überhaupt zugetraut.
Und mir war in einer schrecklichen, schwebenden Sekunde, als sei keine Luft mehr im
Raume, als sei ich mit eines auf den Grund eines lichtlosen Ozeans gesunken, als müßte sich
mir in gräßlicher Luftnot die Brust aufsprengen. Gewiß, auch Fiona de Cato hatte über die
holde unbekannte Andere mit dem französischen Namen und dem Herz-Schmuckstück gesagt, sie sei tot, aber jeder von uns hatte doch auch in der nämlichen Sekunde begriffen gehabt, daß damit nur ein Bild, ein Bild wofür auch immer, gemeint gewesen war.
Dies hier war anders. Denn Barabbas war gänzlich nicht der Mann, überhaupt über dergleichen Bilder zu verfügen. Das, was er sagte, bedeutete ausschließlich das, was er sagte – und
hier hatte er gerade eben gesagt, Asunción Lozano sei tot.
Tot. – Das hieß: Sie war fort, erkaltet, ein junges Mädchen noch, aber bereits nicht mehr unter
den Lebenden, nicht mehr wandelnd in dieser unserer Welt der Bewegung und der Farben. Oh
ja, vor wenigen Wochen noch lebendig da, um sich malen zu lassen, Modell zu stehen, mit
nacktem, unversehrtem, wunderschönen Leib, von Giovanni Battista Condionniere… doch
jetzt in einer gespenstischen Sphäre der Stille, unbekannt faulend im Grab. Asunción Lozano,
Semele, die im Gemälde gerade der bleiche Todesblitz aus Zeusschem Wolkenhimmel traf,
nicht mehr da in dieser großen Stadt London. Wie konnte das möglich sein? Asunción Lozano, Semele, die ich hatte aufsuchen und befragen wollen - doch war ich grauenvoll zu spät
gekommen.
„Aber woran ist sie denn so plötzlich gestorben?“ machte ich meinen Gedanken Luft, mit
belegter Stimme, während frostige Luft - wie aus einer anderen Zeit - mich umwehte.
„Aber das wissen Sie nicht?“ fragte er eigentümlich und einem Beben in der Stimme. „Ich
hätte doch gedacht, es stand in den Gazetten.“
„Was reden Sie da!“ sprach ich. „Sie können doch die Gazetten gar nicht lesen.“
„Ganz recht“, machte er giftig, „nein, Sir, ich kann nicht lesen. Aber Sie.“
Wir standen uns gegenüber und musterten uns feindselig.
„Zuerst war sie verschwunden“, sagte er und sog die Luft durch die Nase. „Sie war eines
Morgens weg. Mrs. Copeland fand ihr Zimmer leer. Sie verwunderte sich, daß das Mädchen
nicht aufgestanden war und ging nach oben, um ihr Vorhaltungen zu machen, denn die Kinder
waren bereits wach und mußten versorgt werden. Aber sie war nicht da. Und die Tür am
Dienstbotenaufgang stand offen.“ Barabbas nickte bedeutungsschwanger. „Das war sehr sonderbar, denn das spanische Mädchen sollte, wie ich hörte, ansonsten sehr zuverlässig gewesen
sein, es war ihr keineswegs zuzutrauen, daß sie irgendwelchen Unfug trieb. Der Herr, ich
meine, Dr. Copeland, war an dem Tage zufällig im Hause, er kam herausgelaufen und schalt
111
mich, aber ich sagte ihm, ‚Worauf hätte ich Obacht geben sollen, Sir? Ich weiß nichts.’ Und
nach einer Weile beruhigte er sich wieder. Sie hatte keinen Verlobten, keine Bekannten, das
spanische Mädchen. Sie hatte überhaupt keinen.“
„Wann geschah das alles?“ erkundigte ich mich - mit bebender Stimme und der Hölle einer
Leere in meinem Leib, die ich nicht beschreiben kann.
„Oh, ich weiß dies nicht genau abzuschätzen, Sir“, gab er bereitwillig Auskunft. „Es ist drei
Kirchgänge her oder vier. – Ich gehe nicht zur Kirche“, setzte er hinzu. „Ich gehe nicht mehr
zur Kirche, seit mein Weib verstummt ist, Sir. – Gott hat mich geprügelt.“
Ich warf einen Blick auf die stille Frau an der Wand mit dem Flaum auf der Oberlippe. Es war
ihr nicht im mindesten anzumerken, daß wir überhaupt über sie sprachen. Es hatte etwas Gespenstisches. Ich verspürte es tief in der Seele, daß hier wohl eigentlich eine Geschichte begraben lag, die es sehr wert gewesen wäre, ausgegraben zu werden, gleichwohl sah ich mich
außerstande, dergleichen anzupacken, da ich ganz andere Spuren verfolgte.
Also drei Wochen seit ihrem Verschwinden, überrechnete ich, oder vielleicht vier. Ganz
gleich, es war dies Berichtete nach der Vernissage im Hause Sir Enid Luciters geschehen. Ich
sah mich selbst wieder an jenem hellen Abend im sonnigen, grünen Garten an der Themse
stehen, die Damen und die Herren und die Bedienten in ihrer festlichen Bekleidung. Ich sah
mich später am Kaminfeuer in jenem hellen Zimmer in der Schar der Jünger, die das Bild
einsogen, „Die sieben Geliebten des Zeus“, ich sah Io, der ich sofort verfallen, auch Semele,
die ich gesehen, aber nicht beachtet - und damals, mußte ich jetzt denken, war sie eigentlich
nicht weit fort von mir gewesen, sondern eine katholische Gouvernante am Canonbury Square
- und sie hatte noch gelebt. Mir lastete unangenehm ein qualvoll flaues Gefühl in meinem
Magen, das mir sagte, daß ich meine Nachforschungen zu gräßlich langsam betrieb …
„Gut“, sprach ich rauh. „Sie war also verschwunden. Was können Sie mir sonst noch berichten, Barabbas?“ Die Stimme flatterte mir, ohne daß ich es hindern konnte, wie ein Vogel, wie
eine nächtliche Fledermaus.
Er senkte den Blick, besann sich.
„Es wurde überlegt, ob man die Polizei benachrichtigen sollte, Sir. Dr. Copeland überlegte
dies. Ich wurde hierhin und dorthin geschickt. Oh ja, Sir. Es war eine unangenehm aufregende
Zeit im Hause, als sie nicht wiederkehrte, das spanische Mädchen. Die Kinder weinten. Die
Frau weinte auch. Man zog sogar in Erwägung, daß sie womöglich in ihre Heimat zurückgekehrt war, aber die Schiffspassagen, die man überprüfte, erbrachten kein Ergebnis. Und dann
war dies auch plötzlich alles hinfällig, Sir, denn dann fand man sie.“
„Was?! - Wann?“
„Vor gerade drei Tagen, Sir … daß Sie das nicht wissen …!“
„Wo?“ fragte ich.
„Drüben in Abbot’s End, Sir, kaum fünf Minuten des Weges von hier.“ Sein Gesicht hatte
etwas unangenehm Lüsternes, als er es sagte: „An der alten Gerberei. Sie war in einen Abwasserkanal gestopft. Das Wasser lief nicht ab. Nun, als man deshalb nachsah, fand man sie.“
„Oh Gott“, flüsterte ich.
Er betrachtete mich kalt und interessiert. „Sie muß die ganze Zeit dort gesteckt haben, sagte
der Friedensrichter, als wir sie hier noch suchten. Ich hörte, die Leiche hätte sich schon stark
zersetzt, wegen der Säuren aus der Gerberei. ‚Zersetzt’ - das sagte der Friedensrichter zu Dr.
Copeland, und ich stand unter der Türe und hörte ihnen zu. ‚Das Mädchen ist mit einem Beil
zugerichtet worden, oder einem Messer’. Das hörte ich sie sagen. Sie war wohl nackt. Die
Brust war ganz zerschmettert, sagte er. Es hat ihr wer das Herz herausgehackt.“
112
Ich fühlte, wie mir der Mund endgültig trocken und mir elend schwach in den Knien wurde.
„Um des Himmels Willen?!“ murmelte ich.
Ich mußte mich zur Wand tasten und auf einem der Stühle niederlassen, die dort standen. Die
Frau mit dem Flaum saß mir reglos gegenüber.
Barabbas verharrte inmitten der Stube. „Bekomme ich jetzt das Silber?“ fragte er.
„Ihr war das Herz herausgehackt?“ fragte ich ungläubig. „Sind Sie bei Sinnen?!“
„Das Herz war aus dem Körper herausgeschnitten“, sagte er in einem Tone, der mir anzeigte,
daß diesbezüglich mit ihm keinerlei Diskussion möglich war.
Ich sah wirre Bilder in meinem Kopfe.
Wie das Mädchen im Morgennebel den Dienstboteneingang verließ. Wie sie sich in die Büsche des Gartens draußen schlug, das Licht war grau. Vor meinem geistigen Auge trug sie ein
Nachtgewand. Ich sah sie an der Mauer der alten Gerberei unter den Pappeln entlangschleichen. Hinter der Ecke, plötzlich, ein Schemen mit einer Axt, unerkennbar, düster, verwischt
wie in einer Bleistiftskizze. Eine hagere, hohe Gestalt, die auf sie wartete. - Was für ein Unsinn, dachte ich fahrig, wieso sollte sie nur ein Nachtgewand tragen, wenn sie das Haus verließ? Wieso sollte sie überhaupt zur Nachtzeit das Haus verlassen und zur alten Gerberei gehen?
Aber sie hatte zumindest letzteres zweifellos getan ...
Und sie war nackt gewesen, lautete der Bericht.
Ich nahm mein Taschentuch heraus und tupfte mir den feuchten Schleier Schweißes von den
Schläfen, der trotz der kühlen Witterung dort aufgetreten war wie im hohen Sommer.
Das Herz herausgehackt ... Ich saß auf meinem Stuhle und fragte mich, wer um Gottes Willen
dergleichen in unseren zivilisierten Breiten tat.
„Bekomme ich jetzt das Silber?“ wiederholte Barabbas, stehend in der Mitte seiner Stube, fast
mit einem bedrohlichen Unterton.
„Geben Sie mir ein Glas Wasser“, flüsterte ich. „Dann sollen Sie sie sogleich haben, ihre Silberlinge.“
Während ich in der Tasche nach dem Silberstück fischte, goß er etwas Wasser aus einem abgeschlagenen, großen Krug in einen tönernen, nicht allzu sauberen Kelch, den er mir alsbald
reichte. Ich übergab ihm mit der anderen Hand gleichzeitig das vereinbarte Silberstück, und
ein neu hinzugetretener Beobachter der Szene hätte womöglich annehmen mögen, daß ich
ihm nur den elenden Trank in völlig maßloser Weise vergalt. Die alte Frau mit dem Flaum
gegenüber musterte mich wachsam und bewegungslos.
Ich stürzte das Wasser hinunter, das abgestanden und schal schmeckte, aber es war mir in
diesem Momente wirklich alles vollends gleich.
„Verstatten Sie mir noch eine halbe Minute“, bat ich, „dann werde ich wieder gehen.“ Ich
stellte den geleerten Kelch in Anbetracht keiner anderen sichtbaren Möglichkeit auf den Erdboden neben mir, lehnte mich zurück, verharrte noch auf dem Stuhle, besann mich, was ich
wohl tun könnte, aber mir fiel absolut nichts bei.
Ein junges Mädchen war als Götteropfer auf einem monströsen, grotesken Bilde gemalt und
anschließend gräßlich ermordet worden. Dies war nichts als ein höllischer Spuk.
Der schmutzige Barabbas stand wieder mitten im Zimmer und wirkte mit einem Male selbst
nur noch ratlos.
113
.....
Das dürre, schwarze, blattlose Gezweig des Gartens, in welchem das Verwalterhäuschen lag,
schien mir jetzt, im angebrochenen Abend, ein geisterhaftes Eigenleben zu führen, es knisterte, raschelte, fisperte, flüsterte - schien wahrhaftig nach mir zu greifen, als ich nach vorn
vor zur Straße trat. Seitwärts ragte dunkel der Kloben des Copelandschen Anwesens auf, das
zu dieser Seite keine Fenster besaß. Hinter mir hatte Barabbas die Türe längst geschlossen.
Mich fror, obgleich ich des späten Herbstes eingedenk - wie auch der Abendzeit - durchaus
angemessen bekleidet war, aber ich schuldete es dem überreizten Zustande meiner Nerven,
angesichts dessen, was ich soeben an Schrecklichem erfahren. Asunción Lozano also war tot,
ein Mädchen von achtzehn oder zwanzig Jahren, das ich nicht mehr kennengelernt hatte, von
der ich nichts als einen fremden, abstrakten Eindruck unbekleideter, makelloser Schönheit auf
einem Gemälde im Gedächtnis behielt. Keine Erinnerung an eine Stimme dazu in meinem
wirren Kopfe – sie hatte mit dem Akzent ihrer südlichen Heimat gesprochen, hatte Eusebia
Purcell gesagt - kein Angedenken an die Wärme und den sanften Druck einer Hand, kein
Blick aus lebendigen Augen. Ein Mensch war verloschen, und mit ihm alles, was er gewesen,
Wünsche, Ängste, Gesagtes, Getanes, Erinnerungen - das allein berührte mein Herz bereits
mit allzu schrecklicher Kälte - denn ist es nicht immer und bleibend am meisten von allem in
unserer Existenz der Tod, der am Ende steht, seine gräßliche Stille, seine Fremdheit, seine
Entschiedenheit und Endgültigkeit, sein schwarzes Geheimnis, das uns in so eisige Furcht
eintaucht?
Aber nein, dachte ich, Asunción Lozano war ja nicht nur tot, sondern getötet, sie war Opfer,
ermordet worden, gefällt, hingeschlachtet von ruchloser Hand. Das Herz herausgerissen wie
von einer Bestie, herausgeschnitten, herausgetrennt wie bei einem Schlachtvieh? Geschächtet? Wie? Mit einem Messer? Mit einem Beil? … ich bedauerte bereits in dieser Sekunde,
Barabbas nicht genauer dazu befragt zu haben … Andererseits, wer wollte es mir verdenken?
Hatte das arme Kind noch gelebt, als die greuliche Operation an ihr vorgenommen wurde? Das Herz herausgerissen? Ich dachte an geheimnisvolle, barbarische, blutige Rituale, an Menschenopfer für irgendeinen rätselhaften Sonnengott, an düstere, nackte Wilde oder Kannibalen
in Afrika, Priester im fernen Burma oder auf den Hochebenen der südlichen Anden. Mein
Gott – Kannibalismus bei uns im düsteren, herbstlichen London? Vielleicht? Mein Gott, ich
wollte es nicht glauben.
Einerlei, es war bewiesen und unleugbar, da war irgendjemand in dieser Stadt, der andere
Menschen tötete und ihnen das warme, das schlagende Herz herausriß ...
Ich langte vorn an der Straße an und blickte die Passage der erleuchteten Laternen und der
eisernen, verlässlichen, ordentlichen Zäune an den Vorgärten entlang, bis dorthin, wo in einiger Entfernung der graue Abendnebel sie verschluckte. Es hatte zuvor geregnet, es war feucht,
die Zweige der Büsche und Bäume tropften.
114
Ich überlegte. Ich konnte mich rechts hinunterwenden. Ich wußte, wo die alte Gerberei lag,
die Barabbas zuvor erwähnt – kaum fünf Minuten Weges. Ich konnte dort durch verwildertes
Gebüsch und die herbstlichen Reste von Brennesseln und Farn streifen, das morsche Holz des
Zaunes beiseitebiegen, konnte mich an rostigen Nägeln ritzen, in geborstenes Glas treten, auf
den Hacken über hohes, nasses, verwildertes Gewächs die Abhänge hinunterrutschen und bei
den alten, vermoderten, länglichen Tauchbecken nachsehen. Wonach? Irgendwo dort war sie
gefunden worden, ich hatte Barabbas nicht genauer dazu befragt. In einem verstopften
Abwasserkanal, hatte er gesagt, ich war mir nicht einmal sicher, ob ich den finden würde, bei
endgültig schwindendem Licht. - Und dann, - was dann, - was würde es mir bringen?
Wovon träumte ich eigentlich? Das Mädchen dort zu finden, und daß es gerade in meinen
Armen die Augen wieder aufschlug … und lebte? - Daß dies alles nur ein grausiger Irrtum,
ein gräßlicher Alptraum gewesen und nichts sonst? Barabbas’ unverschämte Lüge, warum
nicht? - Oder vielleicht einen abgerissenen Fetzen ihres keuschen Nachtgewandes zu erhaschen, von den anderen übersehen und dicht über dem fließenden Wasser an einem Zweige
aufgespießt? - Lächerlich! Grotesk! Was hoffte ich denn mit all dem zu beweisen, was andere
nicht ebenso gut ausfinden konnten?! - Vielleicht ausgefunden hatten, ich wußte es nur nicht!
Ohne daß ich selber wirklich etwas dazu tat, wandten sich meine Beine in die andere Richtung, und ich schritt die Straße hinunter gen Süden. Vor mir tauchten die Lichter der Lampen
in steter Kette im Nebel auf, hinter mir versanken sie in demselben. Meine Schritte blieben
fast unhörbar in der Feuchtigkeit der Luft, während das letzte Grau des Himmels allmählich
der Nacht wich. Ich betrachtete die Zinnen der Häuser, die Bäume, den Park seitab, den ich
passierte, ohne ihn zu sehen. Es waren keine anderen Menschen unterwegs, ich ganz alleine.
Dennoch kannte ich keine Furcht, das Viertel war gut, die Möglichkeit äußerst gering, irgendwelches Gelichter anzutreffen, das auf den Geldsack aus war. Zudem trug ich, nachdem
ich Barabbas das Silberstück gegeben, kaum noch etwas von Wert bei mir. Ein Abendspaziergang, dachte ich. Das tat Kopf und Seele gut und würde mir die Flausen vertreiben.
Denn vieles weitere ging mir indessen durch den Kopf. Natürlich waren meine Gedanken
wild herumgeschossen, wie die Mäuse in der leeren Scheuer, wenn die Katze sich naht, als ich
eben dort drinnen beim finsteren, tückischen Barabbas vom grausigen Ende der spanischen
Gouvernante erfahren, und natürlich waren über all dem Entsetzlichen zwei, drei dieser ungefügen Gedanken auch dahin gegangen, ob ich den Verantwortlichen dieser Bestialität nicht
womöglich einordnen könnte, kannte – und das war, wie mich deuchte, vielleicht das grundlegend Gespenstischste von all dem gewesen: Denn ich hatte es mir nicht vorstellen können.
Jetzt dachte ich: Nein. Da war in erster Linie natürlich Sir Enid Luciter, bizarrer Krösus im
Landhaus, Förderer von Kunst und Unmoral, angesehenes Mitglied und Cicerone der Gesellschaft, der Mäzen jenes Bildes, welches all dies, meine sonderbare Suche und Erforschung,
ursächlich ausgelöst - der mich bedroht hatte, mich von einer Maschine töten zu lassen, ja,
mich lebendig zu bestatten. Sir Enid Luciter, dem ich prinzipiell jede Schandtat zutraute – ja
gewiß, er mochte sogar für das elende Ende eines Frank Purcell unter den Rädern einer Kutsche am Marble Arch verantwortlich sein … aber … um Christi Willen … einer Achtzehnjährigen das Herz aus dem Leibe zu reißen, das, bei Gott, wollte mir scheinen, stand auf einem
anderen Papiere. Das besaß eine Dimension von Scheußlichkeit, die sich irgendwo jedem
Eindruck von Sinn, jedem Hintergrunde von Vernunft widersetzte – und bei all meiner persönlichen Abscheu, meinem Mißmut dem Genannten gegenüber, ich hätte niemals bestritten,
daß Sir Enid Luciter vernünftig war.
Dann, wer noch – der Maler?! Nicht im Ernst, nicht in Wirklichkeit! Er mochte ein gräßlicher
Hohlkopf sein, ein Idiot, ein Schwätzer, der blöde auf der Ottomane ruhte und scheußlich über
schale Späße lachte, ein Phantast, ein alter Lüstling, der mit seinen beschmutzten Fingern
jungen Mädchen zu nahe kam - aber als reißende Bestie in den nächtlichen Straßen von Lon115
don, im Nebel eines Oktobermorgengrauens und am Abhang einer alten Gerberei – nein, nein,
nein, das war schlicht indiskutabel … das war nachgerade lächerlich!
Dann, nun gut: wer dann? Barabbas? Barabbas vielleicht, den ich soeben kennengelernt? Der
hatte in der Tat etwas Tierisches, etwas Werwölfisches - und eine sonderbare, garstige Frau
mit weichem Flaum auf der Oberlippe bei sich im Haus. Diese Frau … diese Frau … -- und
dabei die andere, das junge, aparte Ding, immerzu vor Augen, vor der Tür des Anwesens im
unschuldigen Spiel mit den Kindern und gegenüber im Park … Ich sah ihn im Geiste durch
seinen Garten schleichen, lüstern, schwarz und enttäuscht … warum nicht? … das wäre
durchaus eine Geschichte … doch nein, auch dieser Gedanke ging in die Irre, das wußte ich
mit einem Mal, denn, nein, nein – ich wagte dies kaum zu denken, und dennoch war es so:
Dies Verbrechen hatte eine sonderbare, eine fürchterliche, eine unerklärliche … Endgültigkeit
und Größe, über die er einfach nicht verfügte. Barabbas hätte ihr gewiß Gewalt angetan, sich
an ihrer Unschuld gelabt und möglicherweise den Schädel eingeschlagen, dann hätte er sie
fortgeworfen … das hätte er getan ... aber ihr war das Herz herausgetrennt worden.
Ich verließ den Bereich, in dem Laternen brannten und trat zwischen den Häusern hindurch
ostwärts hinaus ins Feld.
Zwar waren bereits vor hundert Jahren prinzipiell die letzten Sumpfgebiete auf dem Boden
von London trockengelegt und kanalisiert worden – südlich Poplar auf der Isle of Dogs und
nordöstlich entlang des River Lea immerhin erstreckten sich noch die sogenannten Marshes aber zwischen Marylebone und Hampstead gibt es immer noch einen Streifen Bodens, der
nicht bebaut ist, weil dies der Bereich der ehemaligen Ton-, Ziegel- und Lehmgruben ist. Vor
nicht mehr als 50 Jahren war hier noch der Ort der stinkenden Öfen und Fliesenbrennereien,
der nächtlich glimmenden Halden von Pferdemist und Asche und des Drecks aus den Nachttöpfen gewesen, die das damalige London wie ein Gürtel umgaben. Jetzt lag dieses Gelände
tot und leer.
Dort entlang lenkte ich meine Spur, weil ich allein sein mußte, achtete darauf, nicht allzu sehr
ins Wasser zu treten, den Pfad nicht zu verfehlen, mir das Schuhwerk nicht zu verderben - mir
war nicht mehr kalt dadurch, daß ich mich im Laufen hielt – so spazierte und stolperte ich
durch die Dunkelheit und wartete, daß mein schreckliches Herzklopfen über den Tod Asunción Lozanos endlich nachließe. Die Flecken helleren Bodens aufmerksam vor den Augen,
um nicht in die Abgründe zu treten – ein mooriges, gleitendes Nirgendwo bei Nacht. Schließlich blieb ich dort im Leeren stehen, etliche hundert Yards von jeder Ansiedlung entfernt, wo
mein Atem sich mit dem Nebel mischte - ich kehrte mich um und blickte zurück, von woher
ich gekommen. Aber dort war längst nichts mehr zu sehen, nur Dunkelheit.
Einen Augenblick kam mich nicht Panik, aber dennoch Verwirrung an. Was sollte dieser Unfug, mich hier nachts im Pfuhl zwischen Marylebone und Hampstead zu verlieren? Damit half
ich dem toten Mädchen ganz gewiß nicht – und nicht mir. Ich atmete tief. Wohin sollte ich
mich wenden. Ich wußte, daß im Norden dieses Gebietes sogar Torf gestochen wurde. War
das mein Ziel? Was sollte all das? Wo hinein war ich hier geraten? Ich entschied, daß es zurück wohl weniger weit wäre als bis hinüber nach Hampstead oder südlich nach Westminster,
und ich schritt denn vorsichtig aus. Ich meinte, daß ich binnen kurzem die Lampenkette der
Straße oder die Häuser wieder durch den Nebel sehen müßte, woher ich gekommen. Links
und rechts gluckste das Wasser, einmal war ein Tier in meiner Nähe, das ich mehr erahnte als
wirklich sah … ein Fuchs oder ein Otter.
Dann wurde mir klar, daß ich mich tatsächlich verirrt hatte. Ich stand wie ein Tölpel in diesem
trägen Nichts, das feucht und in lautlosen Schwaden an mir vorüberzog und ich hätte jede
weitere Richtung einschlagen können, denn ich war wie blind. War ich vielleicht im Kreise
gelaufen? Ich befand mich für absolut lächerlich. Wenn ich im Kreise gelaufen war, dann
bedeutete jedes Geradeausgehen unter Umständen die falsche Richtung, jedes Zurückgehen
116
indessen ebenso. Ich lachte fassungslos, laut und wütend in den Nebel hinein. Nein, ich hatte
keine Furcht. Ich war nur unendlich aufgebracht und erzürnt über mich und verfluchte meine
Gedankenlosigkeit, mich ohne jede Notwendigkeit hier hinausgewagt zu haben.
Schließlich stieß ich zornig mit dem Fuße auf und stapfte in die, wie ich meinte, Richtung
weiter, die ich zuletzt eingeschlagen – um nach wenigen Schritten mit kaltem, ungläubigem
Schrecken in etwas einzutreten, hinabzusinken, nein abzustürzen, das meinem angestrengten
Auge den Augenblick zuvor noch wie hinreichend fester Erdboden ausgesehen hatte, sich
aber nun als nichts als eine Art wässriger Schaum entpuppte, der, unter Moosen verborgen,
mich grundlos einsaugte und verschlucken wollte. Nachts im Moor, ging mein blitzartiger,
letzter Gedanke - niemand hätte je wieder nach mir gefragt. Ich wäre morgens nicht zur Arbeit erschienen, irgendwann hätte Mrs. Hamlet meine Mansarde an jemand anders vergeben –
was hätte es schon gegolten? Ich stürzte eine unendliche Sekunde in dieses wässrige Nichts
von Treibsand vor mir hinein - beziehungsweise ich rettete mich, indem ich mich panisch
fallen ließ und hart auf mein Hinterteil setzte. Ich saß ungläubig - wie auf einem knappen
Stuhl an einem unendlichen Abgrunde, meine Beine langten vor mir hinein in ein leeres, unsichtbares, bodenlos tiefes Etwas – das Moor. Das sah, dunkel, durchaus wie feste Erde aus,
in das meine Beine gleichwohl hineinhingen wie in leere Luft, sie wirkten wie an den Knien
abgetrennt, ich mochte kaum meinen Augen trauen - und habe diesen Schrecken im Grunde
bis heute nicht vergessen.
Manchmal, selten genug, spuckt das Moor seine Leichen wieder aus. Sie sind weiß, wächsern,
unversehrt, zeigen uns rätselhaft aufgerissene Augen und Münder und tragen die Kleidung
unverständlicher Zeitalter. Sie berühren uns, stumme Zeugen eines fernen Schmerzes, der
doch längst vergessen ist im Schoße der Zeit. Was sind wir … was sind wir … ein Nichts …
Es wäre so grotesk lächerlich gewesen, wenn ich auf diese Weise spurlos verloren gegangen
wäre auf dem ureigenen Grund und Boden von London.
Ich zog mich heraus, lief, kroch auf allen vieren weiter, lief weiter, als ich es für möglich
gehalten hätte, geriet außer Atem, aber dann – plötzlich - war da etwas vor mir wie ein Licht
diffus im Nebel. Nicht ein einzelnes Licht, sondern, milchig, ein Schemen wie von allgemeinerer Helligkeit, etwas wie von vielen Lichtern, und ich taumelte hastig darauf zu. Ich stolperte näher heran und sah plötzlich eine hohe Mauer und Lampen dahinter. - Es ist sicher unerklärlich, und ich weiß es bis heute nicht, welche Macht meine Schritte in jener Nacht gelenkt haben mag. Denn ich kannte das Gelände in derselben Sekunde, wußte Bescheid über
die Gebäude hinter der Mauer und wurde mir darüber klar, daß ich mich keineswegs verlaufen, sondern genau dahin zurückgekehrt war, wohin ich gewollt und woher ich gekommen,
nur ein kleines Stücklein weiter im Süden. Vor mir, an der Peripherie von Marylebone, an der
Grenze zum Sumpf, lag die düstere Anlage des Middlesex Hospital.
.....
117
Ich hatte mich bis an die Mauer vorgetastet und war in ihrem Schatten um die ganze Anlage
herumgestrauchelt, die linke Hand an den roten Backsteinen entlangstreifend, die Füße durch
modrige, herbstliche, unebene Grasnarbe taumelnd, durch Pfützen tappend, in Schlamm rutschend. Ich hatte es nicht gewußt, aber vermutet, daß das Geviert der Einfassung nur an der
Vorderseite einen Einlaß besaß, und genauso verhielt es sich. Ich saß auf einem aus der Mauer
vortretenden Eckstein unweit des Einganges unter ein paar Bäumen, versuchte von meinem
überflüssigen und albernen Abenteuer draußen in Sumpf und Nebel zu Atem zu kommen und
überlegte, wie ich den Abend, wenn schon nicht ersprießlicher, so doch wenigstens meinem
Vorhaben dienlich weitergestalten sollte.
In diesem Hospital arbeitete Dr. Copeland, der Brotgeber der verblichenen Asunción Lozano.
Nun gut, er mochte auch gerade in seiner anderen Wirkungsstätte, dem Waisenhaus drüben in
Newington Green, weilen, aber das befand ich für eher unwahrscheinlich, da dort die Insassen
um diese Zeit sicherlich schlafen mochten, während zur Pflege anheimgegebene Patienten
hier eher auch plötzlicher nächtlicher medizinischer Fürsorge bedurften. Es bot sich also an,
in diesen Mauern vorstellig zu werden, freundlich um ein kurzes Gespräch mit dem Betreffenden einzukommen und so möglichenfalls größere Klarheit in dieser undurchsichtigen Affaire zu gewinnen, sofern seine Betätigung es im Augenblick gerade zuließ – andererseits
hatte ich durch meinen denkbar mutwilligen und dummen Ausflug ins Ungefähre sowohl
meine Beinkleidung wie auch mein Schuhwerk - übrigens auch die Ärmel von Hemd und
Jacke, weil ich mich mit meinen Händen abgestützt hatte - in einen derart erbarmungswürdigen Zustand versetzt, daß ich unter Menschen schlechterdings kaum noch gelitten werden
konnte, zumindest nicht, ohne der Gegenstand der erstauntesten Aufmerksamkeit oder gar des
absonderlichsten Verdachtes zu werden. Womöglich, spottete ich über mich selbst, würden
sie mich – war dies immerhin ein Hospital – in sorgender Vorsehung gleich zum weiteren
Augenscheine dabehalten!
In einiger Entfernung gleichermaßen vom Eingange wie von meinem Sitzplatze aus stand eine
Laterne der Gas-Light And Coke Company, wie sie seit fünf Jahren vermehrt zur Aufstellung
gelangten, deren Licht, waagerecht in der Luft liegend, bizarr gezeichnete, unheimliche Schattenlinien aus den treibenden Nebeln fraß. Ihr Schein, wiewohl durch den Nebel gedämpft,
mochte für meine Absicht hinlangen. In meiner Tasche befand sich in diesen Tagen stets eine
Abschrift jener besagten Liste aus meinem Sekretär in meiner Stube sowie der Stumpf eines
Stiftes, um etwaige Eingebungen sogleich an Ort und Stelle zu notieren. Dort auf dem Eckblock sitzend, in der Stille der Nacht, in Nebel und aufsteigender Kühle, machte ich nun einige neue Eintragungen, die, wie ich hoffte, meinem Kopfe zu größerer Klarheit verhelfen
sollten. Hinterher las sich das Konvolut so:
†
Rosetta Manderlay
Mrs. Eusebia Purcell
Stella „Gossamer“ Floyd Virginia ?
Asunción Lozano
Mrs. Fiona de Cato
?
-
Europa
(Wirtstochter)
Leto
(Mr. Frank Purcells Gattin)
?
(Dienstmädchen)
Metis (?)
(Dirne)
Semele
(Gouvernante)
Demeter/Persephone (Gattin von Major de Cato)
?
(Mädchen ohne richtigen Namen,
Französisches Wort, Herzring)
118
Ich saß dort und befand mit einer Art von Stolz, daß ich – einerseits ja, andererseits nein –
doch durchaus stetig und angenehm zweckvoll vordränge in das Geheimnis um das Bild der
„sieben Geliebten des Zeus“.
Denn einerseits: Wenn ich diese Aufstellung im Geiste mit jener verglich, die sie einmal gewesen, so hatten sich immerhin in ansehnlichster Weise Lücken gefüllt, fast alle Schatten
waren vergangen, und natürlich bemerkte ich das mit einiger Befriedigung. Nur hinsichtlich
dreier von jenen sieben gab es überhaupt noch Rätsel, falls man davon sprechen mochte – die
Fragezeichen waren gewissermaßen unterschiedlich groß. Drei von ihnen konnten in der Theorie immer noch Io sein, wobei ich mittlerweile und nicht zuletzt aufgrund der Aussage von
Mrs. Fiona de Cato so gut wie sicher war, daß jene Letzte auf der Liste das Mädchen war, das
ich suchte, jene, die sie „die kleine Wilde“ genannt. Das Mädchen, das nachts auf dem Dache
im Mondschein Flöte gespielt und den Schweinen die Brust geboten… das die Einhörner
liebte … den sonderbar reichen Schmuck an der Hand trug … das Poesie verfaßte, welche mir
wie mit Messern ins Herz schnitt. … Das Wesen, das rätselhafterweise … einen französischen
Begriff … statt eines menschlichen Namens trug ...
Gut, dann war da ein weiteres Fragezeichen bei Stella Floyd vermerkt: Dienstmädchen „Gossamer“ genannt – das klang in der Tat lieblich und warm und anrührend, anmutig und
aufrichtig, voller Herz, jedoch … sollte da eine gewisse Hybris in meiner Seele mitschwingen, oder was war es sonst, was ich da erblickte? - mir wollte scheinen, daß dieses wandelbare
Wesen, meine Io, einfach ein größeres Geheimnis bergen müsse als gerade Gossamer, die
Dienstmaid – strafe mich Gott!
Und … gut … nein, besser - ferner war da ein gefallenes Wesen, ein Geschöpf der Straße,
gänzlich unangenehm und verderbt, wenn ich den Berichten Eusebia Purcells Glauben schenken dürfte – und was sollte denen wohl widersprechen! – So galt also: Neben den Überlegungen hinsichtlich der durchscheinenden Symbolik des Condonniereschen Gemäldes, mithin
neben dem hoffnungsvollsten Unglauben wie auch letztlich einem schieren Widerwillen, daß
gerade diese Person meine von mir geliebte Io sein sollte, stand derlei Gedanken platterdings
im Wege, daß ich mir nur mit äußerstem Entsetzen auszumalen vermochte, wie ich meine
Recherche etwa in solcherlei Hinsicht hätte weiter betreiben müssen: Verlangte das Schicksal
am Ende von mir, daß ich mich gänzlich in den Kot der Gasse begab, straßauf, straßab in den
einschlägigen Quartieren vorstellig wurde und in schmutzigen Winkeln und üblen Wirtshäusern nach einer – vielleicht – Virginia mich erkundigte?! Oh Gott im Himmel, ich mochte
derlei nicht wirklich ernsthaft in Erwägung ziehen!
Deshalb also die Unbekannte, die kleine Wilde, die Somnambule, die Flötenspielerin.
Dies alles einerseits.
Andererseits: Auf meiner Liste war unvermutet und urplötzlich ein schreckliches, schwarzes,
böses Kreuz aufgetaucht, ein scheußlicher Flecken in der Schöpfung – da war ein Mädchen
schnöde und grauenvoll hingemordet worden. Da waren seit einigen Tagen, streng betrachtet,
gar keine sieben Geliebten des Zeus mehr in dieser Welt, sondern - besiegelt, unumkehrbar,
unwiderruflich - nur noch sechs.
Da war eine, die ich nicht mehr hatte sprechen können, deren Stimme; deren Wärme, deren
Gedanken nahezu vor meinen Augen verwest waren, bevor ich sie noch hatte fühlen oder erreichen können, und – auch, wenn ich sie nun nicht mehr von Angesichte kennenlernen würde
… oder gekannt hatte … oder gar geliebt – nein, so erfüllte mich dieser Verlust mit
unermeßlichem Schmerz … und, wenn ich ehrlich bin, mit einer furchtgebietenden, schemenhaften Vorahnung grauer, ferner Gefahr. Denn da war plötzlich ein übergroßer, grauser Schatten in der Welt, ein Gespenst mit einem Messer oder einer Axt, das machte schnöde einen
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Strich durch die Rechnung, das lachte über mich, das schnitt den Lebensfaden ab. Das fraß
jungen Mädchen das Herz aus der Brust.
Ich faltete meine Liste, diese ganze, stolze, schriftlich fixierte Bilanz meiner bisherigen Klugheiten und Erkenntnisse, zusammen und versenkte sie nebst dem Stiftstumpen in meiner Westentasche, ich lehnte mich auf meinem Sitzblock an die Mauer und überlegte, wie heutigen
Abends weiterzuverfahren. Es lockte mich unendlich, trotz meiner verschmutzten Hände,
Schuhe und Kleidung im Hospital vorstellig zu werden und dort wenigstens einige Worte mit
Dr. Copeland zu wechseln. Ich besaß keinerlei Vorstellung, inwieweit genau dies meine diffusen Ermittlungen befördern würde, aber ich spürte daran, wie sehr ich es wünschte, daß ich
mich selbst nicht darum betrügen durfte, und so erhob ich mich nach weiteren fünf oder zehn
Minuten doch noch – ich hatte unmittelbar zuvor eine nahe Kirche ein Viertel auf acht schlagen hören - und trat zu dem vergitterten Eingange des Hospitals hinüber.
Es war mittlerweile auch so, daß die Temperatur sich deutlich geltend gemacht, und ich
mußte eingedenk meiner durchnäßten Kleidung irgendetwas tun oder mich wenigstens heimwärts wenden, wollte ich meinen Ausflug nicht mit einer Erkältung oder Schlimmerem bezahlen.
Ich suchte nach einer Klingel, fand sie ohne Mühe und zog an dem Strange. Ich hörte es im
Innern eines kleinen Hauses, das gleich seitab hinter dem Zaune stand, anschlagen, und es
dauerte nicht lange, daß dort ein Wächter oder Kontrolleur heraustrat, der nun die Türe hinter
sich zuschlug und sich soeben seinen Mantel vor seinem dürren Leibe schloß. Er kam näher
heran und musterte mich mißmutig. Er trug einen glatten, grauen Bart, der ihm bis auf die
Brust reichte und entsprach damit nicht unbedingt den üblichen Vorstellungen von Eleganz.
„Was beliebt?“ wollte er wissen.
„Ich bin gekommen“, sagte ich, „um mit Dr. Copeland zu sprechen. Ich bin ziemlich sicher,
ihn hier anzutreffen. Wollen Sie bitte sogleich öffnen?“
Er rieb sich die Augen. „Werter Herr“, bedeutete er mit deutlichem Unwillen in der Stimme.
„Dies ist eine sonderbare Zeit zum Tage, um Besuche abzustatten. Sie scheinen mir nicht äußerlich verletzt, nicht wirklich erkrankt, und dies hier ist ein Spital, kein Wirtshaus, wo man
zum Vergnügen Bekannte trifft. Ich muß Sie bitten, bei Tageslicht wiederzukehren, so werden
Sie diese Türe stets weit geöffnet vorfinden.“
„Das mag sein“, stieß ich kühn vor, „aber dann werde ich in der Regel beschäftigt sein. Denn
tagsüber verdiene ich meinen Lohn. - Und ob ich Dr. Copeland zu meinem Vergnügen treffen
muß, wollen Sie wohl gütigst meinem eigenen Beschlusse überlassen.“
Er ließ seinen Blick erstaunt über meine durchnäßte und verschmutzte Kleidung wandern. Da
ich nicht ausschließen konnte, daß er überdies mein Zittern, das aufgrund der Kühle dieses
Oktoberabends nunmehr doch eingesetzt hatte, für Angst mißdeuten würde, zog ich eilends
eine meiner wertvollen Billetten hervor und steckte sie ihm mit der Frage, ob er lesen könne,
durch’s Gitter.
„Ja, Sir, ich kann zufällig lesen“, sprach er in vergiftetem Tone, drehte die Karte zum Licht,
warf einen Blick darauf und beäugte mich erneut, diesmal rechtschaffen erstaunt.
„Oh, sieh da“, bemerkte er, „es sind heutzutage doch die beachtlichsten Kandidaten bei den
Gazetten beschäftigt. Wollen wir sehen, ob der Doktor etwas für Sie tun kann.“
Ich ließ diese Bemerkung dahingehen, nahm er doch nun im ganzen recht bereitwillig ein
großes Schlüsselbund vom Gürtel, suchte und fand schließlich das passende Exemplar, stieß
es ins Schloß und zog, unkenntlich vor sich hinbrummend, schließlich das Gatter für mich
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auf. Ich begriff, daß heute der Tag war, an dem es mir bestimmt war, mich mit unwilligem
Dienstpersonal herumzuschlagen. Er deutete mit dem Finger.
„Gehen Sie dort drüben hinein“, sagte er und zeigte auf ein mehrstöckiges Gebäude aus rotem
Backstein, nicht allzu entfernt, und einen Eingang bei Bäumen und Büschen, über dem trüb
eine Öllampe flackerte. Es gab hier innerhalb der Anstalt noch kein Gaslicht. „Dort gehen Sie
hinein und innen die Stufen hinauf bis an die Schwingtür. Falls die verschlossen ist, müssen
Sie läuten, aber gewöhnlich ist jemand da, der Ihnen weiterhelfen kann.“
„Danke“, murmelte ich.
„Ich sperre dieses Gitter ab“, sagte er, „beim Herausgehen müssen Sie bei mir läuten. Es wird
doch nicht länger als eine halbe Stunde dauern?“ erkundigte er sich, mit einem Male erneut
mißtrauisch.
„Ich denke nicht, nein, ganz sicher nicht, nein“, sagte ich. „Ich danke Ihnen.“ Ich neigte den
Kopf.
Ich schritt unverzüglich zu dem Eingange hinüber und hatte im Rücken das Gefühl, daß er
mich die ganze Zeit über argwöhnisch beobachtete. Ich schaute mich indessen nicht um.
Innen fand ich es genau wie bezeichnet, ich stieg die Treppe hinauf und traf oben gleich hinter
der Tür an einem Pult sitzend eine barmherzige Schwester an, die sich, sobald ich meine Bitte
geäußert, umgehend erbot, Dr. Copeland herbeizuholen, sobald er nur abkömmlich sei. Ich
solle warten. Ihr Blick auf mich zeigte mir, daß sie sich in dem Glauben befand, ich bedürfe
wohl ärztlicher Hilfe. Ich klärte sie über diesen Irrtum nicht auf. -Ich starrte den trüben Korridor hinunter, über den sie entschwunden - die Holzdielen des Bodens, die vereinzelten Öllampen an der Decke, es war hier recht düster, die vielen Türen, die
seitlich in die Krankenzellen führten - das Gebäude war immerhin modern genug, nicht mehr
ausschließlich über die bekannten, großen Aufbewahrsäle zu verfügen, eher mochte einem bei
diesem Anblick ein abgelegenes Kloster mit den schmalen Klausen der frommen Mönche
einfallen – ich ließ die Atmosphäre, die mich gleichwohl in schrecklicher Weise an Siechtum
und Tod gemahnte, auf mich wirken, dachte wieder an die bejammernswerte Asunción Lozano und wartete. Es war so still in diesem düsteren Gang, daß man vermeinte, die Insassen in
den Zimmern atmen zu hören. Aber es schien so, als ob Dr. Copeland in der Tat nicht abkömmlich sei – und auch die fromme Schwester kehrte nicht wieder.
Nach einiger Zeit, während der ich dort noch still auf dem Korridor stehend verharrt hatte,
bemerkte ich plötzlich hinter dem Pult, an dem zuvor die barmherzige Schwester gesessen,
eine Türe, die mir vorher nicht aufgefallen war. Das heißt, natürlich hatte ich sie wahrgenommen, nur hatte mein Kopf sie wohl unbewußt vernachlässigt - weil sie mich ja auch nichts
anging - so wie man nicht jedem Apfelbaum am Wegrain Beachtung schenkt, es sei denn,
man hätte gerade Hunger. Und es ist unumstößlich richtig, es ging mich diese Türe gänzlich
nichts an. Du magst überdies einwenden, gnädiger Leser, daß es gegen die Gesittung und die
Formen jeglicher gesellschaftlicher Übereinkunft verstieß. Dennoch - es gehört zu den seltsamen Dingen, die ich zuvor schon erwähnt: Wer bestimmte an diesem denkwürdigen Abend
meine Schritte? - wer trieb mich in den Sumpf? - wer führte mich wieder heraus und geradenwegs hierher? - Jetzt nämlich fiel mir auf, daß die Türe nur angelehnt und nicht geschlossen war. Und als hier heraußen auf dem Korridor so lange gar nichts mehr geschah und ich
begann, auch hier drinnen zu frieren, da es überaus zugig war, hauptsächlich jedoch, dies
wohl zugegeben, nur, um mich abzulenken, trat ich schließlich um das Pult herum, wartete
noch etwas, klopfte darauf leise gegen das Holz, äußerte wohl auch mehrfach halblaut ein
vorsichtiges „Heda?“, dann aber, als absolut keine Reaktion erfolgte, schob ich neugierig den
Spalt etwas weiter auf und ließ vom Korridor Licht einfallen in die Kammer oder den Raum
dahinter, was immer es war, denn es war völlig dunkel dort herinnen.
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Zuerst erkannte ich nichts außer einigen abgestellten Eimern, Wischlappen und Reinigungsgerät, auch einige Borde, auf denen anscheinend Bettzeug gestapelt lag, aber es schien mir der
Bereich zu groß, um nur als Abstellkammer genutzt zu werden. Hinter den Borden, die aus
einfachsten Leisten gezimmert waren, erstreckte der Raum sich weit tiefer in die Finsternis.
Ich raunte zur Vorsicht noch einmal ein behutsames „Heda“ ins Dunkle, dann trat ich ein und
tappte bis vor an das Bord. Meine Augen gewöhnten sich flink an die Schwärze dahinter. Der
Bereich schien fensterlos und völlig leer, was mich auf irgendeine eigentümliche Art verblüffte, wie ich mich entsinne. Warum wurde dieser Raum nicht besser genutzt? -- Dann
machte ich hinten an der Rückwand plötzlich diese sonderbar einsame, merkwürdig stille Pritsche, dieses einzelne Bett aus, mehr noch, es war eine Lagerstatt, auf der jemand zu liegen
schien, und ich erschrak höllisch über den unerwarteten Umstand.
„Verzeihen Sie“, stieß ich mit unterdrückter Stimme hervor, wandte den Blick ab, bereit, mich
hastig zurückzuziehen. Schließlich war dies ein Spital, ein Tempel des Saturn – was hatte ich
Tor denn erwartet in den Zimmern vorzufinden? Natürlich Kranke!
Trotz alledem … irgendetwas etwas war seltsam mit diesem Menschen da …
Dieser Kranke regte sich nicht. Er reagierte nicht. Er schlief … und doch, hätte ich in diesem
stillen Zimmer nicht seinen Atem hören müssen?
Ich verhielt meinen Schritt, nicht nur, weil mir gerade so abscheulich flau in den Knien
wurde.
Oh Gott, was für ein Abend - in welch eine unbeschreibliche Situation hatte ich mich jetzt
abermals hineinbegeben? -- Ich wendete den Kopf zurück, schaute und erkannte nun, daß die
Gestalt bis über den Kopf mit einem Laken bedeckt war.
Nun gut, dachte ich, schaudernd, entsetzt und erschreckend, bei mir, dieser Körper dort war
also vermutlich tot - er war somit kein Mensch im eigentlichen Sinne mehr, nur noch leblose,
seelenlose Hülse. Aber was, zum Teufel, hatte ich, wie gesagt, erwartet?! - es mochten sich in
den Mauern der Londoner Krankenhäuser – auch dies vermutlich im Bereich des gänzlich
Alltäglichen und Normalen – dutzend, hundert Leichname befinden … wenngleich ... es
schwindelte mir ob der abstrusen Wellen und Schwankungen, die mein atemloser, dummer
Geist vollführte … da lagerte er also hier, dieser Leib, wie? … aber hier? …warum hier? …
ich hätte ihn vielleicht in den Katakomben des Hauses erwartet, in den alten Arsenalen unter
der Erde … nicht einige Schritte hinter dem Pult der barmherzigen Schwester … und ich
dachte - ohne Kenntnis der Dinge - daß etwas mit dieser sterblichen Hülle dort wohl höchst
ungehörig war.
Ich stand in diesem stillen Abteil, reglos, allein mit diesem Wesen dort unter dem Tuch, das
dreißig, vierzig, fünfzig Jahre lang über die Erde geschritten war, Probleme und Sorgen gekannt, vielleicht geliebt hatte, vielleicht geliebt worden war und jetzt nur noch ein Kokon
war, aus dem die Seele Gottes geflüchtet … wie unendlich gräßlich ist der Tod! … und plötzlich wußte ich, daß alles anders war … aber schrecklich anders! Meine Schritte heutigen
Abends, ich hatte dies vermerkt, waren in den Sumpf gelenkt worden … und wieder heraus …
und hierher … und es konnte dies für mich nur eine Bedeutung haben … Asunción Lozano –
möge sie nur in die ewigen Gefilde der Seligen, in das weiße Licht des Todes so aufgefahren
sein, dachte ich fiebernd im Dunkel dieses Raumes, wie ihr Name es versprochen …! -- Wenn
also dieser Abend sich zum Kreise runden, es mithin irgendeinen Sinn haben sollte, daß ich
hier hereingetreten, dann konnte es eigentlich nur ein einziger sein - und ich wußte mit einem
Male mit kalter, tödlicher Sicherheit, wer dort unter diesem Tuche lag - wessen Antlitz mich
erwarten würde, wenn ich das Gewebe aufhob.
Und ich fragte mich zitternd, während ich langsam näher an die lautlose, liegende Gestalt
herantrat, ob ich tatsächlich die abscheuliche Kühnheit haben würde, zur Prüfung meiner Idee
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dieses Laken zu lüften und dem bleichen, lautlosen Tod direkt ins Angesicht zu schauen - und
ich erforschte mein angstvolles Herz, ob ich alsdann imstande sein würde, das weiße Linnen
über diesem toten Leib weiter und weiter herabzuziehen, bis sich mir statt einer unschuldigen,
sehnenden Brust eine klaffende, kalte, dunkle Wunde enthüllen würde, ein gänzlich leerer
Raum, wo vor kurzem noch ein schlagendes Herz gesessen. – Und ich spürte, wie es mich in
der Kehle packte und würgte, wie sich die Tränen hervordrängten, wie mir übel ward und
mein Kopf gleichzeitig schlotternd heiß vor Angst. Jetzt stand ich dicht vor dem Leichnam. In
einer Minute würde ich es grauenvoll sicher wissen …
Ich hob die Hand und zog vorsichtig an dem Linnen, bis es nachgab, und bat Asunción Lozano im Geiste um Verzeihung. Und dann erfuhr ich unmittelbar den nächsten bösen Schlag,
denn nicht nur enthüllte der zurückfallende Stoff keineswegs das Gesicht der Gouvernante
Asunción Lozano, sondern das eingefallene, dunkle Antlitz eines alten Mannes, den ich nie
zuvor gesehen – ein gänzlich Fremder - sondern vergrößerte sich dieser Schrecken im nämlichen Momente in geradezu gräßlichem Ausmaß durch die unbeschreibliche Tatsache, daß
hinter mir, vom Korridor her, Schritte und Stimmen laut wurden. Dies ließ nur einen Schluß
zu: Die fromme Schwester kehrte endlich mit Dr. Copeland zurück - während ich hier gerade
damit befaßt war, eines völlig Unbeteiligten Totenruhe zu schänden.
Ich stöhnte entsetzt auf. War dies doch eine Situation, wie sie uns bestenfalls – ich sollte tunlicherweise „schlimmstenfalls“ sagen – in wüstesten Alpträumen ankommt, aber nicht im
wirklichen Leben. Natürlich war der Raum, ich hatte dies zuvor angemerkt, fensterlos – sonst,
dessen bin ich sicher, hätte ich inzwischen durch dessen Öffnung längst die Flucht ergriffen
gehabt, ganz einerlei, wie der Erdboden dort draußen beschaffen und wie tief der Sturz gewesen wäre, der dahinter gelauert.
So indessen blieb mir nichts, als mit bebenden Fingern nur das Tuch des Toten notdürftig
wieder zurechtzuzerren, um mich alsdann hastig, doch lautlos zur Türe zu begeben und neben
dem geöffneten Türspalt an die Wand zu pressen. Genauso immerhin verfuhr ich – und da
stand ich nun, zitternd, bebend, ein Gefangener meiner sinnlosen und unstatthaften Neubegier,
ratlos wie ein junger Fasan in der Schlinge.
„Wen, Schwester Innocentia, geruhten Sie mir anzukündigen?“ vernahm ich die Stimme eines
Mannes. Der Ton klang nicht einmal unsympathisch, wenngleich auch sehr bewußt, sehr kategorisch. Der Mann war, ich hörte dies, überaus ärgerlich, so unnötig und unsinnig von einer
weit wichtigeren Aufgabe entfernt worden zu sein, und, Herrgott im Himmel, ich gab ihm
recht! Hier handelte es sich - soweit war dies klar - um den von mir verlangten Dr. Copeland.
Nun, ich hätte im Boden versinken, mich in Luft auflösen, auf magische Weise zumindest für
eine kleine Minute unsichtbar sein mögen, um mich unbemerkt hinaus- und an den beiden
vorbeizudrücken zu können - ich wäre die Treppe im Fluge hinuntergestürzt wie eine Fledermaus. Stattdessen stand ich hier verzweifelt wie gefangen und gebannt. Was sollte ich tun?
Wäre es vielleicht am besten gewesen, jetzt so arglos als möglich hinaus- und zunächst ins
Sichtfeld der beiden zu treten, einfach, großzügig lächelnd, grüßend den Hut zu ziehen, mich
warm zu entschuldigen und dann nach ein paar höchst umgänglichen und unverfänglichen
Worten unverrichtet und gemessen zu entfernen? – Einerlei … ich konnte dies alles nicht tun
…
Ich hatte in meiner Anspannung die Antwort der Schwester gänzlich überhört, vernahm aber
nun erneut die Stimme des Doktors, die ihr, klirrend vor Kälte und Strenge, die Anweisung
gab, sogleich hinunterzulaufen und beim Verwalter nachzufragen, ob ich denn das Grundstück wieder verlassen ...
Ich hörte ihre eilfertige, unterdrückte Bestätigung des Auftrages, vernahm das Quietschen und
das mehrmalige Hin- und Herklappen der Schwingtüre, als sie eilend davonlief, ihre sich ent123
fernenden Schritte auf der Treppe … dann hörte ich gar nichts mehr … Totenstille … und
hielt unwillkürlich den Atem an. Ich wußte, Herrgott, ich wußte, ja, daß er da draußen war,
nur wenige Fuß von mir, da er auf ihre Rückkunft wartete, aber ich hörte ihn nicht. Es war unheimlich … nachtmahrhaft … absolute Lautlosigkeit. … Jetzt würde sie bei der Wache läuten
… vorsprechen … dann erfahren, daß ich das Gelände nicht verlassen …
Ich wagte es endlich, den Kopf zu wenden, mich lautlos seitlich zu beugen und vorsichtig
durch den offenen Türspalt hinauszulugen – und ich wünschte im nämlichen Augenblicke
sehnlichst, ich hätte es nicht getan!
Ja, es war Dr. Copeland, der ehemalige Herr von Asunción Lozano. Er trug einen recht eleganten schwarzen Anzug mit Weste und Uhrkette. Er war sehr groß und schlank, um die fünfzig Jahre alt. Er hatte einen Stapel Papiere vom Pult der frommen Schwester herabgenommen,
er hatte sie gelesen und klopfte damit unhörbar gegen seinen Fingernagel. Jetzt starrte er genau auf den Türspalt, hinter dem ich stand. Und er starrte, wie mir schien, beileibe nicht
blicklos ins Dunkel. Nein, nein, er sah, er sah … er sah mich …-!
Dr. Gideon David Copeland, Barabbas hatte ihn mir benannt. Ich sah das kurze, eisgraue
Haar, sah die bösen Augen, sah den eisgrauen Bart, sah die Hasenscharte … Ich kannte ihn ja
doch … entsetzlich! … vom Nachmittag der Vernissage …
Ich wußte gar nicht, was ich dachte oder gar, was ich hätte denken sollen. Ich begriff nur, daß
sich irgendein vermaledeiter Kreis geschlossen hatte, es war, als wäre eine Tür ins Schloß
gefallen, etwas Unwiderrufliches geschehen, nur durchschaute ich dies alles noch nicht. Ich
stand im Dunkeln hinter jenem Türspalt und sah sein bleiern kaltes Auge genau auf mich gerichtet.
Und … wie auch immer, Gott möge mir verzeihen … ich schrie! Ich schrie mir in einem Augenblick das Mark aus den Knochen, in einem einzigen, langen, unartikulierten Laut des Entsetzens. Und falls es ihn erschreckt haben sollte, aus dem Dunkel jenes Türspaltes unvermittelt angebrüllt zu werden, so sollte es mich nur freuen! - Ich schrie, daß es den Toten auf dem
Lager hinter mir hätte aufwecken mögen. Ich schrie mir meine Angst und Verzweiflung hinaus und ich sprang. Jawohl, ich riß die Türe auf und ich sprang, ich jagte an ihm vorbei wie
der Wind, schneller als der Wind, prallte gegen die Schwingtür wie ein Schiff, das im Sturm
auf die Kaimauer aufläuft, und stürzte, nein flog wie ein Vogel, jagte wie ein Geist die lange
Treppe hinab, kaum daß meine Zehen, meine Fußspitzen die Stufen auch nur berührten, ich
langte wunderbarerweise unten an, ohne zu Fall zu kommen, Gott muß mich geliebt und beschützt haben, und ich brach durch die Türe nach draußen, die krachend vor mir aufflog.
Ich dachte nicht nach, nein, ich dachte nicht! - Denn wenn ich gedacht hätte, dann hätte ich
auch überlegt haben müssen, daß solcherlei Flucht doch nur nur über die Maßen töricht gewesen war. Aus dem Hause und vor Dr. Copeland zu flüchten wäre wohl sehr dumm gewesen.
Denn noch war da das unüberwindliche Tor, das doch nur jener sonderbare Cherubim hätte
öffnen können, an dessen Tür ich zuvor hätte läuten müssen. Was - dachte ich mit einem Anflug von barbarischer Heiterkeit in mir, Heiterkeit, in die sich lachender Irrsinn mischte - was
soll der Reisende tun, der zurück will über den Styx, aber Charon ist nicht da …?!
Einerlei, ich brach aus der Haustüre hervor, und es mag wohl sein, ich schrie noch immer.
Was ich jedenfalls sah, war etwas Sonderbares. Auf der weiten Fläche zwischen mir und dem
Tor tat sich mancherlei! Ich sah den Torwärter dort und die fromme Schwester. Ihre Haube
leuchtete durchs Dunkel wie ein Schwan. Ich sah die beiden, jedoch nicht ins Gespräch miteinander vertieft, sondern an getrennten Orten. Denn Wunderbares geschah, geschah gerade
in diesem Augenblick. Das Tor war weit geöffnet, und eine Kutsche rollte hinaus … zwei
Pferde, eine schwarze, hohe Kutsche rollte hinaus. Ich schrie noch immer. Ich schrie und
rannte hinter der rollenden, polternden Kutsche her und jagte so, ehe diese oder ich selbst es
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noch überhaupt begriffen hatten, was geschah, an dem Cherubim und der frommen Schwester
vorbei und hinter der Kutsche her durch das weite, offene, große Tor hinaus in den Nebel und
in die Freiheit.
Und dennoch geschah noch etwas an diesem Abend, mit dem ich nicht gerechnet - und es geschah genau in diesem Augenblick - dennoch führte, nach allem, was bisher doch schon geschehen, das Schicksal noch einen weiteren Pfeil gegen mich im Köcher - fast wie eine grausig-höhnische Bestrafung für das doch so unschuldige Glück meiner gelungenen Flucht – ich
rannte hinter dieser Kutsche her durch das Tor hinaus zurück in die Hut meines stillen, ungefährdeten Lebens, aber zweierlei fühlte ich wie einen ungeheuren Schmerz und ein wahnsinniges Licht inmitten des Zentrums meiner zukünftigen Existenz, zweierlei warf mich in den
Himmel und die Hölle in der allergleichen Sekunde.
Die Kutsche trug eine Aufschrift an ihrer Rückseite, wie dergleichen Kutschen sie eben führen. Es sind diese Lettern, die man kennt, mit Schablonen und weißer Farbe verfertigt.
Und ich sah ein Gesichtchen, ein kleines, ein holdes Gesicht in dem ovalen Fensterchen inmitten der Rückseite der Kutsche, mit schreiend aufgetanen Lippen und großen Augen, die
voller Angst zu mir herausblickten.
Es lautete die Aufschrift auf der Kutsche: BETHLEHEM ROYAL HOSPITAL FOR THE INSANE …
Und es war dieses Gesicht, das ich im Gaslicht in dem ovalen Rückfenster der geschwind in
den Nebel davoneilenden Kutsche erblickte – das Gesichtchen, das ich in dieser Sekunde zum
ersten Male in voller Gänze sah – es war dieses Antlitz … das des Wesens, das ich über alle
Maßen liebte. -- Dort in der Kutsche davon fuhr und verschwand im Nebel vor mir ... leibhaftig und lebendig … Io … meine Io … und zum ersten Male, Gott im Himmel ist mein Zeuge,
hatte sie mich Aug’ in Auge angeschaut …
7. Kapitel
Lethe
Das ganze Antlitz! ... ich war krank vor Sehnsucht ...
Bisher hatte ich nur das halbe gekannt, die andere Hälfte war das einer fernen, gleichgiltigen,
mythologischen, weißen Färse gewesen ... vom Maestro Giovanni Bastista Condonniere wie
eine höllische Halbmaske in die Wirklichkeit gestanzt - und letztere damit gleichzeitig verborgen ...
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Nun: eine tödliche Wunde - eine Hülle, ein Verband gefallen ... und zum ersten Mal das ganze
Gesicht, tränenfeucht, hinter dem Glas der rasenden Kalesche, das ganze gräßlich hilflose
Menschenkind! – Das ganze anrührende Antlitz!
Ich fragte mich, ob dies etwas für mich änderte - und ich erkannte erstaunt: - ja und nein zugleich.
Einerseits: Ja, denn dieses neue Angesicht meiner Io war, wie bemerkt, etwas durchaus anderes als das zerstückte Fragment von zuvor – ein Schleier gefallen, ein Geheimnis erloschen,
denn ich wußte ja nun, ich kannte ja nun ... Und aus einem beunruhigenden Rätselwesen in
einem Bilde war nur ein leibhaftiges Wesen aus Fleisch und Blut geworden ... Sonderbar,
überdies, gewiß: Ich glaube, ich hatte mir das Gesicht anders vorgestellt - obwohl ich im
nämlichen Augenblick, da ich es erstmals sah, bereits nicht mehr mit letzter Sicherheit hätte
zu sagen vermocht, wie ich es mir denn zuvor in Gänze ausgemalt. –
Andererseits und ebenso gewiß jedoch hatte sich für mich gleichzeitig gar nichts geändert: So
unendlich und verzweifelt, wie ich bislang nur die eine Hälfte des Gesichtes geliebt, so begehrte ich nun auch die andere –
Was ist es doch für ein wunderlich Ding mit unseren Herzen - ich vermochte es nicht zu begreifen! Kannte ich dies Mädchen doch kaum, kannte nicht ihre Stimme, kannte nicht ihren
Duft, wußte nicht einmal ihren Namen! Überdies, das, was mir bislang zugetragen ward, wie
ich schon zuvor bemerkt, schien mir vielfach wie ein Mosaik, dessen Teile, recht betrachtet,
gar nicht zueinander passen wollten ... vieles widersprach einander, blieb im besten Falle Rätsel, Fabel, Märchen, Schauergeschichte ... ich sah sie schluchzen ferne im feuchten Mondschein ... in Nebel und Natur ... Einhörner ... es kam mich Furcht an, denn ich wußte, daß ich
ohne sie nicht würde leben können ... Oh, Io, namenloses Kind, Io, meine Heilige - und nun
bist Du gefangen in den Händen dieses abscheulichen, finsteren Arztes, der bereits die Gouvernante seiner Kinder auf so bestialische Weise gemordet –.
Denn dies war nach dem schockierenden Treffen mit jenem hasenschartigen Teufel dort im
Hospital mein ultimater Ratschluß der heutigen Nacht gewesen. Hatte ich zuvor noch gezaudert, wer für diese unmenschliche Tat verantwortlich zu machen sei, so war mir das gänzlich
unvermutete, gewissermaßen doppelte Auftauchen des unheimlichen Arztes im Umfeld dieser
Geschichte wie ein Fingerzeig und wie eine logische Antwort auf all meine Fragen gewesen.
Ich entsann mich vorzüglich, wie er als Gast jener zurückliegenden Vernissage mich in so
ganz besonderer Form draußen im Garten gemustert – ohne jeden Anlaß, schamlos, unverstellt mordlüstern, eiskalt, völlig gefühlsleer, mich bis in die Tiefen meiner Seele erschrekkend - ein kranker Künstler des Skalpells und Öffner von Brustkörben. Und ausgerechnet
diese unerfreuliche Erscheinung hatte sich nun zum zweiten als Brotherr des Opfers herausgestellt – was wiederum sein Auftauchen auf der Vernissage und sein Interesse an dem Gemälde
der „sieben Geliebten des Zeus“ in ein, wie mir schien, doch äußerst befremdliches Licht
rückte.
Darüber hinaus: Hatte ich zuvor Rosetta Manderlay und Eusebia Purcell noch im einzelnen zu
dem Prozedere ihrer „Anwerbung“ befragen müssen, so bedurfte es im Falle der spanischen
Gouvernante keiner derartigen Erläuterungen mehr. Er war ihr Brotherr gewesen und hatte es
ihr befohlen, ganz einfach: Sie war ein hübsches Mädchen gewesen, weit fort von Eltern und
Familie, und er hatte gewußt, was man in Cornwall benötigte. Indessen konnte ich mir nicht
vorstellen, daß im Falle dieses armen, braven, katholischen Wesens ein sehr großer Teil Willigkeit vorgelegen haben sollte, um bei dem bösen Spiele mitzutun – die ganze Geschichte
war bodenlos, infam. - War sie am Ende deshalb getötet worden? Doch – ich versuchte meine
wilden Gedanken zu zügeln – warum sollte sie umgebracht worden sein, nachdem das Gemälde bereits fertiggestellt war …? Und warum auf diese spezifisch grausige Art? – die immerhin spezifische chirurgische Kenntnisse zu offenbaren schien, wie sie spezifisch ihm zur
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Verfügung standen? Ich sah ihn, mit seinen grauen, kurzen Haaren, seinem Bart, seiner Hasenscharte, seiner schlanken Gestalt, mit seinem blutigen Skalpell, wie er das rote, blutende
Herz aus ihrer weißen Brust herausschnitt und es in eine Schüssel warf.
Ich verspare es mir hier ausführlicher zu schildern, wie ich an jenem Abend verschmutzt und
abgerissen von meinem Ausflug nach Hause gelangt, mich einer spätnächtlichen Reinigung
unterzogen, die Kleidung bis zu besserer Gelegenheit beiseitegelegt hatte -, ich mag nicht
ausführen, welche Ängste und Alpdrücke mich in meiner finsteren Kammer geplagt, wie ich
mich in meiner Bettstatt warf und wälzte, während die Katzen draußen auf den Schindeln
lärmten und die Nacht verstrich.
So kam schließlich, als es draußen stiller wurde, endlich die Dämmerung des frühen Morgens
herauf – es war der letzte Tag des Oktober - und er sah mich mit dem ganzen Wirrwarr meiner erregten Gedanken noch immer hellwach.
Ich erhob mich, zwar körperlich zerschlagen und recht elend, dennoch bald darauf, um meiner
täglichen Pflicht beim „Monthly Mercury“ zu folgen. Ein flüchtiger Blick auf meine Kleidung, die ich gestern abend nur provisorisch über meine Truhe gelegt, belehrte mich indessen,
daß ihr immer noch der halbe Sumpf von Marylebone anhaftete, was es zu einer schlichten
Unmöglichkeit machte, derart eine öffentliche Straße zu betreten, geschweige denn meinen
Arbeitsplatz. Den Sumpf, der unterdessen zwar teilweise getrocknet war, hätte man vielleicht
mehr schlecht als recht ausbürsten können, aber derartige Versuche hätten auch etwas vom
Tun eines Pferdehändlers gehabt, der das Fell seiner zum Verkauf stehenden Tiere färbt.
Nein, diese Kleidung benötigte eine grundsätzlichere Behandlung mit Wasser und Seife, das
war mir klar genug.
Ich mag den Leser nun nicht mit Langweiligkeiten behelligen, muß aber, um zumindest dem
Verständnis Genüge zu tun, berichten, daß ich mich solcherart an diesem Morgen genötigt
sah, über meinem Nachtgewand in meine Bettdecke gehüllt, zwei Stockwerke tiefer bei meiner wackeren Wirtin, Mrs. Hamlet, vorzusprechen: Erstens bat ich sie, hinsichtlich meiner
Bekleidung Wäscherin und Schneiderin zu beauftragen und hernach zu bezahlen – sie würde
mir das, um einen gewissen Obulus vermehrt, auf die Miete aufschlagen – ferner jedoch zur
Versorgung der allernächsten Notwendigkeit – ich musste ja zu meinem Tagwerk aus dem
Hause – mir dringend aus der momentanen Patsche zu helfen.
Nun mag man über Mrs. Hamlet sagen, was man will, aber man kann sicher nicht behaupten,
daß sie falsche Rücksichten kennt oder von übergroßer Feinfühligkeit angekränkelt wäre. Ich
hatte mir bei mancher Gelegenheit überlegt, ob sie, hier seit Jahren meine Wirtin, nicht doch
im Grunde inzwischen mehr für mich sei – zum Beispiel so viele Jahre nach deren Tod so
etwas wie eine neue, teure Mutter – und ich hatte mich jeweils mit Grausen im Geiste gewendet und meiner armen Mutter Abbitte getan. Trotzdem, unbestritten war an jenem Tage etwas
von mütterlicher Fürsorge in ihr, denn sie ließ mich fürs erste in die sorgsam aufbewahrte
Kleidung ihres „Seligen“ schlüpfen, kniff kritisch die Augen zusammen und schob mich hinaus.
Ich füge dies, teurer Leser, nur ein, um dir eines zu verdeutlichen: Von Anbeginn an war ich
an diesem furchtbaren Tage, nachdem ich erstmals meiner „Io“ ansichtig geworden, gewissermaßen nicht mehr ich selber – todmüde fand ich mich überdies gezwungen, in einer Hülle
herumzulaufen, die bei weitem zu ernst und zu schwer für mein Alter wirkte und die so aussah, als hätte ich sie – was schließlich sogar den Tatsachen entsprach - einem größeren Manne
weggenommen. Ich fühlte mich bis ins Gebein zutiefst verwirrt, als ich auf die Straße trat,
kam mir vor wie verkleidet - das Heiterste in dem Zusammenhang war noch, daß William
Carlisle, als ich im Comptoir erschien - obwohl er, wie die anderen, und wie ich zuvor schon
mehrfach Gelegenheit genommen habe zu betonen, ein Ausbund an Diskretion war - mich
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von der Seite anblickte und sich erkundigte, ob es etwa ein neuer Auftrag heische, mich unerkannt in einer Methodistengemeinde zu bewegen.
Ich weiß nicht mehr, was ich, halb im Scherz und halb verärgert, antwortete – der ganze Tag,
während ich mich im trauten Comptoir mit, wie mir schien, doch zweitrangig Wichtigem und
Allerweltständeleien beschäftigt sah, geriet mir im Grunde zur einzigen Tortur, schob sich
doch vor meine äußeren Verrichtungen immer wieder dieses eine Bild, klar wie der lichte
Tag: wie ich gestern nacht in rennendem Lauf der rasenden, höllischen Kutsche nachgefolgt
war - und wie plötzlich dieses kleine, angstvolle Gesicht dort hinter dem ovalen Fenster aufgetaucht war und mich mit weiten Augen angeblickt.
Hatten sich die Lippen bewegt? Hatte sie mir nicht qualvoll etwas zugerufen? Hatten ihre
Lippen nicht ein verzweifeltes „Hilfe“ oder „Hilf mir!“ oder „Helfen Sie!“ geformt, das im
Rasseln der Kutsche auf dem Pflaster untergegangen war? –
Vermaledeit – ich hatte dieses Bild jetzt schon so oft gesehen, daß ich unterdessen nicht mehr
unterscheiden konnte, was die nackte Wahrheit gewesen war oder was nur vielleicht mein
überreizter Geist dazuerfunden! Eines immerhin war nicht dazuerfunden, und es brannte mit
flammenden Lettern hinter meiner Stirn: „Bethleham Royal Hospital for the Insane“ – das war
die Aufschrift auf der Kutsche gewesen, das war so sicher wie der anständige Name meines
Vaters, kein Irrtum, keinerlei Augenfehler möglich – und ich fragte mich verzweifelt: Warum
von allen hunderttausend möglichen Adressen des großen, wunderbaren London gerade diese
eine, gerade diese eine, furchtbarste von allen? „Bethleham Royal Hospital for the Insane“ –
Der Tollkoben. Der Hort der verlorenen Seelen. Der letzte Kreis der Hölle. Ich entsann mich
zitternd der diversen Gelegenheiten, als ich zuvor schon auf die eine oder andere Weise überlegt, wer am Ende, wenn das Geheimnis gelöst, meine Io im wirklichen Leben wohl sei. Welchen Namen sie beispielsweise trug – nun gut, ich entsann mich des unangenehmen Schauders der Mär, daß sie gar keinen trüge, statt dessen nur ein französisches Wort, einen Begriff,
jedoch in englischer Zunge auszusprechen. Ich entsann mich überdies meiner mehrfachen
Angst, sie könne am Ende ein Mädchen der Straße sein, denn eines von jenen, mit Namen
Virginia, eine unangenehme Person, war mit Sicherheit in dem Bilde des Zeus dabei. So hatte
Mrs. Eusebia Purcell gezeugt. Aber, bitte, das war gleichzeitig der Beweis, daß es sich mit
meiner Io anders verhielt, denn das Straßenkind hieß Virginia, und Virginia war ein Name,
kein französischer Begriff, mithin nicht meine Io.
Das Mädchen, das auf dem Dach im Mondschein Flöte spielte und im Schweinekoben den
Ferkeln seine Brüste zum Säugen bot. „Die kleine Wilde“, hatte Fiona de Cato gesagt.
„Bethleham Royal Hospital for the Insane“. Was, wenn sie wirklich irre war, verrückt, geisteskrank, behaftet mit den Malen des Schwachsinns? wenn es dies war, das Fiona de Cato
gemeint, als sie mir bedeutet hatte, das Mädchen sei tot und für mich nicht zu erreichen.
Aber, zur Hölle – mich kam fröstelnd das kalte Grauen an – jene andere war immerhin wirklich tot, Asunción Lozano, das spanische Kind, das unschuldige Kindermädchen, und die
Scheußlichkeit ihres Arbeitgebers bildete ich mir auch nicht nur ein - jenes Arztes, der, das
war so klar wie das Eis im Winter, jenes Wesen, das auf dem Bilde meine Io abgegeben, ganz
offensichtlich zwischen den Stätten seiner Befugnis nachts in Kutschen hin- und hertransportieren ließ, Middlesex und Bethlehem Hospital zumindest gestern nacht – warum? Wie eine
Figur auf einem Schachbrett - oder wie eine Ladung Tee von einem Dock ins andere?
Gesetzt der Fall, sie logierte im Bethlehem, was hatte sie dann im Midllesex überhaupt verloren gehabt? Nein, Grundgütiger, bei aller Naivität, aber ich mochte an diese Frau als Geistesschwacher bis zum Beweis des Gegenteils einfach nicht glauben - der Mord an Asunción Lozano zeigte vielmehr, daß hier ganz anderes im Spiele war.
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Ich dachte an Rosetta Manderlay, Fiona de Cato und Eusebia Purcell, jene drei anderen, die
ich kennengelernt. Es war sogar möglich - daß man meine Io aus dem einen oder anderen
Zweck nur als eine Verrückte ausgab, warum denn nicht, aber das gesamte Ensemble betrachtet, war dies – dagegen sprach der gesunde Menschenverstand - nicht nur einfach die Geschichte einer Idiotin! Man sprang vielmehr mit all diesen armen Frauen um, wie es sich unter
Christenmenschen nicht geziemte. Eine von ihnen hatte man ermordet! Ich wollte – grob und
kurz hier angemerkt, und im Gedanken an jenen dämonischen Arzt! – ich wollte verhindern,
daß meine Io am Ende die zweite wäre - in einer unseligen, elenden Folge von Dingen!
Nun wohl: Am späten Nachmittag dieses Tages, unmittelbar, als die Verrichtung des Tages
im Comptoir endlich beendet war, als der freundliche, düstere Mr. Finley Burkitt mich entließ, lief ich hinüber zur Watling Street, um mir eine Droschke zu leihen, die mich nach St.
George’s Field bringen sollte. Der Kutscher freute sich, als er von der lukrativen Fahrt vernahm, er nahm den Heusack herunter, führte das Pferd heraus und ließ es munter austraben.
An der Flußbrücke trat der Wärter aus seinem Häuschen an mein Fenster, ich zahlte den geforderten Sixpence, und wir rumpelten hinüber ans Südufer. Weiter durch die schmutzigen,
lauten Strassen von Southwark, und einen Augenblick irrlichterten meine Gedanken hinüber
zu Rosetta Manderlay, der Wirtstochter aus dem ‚Ye Olde Bell’, das ich von hier aus bequem
hätte zu Fuß erreichen können. Jedoch mein Ziel war heutigen Tages ein dringend anderes –
ich mußte nach jenem Zauberwesen forschen, dessen verzweifeltes Gesichtchen ich gestern
eine höllenkalte Sekunde lang im Rückfenster jener Kutsche gesehen ...
„Bethleham Royal Hospital for the Insane“ – nun gut - denn man war immerhin so unvorsichtig gewesen, mir als Anknüpfungspunkt eine klare Adresse zu weisen.
Diese Anstalt, im Volksmund abkürzend ‚Bedlam’ genannt – wie seit jeher halb scherzhaft,
halb mit Grauen jede Einrichtung der gleichen Bestimmung im ganzen Land - lag neuerdings,
oben von Moorfields, Moorgate, hierher verlegt, unweit der Lambeth Road und bestand aus
einem einzigen rötlichen, sehr langgestreckten Gebäude über drei Stockwerke, das in der
Mitte und an den Enden Risalite mit Türmchen darauf besaß. Oben auf den Türmchen tanzten
filigrane Figuren geflügelter Pferde, die, ich weiß nicht was, auf dem Dach einer Institution
wie dieser verloren hatten, aber der Architekt hatte sie dort hingesetzt. Der Bau war weitläufig
umgeben von einer Gartenanlage in französischer Façon und einem lockeren Holzzaun. Die
jetzt kahlen Bäume beiderseits der Auffahrt standen gestutzt. Es gab einen Wärter unten am
Einlaß in den Garten, die Schranke dort war weit geöffnet.
Was hatte ich erwartet? Gelasse, in denen der Schimmel stand und die Ratten rebellierten?
Gänge, Eisengitter, brutale Wachen, selber auf der Grenze zwischen Wahnsinn und Normalität? Hallende Schreie in unterirdischen Gefilden, Blut an weißer, gekachelter Wand, verstecktes, böses Lachen hinter einer halbgeschlossenen Tür?
Das Wetter war, als ich in meiner sonderbaren Kleidung aus der Kutsche kletterte und den
Fahrer entlohnte, ein lichter Abend, nicht zu kalt - ganz trocken, kein Nebel machte die Luft
schwer wie noch gestern. Es gab ein paar hohe, zarte Wolken im Westen, sogar mit der blassen, melancholischen Andeutung eines spätherbstlichen Abendrotes.
Und nun?
Ich hätte jetzt natürlich dort hineingehen, einfach frech vorsprechen und Dr. Copeland verlangen sollen. Dann wäre er geholt worden und vor mir aufgetaucht. So, da wäre er also gewesen. Und dann? Hätte ich mich dann arglos mit ihm unterhalten? - Vielleicht über seine verstümmelte, ermordete, in den Abluß der alten Gerberei gestopfte spanische Gouvernante,
Asunción Lozano? Oder über das Kind, das ich suchte, meine Io? – Grotesk! Wenn er dagewesen wäre, dachte ich zitternd, dann hätte ich ihm gerade ins Gesicht schauen, auf die gräßliche Hasenscharte starren und zunächst in ruhigem Tone erklären müssen, warum ich zum
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Beispiel gestrigen Abends im Middlesex Hospital an ihm vorbei wie ein Wahnsinniger die
Treppe hinuntergesprungen war, wie auf der Flucht vorm Gottseibeiuns.
Und was, wenn er nicht da war, was dann? Welche Chance hatte ich überhaupt, das Mädchen
in diesem weitläufigen Hause zu finden? Ein Mädchen, deren Namen ich nicht einmal
kannte? Wieviele mochten hier angekettet sein? Wenn ich dort hineinginge, würde ich ihn
antreffen oder würde ich ihn nicht antreffen? Beides unselig, beides gleichermaßen bizarr!
Es wuchs sich jetzt, streng betrachtet, sogar zu meinem Nachteile aus, daß die alten Zeiten
entschwunden waren und mit ihnen die gewissen infamen Bräuche. Knapp zwanzig Jahre lag
es nur zurück, ich hatte wohl davon gehört, da war man noch – gegen eine gewisse Gebühr durch die Abteilungen geführt worden, zum schamlosen Schauen, Starren, Staunen. Aber dies
nun war ein aufgeklärtes Zeitalter und da galten dergleichen Ausflüge als deplaciert und abgeschafft. Immerhin, träumte ich, ich wäre über die Galerien geführt worden, und, dort hinter
einer dunklen Türe, hinter einem ganz plötzlichen Gitter, hätte ich sie mit Handschuhen,
nackt, in einem Netze gefangengehalten, hängen gesehen. – Ich weiß nicht, warum, aber ich
glaubte, man würde sie alleine dort verwahren – oder in einer Zelle unter der Erde, mit gepolsterten Wänden, zitternd kauernd an der Erde, in einer Ecke, den Blick abgewandt. Ich
hätte sie gesehen … und mir nichts anmerken lassen, jedoch sie hernach retten können …
retten …! -Unterdessen, zögernden Schrittes, war ich schon an dem Türhüter, der mich nicht einmal sonders beachtet, vorbei in den Park eingetreten … Ein gutes Dutzend Menschen oder sogar mehr
war in der freien, offenen Parkanlage flanierend oder beieinanderstehend unterwegs, zu zweit
oder in kleinen Gruppen – das, was nach abendlichem Müßiggang aussah, ich vermutete dahinter den Besuch beteiligter Verwandter. Wärter, Wächter, Krankenpfleger, barmherzige
Schwestern, kurz, Personal der Anstalt konnte ich keines ausmachen – ich war etwas überrascht, denn ich hatte mir das Ganze insgesamt mehr wie ein Gefängnis vorgestellt.
Es galten vielleicht hundert Schritte bis zu dem roten, modernen Gebäude. Auf halber Strecke
dorthin erhob sich fünfzig Fuß hoch etwas wie ein pompöser Portikus aus demselben rötlichen
Gestein wie das Gebäude dahinter, eine Gloriette, ein Triumphbogen inmitten des Gartens.
Dort mußte man hindurchtreten, in seinem weiten, offenen Innern führte geradeaus eine großzügig breite Treppe zehn oder fünfzehn Stufen hinauf auf ein höheres Niveau, denn das eigentliche Gebäude war etwas erhöht, wie auf einem Sockel aus Erde, errichtet. Ich betrachtete
sie mir im Gehen, die rötlichen Ziegel der Gloriette wie des mächtigen Gebäudes mit den Pegasus-Figurinen auf dem Dach dahinter, es waren im übrigen die gleichen roten Ziegel wie
die des Middlesex Hospitals gestern abend – es schien, als seien alle Krankenhäuser und Anstalten Londons aus dem gleichen Material errichtet. Ich erreichte die Gloriette und stieg die
Stufen in ihrem Innern empor. Mehrere lachende Personen kamen mir entgegen und ein einzeln gehender, ernster, vornehmer junger Mann mit einer Frau am Arm. Ja, dachte ich, so
würde ich mit meiner Io hier am Arme unbehelligt hinausgehen. Das würde ich. Erneut eröffnete sich mir, und nun frei und ungehindert, der Blick auf den Eingang der Anstalt. Was
würde mich dort hinter dem Eingange erwarten? Wer würde das Wort an mich richten: „Was
wollen Sie, Sir?“ Und was würde ich dann darauf erwidern? Ich trat zögernd näher heran, sah
vorneweg auf den Eingang, die mit Bronze beschlagene Tür in das Haus. Der Kies knirschte
unter meinen Füßen.
Dann jedoch öffnete sich ein schmaler Pfad seitlich, und als ob die Pforte dort am Ende des
Weges und ich, als ob wir beide Minuspole an einem Magneten gewesen wären, drängte mich
eine geheimnisvolle Kraft unwiderruflich seitwärts ab in diesen Weg und ich konnte mich
nicht weiter dem Hause nähern … sondern ich schritt diesen Pfad entlang zu einer Gruppe
von Buschwerk hinter einem Gatter und einer dabei aufgestellten Bank. Hier saß man von der
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Umgebung abgeschlossen hinter kahlem Gebüsch, hier ließ ich mich niedersinken, das höllische Gebäude im Rücken, Schweiß an den Schläfen und auf der Stirn.
Ich saß auf der Bank, ein müßiger Flaneur vermutlich für jeden, der vorbeigekommen wäre,
wenn auch - urteilte ich verwirrt - sich ein jeder Passant ein wenig über mich verwundert haben dürfte, über meine heutigen Tages nicht ganz gewöhnliche Kleidung genauso wie andererseits über meine Aufführung generell, denn das Wetter zum Sitzen auf Parkbänken war es
doch nun für dies Jahr eigentlich nicht mehr. Man konnte hier kurze Zeit ausruhen, in der
steten Gefahr, sich zu verkühlen – gleichwohl, mochte es angehen! Vielleicht bekam ich
Klarheit in meinen dummen Kopf, wenn ich hier einen Augenblick verweilte. Wenn jemand
mich hier kauern sah, dachte ich in zornigem Amüsement, vielleicht mochte er mich auch für
einen von denen halten, die man im Hause hinter mir verwahrte. Und was schließlich wäre
daran schon so falsch begriffen gewesen? Denn hatte man jemals einen größeren Unsinn gehört, als daß jemand teures Geld auf eine Droschke verwendete, um sich flugs an einen Ort
bringen zu lassen - an dem er dann nichts weiter mehr unternahm, als verzagt hinter kahlen
Büschen zu hocken …?! Wie also sollte es weitergehen?
Wenn ich hineinging und auf Dr. Copeland traf, was, großer Himmel! hatte ich am Ende zu
befürchten?! Es waren andere Menschen da, auch Öffentlichkeit! Ich mußte es halt verhindern, dachte ich, daß er mich in einen Keller verschleppte oder daß er mich, war ich erst einmal dort herinnen, von Wärtern ergreifen ließ und meinethalben behauptete, ich sei ein entflohener, gefährlicher Patient. Und, nochmals, schließlich, was sollte das alles?! Es sprach ja
auch vieles dafür, daß ich dort drinnen lediglich einen Pfleger namens Smith oder Jones antreffen würde, an den ich meine unschuldigen Fragen richten konnte - und daß Dr. Copeland
gar nicht im Hause war.
Ich schrak aus meinen albernen Gedanken, als sich jemand an das andere Ende der Bank
setzte. Ich schaute überrascht hin, es war ein älterer Mann mit schütterem, weißem Haar. Ich
mußte an den anderen denken, den Toten der gestrigen Nacht, den ich im Middlesex Hospital
hatte liegen sehen, der diesem Menschen hier irgendwie ähnlich sah, und mich schauderte.
Der andere bemerkte, daß ich ihn anstarrte, und er schaute hoch und blickte mich nun seinerseits direkt an. Er nickte.
„Guten Tag, Sir“, sagte er freundlich.
„Guten Tag“, erwiderte ich und zögerte, „--- verzeihen Sie, daß ich Sie eben so beäugte … ich
war völlig in Gedanken. Ich habe es nicht so gemeint. Vergeben Sie mir.“
„Oh bitte, junger Mann“, sagte er leichthin, fast amüsiert, und damit war das Thema für ihn
erledigt, er blickte in die andere Richtung.
Ich dagegen musterte ihn weiter vorsichtig aus dem Augenwinkel und fügte das, was ich sah,
zu dem, was ich vorher beobachtet. Ich entsann mich, daß er ein ebenmäßiges, schmales, in
sich ruhendes, fast heiteres Gesicht besessen, über dem das schüttere, weiße Haar lohte. Er
war recht betagt, ohne Zweifel, am Beginn wohl des sechsten Lebensjahrzehntes, aber er lief
noch munter über diese Erde, anders als jener schreckliche Leichnam gestern in der Kammer
hinter der frommen Schwester. - Von ferne erinnerte er mich auch an meinen Vater, dessen
ich schon so lange und so ungern entsagte. Wiewohl, mein Vater war nie weißhaarig gewesen,
denn das Alter hatte er nicht erreicht – gleichviel, mir war, als hätte dieser da der Vater sein
können, hätte jener heute noch gelebt. Er wirkte indessen, anders als der Vater, recht wohlhabend, es mußten ein guter Schneider, ein erster Schumacher, ein exzellenter Handschuhmacher sein, die ihn eingekleidet, Beinkleider und Schuhe waren kostspielig ausgesucht, der
Stock mit goldenem Knauf versehen, Halstuch, Handschuhe und Pelerine aus feinstem Gewebe. Der Fremde war ohne Hut, was mich ein wenig erstaunte - er würde es gleichwohl län-
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ger auf dieser Bank aushalten als ich, weil sein Mantel der wesentlich wärmere schien - und
ich, wie bemerkt, noch immer großenteils die Stücke des seligen Mr. Hamlet trug.
Es gelang mir gerade in rechter Zeit, mein Gesicht wieder nach vorn zu kehren, als der
Fremde den Kopf wendete, nun nahm ich ihn nur noch undeutlich im Augenwinkel wahr.
Was mochte er hier tun? fragte ich mich, denn ich fühlte, wie er mich bannte - welches Problem mochte ihn quälen, daß er so spät im Jahr auf der Bank saß wie ich, zumal es jetzt dunkelte.
„Geht es Ihnen gut, junger Mann?“ fragte er sanft.
„Bitte?“ - ich fuhr erschreckt zusammen und drehte den Kopf von der Seite. Nie zuvor hatte
mich von sich aus ein so wohlhabender, manierlicher Herr angesprochen.
Ich sah, wie er mich intensiv aus gütigen Augen musterte. „Nun, nur, ob es Ihnen gutgeht, Sir
… Sie sehen nicht so aus, als ob dies der Fall sei - verzeihen Sie, junger Mann, falls ich mich
in Ihre Angelegenheiten mische …“, – seine Stimme klang besorgt.
Ich sah ihn an. „Mir geht es … mir geht es …“, stammelte ich halblaut, sinnlos vor mich hin,
und ich war zuerst nicht in der Lage, diesen Satz, wie auch immer, zu beenden. Zu sonderbar,
befand ich es auch, daß er mich angesprochen.
„Mir geht es gut“, preßte ich schließlich hervor, „mir geht es gut“, doch dies geschah zugleich
mit einem Sturzbach an Tränen, der mir plötzlich unstillbar über die Wangen rann und ein
hartes Schluchzen brach sich aus meiner Kehle Bahn. Von einem Moment zum anderen saß
ich dort, weinte schrecklich wie ein Kind – oh wie lange hatte ich dies nicht getan! – und es
war mir sonderbarerweise vollständig gleichgültig, was der fremde Gentleman, den ich nie
zuvor gesehen und den ich nie danach wieder treffen würde, davon halten mochte! Zuviel
lastete mir auf der Seele, zu Gräßliches hatte sich ereignet, zu große Furcht verspürte ich hinsichtlich der dunklen Zukunft. Zu große Unsicherheit und Unwissenheit und Liebe um meine
arme Io quälten mich – also weinte ich wie ein Kind – dies hinter den winterlich toten Büschen war ein guter Platz dafür – und ich scherte mich keinen Deut um jenen anderen, den
Fremden, der dessen Zeuge ward.
Dieser – wie anders – war von meinem Ausbruche sichtlich betroffen gleichermaßen wie unangenehm berührt, selber bestürzt, wie er denn reagieren sollte – wie oft immerhin geschieht
es uns, daß einen ein Fremder, den man augenblicks zuvor noch nicht gesehen oder gekannt,
sofort mit seinen intimsten Tränen behelligt?!
„Sir?“ erkundigte er sich anteilnehmend, „kann man Ihnen beistehen?“
Ich winkte schwächlich ab und versuchte, zu mir selbst zu finden. Er fingerte, schien es mir,
unentschlossen in seiner Tasche und reichte mir dann ein reinliches, linnenes Taschentuch mit
Monogramm herüber.
„Danke“, stammelte ich, „danke“, nahm es indessen entgegen und trocknete mir das Gesicht. Hinterher saß ich tränenlos da, sonderbar erleichtert, obwohl ich mich dafür schämte, und
stellte mir die lächerliche, die komische Frage, die sich ein jeder, der einmal in dieser unsäglichen Situation war, gestellt hat: Sollte ich nun das durchnäßte Taschentuch zurückerstatten?
Ich faltete es auf meinen Knien. B.R.H. lauteten, nahm ich schließlich wahr, die Initialen. Es
gab sogar eine Art Wappen darauf, und gerade diesen Eindruck machte dieser Herr.
„Junger Mann, Sir“, sprach der vornehme Fremde schließlich, „es mag dies zwar unorthodox
sein, aber vielleicht … Sie brauchen sich schließlich nicht zu scheuen, denn Sie kennen mich
nicht - und werden mich nicht wiedersehen, und ich bin meinerseits zu nichts verpflichtet,
weil ich Sie nicht kenne … vielleicht also mag gerade die Tatsache, daß wir uns so gänzlich
fremd sind, der richtige Boden dafür sein, daß der Ältere dem Jüngeren einen Rat erteilt…?“
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Ich sah dieses kleine, hilflose, verzweifelte Gesichtchen durch das rückwärtige Fenster der
schwarzen Kutsche, die blutleeren Lippen aufgerissen zu einem unhörbaren Schrei ...
„Ich suche ein Mädchen“, stieß ich hervor.
Der weißhaarige Herr wiegte den Kopf und lächelte fein. “Das, verzeihen Sie mir, hätte ich
mir fast auch ohne Ihren Hinweis gedacht“, sprach er zurückhaltend, und als er mich erstaunt
aufblicken sah, fügte er hinzu: „Oh, in Ihrem Alter, junger Mann, geht es immer um ein Mädchen. Ich erinnere mich nur, ob Sie mir glauben oder nicht, selber noch allzu gut genug
daran.“ Es war ein warmes, ein gütiges Lächeln, das er mir schenkte und das mich sehr für ihn
einnahm.
„Sie muß sich in den Mauern dieser Anstalt befinden - die, die ich suche“, sagte ich.
„Oh je“, sprach er mitleidvoll, „das in der Tat macht die Sache schwieriger. Ist sie denn …“
Er vollführte eine vorsichtige, gleichwohl bezeichnende, fragende Geste zur Stirne hin.
„Nein, das ist sie nicht“, stieß ich zornig hervor. „Sie ist, Gott im Himmel, so gesund wie Sie
und ich! Sie wird hier lediglich gefangengehalten!“
„Gefangengehalten?“ rief er aus und konnte seinen Unglauben in dieser kurzen Sentenz nicht
ganz verbergen. Gleichzeitig spürte ich, wie er es sich dringend angelegentlich sein ließ, mich
zu trösten. „Hören Sie, wissen Sie, junger Mann“, sagte er, „das King’s Bench Prison liegt,
wie der Name schon sagt, wenn auch hier in Southwark, so doch entschieden weiter vorn am
Fluß. Dort wird man in der Tat gefangengehalten, übrigens nur, wenn man gröbliche Schulden hat. Hier dagegen wird man aufbewahrt, und dies auch nur, wenn man erkrankt ist - Hilfe
braucht, verstehen Sie -. Dies ist in der Regel gemeint als eine medizinische Maßnahme.“
Daß er des King’s Bench Erwähnung getan, jener gräßlichen Stätte, gar nicht weit von hier,
die seit Jahrhunderten geradezu notorisch war, der Ort der gröblichsten Ungerechtigkeit innerhalb der vereinigten Borroughs zu heißen, flößte mir einen Widerwillen ganz sonderbarer
Art ein. Den wohlhabenderen Insassen wurde in diesem Karzer „Freiheit von den Regeln“
gewährt, wie man wußte, was bedeutete, daß diese Leute die Anstalt verlassen und sich jederzeit in einem Radius von drei Meilen frei bewegen durften, welches im übrigen den Besuch
von Tavernen und anderen Lustbarkeiten einschloß. Dabei gab es hinter der fast dreißig Fuß
hohen Mauer selbst jede erdenkliche Form von Zerstreuung, sogar Gin-Ausschänke waren
dort anzutreffen – wie im übrigen Schneider, Barbiere, Hutmacher, ja, Pianobauer, Kerzenmacher und Austernverkäufer. Diese Institution ließ, wie jedermann wußte, die reichen Insassen sich mit eigenen Köchen versehen – man speiste in den Zellen dort nobel und mit Stil die Bekanntesten wie seinerzeit der Richter Jeffreys verkehrten daselbst mit ihren Weibern, so
daß sie im Grunde nur die Kosten eines eigenen Domizils versparten. Die Armen dagegen,
sagte man, verzehrten wie die Motten ihre eigenen Kleider, ich hatte die Elendsgestalten
selbst gesehen, wie sie durch das vordere Gatter die Blechbüchsen heraushielten, um von den
Passanten zu betteln. Es gefiel mir nicht, meine Io in den Bereich solcher Assoziationen gerückt zu sehen. Ich musterte meinen vornehmen Nachbarn.
„Haben Sie je von einem Dr. Copeland gehört?“ erkundigte ich mich.
Ich sah ihn mich anstarren. „Ich wüßte nicht, nein – wer sollte das sein?“
„Das muß einer der leitenden Ärzte hier sein“, erklärte ich. „Und das ist der Mann, der dieses
Mädchen hier gefangenhält.“
Er schnalzte halb erschrocken, halb begütigend mit der Zunge, winkte mit den Händen besänftigend ab und meinte: „Lieber, junger Mann, bedenken Sie, was Sie hier vorbringen. Ich
will Ihnen ja jedes Wort gerne glauben, aber das ist doch ein wenig ungeheuerlich, finden Sie
nicht? Ein Arzt, immerhin doch, denke ich, ist ein Arzt, nicht wahr, und kein Brigant?!“
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„Er ist schlank, stets gut gekleidet, er besitzt …“, ich deutete fahrig auf meine Oberlippe, „…
er besitzt hier eine Verfehlung … er trägt einen grauen Bart … kennen Sie ihn?“
„Ob ich ihn kenne?“
Als ich dem fremden Herrn, der auf der Bank mit mir saß, nun ins Antlitz schaute, erkannte
ich, daß ich soeben dabei war, alles, was er an Sympathie vielleicht für mich verspürt haben
mochte, gröblich aufs Spiel zu setzen.
„Er hat also eine Verfehlung?“ fragte er mich reserviert. „-- Wissen Sie, junger Mann, ich
halte dies für eine recht aufgeklärtes, modernes Zeitalter … Wir sollten daher bald darüber
hinauskommen, andere Menschen nach derlei Äußerlichkeiten zu beurteilen.“
Es machte mich nachgerade wütend, ihn das aussprechen zu hören, was ich vor gar nicht langer Zeit in anderem Zusammenhange ja durchaus selbst gedacht. Es erzürnte mich meine so
denkbar qualvolle Machtlosigkeit, mich in einfachsten Dingen offenbar nicht verständlich
machen zu können.
„Die Gouvernante, die seine Kinder hütet“, stieß ich zornig hervor, „ist letzte Woche in den
Abwasserkanal einer alten Gerberei gestopft worden, unfern der Stelle, da er wohnt. - Ihr war
dem Vernehmen nach das Herz herausgerissen.“
Nun sprach er gar nichts mehr, sondern sah mich nur noch an … mit einer Mischung aus Empörung und Verwunderung. Doch in mir gärte grenzenloser Groll – uneingedenk dessen, daß
er mich inzwischen vermutlich wirklich für einen der hiesigen Insassen hielt. Die Geschichte
war auch gar zu arg. Ich konnte mich im Grunde glücklich schätzen, daß er nicht einen der
Wächter, die, wie ich längst bemerkt, im Park patroullierten, herbeirief, um mich arretieren zu
lassen.
Statt dessen machte er nur unmißverständliche Anstalten, sich von der Bank zu erheben.
„Sir“, sprach er dazu förmlich, „ich denke, wir haben uns nichts mehr zu sagen.“
„Aber ich bitte Sie“, rief ich flehentlich aus, „bitte warten Sie!“ – und als er mir diesen Gefallen tat, warteten wir beide eine schickliche Zeit ab, um die Konversation erneut beginnen
zu können. „Haben Sie“, fragte ich, „verzeihen Sie, jemanden von Ihrer Familie hier?“
„Oh ja“, sagte er matt, „gelegentlich.“
Und dann schwiegen wir beide wieder.
Ich hatte mich hauptsächlich erkundigt, um etwas Konziliantes, Belangloses vorzubringen.
Erst sehr allmählich dämmerte mir, was ich da eben gehört, und mir sank buchstäblich der
Mut herunter. Nicht ich ... sondern er ...! Das Monogramm auf seinem Taschentuch, BRH,
stand nicht für einen hohen Namen, sondern vermutlich für „Bethleham Royal Hospital“.
Deshalb trug er keinen Hut ...
Ich blickte ihn höchlichst überrascht an und sah, daß er mich die ganze Zeit beobachtend gemustert - mit überaus kühlem Gesicht, wachsam, auch enttäuscht, nicht mehr mit der warmherzig zugewandten Freundlichkeit noch vom Anfange unserer Unterhaltung.
„Nun?“ meinte er ernst, „was haben Sie erwartet - daß wir hier alle mit Geifer vor dem Maule
herumlaufen, oder daß wir absonderliche Zuckungen zeigen oder ...“ er neigte nachsichtig den
Kopf, „vielleicht körperliche Mißgestalt?“
„Gütiger Himmel“, murmelte ich, „können Sie mir vielleicht ... vielleicht vergeben – ich bin
ein solcher ... oh Gott, haben Sie ein Nachsehen mit mir!“ Ich bedeckte einen Augenblick mit
der Hand den Augen. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Sir. Verzeihen Sie wohl, es liegt
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daran, daß ich in jüngster Zeit beständig in Situationen gerate, die ... – Immerhin, ich wußte
nicht ...“
„Daß man uns herausläßt? Oh, warum nicht, junger Mann, solange das Wetter es zuläßt! Wir
sind allerdings in der Tat nur wenige, denen das erlaubt ist. Einige, heißt es, sind ... unruhig,
und die kommen naturgemäß nicht heraus. Niemals an Sonne und Licht - arme Geschöpfe.
Immer nur Waschungen und Bäder .... Kopfkühlungen, Herbeiführungen von Abszessen, Einschließen in Schleudermaschinen ...“
Er sann einen Moment nach. „Ich mag generell das Wort geisteskrank nicht, Sir“, erläuterte er
müde „– ich nenne es lieber seelenkrank. Das, scheint mir, trifft es wohl besser, wiewohl,
werden Sie mit Recht einwenden wollen: Wir wissen ja gar nicht, was die Seele ist - oder der
Geist.“ Er schaute mich aus plötzlich dunklen, sorgenvollen Augen an. „Zum Geist, junger
Mann, will ich nichts anmerken – da kenne ich mich nicht genügend aus. Die Seele jedoch,
das will ich Ihnen getrost sagen, ist ein weiter, dunkler Raum, in dem wir uns leider denkbar
schlecht zurechtfinden. Die Seele, mein Freund, ist ein Boot auf einem dunklen Ozean, auf
dem mehr Gefahren drohen, als uns lieb ist. Es gibt dort Ungeheuer, die uns in die Tiefe ziehen, so daß wir ... manchmal des Nachts ... glauben, keine Luft mehr zu bekommen und
ersticken zu müssen. Und andererseits wieder ist die Seele wie ein Vogel, frei und offen, aber
auf dem Flug in ewig finsterer Dämmerung, ohne Anfang, ohne Ende ... ohne Sinn ... Ein
kühner, ein tapferer Phoenix, aber so allein ... so verzweifelt, so recht hungrig ... und müde ...
müde ... - Wissen Sie, Sir, daß es Naturvölker am anderen Ende der Welt gibt, die glauben,
die Seele sei verschlossen in einem Ei?“ Er zeigte die Größe eines Eies mit der Hand und lächelte wieder etwas verlegen wie zu Beginn des Gesprächs, jedoch nur kurz.
„Aber daran glaube ich nicht“, schloß er. „Denn wenn es so wäre, dann hätten wir Menschen
... längst die Schale entfernt.“
Es klang bitter. Ich war nicht sicher, ob ich alles verstanden hatte, was er gemeint, und ich
fragte mich, ob es deswegen war, daß er hier sein mußte.
„Hören Sie“, sagte er. „Sie müssen sich, glaube ich, entscheiden, ob Sie sich an diesem Arzt
rächen oder ob Sie Ihr junges Mädchen finden wollen. Ich kenne Ihren Dr. Copeland nicht,
besser müßte ich sagen, ich kannte ihn nicht. - Natürlich habe ich ihn nach Ihrer unfreundlichen Beschreibung sofort erkannt, ich wußte nur seinen Namen nicht. Ich habe ihn als jemanden erlebt mit sehr wohltuenden, sehr gütigen Händen. Ein Samariter, ein Schamane, ein Weiser und kluger Mensch. Aber das zu hören wird nicht Ihr Interesse sein.“
Er machte eine Pause. Ich schwieg, denn ich spürte, er hatte mir noch etwas mitzuteilen.
„Deshalb, weil es etwas aus dem Umfeld dieses von Ihnen so sehr gehaßten Arztes sein muß,
zähle ich eins und eins zusammen und weiß, wen Sie meinen, wenn Sie von dem Mädchen
reden, Sir. Denn ich habe sie gesehen ... ja, Sir ... ich habe sie gesehen ... sie ist hier.“
Ich fühlte, wie mein Herz zwei, drei Schläge lang hart aussetzte, ich fühlte mich wie in einem
toten, dumpfigten Raum, ohne Boden, ohne Luft, und wie in einem endlosen Sturz in eine
schwindelnde Leere.
Mein Gegenüber reckte seinen Zeigefinger gegen mich aus. Sein Gesicht sah nicht mehr finster aus wie noch eben zuvor, nur überschattet von einer gespenstischen, hellsichtigen Trauer,
so als durchschaue er die Zukunft wie einen klaren Bach.
„Sie werden ihr schaden“, sagte er leise, und es klang Schmerz in seiner Stimme, „Sie werden
für Ihren Tod verantwortlich sein, mein Freund. – Sie werden ...“ – und hier biß er die Lippen
zusammen. „Sie werden Ihr Ziel nicht erreichen ...“
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Er nickte, zog sich auf sonderbare Weise in sich selbst zurück, der alte Mann am anderen
Ende der Bank. Ich sah sein Gesicht ... wie soll ich es nennen? ... in der Dämmerung verblassen, gegenstandslos werden. Er senkte den Blick auf seine Handschuhe, schien seine Gedanken zu konzentrieren und richtete sich letztmalig an mich.
„Lassen Sie das Kind“, sagte er leise. „Vergessen Sie sie - Sie ist glücklich hier und unter
ihresgleichen. Sie werden sie dereinst nur töten und sich selbst unglücklich machen damit. Ich
bitte ...“
Ich schaute ihn wehe an. „Woher wissen Sie das ... wollen Sie das wissen? - Nennen Sie mir
Ihren Namen, Sir?“
Er lächelte, ganz klar und ganz bei Sinnen, ein wenig melancholisch möglicherweise.
„Das letztere hätte meine Familie nicht so gern“, murmelte er. Er nickte mir nachsichtig zu.
Und dann erhob er sich, ohne ein weiteres Wort, und stapfte in die Richtung davon, aus der er
gekommen, mit dem, nein - noch nicht gebrechlichen, aber doch vorsichtigen Gang der alten
Leute, auf seinen Stock mit dem goldenen Knauf gestützt ... und bald war er hinter dem kahlen Geäst des Parks verschwunden. Ich hielt in der Hand sein Taschentuch, BRH.
Ich verharrte noch dort auf der Bank, begann zu frieren, und ... gleichwohl ... mein Kopf war
im Taumel. „Glücklich ist sie hier, glücklich hier“, hallte, was er gesagt, in der Erinnerung
wieder. - Aber keinen Tag lag das zurück, wie sie wie ein blasser Geist aus dem hinteren Fenster der rasenden Kutsche gestarrt und mich mit aufgerissenen Augen angesehen. Glücklich?
Glücklich?! Da war sie, bei Gott, nicht glücklich gewesen ...! Und jetzt war sie hier, in diesem
Hause und zu dieser Sekunde, irgendwo, keine dreihundert Yards von mir entfernt – und irgendwie deuchte es mich, daß ich doch nur den rechten Mut fassen und aufzubrechen brauchte, um sie an mich zu reißen und aus dem Labyrinth dieser Anstalt zu entführen ...
Bald machte ich mich auf, bevor endgültig der Abend sinken würde - zögernd, bedächtig,
voller Angst – und kehrte auf den zentralen Weg zurück, der hinauf zum Eingange führte. Der
Kies knirschte, allenthalben war das halblaute Geschwätz, auch leises Lachen zu hören - froh
war ich, nicht der einzige zu sein, denn etliche andere strebten gleich mir dem Gebäude zu, so
daß es mir schien, als müsse es mir gelingen, völlig in der Masse unterzugehen. Den alten,
seltsamen Mann sah ich indessen nicht, mit dem ich mich zuvor unterhalten - den grausen
Künder und Propheten, von dem ich glaubte, er müsse hier irgendwo im engen Umkreise sein,
um in das Asyl, in den nächtlichen Hort zurückzukehren. Die Pegasusfiguren grüßten hoch
von den seitlichen Risaliten, tanzten in der Dämmerung, wurden im nächsten Atemzug oberhalb der Dächer unsichtbar, als ich dem Gebäude zu nahe trat, um sie aus meiner Perspektive
noch zu erblicken.
Dort vorne öffneten sich die Bronzetüren. Freundlich gekleidete Pfleger und weibliche Gehilfen standen beiseite, hübsche junge Frauen begrüßten die Ankommenden, legten dem einen
oder anderen zutraulich die Hand auf die Schulter und zogen sie herein – fast als ob die Mitglieder einer Familie in den Schoß derselben heimkehrten. Und es waren in der Tat, wurde
mir mählich klar, die Mitglieder von Familien, die hier ihre Verwandten heimgeleiteten ins
Obdach der Nacht, oder Kranke, die allein einige Schritte im Park oder wohl auch einen Ausflug nach jenseits der Sperre getan, und die zurückkehrten in die Sicherheit ihres Refugiums –
so hatte ich es mir nicht vorgestellt.
Schon befand ich mich unter denen, die sich zuvorderst durch die Türe schoben. „Sir?“ – ein
junger Mann berührte mich seitlich sacht am Arm – ich fuhr gleichwohl zusammen wie von
höllischem Schrecken - der junge Mann blickte mir ins Gesicht, hatte mich erkannt, zumindest durchschaut, daß ich nicht hierhergehörte.
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„Ich wollte Dr. Copeland sprechen“, stammelte ich, „Dr Gideon David Copeland“ – in einem
augenblicklich hoffnungslosen Glauben, als enthalte diese höchst alberne, vermeintlich genauere Kenntnis seines Namens bereits die Berechtigung auf sicheren Einlaß an dieser Pforte.
Der junge Mann sandte einen kurzen, ausdruckslos routinierten Blick in den bedeckten Himmel, wie um die Zeit abzuschätzen und sprach: „Oh ich glaube, Sir, den Doktor werden Sie
um die Zeit hier nicht mehr antreffen. Sie sollten einen anderen Tag und früher wiederkehren.“ Er lächelte jemand zu, der sich gerade an mir vorbeischob, grüßte jenen mit seinem Namen.
Ich rang nach einem Argument, das ihn zwingen könnte, mir ohnfehlbar Eintritt zu gewähren,
aber mir fiel partout nichts bei.
Er musterte mich, zuvorkommend, aber absolut interesselos. „Was wollen Sie denn von dem
Doktor?“ erkundigte er sich angelegentlich. „Vielleicht kann Ihnen auch jemand anderes
weiterhelfen?“
„Das wäre durchaus möglich“, antwortete ich rasch, während in meinem Rücken weitere
Menschen nach drinnen passierten. „Ich suche einen entfernten Verwandten, den wir wieder
zu uns nehmen wollen. Er litt an Dämonomanie. Er sei, hieß es, mehrere Wochen in einem
Asyl auf dem Lande, aber als wir dort nun nachfragten, hat man uns hierher verwiesen.“
„Nun gut“, sprach der junge Mensch. „Vielleicht gehen Sie einfach hinein und lassen sich von
der Aufseherin beraten. Sie könnte immerhin in den Listen nachsehen, die wir führen. Die
Aufseherin“, fuhr er freundlich fort und zeigte mit dem Finger auf die Tür, die er hütete,
„werden Sie sofort erkennen, Sir, sie sitzt an dem Katheder gegenüber unter der Uhr. Wenden
Sie sich getrost an sie. - Oh, ich grüße Sie, Mr. Alquist ...“ und damit galt seine Aufmerksamkeit bereits jemand anderem, hinter mir.
Ich murmelte unhörbar ein Dankeswort, wahrscheinlich eher zu Gott als zu ihm, und trieb mit
dem Strome hinein. Noch ein anderer junger Mensch stand an der Türe, aber an ihm
schwamm ich in einer Sekunde vorbei, ohne seine Aufmerksamkeit im Mindesten zu erregen.
Innen war es wie in einer Bank oder in Goldsmith’s Hall in Foster Lane, nicht unfeierlich –
man vergaß ganz, an welchem Platze man sich befand. Die weiße Decke lag hoch und in zurückfallender Dämmerung, es brannte noch kein Licht, der Laut der Stimmen herinnen schien
moderat, die Schritte der Gehenden hallten durchaus anheimelnd auf den Fliesen. Sobald man
nur die unmittelbare Enge der Passage an den Eingangstüren hinter sich gelassen, verliefen
und verloren sich die Eintretenden sogleich in der Weite des Raums. Einige andere standen
dort im näheren Bereich, wie wartend, und blickten den Eintretenden entgegen - verwirrte
Gestalten in sonderbar flüchtiger Bekleidung, die mir gleichwohl ein unbehagliches Gefühl
der Beunruhigung vermittelten. Mein Herz schlug ...
Gegenüber erblickte ich von bronziertem Stahl die angekündigte Uhr hoch an der Wand, mit
römischen Ziffern, und darunter, wie versprochen, das Pult der Aufseherin. Dies war eine
überaus gestandene Dame, im Grunde nicht unähnlich meiner Mrs. Hamlet - aber im Unterschied zu jener in eine Art Schwesternornat gehüllt - mit Tinte, Feder und einem beeindru kenden Folianten vor sich liegend. Jener mochte am Ende diejenige „Liste“ sein, von der der
junge Mensch am Einlasse gesprochen, das Verzeichnis mit den Namen all jener, die hier
Unterkommen und Herberge gefunden – gleichviel, schoß es mir durch den siedenden Kopf:
Nach welchem Namen hätte ich bescheiden fragen sollen? Nach Io, vielleicht „meiner Io“
mich zu erkundigen verbot sich naheliegend in dem nämlichen Maße wie: nach gar keinem
Namen zu fragen, sondern statt dessen einem französischen Wort - oder gar einer Patientin,
die die Flöte spielte, Einhörner liebte und Gedichte schrieb ... Nach einem Dr. Copeland mich
heuchlerisch zu erkunden, hätte ich tun und unterlassen können – ich wußte ja nun bereits,
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daß er nicht anwesend war. Zudem, was wollte ich von ihm – ich wußte nur, daß ich ihn meiden mußte -In der Minute, die ich dort tändelnd stand, einerseits beglückt darüber, daß mich eine geheimnisvolle, gütige Hand durch Klippen und Strudel sicher bis hier hereingeführt, andererseits der
Verzweiflung völlig anheimgegeben, wenn ich den weiterhin zurückzulegenden Weg auch
nur bedachte! – wo fand sich - bei Gott - der Haken, der Hinweis, der Griff, den ich zu packen
imstande war, der endlich diese Geschichte befördern und mich der Rettung dieses Menschenkindes näherführen oder mir wenigstens ihren Namen würde verraten können, sie, die
ich in unmittelbarer Nähe wußte, und doch ferner als der Mond -, in dieser Minute, sage ich,
die ich dort verharrte, tat sich - rätselhaft - ein neuer Weg auf, der - gänzlich anders als zuvor
vermutet - mich in eine Richtung sandte, die, denke ich vom heutigen Standpunkt aus darüber
nach, obskur zwar und undurchschaulich, gleichwohl vom Unendlichen gelenkt scheint und
vermittelt - ich stand dort und haderte noch, wie weiter zu verfahren, als ich sah, daß jemand
mir von ferne winkte.
Ja ... mir winkte ...! - ich registrierte dies und fragte mich verblüfft, wie geschah mir da? - mir
an diesem Orte winkte, als ob er mich erwartet!
Der, der dort die Hand erhoben und mich Aug in Auge maß, war ein bereits älterer Mensch,
nein, nicht jene Bekanntschaft von der Bank heraußen eine halbe Stunde zuvor - ein anderer,
Unbekannter, der um einiges von dem Katheder der Aufseherin unter der Uhr entfernt linkerhand gemeinsam mit einigen anderen auf einer Reihe großenteils leerer Bänke saß. Er
hatte eine Art Frisur, als ob er niemals seine Haare bürste, denn diese standen aufrecht, grau,
weiß an den Schläfen, ein voller Schopf, keine Anzeichen von Kahlköpfigkeit ausnehmbar,
jener Mensch war gekleidet, daß er in der Menge nicht aufgefallen wäre, jedoch – und dies
berührte mich im Zusammenhange der Sachlage, mit der ich beschäftigt war, sonderbar: Er
ward versehen mit einer Mappe unter dem rechten Arme, wie Künstler, zu sagen Maler, sie
üblicherweise bei sich tragen - ein größeres Portefeuille für Skizzen - und er saß dort, hielt die
Mappe an seiner Seite aufrecht und, ganz offensichtlich, winkte mir.
Daß er mich meinte, daran konnte kein Zweifel gelten. All die nicht wenigen Menschen um
mich herum, die hereingedrängt, Gäste des Hauses wie Insassen, gleichviel, bewegten sich in
der Halle zu ihren jeweils gesicherten Zielen, nur ich - ich war der einzige, der inmitten dieses
Flusses verzagt stillestand - ohne zu wissen, wohin mich zu wenden, denn die Aufseherin
unter der Uhr anzusprechen, scheute ich mich aus mancherlei verständlichem Grunde. - Ich
also als einziger war der, den er meinen konnte – jener Mensch, der von der Bank mir Zeichen
gab. Ich neigte, wie ihm zum Verständnis, den Kopf, und ich näherte mich ihm, bereit zu erfahren, was immer sich mir in seiner Person offenbaren würde.
„Ah, bonjour“, sagte er, als ich nähertrat, „asseyez-vous, mon cher, s’il vous plaît“, und deutete zu seiner Rechten auf die freie Fläche auf der Sitzbank.
Mir war, offen gesagt, schon aus seinem Äußeren, den erwähnten verwirrten Haaren auf seinem Kopfe und der gänzlich unangebrachten Zeichenmappe zu seiner rechten Seite - schon,
als er mir gewunken - klar gewesen, daß mir ein gleiches wie heraußen im Park nicht ein
weiteres Mal unterlaufen würde: nämlich daß ich einen Insassen dieser Institution nicht auf
ein erstes Ansehen hin erkannt, – ja, mir war instinktiv offenbar gewesen, daß dieser sonderbare Zeitgenosse ein unmittelbarer Einwohner dieses Tollkobens sein mußte, - ich näherte
mich ihm also in der schicklichen Art und setzte mich neben ihm nieder, die ganze Zeit dessenthin schmerzhaft bewußt, daß dies der allemal bessere Weg war, sich hier herinnen überhaupt aufzuhalten - als etwa die Aufseherin an der Stirnseite der großen Halle unter der Uhr
mit lächerlichen Fragen nach Asyl-Insassinnen, die Einhörner liebten, zu behelligen!
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„Service, mon ami“, sagte der Fremde in der Sekunde, und er lächelte befriedigt, als ich neben
ihm, auf der Seite der Mappe, platznahm. Wir fixierten uns, Aug in Auge. Er gab sich also für
einen Franzosen aus.
Er hatte ein bemerkenswertes Gesicht, es wirkte, wiewohl sympathisch, auf eine nicht alltägliche Weise wach, fast raubtierhaft, mit bösen, kleinen Augen und einem spitzen Mund und
bildete so einen sonderbaren Kontrast zu dem durchaus teuren Tuch seines Anzugs. Weste
und Kragen der Jacke hatte er hochgeschlagen, die Halsbinde bis ans Kinn gezogen, so als ob
ihn fröre.
„Vous-êtes français, Monsieur?“ heischte er zu wissen.
„Non“, sagte ich geradeheraus.
„Mais vous parlez notre langue?“
„Pas assez“, brachte ich hervor und erschöpfte damit auch schon ungefähr zur Gänze das, was
in dieser fremden Zunge zu sagen ich überhaupt imstande war.
„Ah .. désolé“, sprach er bedauernd, „und ich glaubte schon, Monsieur, ich könnte mich im
Laut meiner Muttersprache mit Ihnen verständigen ... schade, nun denn, sehr schade ...“
Sein Englisch war fließend, wenngleich mit hörbarem Akzent – und doch, bereits die ersten
Silben, die er sprach, machten mir klar, daß, sollte es wirklich darauf ankommen, es in der Tat
keine Schwierigkeit haben würde, mich in meiner eigenen Sprache mit ihm zu unterhalten. Er
war zu meiner Verwunderung indes unleugbar in der Tat ein Franzose - dies war kein Streich,
den er mir spielte, keine Maskerade - und mich frappierte die Frage, was am Ende ein französischer Melancholiker oder Hysteriker in einem englischen „Narrenturm“ zu suchen hatte.
„Mein Name ist Ambroise Tardieu“, stellte er sich vor. „Ich warte, wie Sie, nehme ich an,
darauf, vorgelassen zu werden. Wie lautet gleich Ihr werter Name, mon jeune copain?“
Ich nannte ihn ihm.
„Domenic Holland!“ replizierte er. „Ah bon, quel joli nom, monsieur! Gleich, als Sie herüben
hereintraten, hatte ich das Gefühl, wir würden uns gut verstehen, immidiatement, vous comprenez? - ich wußte, wir teilten absolument die gleichen Interessen, - ich ahnte, wir seien Verwandte des Geistes. Sie sind natürlich auch Künstler?“
Ich warf einen vorsichtigen Blick auf die ledergefaßte Mappe unter seinem Arm und dachte
an den kümmerlichen Stift und den Papierblock in meiner Weste. Ich mußte unwillkürlich
lächeln. „Nein“, bekannte ich, „ich bin ganz gewiß kein Künstler.“
„Ah, ja, und behufs wessen sind Sie dann hier?“
„Ich wollte nur um Audienz bei einem Arzte einkommen“, belog ich ihn, scharf an der Wahrheit vorbei.
Er nickte, schaute mich mit Interesse an und nagte an seiner Unterlippe. Er wies mit der Hand.
„Sie könnten natürlich der Vestalin dort an Ihrem Pulte Ihre Aufwartung machen, sie wird
dann bedeutsam in ihrem Buche blättern, eventuell sogar Ihren Namen, wenn Sie ihn ihr
buchstabieren, in Tinte verewigen, ich bezweifle jedoch, daß all dies Ihr Ansinnen in irgendeiner Weise auch nur um eine Minute befördert. Sehen Sie, ich harre jetzt hier seit zwei Stunden, wie die vorzügliche Uhr dort drüben nicht unterlässt, mir geduldig Auskunft zu erteilen.
Dabei wollte ich nur zu einem Patienten vorgelassen werden, mit dem ich gestern bereits ...
kommuniziert ... ah, cèst énervant!“
Der Mann, der sich Ambroise Tardieu genannt, fuhr großzügig mit der Hand im Kreise.
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„Normalerweise kommt einfach jemand, wenn man sich hier niedergelassen, vous savez, ein
junger Mensch mit aufgeschlagenen Ärmeln und sauberer Weste – ich nenne ihn der Einfachheit halber Jacques – ich kenne ihn schon ... ich weiß seinen richtigen Namen nicht ... dem
gebe ich ein paar Schilling, und dann läßt er mich in die Abteilungen vor.“
Er neigte sich mir zu und sprach in unterdrückt-vertraulichem Tone: „So könnten Sie es auch
tun, mein junger Freund, wenn Sie Ihren Arzt sprechen wollen. Fragen Sie Jacques!“
Er lehnte sich wieder zurück, entfernte sich ein Stückchen von mir. „Daheim im Bicêtre bei
den Männern“, seufzte er, „und übrigens auch mit den Frauen in der Salpêtrière ging so etwas
leichter. Das ‚hôpital général’ ist doch mittlerweile etwas anderes. Da kennt man die Sprache,
da kennt man mit der Zeit die Doctores ... mon dieu, Jean Etienne Dominique Esquirol bezahlt
mich nicht für’s Herumsitzen. – Kennen Sie ihn?“
„Nein“, bekannte ich ehrlich.
„Sie kennen ihn nicht?!“ rief der Franzose in komischer Verwunderung aus. „Aber Philippe
Pinel, den kennen Sie, naturellement?“
„Ich bedaure“, sagte ich lächelnd und setzte hinzu: „Bedenken Sie: Das vereinigte Königreich
ist eine Insel, Monsieur. Sie dürfen uns hier nicht überschätzen hinsichtlich der Bewandtheit
mit kontinentalen Künstlern.“
Er lachte freiauf. „Oh, Künstler, das ist charmant, charmant. Nein, Monsieur Holland, Monsieur Pinel ist Mediziner, Philosoph, Physiker und Pathologe. Theologie hat er seinerzeit auch
studiert. Ich habe ihn in Toulouse kennengelernt.“ Er tippte mit einer drolligen, kleinen Geste
an seine Stirne und sprach: „Vernunft, Materie und Bewußtsein sind lediglich unterschiedliche Erscheinungsarten des Geistes; nur die Idee ist Wirklichkeit, verstehen Sie – deshalb bin
ich hier.“
Mochte es die Tatsache sein, daß er vom Festland stammte und deshalb kuriose Dinge sagte,
oder auch, daß sein Kopf in heilloser Verwirrung war, er bannte und faszinierte mich ungemein. Ich schaute ihn offen an, während eine Pause entstand.
„Aah, ich sehe den Zweifel auf Ihrem Antlitz“, sprach er plötzlich wohlgemut. „Vielleicht
halten Sie mich für magnetisch vergiftet? Sie verkennen mich gewiß für einen der Hiesigen,
einen der Hausbewohner, mon cher, aber dem ist nicht so – ich kann hier nachher genauso gut
herauslaufen, wie Sie – je vous l’ai déjà dit, ich tue hier nur vorerst meine Arbeit.“
„Sie tun Ihre Arbeit?“ sagte ich.
„Waren Sie einmal in Gheel?“ fragte er. „Das liegt in Belgien.“
Ich mußte lächeln. Ich fragte mich, wie lange er dies Spiel noch weitertreiben würde: Er
stellte mir Fragen, die ich immergleich beantworten mußte. Kennen Sie diesen, kennen Sie
jenen, waren Sie schon einmal da und dort? - Wollte er dies fortsetzen, dachte ich, würde ich
mich in meiner Unerfahrenheit irgendwann zweifellos fühlen wie ein eben erst der Schale
entschlüpftes Küken.
„Nein“, sprach ich, „ich Belgien war ich noch nicht, geschweige in Gheel.“
„Dort liegt Dymphna begraben, eine irische Königstochter“, sagte er. „Pauvre enfant: Sie
wurde nach der Legende von ihrem Vater immer wieder brüstig begattet. Sie versank darob in
geistige Umnachtung. Sie floh nach Gheel, wurde dort jedoch von ihm eingeholt und,
schrecklich genug, mit dem Schwerte ... décollé ... enthauptet. Sie wurde dort bestattet,
Dymphna, die Umnachtete. Viele Jahre hernach flehten an Ihrem Grabe die Pilger um Hilfe ...
wenn sie besessene Angehörige besaßen, kamen sie und beteten. Sie übernachteten bei den
Bauern in der Umgebung. Schließlich begann man, die Besessenen selbst gegen Entgelt bei
den Bauern zu lassen, damit sie möglichst nahe bei der teuren Bestatteten leben konnten.“
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Er überlegte einen Moment. „Au moyen âge, il était … bien normal de croire à l’aide des
saintes reliques pour guérir les souffrants, vous savez.“
Sein Blick ging, ohne etwas zu sehen, wenn nicht in unendliche Ferne, so doch in die weite
Dämmerung der Empfangshalle. „Die Kranken“, fuhr er fort, „erwiesen sich dabei für die
Bauern als gute Einnahmequelle, und die meisten von ihnen waren überdies durchaus in der
Lage, bei der Feldarbeit zu helfen. -- Hier liegt eine der Wurzel für den Gedanken, daß diese
armen Kreaturen am besten in Familien untergebracht seien, daß sie vor allem keine Verbrecher sind, sondern Kranke.“
Sein Blick sammelte sich, fixierte sich auf einen Punkt zu unseren Füßen, und er erklärte
sacht: „Aber lange blieb diese Erkenntnis auf Gheel beschränkt, während die Betroffenen
anderenorts nach wie vor schlimmer als Verbrecher behandelt wurden. Durch das Verschwinden der Lepra und das Ausbleiben von Pestepedemien können Besessene seit zweihundert
Jahren in leerstehenden Lepra- und Pesthäusern untergebracht werden, aber sie wurden dort in
der Regel in Ketten gelegt und geprügelt, korrupten und kriminellen Wärtern überlassen, gewalttätigen Heilungsversuchen, sinnlosen Aderlässen, Brechkuren und Sturzbädern unterzogen. Diese beweinenswerten Objekte vegetierten bei magerer Kost und in Eisen geschmiedet
brüllend und jammernd in ewiger Dunkelheit, denn nie schien auf diese Unglücklichen ein
Strahl der Sonne oder das volle Tageslicht. Sie wurden kaserniert, in die feuchten Untergeschosse ehemaliger Zuchthäuser verbannt, eingeschlossen, ausgesetzt, weggesperrt. Sie wurden exorziert, in Stadttoren gehalten oder vor die Stadt in eigens dafür aufgestellte Holzkisten
verbracht. Sie litten, solange sie überlebten, unter der größesten Unreinlichkeit der Verhältnisse, einem scheußlichen, unerträglichen Gestank, tagein, tagaus - gräßlichem Jammer, Herzeleid und Verzweiflung - unter unaufhörlichen Schmerzen des Körpers. - Ohne Aussicht auf
Besserung, jemals, Linderung, Entlassung, Erlösung. -- Kreaturen ... Bündel ... Wahnsinnige
...“
Ambroise Tardieu verstummte.
„Sind Sie Arzt?“ fragte ich nach einer Weile.
Es hatte mich zutiefst erschüttert, was er gesagt ... nein - nicht nur, was er gesagt - nicht nur,
wie er es gesagt, sondern abermals die Erkenntnis des eigenen fatalen Irrtums. Dort draußen,
jener andere, den ich nicht hatte den Unglücklichen zuordnen können, und hier der umgekehrte Fall, abermals, daß ich mich grob getäuscht, und statt dessen einen Gesunden in der Tat für
einen von jenen gehalten ... Ich verstattete mir, insgeheim zu denken, daß dies einer gewissen
Komik nicht einmal entbehrte - hätte es mir andererseits nicht ein so beklagenswertes Urteil
über meine Menschenkenntnis ausgestellt.
„Arzt ... ob ich Arzt bin“, faßte er sich. „Mais non, mon cher, ich sage doch, ich bin Zeichner,
Lithograph - ich bin Maler, wenn Sie so wollen ... Philippe Pinel ist Arzt, er hat zweifellos
viel zur Verbesserung der Sachlage beigetragen. Wenn wir ihn nicht hätten, würden wir den
Kranken wahrscheinlich noch durch Entfernen der ‚materia peccans’ zuleibe rücken, wie Celsus das einst anempfahl. Certainement: Wir würden nach wie vor die vier Körpersäfte reinigen: Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle ...“
Maler ... der Begriff schlug im Augenblick eine Glocke in mir an, die vor einiger Zeit zuletzt
erklungen. Durch den scheußlichen Tod der Asuncion Lozano, da der teuflische Dr. Copeland
sich in meine Aufmerksamkeit drängte, durch die geisterhafte Erscheinung meiner leibhaftigen Io in der davonrasenden Kutsche, schien ich im Augenblick fast geneigt, mein Interesse
von Sir Enid Luciter und dem Maestro Giovanni Battista Condonniere abzuziehen, was ein
Akt gefährlicher Leichtfertigkeit sein mochte. Hüte dich, Domenic Holland, sprach ich bei
mir selbst, vor weiteren Fehlern – und wußte stillschweigend, daß ich sie begehen würde.
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„Ich will die Verdienste Ihrer Landsleute bei all dem nicht schmälern, n’est-ce pas ...“, sagte
Ambroise Tardieu. „Kennen Sie William Tuke? Er ist Quäker, hat vor gut zwanzig Jahren
oben in York ein privates ‚madhouse’ errichtet, hat es ‚The Retreat’ genannt, ein programmatischer Name. Ein schöner Name. Er berief sich auf David Hume.“
„Von Hume habe ich etwas gelesen“, warf ich schnell ein, bevor er mich fragen konnte, ob
ich ihn kennte.
„Nur sinnliche Wahrnehmung und geistige Vorstellung ist die Grundlage des Erkennens.“
Ambroise Tardieu nickte mit dem Kopfe. „Seit Urzeiten haben wir bereits die Trepanation,
das heißt, es wurden Schädeleröffnungen durchgeführt – dafür gab es medizinische oder
magische Gründe - und sie wurden auch überlebt. Seit Tausend Jahren stechen wir den Star,
seit sechzig Jahren behandeln wir Skorbut mit Obst, wir wissen um die Organe als Sitz und
Ursache von Krankheiten, kennen die Koronarsklerose, irgendein Österreichisch-Ungarischer
hat die Perkussion erfunden, wir versuchen uns am Pottschen Buckel, nutzen die Wirkung von
Digitalis als Diuretikum, vor zwanzig Jahren hat Edward Jenner, ein britischer Hausarzt, die
Pockenschutzimpfung durch Übertragung der Kuhpocken auf den Impfling entdeckt – alors,
mon ami, wir leben in einer großen Ära, was die medizinischen Errungenschaften angeht. Nur
bei der Betreuung unserer Geisteskranken hinken wir hinter der Zeit. Voyez et souvenez de
Hume: Seulement la perception ... ‘Nur sinnliche Wahrnehmung und geistige Vorstellung ist
die Grundlage des Erkennens’!“
Er entschnürte die Mappe, die er bei sich trug, dann hielt er inne, legte mir die Hand auf den
Arm.
„Pinet beruft sich auf Hume, und auf der Grundlage der Erkenntnisse von Pinet hat Esquirol
letztes Jahr einen großen Band publiziert“, erklärte er. „‚Von den Geisteskrankheiten’ – non,
je sais, Sie werden ihn nicht kennen.“ Er lächelte. „Schauen Sie, und ich habe vorletztes Jahr
die Irrenhäuser in Frankreich und England bereist und die Zeichnungen dazu gefertigt, so wie
jetzt erneut, wo er am zweiten Bande arbeitet. Deshalb bin ich hier, und Jacques hatte mir
versprochen, heute wieder dazusein und mich in die Zellen zu lassen.“
Er öffnete die Mappe, und mein Blick fiel auf ein Bündel großformatiger Feder- oder Bleistiftzeichnungen, die er nun langsam vor mir aufblätterte.
Ich sah dort augengetreu realistische Abbilder von Menschen, die mir vom Papiere entgegenstarrten, hockend, sitzend, liegend, gebettet, gelehnt, gefesselt, Männer und Frauen unterschiedlichen Alters - gezeichnet im Profil, im Halbprofil oder en face, als Portrait, Brustbild
oder Ganzkörperabbildung, zumeist einzeln, einige seltene Male zu mehreren, manchmal,
nicht immer, in der Umgebung eines Fensters, eines Bettes, einer Mauer im Hintergrund erschreckend getroffen, als seien sie lebendig, als würden sie mit dem nächsten Augenschlage
aus dem Bilde herausspringen, sofern sie nicht in Zwangsjacken oder Geschirre gebunden
waren - und allen ihnen sah man ihre grauenvolle Verstörtheit und ihr Fremdsein in dieser
Welt an, sie alle Geister aus dem Dunkel, die schreckhafte Nachtmare bevölkern mochten und
doch selbst im Alptraum lebten, Eumeniden, grausige, verlorene, bedauernswerte Kreaturen.
Unter den Zeichnungen hatte Tardieu Begriffe vermerkt wie „Lypémanie“, „Epilepsie“,
„Verwirrtheit III“ oder „Idiot VII“, „Kretinen“, eines trug einfach die Aufschrift „Kranker“ in Klammern stand dabei „Bedlam“, und es zeigte einen jungen Mann, der auf einem Strohlager unter einem vergitterten Fenster, das sehr hoch in der Wand über ihm gelegen war, mit
Ketten an ein Rohr angekettet saß.
Es kam mich hart an, mein erstes, bestürztes Entsetzen zu bemeistern. Auch vermochte ich
kaum in Worte zu kleiden, was ich angesichts dieser Darstellungen äußersten menschlichen
Elends fühlte.
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„Sie haben gute Arbeit geleistet“, ächzte ich. „Dies sind Bilder wie mit einem Schüreisen ins
Auge eingebrannt ... gräßlich.“
Er schaute mich mit seinen scharfen Raubtierpupillen an, lächelte nicht. „Oui, Esquirol était
très content de ça“, sagte er leise, ohne daß ich besondere Befriedigung aus seinem Tone hören konnte. „Sonst hätte er mich nicht erneut damit beauftragt ...“ Er machte Anstalten, die
Mappe zu schließen ...
„Warten Sie!“ bat ich hastig, worauf er innehielt. „Dieser Kranke aus Bedlam ...“
Er öffnete fragend die Mappe erneut, blätterte und zeigte den jungen Mann in seinem Bett.
„Ja, dieser: Den haben sie hier, ich meine in diesem Haus, gezeichnet?“
„Oh ja, vor zwei Jahren.“ Er strich, beinahe zärtlich, über das Blatt. „Jetzt lebt er nicht mehr –
der junge Mann ...“
„Oh nein?“
„Non, je ne l’ai pas retrouvé. - Es gelang ihm, hörte ich, eines Nachts, sich selbst zu strangulieren.“
„Aber das ...“ Es verschlug mir Atem und Stimme.
Tardieu nickte. „Oui, c’était une tragédie … affreux … un désastre.“
Wir schwiegen, in der Pause schlug er die Mappe zu und verschnürte sie. Er schaute sich nervös um, ob nicht endlich irgendwo sein Vertrauter auftauchen mochte, den er im Spaß zuvor
Jacques genannt.
„Hören Sie, Monsieur“, sprach ich nach einiger Zeit. „Sie sind Maler ... Künstler ... Sie kommen zwar vom Kontinent, aber haben Sie andere Maler hier kennengelernt?“
„Sie meinen, ob ich Füssli kenne, aus der Schweiz – der sich hier Henry Fuseli nennt? – albern, wenn Sie mich fragen! - Ich nenne mich auch nicht Ambrose Tarding oder Tarder. Oder Blake, meinen Sie, ob Blake meinen Weg gekreuzt? – Nun, er ist wohl mehr Dichter als
Kupferstecher oder Illustrator, vous ne trouvez pas? – Illustrator seines eigenen Werks immerhin. Ich habe allerdings nichts mehr gehört von ihm seit seinem „Jerusalem“. Ein wenig
vergessen ist er wohl in den letzten Jahren, ein armer Mensch. - Oui, Monsieur Holland, ich
habe sie beide schon getroffen. - Ein Gejagter, ein Verstörter, si vous me demandez: William
Blake, er hätte Theologe werden ... oder es bleiben sollen ... obwohl sie begeisternd sind, ses
trucs là ... und Füssli ist nicht viel besser daran als er, pas mieux. Wer zehn oder mehr Versionen des ‚Nachtmahrs’ malt, nicht wahr, kann nicht besser daran sein. - Kennen Sie seine
‚Wahnsinnige Kate’? Oder seine Shakespeare-Adaptionen, seinen umnachteten alten ‚King
Lear’? Oder diese ... elle s’appellait comment ? ... Lady Salisbury? Oder die Köpfe der Verdammten aus Dantes ‚Inferno’? Oh, er hat den Irrsinn intensiv studiert, scheint mir. - Vielleicht wären sie beide, Blake und er, hier besser aufgehoben ...“
Ich fühlte, wie mir ein Schauer über den Rücken ging, eng und kalt, wie von Eis ...
„Nein, nein“, murmelte ich. „Ich meinte wohl eher, ob Sie schon von einem Italiener gehört
haben, der hier lebt ... sein Name ist ... Giovanni Battista Condonniere …”
“Sein Name ist ... alors, Monsieur ...”, ich hörte zu meiner Überraschung, wie er vor sich hinlachte. Es dauerte wirklich nur einen kurzen Moment, es war ein trockenes Kichern, das im
Zusammenhang der Situation absolut absurd klang und nicht wirklich vergnügt. „Attendez,
Monsieur, s’il vous plaît. Warten Sie, schauen Sie, hier ...“ Er zauberte mit großer Flinkheit
einen Stift aus einer der inneren Taschen seiner Jacke und ein quartgroßes Stück Papier dazu.
„Attendez“, wiederholte er, „er muß es sein ... so ... so .... und so ...”
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Der Stift flog nur so über das Papier, und Ambroise Tardieu benötigte nur wenige Striche – es
war eher eine Karikatur denn eine Zeichnung, aber aus dem Nichts gleichsam schälte sich in
Sekunden der feiste, schwitzende, dümmlich grinsende Schädel des Italieners, den ich bei
Enid Luciter getroffen, und richtete seinen Blick auf den Betrachter ...
Ich zeigte darauf und nickte. „Mein Gott“, stieß ich hervor. „Er ist es. Er ist es zweifellos!“
Ambroise Tardieu brach augenblicklich seine Kunst ab, ließ Blatt und Stift matt auf die Knie
sinken und blickte mich leise lächelnd an – abermals, es war kein heiteres Lächeln. „C’est
drôle ... wo wir gerade bei den spaßigen Dingen sind, Monsieur Holland, bei Heinrich Füssli
und Henry Fuseli und dergleichen Albernheiten“, sagte er. „Signore Giovanni Battista Condonniere heißt er jetzt also. - Nun, schön, c’est très intéressant, in Paris bewegte er sich trotz
seines Akzents in den Salons unter dem Namen Jean-Baptiste Cordonnier, un Français entre
les autres, und er hatte enormen Erfolg damit - aber ich kann Ihnen verläßlich versichern, daß
er eigentlich ein Deutscher ist und in Wahrheit Johann Baptist Schuster heißt.“ Ambroise
Tardieu breitete ausdrucksvoll die Hände mit dem Stift und dem Bogen aus und lächelte. „Paris mußte er verlassen, Monsieur Holland ... nun, sagen wir, aufgrund gewisser ‚malhonnêtetés’, gewisser Unregelmässigkeiten - warum er zuvor seine Heimat verlassen hat, entzieht sich
meiner genauen Kenntnis.“ Tardieu lachte abermals in der verblüffenden, ihn bezeichnenden
Art, die nicht in Wirklichkeit frohgemut war. „Ich wäre auf meine Vermutungen angewiesen,
Monsieur, möchte vor ihnen aber nicht als jemand dastehen, der nur üble Nachrede pflegt. Er
ein Maler - ich ein Maler – oh làlà ... vous comprenez ...“
„Aber, seien Sie unbesorgt“, sprach ich, „seien Sie unbesorgt, Monsieur! - Was war es, weshalb mußte er Paris verlassen?“
Tardieu wiegte den Raubtierkopf, zögerte. „Oh, man munkelte dies und das. Geld wird es am
Ende gewesen sein, man sprach von Schulden, von skandalösen Ausgaben, uneingelösten
Wechseln. Man sprach auch von anderem, von Banketten, Lustbarkeiten, Dionysien. Ich bin
sicher ... nein, jedermann war es seinerzeit offenkundig: ... Wären da nicht gewisse Namen
gewesen, die die besondere Rücksicht der Gesellschaft verdienten, so hätte man ihn der ordentlichen Jurisdiktion nicht so leicht sich entwinden lassen, den Monsieur Jean-Baptiste, ah
non! Aber, wie dergleichen Arrangements ablaufen ... Sie wissen, Monsieur Holland ...
schließlich sieht man sich selber sehr ungern gerückt ... in die Nähe womöglich der Bräuche
des ancien régime ... et voilà ...“
Er hob die Handflächen und ließ unsichtbaren Sand zur Erde rieseln, blickte mich alsdann mit
neuem Interesse an.
„Dites-moi: Was genau ... Anstößiges, Schmähliches, Schimpfliches hat sich hier in seiner
Umgebung zugetragen? – Denn ich bin sicher, dies ist geschehen, anderenfalls hätten Sie sich
nicht nach ihm erkundigt.“
„Ich weiß es nicht“, sprach ich wahrheitsgemäß.
„Monsieur?“
„Ich weiß es nicht“, wiederholte ich, „noch nicht! Alles, was ich weiß, ist, daß ich zu einer
Vernissage eingeladen war, daß dort ein fulminantes Bild gezeigt wurde, das jener ominöse
maestro aus Deutschland verfertigt, ein Bild, in dessen Umfeld, wie ich inzwischen weiß, sich
zahlreiche Merkwürdigkeiten ergeben haben, sowohl, was die Entstehung betrifft, wie die
Menschen, die im entfernteren damit zu tun haben. Ich bin vom Gastgeber jener Vernissage
auf mein Leben bedroht worden. Und es haben sich in der Tat im Umkreis ... zwei Todesfälle
ereignet, einer erst kürzlich.“
Ich dachte an Frank Purcel und das Kutschunglück und ich dachte an Asunción Lozano. Ich
spürte mehr, als das ich es wirklich sah, wie Ambroise Tardieu mich beobachtete. Ich war
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dabei, ihm gegenüber endlich reinen Tisch zu machen, alles, was zu sagen war, auf einen
Fleck zusammenzudrängen - und im übrigen die kleine Lüge auszuräumen, mit der ich vorhin
unsere Konversation begonnen.
„Ich habe vorhin nicht ganz die Wahrheit gesagt, Monsieur“ fuhr ich fort. „Ich bin von der
schreibenden Zunft - ich hatte nur die Aufgabe, über jene Vernissage zu berichten. Das Gemälde ... nun es war durchaus unschicklich, wenn Sie wollen ... anstößig, in der Tat, aber dies
scheint nicht unmittelbar der Grund, warum alles so schrecklich gekommen ist. Oder doch? –
ich weiß es nicht! - Zwei Todesfälle“, wiederholte ich. „In einen davon ist ein Arzt verwickelt, der unter anderem in dieser Anstalt sein Brot verdient. Er war es, den zu suchen ich
unter anderem ursächlich hergekommen. Dies war es, was ich eingangs Ihnen gegenüber geltend gemacht, verzeihen Sie, Monsieur Tardieu! Gleichwohl, ich weiß bereits, daß er heute
nicht hier anwesend ist. Es ist alles so verwirrend. Ich bin im Grunde auf der Suche ... ich bin
auf der Suche ...“
„Calmez-vous“, sagte der Franzose bedächtig und legte wie zuvor die Hand auf meinen Arm.
„Ich bin auf der Suche“, stammelte ich, „nach einem Mädchen, das eines von jenen Mädchen
und Frauen ist, die auf diesem Gemälde abgebildet sind - und ich halte unbedingt dafür, daß
sie von dem erwähnten Arzte ... eingekerkert ... irgendwo in diesen Mauern gefangengehalten
wird.“
Ambroise Tardieu nickte. „Dieser Arzt ...“
„Es ist gut möglich, daß Sie ihn bei Ihren Besuchen hier angetroffen. - Er trägt einen grauen,
sehr kurzen Bart“, erklärte ich. „Er zählt um die fünfzig Jahre, mißt wohl sechs Fuß, geht stets
teuer gekleidet. Sein Name ist Copeland, Dr. Gideon David Copeland. Er hat von Natur eine
gespaltene Oberlippe.“
„Ich denke, ich habe ihn schon gesehen“, sprach Ambroise Tardieu bedächtig, nicht heute,
tant pis, und auch gesprochen habe ich noch nie mit ihm. - Aber aufgefallen ist er mir – alors,
pas un miracle, à vrai dire. Und das Mädchen? Wie ist ihr Name?“
Ich zuckte die Schultern. Wie hätte ich sie ihm angemessen beschreiben sollen? – ein kleines
Gesicht, dunkles Haar, wunderschöne Augen, wehmütige Lippen?
„Warten Sie“, sagte er. Er drehte den Zettel, auf dem er Condonniere, Cordonnier, Schuster
oder wie auch immer skizziert hatte und den er immer noch in der Hand trug, um und begann,
mit dem Stift dort flüchtig den Kopf eines Mädchens hinzuwerfen.
„Nein“, sagte ich, „warten Sie ... das Antlitz ist schmaler ... die Wangen höher ... das Haar
länger ...“
Ein jedes Mal reagierte er auf meinen Einwurf sofort und korrigierte durch eine Schattierung
hier und dort durch Stricheln oder Nachziehen einer Kontur.
„Die Augen dunkler ... nein, tiefer ... die Lippen voller ... nein, das Kinn ist zarter ...“
Eine unaussprechliche Erregung befiel mich, wie nach und nach, doch insgesamt im Verlaufe
recht kurzer Zeit, auf dem Papier die Züge meiner Io sich bildeten. Gespenstisch befand ich es
zudem, daß von einem gewissen Moment an Tardieu meiner Einhilfe scheinbar nicht mehr
bedurfte. Der Ausdruck, die Linien bildeten sich unter seinem fliegenden Stifte wie von
selbst. Und dafür, dies wußte ich atemlos, konnte es nur eine einzige Erklärung geben: Er
hatte das Mädchen unleugbar hier angetroffen, hatte sie hier gesehen. Ich schwieg, während
das perfekte Bildnis sich vollendete.
Schließlich hob er das Papier und hielt es mir entgegen. „Hier, diese ... j’estime, c’est elle ...,
n’est-ce pas?“
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Ich nickte, wie gebannt und geschlagen.
„Nun, alsdann, beruhigen Sie sich. Ich habe Ihnen zu diesem jungen Menschenkinde Verschiedenes zu sagen: - Elle était bien ici - mais elle n’est plus là ...“
Ich starrte ihn an, denn ich glaubte, ihn durchaus richtig verstanden zu haben.
„Ich weiß, wo das Mädchen untergebracht war“, fuhr er fort. „Ich habe sie dort selbst gesehen
– hier, unten, im Kellergeschoß.“
„Ich wußte es, oh, ich wußte es!“ rief ich. „Ah, diese Nichtswürdigen, diese Verbrecher ...!!“
„Warten Sie, attendez, attendez, attendez“, beschwor er mich dringend. „Sie war dort, ich
sagte es Ihnen doch, sie war dort - aber sie ist es nicht mehr ... verstehen Sie? - Sie ist fort. –
Sie ist nicht mehr in diesem Hause.“
Einen Moment rang ich fassungslos nach Atem – zu arg traf mich hier das Schicksal, das sie
mir aus der Reichweite führte - in just dem nämlichen Moment, da ich sie sicher geglaubt,
erreicht zu haben, warm und weich, sehnsüchtig und verlangend, fast in meinem Arm - eine
Sekunde war ich nur schieres, kaltes, pures Entsetzen - dann barst ich in empörtem Protest
gegen ihn. „Warten Sie doch“, rief ich. „Ich habe sie, Monsieur Tardieu, in einer Kutsche aus
Bedlam durch London fahren sehen, und das liegt, bei Gott, ich schwöre es Ihnen, nicht länger
als gerade gestrigen Abends zurück. Was also sollte sie seither aus dieser Anstalt vertrieben
haben – und wie vor allem wollten Sie ... wie wollen Sie von derartig ... verwirrenden Änderungen mit Verläßlichkeit wissen?!“
Ich bemerkte, wie er sich beunruhigt umschaute. Es ist wohl wahr, daß wir in einem quasi
öffentlichen Bereiche saßen, in Bankreihen nicht unähnlich durchaus jenen im Varieté oder
Wirtshaus - aber dies bei Gott war kein Wirtshaus, und die anderen ringsum auf den Bänken
Anwesenden – wenn ich sie mir recht anschaute, vermutlich sie alle Einwohner dieses Hauses
- waren in der Stille eher befaßt mit der eigenen Person, sie saßen träumend oder erstarrt, oder
in den seltensten Fällen noch mit einem Begleiter zu ihrer Seite. Bei Gelegenheit erschienen
jetzt öfters junge Männer mit gestreiften Hemden und weißen Schürzen, um einzelne der Anwesenden leise und freundlich anzusprechen, sie an der Schulter zu berühren und sanft nach
hinten abzuführen. Die Aufseherin an ihrem Pulte, da gänzlich nichts, das ihr Interesse im
Entfernten erheischte, geschah, war dem Augenscheine nach sogar in einen leichten Dämmer
oder Schlummer verfallen – sie saß zwar aufrecht, aber ihr Kopf war auf ihre Brust gesunken
und ihre geschlossenen Augen ruhten auf dem großen Buch.
Es ist wahr, sehr wenige Besucher schienen jetzt noch in dem weiten Raume anwesend, draußen war die Dunkelheit fast vollständig gefallen. Die große Halle hatte sich gelehrt, ein
Mensch mit einer langen Stange aus Messing ging still herum, um, eine nach der anderen, die
Lampen in dem weiten Raume zu entzünden.
Es mag sein, daß ich einen Moment ungebührlich laut und auch erregt gesprochen hatte, aber
unleugbar ist es auch, daß niemand in unserer Umgebung daran Anstoß, geschweige denn
überhaupt Notiz davon genommen hatte oder fürderhin nehmen würde.
„Entschuldigen Sie“, murmelte ich gleichwohl.
„De rien“, flüsterte er. „Hören Sie, Monsieur Holland, weshalb ich davon weiß, daß dieses
Mädchen nicht mehr hier weilt, will ich Ihnen gerne vertrauen, nur müssen Sie sich nicht derart darüber erregen, daß wir am Ende unnötige Aufmerksamkeit auf uns ziehen, je vous assure. C’est une histoire simple, im Grunde, eine einfache Geschichte, wenig beunruhigend
und dramatisch, denke ich, wenn Sie sie erst vernommen.“
Er wartete einen Moment ab, um zu sehen, wie ich darauf reagieren würde, und als ich nichts
erwiderte, sondern schwieg - ein wenig beschämt, wie ich durchaus gerne bekennen will - hub
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er ruhig an und sprach: „Das Mädchen ist mir aufgefallen, ja, Monsieur Holland, das will ich
Ihnen unumwunden zugeben. - Elle était d’une beauté limpide - comme le vent, comme un
enfant, comme un lutin, je ne peut pas dire. Elle a des yeux si clairs, si rêvants, si inquiétants
… vous me comprenez … Vous êtes amoureux de cette fille, n’est-ce pas?“
Ich nickte stumm. Er nickte ebenfalls.
„Das wundert mich nicht“, sagte er leise. „Eines jeden Herz wird ihr warm entgegenblühen,
der sie nur trifft. Auch mich hat sie vom ersten Anblicke her verwirrt, gerührt, bezaubert ...
Ich beschloß - das ist nun ein, zwei Monate her - dieses Menschenkind abzubilden ... bitte,
verstehen Sie mich recht: nein, nicht als ‚Kranke in Bedlam’, sondern ... je ne sais pas ... als
Schäferin vielleicht ... oder als Cleopatra ... pourquoi pas?! ... in Öl oder Kreide oder Tempera
... oder als Aphrodite ... ich wollte ein wirkliches Kunstwerk aus ihr machen. Etwas Schönes,
etwas Besonderes, etwas ihr Wertes. Jedoch zum Augenblicke ging dies nicht, weil ich erst
meine Arbeit beenden und die Illustrationen für Esquirol fertigen mußte. Aber sie blieb mir
im Sinn hernach, stetig, beharrlich - ich wußte, ich würde zu ihr zurückkehren. Deshalb erschrak ich ein wenig, als ich vor drei, vier Tagen ihre Zelle plötzlich leer fand respektive von
einem anderen Menschen besetzt.“
Ambroise Tardieus Augen fixierten mich.
„Jetzt höre ich von Ihnen, daß ich wahrscheinlich zu spät kam, zumindest dazu, der erste zu
sein. Ich höre, daß sie bereits zu einem Gemälde gesessen ... und daß es ausgerechnet Schuster ist, der dieses Bild gemacht ... Offen gesprochen, ich mißgönne ihm dies ... offen gesagt,
schon der Gedanke scheint mir wie eine Beschmutzung der Reinheit selbst ... denn Schuster ...
Schuster ... le diable -- Schuster ist ein unangenehmer Mensch. Er ist vulgär und verderbt, er
ist schmutzig ... und schlau ... und verschlagen ...“
„Mir kam er eher dümmlich vor ...“
Tardieu hob die Hand. „Oh, ich denke, er ist schlau, mon ami, schlau! - Wenn er nicht schlau
wäre, würde er sich nicht beständig so gräßlich geschickt aus den Fallstricken zu winden wissen, in die er dank seines Sittenwandels immerfort gerät.“
Wir saßen dort einen Augenblick in Stille, und ich verwunderte mich darüber, daß ich diesem
französischen Maler mit dem Raubtierkopf gegenüber nicht sogleich in zehrender Eifersucht
entbrannt war. Denn auch er hatte es ja gespürt - auch er hatte den Hauch des Ungesagten von
jenem magischen Wesen empfangen, auch er war ihr in seiner Art durchaus sofort verfallen,
das war mir helle. Aber mochte es an der Offenheit liegen, mit der er ungefragt davon berichtet - war es die Aufrichtigkeit, mit der er generell sein Wissen mit mir teilte, ich brachte
dergleichen Gefühl ihm gegenüber nicht auf.
„In welcher Figur hat ... Schuster ... sie denn ... ausgeführt?“ erkundigte er sich schließlich
zögernd.
„Als Io“, gab ich Auskunft, „als Geliebte des Zeus, im Moment ihrer Metamorphose, sehr
unheimlich, sehr bizarr, zur Hälfte bereits verwandelt. - Es waren sieben Geliebte des Zeus in
dem Gemäldde.“
„Also Io, zur Hälfte schon Färse“, murmelte er und wiegte anerkennend den Kopf. „Wenn wir
beide ihn auch nicht mögen, diesen ‚Herrn Hans Schuster’, so müssen wir wohl billigend
zugeben, es ist zumindest eine frappierend ... nein, ich glaube - il faut l’avouer - es ist eine
hervorragende Idee. - Io ... naturellement ... merveilleuse ..., la maîtresse du dieu …“ Er lächelte ein wenig traurig und schlug mit einer Hand in die andere.
Wir schwiegen.
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Gerade da, als das Gespräch für einen Augenblick zwischen uns zu ersterben drohte, weil er
wohl allzu tief seinen Gedanken an Io nachhing - als die Aufseherin an ihrem Pulte für einen
Augenblick die Augen aufschlug und sich mit der ganzen schielenden Strenge umsah, die
dem Betrachter weismachen wollte, daß sie keinen Augenblick geschlummert habe – da erblickte ich, wie von draußen - aus der unterdessen vollkommenen Dunkelheit und als einer
der letzten der dort Heimkehrenden gerade jener ältere Herr unter der Türe erschien, welcher
vorhin für kurze Zeit auf der Bank heraußen im Park mein zufälliger Gefährte gewesen.
Ich erinnerte mich, ich barg noch immer sein Tuch in der Tasche, BRH, und nun war ich es,
der Ambroise Tardieu flüchtig die Hand auf den Arm legte, abwesend murmelte: „Warten Sie
bitte eine Sekunde hier auf mich“ - und jenem anderen über den freien Raum der weiten Halle
entgegentrat, um ihm sein Eigentum zurückzuerstatten.
Jener lächelte zart, als er mich kommen sah, blieb stehen und erwartete mich.
Ich tat zögernd die letzten Schritte auf ihn zu, hatte das Tuch mit den Initialen aus der Tasche
gezogen, hielt es ihm hin. „Sir“, sprach ich, „Sie haben mir aus Gründen Ihren Namen nicht
genannt, so daß ich Sie hier nicht recht ansprechen kann – verzeihen Sie also – ich möchte
mich gleichwohl bei Ihnen bedanken, Sir, für den warmen Trost, den Sie mir haben zukommen lassen, und Ihnen zurückgeben, was Ihres ist.“ Damit hielt ich ihm das Tuch hin.
„Guten Abend, Sir“, grüßte er freundlich, schaute überrascht auf das feine Gewebe und das
Monogramm, und etwas wie freundliches Erkennen ging über sein Gesicht. „Oh, so etwas
besitzen wir hier alle“, sprach er gerührt. „Darf ich Sie willkommen heißen, Sir – hier in den
Gärten der Zeit, den Gefilden der Zukunft, auf der Sandbank des Todes. Denken Sie, wie
schön es ist - ein Sonnenuntergang am lauen, leeren Meere, still und verlassen und allein, fernes Rauschen, wo in leeren Becken der Sand verrinnt, an leeren Häusern der Efeu blüht. Gehen Sie nur die stillen Pfade, Sir. Doch hüten Sie sich vor dem blauen Mond, der über den
Abgrund steigt, sobald nur das Einhorn verschwindet. Schließen Sie das Fenster, summen Sie
die Melodie und bergen Sie sich vor dem gährenden Schatten, der bei Nacht aus Ihren eigenen
Zähnen kriecht. Das ist alles, was ich Ihnen raten kann.“
Dies sprach er mit stiller, verhaltener Stimme, in gleichmütigem, sehr freundlichem Tone, und
musterte mich dabei ebenso fürsorglich wie vorhin draußen auf der Bank.
Mich bannte stilles Erschrecken: Er erkannte mich offenbar nicht. Dabei jedoch, alles was er
gesagt, so wirr und sinnlos es sein mochte, in Sonderheit aber das Einhorn, das er erwähnt,
gemahnte mich an Unsagbares, Ersehntes, Verlorenes ...
„Ich sprach zu Ihnen vorhin von einem Mädchen“, sagte ich zutraulich, dringend. „Sie haben
mich gewarnt, weiter nach ihr zu suchen, Sir, weil ich sie nur verdürbe. Entsinnen Sie sich
meiner nicht?“
„Ein Mädchen?“ grübelte er nach. „Und ich hätte Sie vor ihr gewarnt? - Oh, es so gibt viele
nette, so viele nette, junge, hübsche Mädchen, Sir. Aber ich entsinne mich ihrer nicht. Sie
kommen gewöhnlich aus dem Sumpf gekrochen und winken mit ihren langen Haaren, ist es
nicht so? - Oh, gewiß, sie tun das, weil sie hungrig sind. Hungrig und gefräßig. - Ich dagegen
... ich bin durch das Wasser gewatet ... durch den tiefen Fluß gegangen ... und der Fluß ist so
endlos, glauben Sie mir ... endlos und grau. Ich frage mich ... junger Mann, ich frage mich wer wird am Ende den Fährmann bezahlen?“
Mehr und mehr, während er das gesagt, waren seine Stimme und seine Augenlichter und war
auch sein ganzes Antlitz gänzlich dabei erloschen, und als er die letzte, sonderbare Frage getan, gemahnte es mich grausig, als wäre er längst aus der Welt, seine Züge leer und verbraucht
und verfallen.
148
Er sah mir letztmalig ins Gesicht, dann schlurfte er durch die Halle nach hinten, die Füße strichen sacht über den glatten Boden. Ich blickte ihm nach. Die Weite des Raumes lag trotz der
vereinzelten Lichter an den hohen Wänden in tiefer Dämmerung. Dort in der Ferne, an einer
Treppe, wurde der namenlose alte Mann von einem Wächter erwartet.
8. Kapitel
Die Buechse der Pandora
149
Als ich mich wieder zu Ambroise Tardieu kehrte, gewahrte ich, daß jener sich unterdessen
von der Bank erhoben. Ich trat herzu, wobei ich das sinnlose Tuch mit dem Monogramm
abermals in meinem Hosensack versenkte - er lächelte.
„Kannten Sie ihn? ... einer der Insassen, nicht wahr?“ Er heischte nicht wirklich eine Antwort.
„Écoutez, mon cher“, fuhr er fort, „es erübrigt sich, weiter auf Jacques zu warten, das fühle
ich. Käme er heute, wäre er längst erschienen. Weiß Gott, was ihn verhindert, vielleicht ist er
erkrankt. Ich werde es morgen abermals versuchen, ihn zu treffen. Je nun ...“, er schulterte
seine Mappe. „Jetzt werde ich mich in mein Quartier begeben – ich bin im ‚Belle Sauvage’ in
Ludgate Hill abgestiegen - zugegebenermaßen vom Namen her vielleicht ein eigenartiger Ort
für jemanden, der wie ich direkt aus Paris kommt, aber ich habe dort noch jedesmal eine angenehme Unterkunft gefunden, wenn ich in London weilte - sofern man nicht gerade nach
hinten hinaus, den Ställen zu, wohnt.“ Er lachte. „Und es hat den Vorzug, daß es auf dem Hof
die direkte Kutsche nach Dover gibt – ich hasse die ständigen Verspätungen und die Unordnung auf der Themse. Wo wohnen Sie?“
Ich sagte es ihm.
„Hören Sie“, äußerte er und er reckte sein Raubtiergesicht. „Il y a un arrêt des haquenées en
dehors, prèsque vis-à-vis. Was meinen Sie, wenn wir beide also zusammen jetzt eine
Droschke nähmen, die uns auf die andere Flußseite bringt, und die Kosten dafür teilten? Dann
könnten wir überlegen, ob wir gemeinsam im ‚Belle Sauvage’ noch einkehren auf einen kräftigenden Imbiß oder ein paar Austern und ein Porter oder zwei - und uns dabei über das eine
oder andere interessant unterhielten. Ich fühle, daß ich hungrig bin.“
Ich zögerte einen kurzen Moment, während wir die Halle durchquerten und der Ausgangspforte zustrebten, ganz gewiß nicht wegen seiner Gesellschaft, sondern weil es zuvörderst
eine Frage meines Salärs war, auswärts zu speisen - außerdem würde Mrs. Hamlet, wenn ich
nach Hause kam, vermutlich bereits eine Schale Stew warmgestellt haben. Der wahre Grund
jedoch, warum es mir unerläßlich schien, auf die gemeinsame Mahlzeit mit dem Franzosen
verzichten zu müssen, war der, daß ich nicht mit ihm auf die nördliche Themseseite hinüberwechseln wollte - oder konnte. Denn ich hatte das sichere Gefühl, ich dürfe mit der wenigen
Zeit, die mir Finlay Burkitt außerhalb meiner Dienststunden ließ, nicht allzu sorglos umgehen.
Und einen Abend wie diesen, der bislang so erbärmlich nichts gebracht hatte denn quälenden
Aufschub – Io, die sichergeglaubte, war mir vor meinen Augen gleichsam unerwartet entwendet – nein, einen solchen Zeitvertreib konnte ich mir im Grunde nicht leisten. Und hatte ich
nicht jüngst der üppigen Rosetta Manderlays gedacht, als ich mit der geliehenen Kutsche über
die Themse gerollt? Nun, die Schenke ihres Vaters war in weniger als einer halben Stunde
Fußweges von dieser Anstalt erreichbar, und so hatte ich in diesem Augenblick beschlossen,
die reizende Wirtstochter wiederzusehen, um dem mißglückten Abend noch nachträglich
vielleicht einen Sinn zu geben, wenn mir auch bislang nicht wirklich helle war, welchen.
Tardieu, der Franzose, und ich passierten die Pforte nach draußen, wo ich im Gespräche beisammen die Gruppe der jungen Menschen stehen sah, die vorhin, als ich gekommen, den Eintritt kontrolliert. Ich erspähte auch den jungen Mann, der mit mir gesprochen, aber jener bemerkte mich nicht. Nun waren sie heiter und scherzten, denn ihre Arbeit neigte sich wohl für
heute zum Ende.
Ich nannte Tardieu meine anderen Pläne und warum ich ihn nicht begleiten würde.
Er wiegte den Kopf. „Dommage, mon ami, andererseits ... Sie werden verstehen, wenn ein
Mensch meines Alters nach dem Abendessen höchstens noch die Stiege bis zur Schlafstube
vor sich haben will. - Ich werde mir also wie geplant eine Kutsche bis ins ‚Belle Sauvage’
nehmen, wo übrigens seinerzeit, wie glaubwürdig berichtet wird, nicht nur – das liegt allerdings einige hundert Jahre zurück - die Indianerprinzessin Pocahontas abgestiegen und einmal
150
zudem ein lebendes Rhinozeros ausgestellt gewesen sein soll, sondern anläßlich einer Lesung
von Christopher Marlowes ‚Dr Faustus’ soll sich, verlauten die Chroniken, unter Feuer und
Schwefeldonner der Teufel selbst ein Stelldichein gegeben haben. Ein interessanter Platz mithin. - Sie dagegen ...“, er klopfte mir sachte auf die Schulter, „Sie mögen indessen von dem
Besuch der Stätte Abstand nehmen, jedoch, wenn Sie wollen, bis zur Themse mit mir kommen, ich lade Sie dazu ein. Ich entsinne mich gut genug ... als junger Mensch hat man nie
genug Louisdors in der Tasche ...“
Ich bedankte mich artig. Unter solcherlei leichtem Geschwätz schritten Tardieu und ich durch
den Park des Asyls zur Straße hinunter. Dort fanden wir den Wächter gerade damit befaßt, das
Tor zu schließen und seine Bude für die Nacht zu versiegeln – es flogen einige spaßhafte Bemerkungen hin und her, er drohte uns einzuschließen und mahnte dringend für einen früheren
Abgang des anderen Tages – er öffnete die Barriere dann umstandslos aber nochmals. Wir
traten hinaus und hinüber zu der bescheidenen Reihe von wartenden „Hackney coaches“.
Überflüssigerweise kamen gerade in dieser Sekunde zwei Bediente mit einem leeren Sedanchair in leichtem Trab die Lambeth Road heruntergelaufen, was, wie es uns schien, einen bemerkenswerten zugleich und äußerst lächerlichen Anblick bot, die Fahrer der geparkten
Droschken wie die beiden Läufer riefen sich, indem sie einander passierten, nur halbwegs
schelmisch gemeinte, aber um so drolliger wirkende Anzüglichkeiten zu. Ambroise Tardieu
und ich stiegen rechtschaffen schnaubend vor unterdrücktem Gelächter in die erste der Kutschen ein und nannten dem Führer unser Ziel – dann jedoch, als wir uns in Fahrt durch die
von der Phenix Company erleuchteten Straßen dem südlichen Themseufer zu bewegten,
kehrte Ambroise Tardieu unvermutet zu der Ernsthaftigkeit, die vorher unser Gespräch bestimmt hatte, zurück und erkundigte sich: „Haben Sie sich eigentlich nie gefragt, warum dieses französische Mädchen, das auf Ihrem Gemälde die Io spielt – warum sie im Bethleham
überhaupt gehalten wird und wer dies veranlaßt?“
‚Französisches Mädchen?’ fragte ich mich, ‚französisch?’, ohne weiteres Nachsinnen überhaupt zuzulassen. Damals, als ich mit Rosetta Manderlay im Mondschein gesprochen, war der
gleiche Irrtum schon einmal aufgetaucht: Französin. Draußen glitt der aufragende Turm von
St. Saviour vorüber. Ich folgte ihm mit den Augen bis oben, wo die Dunkelheit ihn verschluckte. Obwohl es ein klarer Abend gewesen, konnte ich keine Sterne erkennen. Die Straßenlichter waren zu hell und blendeten die Augen. Ich hörte das Geklapper der Hufe und das
Rollen unserer Räder widergeworfen von den Hauswänden.
Ich blickte den Franzosen an. „So sprechen Sie nur“, bat ich.
„Nun, als ich sie dort in ihrer Zelle erblickte“, antwortete er, „– Sie erinnern sich, ich erzählte
es Ihnen zuvor - wollte ich von Jacques natürlich wissen, wer sie denn sei und warum sie hier
festgehalten werde. Er gab mir, ich entsinne mich, eine sonderbare Antwort. Fallsüchtig sei
sie nicht, sagte er mir. Ich fragte ihn darauf, wie er dazu komme, ausgerechnet Fallsucht zu
vermuten. ‚Weil ich bislang nichts anderes beobachten konnte, worunter sie leiden könnte’,
war die Antwort, die er mir gab. ‚Parbleu’, sagte ich, oder etwas Ähnliches, ‚das würde doch
bedeuten, daß sie völlig gesund und zu Unrecht hier eingesperrt wäre.’ ‚Nun, vielleicht ist sie
etwas manisch’, antwortete der Mann vorsichtig, den ich Jacques nenne. ‚Ich bin kein gelehrter Doktor, Sir’, fuhr er fort, ‚aber ich traue mir zu, das Wesen dieser jungen Frau mit dem all
der anderen Insassen hier zu vergleichen, und ich meine: Sie ist nicht nervenschwach, sie
zeigt keine körperlichen Anfälle oder irres Reden, sie ist nicht streitbar, solange ich sie kenne
- eine Idiotin ist sie schon gar nicht, das kann jeder sehen, der sie anschaut, ich wüßte nicht,
Sir’, sagte er, ‚aber da ist keine Dämonomanie ... da ist nichts ... nichts ... ich denke, sie ist so
gesund wie Sie und ich.’“
Ich bewegte die Hand und fühlte weich das Polster an meiner Seite. Im Grunde verriet er mir
nichts Neues. - Anderes als dies hatte und hätte ich nie vermutet. –
151
Das Mädchen, das Gedichte zu verfassen vermochte, welche mir die Tränen in die Augen ...
und wahrlich das Herz aus der Brust trieben. Dieses atemnehmende Zauberwesen, das nachts
bei Mondschein auf dem Dache Flöte spielte und kindlich an weiße Einhörner hinter dem
Nebel glaubte, jene, die, wie verlautet, den viel zu kostbaren Schmuck am Finger trug. Das
junge Mädchen - woran ich nicht gern gemahnt ward - von welchem Fiona de Cato die krude
Ungeheuerlichkeit behauptet, daß sie einmal in den Stallungen die Schweinejungen gesäugt.
Die junge Frau, die auf den Schwingen der Furcht und mit aufgerissenen Augen gestrigen
Abends in jener Kutsche aus Bedlam gekauert ... Io, bleich, als halbe Färse, mit dem grausen
Stachel des stählernen Insektes anstößig und garstig eindringend in ihren Nabel ... Jetzt ... eine
Französin, das hatte Tardieu gesagt.
Ich fragte mich nur, ob es mir vielleicht nicht lieber gewesen wäre, ich hätte mich die ganze
Zeit geirrt. Daß sie am Ende doch nicht bei Sinnen war, und wenigstens, Gott belasse mir
diesen Trost, zu Rechte eingesperrt in den finsteren Kavernen dort der Wahnsinnigen.
Ich lauschte, während wir gemächlich durch Southwark rollten, meinem Begleiter in der
dunklen Droschke, der mich zurückführte zu jenem Abend, als er mit Jacques gesprochen,
und was jener berichtet.
„‚Weshalb sollte sie manisch sein?’ fragte ich ihn also“, sprach Ambroise Tardieu. „‚Sie sagten, nicht wahr, Jacques, Sie vermuteten, daß sie manisch sei. Warum dies, mein Bester?’ –
‚Nun, immerhin - sie weint’, sprach Jacques, und ich entgegnete, ‚vous ne pleureriez pas, si
vous étiez coffré sans être coupable?’“ Tardieu unterbrach sich, legte seine Hand auf meinen
Arm, wie schon einige Male zuvor: „Monsieur Holland, würden Sie wohl nicht weinen, wenn
Sie hier unschuldig eingesperrt wären? – Das fragte ich ihn.“
Ich fühlte, wie ich schlucken mußte. „Berichten Sie weiter“, bat ich.
„‚Warum aber dann ist sie hier?’ verlangte ich also von jenem jungen Manne, den ich Jacques
nenne, zu wissen“, fuhr der Maler fort, „und er antwortete mir: ‚Sie ist hier, Monsieur, weil
ein großer Herr es so will, daß sie hier ist.’ ‚Was willst Du mir bedeuten, Schurke?!’ fahre ich
ihn an, ‚was heißt: ein großer Herr will es so?! War sie die Konkubine des Lordkanzlers? Ist
sie die Mätresse des Prinzen of Wales?! Sprich schon, sprich!’ Und er spricht. Er nennt mir
einen Namen. Er nennt mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit in der Tat einen Namen.
Und ich bin lange genug im Lande, um zu wissen, wer das ist. Er nennt mir einen Namen, der
mich wahrhaft teuflisch anmutet, in einem Worte ...“
„In einem Worte ... er nennt Ihnen Sir Enid Luciter“, vollendete ich für ihn.
Ambroise Tardieu blickte mich seitlich an, nicht übermäßig überrascht, wie ich bekennen
muß, gleichwohl kopfschüttelnd gewissermaßen und amüsiert.
„Ich sehe, Monsieur Holland“, sprach er dezidiert: „Wir verstehen uns. Wollen Sie mir gelegentlich verraten, was Sie darauf brachte?“
„Oh, das hätte Ihnen unter Kenntnis der Fakten jedes fünfjährige Kind vertrauen können“,
sagte ich bitter. „- Sir Enid Luciter ist der Auftraggeber jenes Bildes.“
„Ah oui ...“ Er starrte einen kleinen Augenblick perplex in meine Augen, dann machte er mit
der Rechten eine galante Geste, so als fordere er eine Dame zum Menuett, und sagte trocken,
mehr zu sich selbst: „Deux fois deux ... font quatre - naturellement.“
Eine Strecke Weges legten die Pferde nun zurück, ohne daß einer von uns das Wort fand.
„Warum meinte der Mensch in der Anstalt, sie sei eine Französin?“ fragte ich schließlich.
„Eine Französin?“ bedachte Tardieu. „Voilà ... ich fragte ihn nach ihrem Namen, und er sagte,
er wüßte ihn nicht, er habe ihn zwar nennen hören, aber nicht verstanden, weil er französisch
sei. - So erkundigte ich mich denn, was genau er gehört, aber er konnte mir keine Auskunft
152
darüber geben, da es für ihn grundsätzlich fremdländisch geklungen - ich erforschte ihn,
stellte jedoch fest: Es konnte genauso gut ‚Odette’ sein wie ‚Auguste’ oder ‚Odile’, wohl irgendetwas immerhin mit ‚O’ zu Beginn, aber von einem Familiennamen keine Spur. Nun
denn ... je n’en sais plus rien, mon ami, - aber meine nationale Eitelkeit machte sie mir eben
zur Landsmännin ....“
Ich nickte, seine Schlußfolgerung war naheliegend. „Ich hörte sogar“, sagte ich sinnend, „es
sei zwar französisch, aber gar kein Name, sondern nur ein französisches Wort, ein Begriff ...“
„Oh, nur ein Begriff, mais il y en a beaucoup“, rief er in komischer Verzweiflung, „peut-être
qu’elle s’appelle ... Odeur … ou Ombre ... Odéon ... Odalisque? -- Comment trouvez-vous
‘Obscurité’?“
Wieder trat nach seiner spaßigen Klage ein Schweigen zwischen uns ein. Ich erkannte an den
Häusern draußen, daß wir uns bereits der Brücke über den Fluß näherten.
„Ecoutez“, sprach er nach einiger Zeit, „ich habe Ihnen noch etwas mitzuteilen, das weder Sie
noch mich freuen kann, fürchte ich, hélàs. Sie ist verschwunden aus Ihrer Zelle, das reizende
Menschenkind, und zwar bereits vor einigen Tagen, wie ich Ihnen sagte - nicht erst gestern,
als Sie sie in der Kutsche gesehen. - Nein, sie ist fort, fort. Und ich fragte Jacques auch hiernach – nun, Sie ahnen es, Monsieur Holland, er sagte es mir: Sie ist geholt worden ... sie ist
wieder da, wo sie schon einmal war.“
„Sir Enid Luciter hat sie gerufen“, stieß ich hervor, „und sie ging hin ... sie folgte ihm ...“
„Das war es, was Jacques mir mitgeteilt“, sprach Ambroise Tardieu, „und wir dürfen getrost
vermuten, wenn ich Sie recht verstanden, daß der Arzt mit der gespaltenen Lippe, den Sie mir
gegenüber vorhin erwähnt, und der im Bethleham Royal arbeitet ...“
„Dr. Copeland ...“
„... ja, daß ebenjener seine Hand dabei durchaus helfend im Spiele hatte ...“
Die Kutsche rollte flink dahin. Gleichwohl, mir war, als seien wir soeben dabei, in einem
schwarzen Sumpfe elend zu versinken. Es war dies alles so hoffnungslos! - Io, meine Io, zurück in der Klause Beelzebubs, im Zentrum des Bösen, schlankweg im Spinnennetz der verruchtesten Macht. Dort, genau dort, von wo zu retten ich sie immer im Tiefsten gefürchtet,
von wo sie zu bergen ich immer glücklich gehofft hatte, vermeiden zu können, dort ... genau
dorthin war sie verschleppt ... es packte ein widerlicher Würgereiz mich an, dessen Herr zu
werden mir nur mählich gelang.
Morass Mansions, traulich am Ufer der Themse gelegen, wo seinerzeit mit der Vernissage all
dies begonnen! Dieser dumpfigte, düstere Raum mit den Ampeln und den absonderlichen
Düften kam mir wieder vor den Sinn, wo der Hausherr mich im Beisein des trunken und obszön kichernden Malers verhört. Ich entsann mich seiner heißen Warnungen und Drohungen,
mich jemals wieder dort blicken zu lassen. Und dennoch, nunmehr war es soweit – ich würde
diesen Diener, mit dem ich am Tore Kontakt geknüpft – wie war noch sein Name und seine
Adresse gewesen? einerlei, ich hatte es mir zu Hause notiert – ich würde nun also diesen
Mann, dem ich das Silberstück gegeben, aufsuchen und gemeinsam mit ihm einen Plan
schmieden müssen, der mich in dieses Anwesen hinein- und mit ihr, mit meiner Io im Gefolge, wieder herausbrächte. Morass Mansions ... ich glaube, geneigter Leser, erst an diesem
Abend ging mir die mögliche Bedeutung dieses Namens auf. Mir ward die Kehle trocken und
mein Herz schlug in Vorahnung höllischer Furcht, wenn ich nur an das unvermeidlich Nahende dachte.
Die Kutsche kam indem in die Nähe der Themsebrücke, und nun galt es, Abschied zu nehmen
von jenem älteren Manne und Künstler, den ich eine Stunde zuvor kennengelernt. Er hätte
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durchaus mein Freund sein können, dieser Monsieur Tardieu, er hätte mein Freund sein sollen, dachte ich, aber dazu, auch dieses war mir bewußt, konnte es nicht kommen, da wir beide
der benötigten Zeit ermangelten. Über kurz würde er seinen Auftrag erfüllt, die erforderten
Zeichnungen gefertigt haben, und er würde unter geschwellten Segeln über die See hin unterwegs sein, der Heimat entgegen. Ach, Freund ... Es sprach vieles, nein, nein, es sprach alles
dafür, daß ich ihn nach dieser gemeinsamen Kutschenfahrt nicht wiedersehen würde. - Wie
ist, überlegte ich, das Leben zumeist doch seltsam, betrachtet unter Kategorien wie Kommen
und Gehen ...
Freundschaft – ich dachte daran, daß ich ja einen Freund besaß, Sebastian Friderick-Horne,
den vertrauten Kumpan ferner, unbeschwerter Jugend – und wie lange ich ihn nicht gesehen,
auch dies war wohl nachts in einer Kalesche gewesen - auf der Heide, allerdings - und das lag
annähernd sechs Wochen zurück. Wann würde ich diese Freundschaft erneuern können?
Kommen und Gehen ... sann ich verwundert ... Kommen und Gehen ...
Ambroise Tardieu klopfte gegen die Wand der Kutsche und rief ein Signal, woraufhin das
Gefährt abbemste und auf dem großen Platz vor der Brücke zum Stehen kam. Der Franzose
musterte mich und reichte mir seine Hand. „On dit que le bonheur est avec ceux qui sont
amoureux“, sagte er. „C’est un amour fou, vous me l’avez avoué, mon très jeune ami.“ Er
betrachtete mich sinnend einen Augenblick. „Moi, je vous souhaite de tout mon coeur que
vous la trouviez, la p’tite belle, votre magicienne, la fée mystérieuse …“
Ich drückte ihm stumm die Hand und stieg hinaus. Ich sah die Kutsche über den Platz davonrumpeln, gleich noch einmal vorne an der Mautschranke halten und dann hinüberfahren. Hier
unmittelbar am Fluß machte sich doch ein leichter Nebel bemerkbar, der in feinen Schleiern
um die Häuserecken und durch das Licht der Laternen strich, und im Gewebe dieses fast unsichtbaren Dunstes gleichwohl tauchte die Kutsche des Franzosen in der Dunkelheit der Brükkenmitte allmählich unter. Ich riß mich von dem Anblicke los und schritt nach links hinüber
kräftig aus in eine der überaus finsteren Gassen hinein, die nur durch eine Häuserzeile vom
Fluß getrennt waren. Hier, wußte ich, würde ich in wenigen Minuten das ‚Ye olde Bell’ erreicht haben.
Jedoch: Das jähe Alleinsein, die plötzliche Nacht, der Laut meiner Schritte, der mit fahlem
Echo von den stillen Häuserwänden zurückgeworfen ward, und überdies ein jeglicher meiner
trüben Gedanken, der der Zukunft galt – all dies tat mir nicht gut; mein Herz bebte mit einem
Male derart von abergläubischer Furcht, daß trotz des kühlen Winters Schweiß meine Schläfe
netzte. Meine Phantasie schnitt mir die wildesten Grimassen ... ich schritt durch diese finsteren Gassen nahe am Fluß und erwartete jede Sekunde, hastige, verstohlene, aufholende
Schritte hinter mir zu hören, einen bleichen Halsabschneider aus dem Schatten treten, einen
Mörder mit bereitem Messer mir vermeintlich arglos entgegenkommen zu sehen und mich
vielleicht heuchlerisch um Feuer für seine Pfeife zu bitten. War es nicht erst ein gutes Jahr
her, daß man genau hier in der Gegend zwei Frauen aufgefunden, die geschlachtet worden
waren, indem man ihnen Nägel in die Augen getrieben? Und der Mörder, war er je gefaßt
worden? Ich konnte mich im Augenblick nicht recht darauf besinnen. - Und dann, dies andere
... ein junger Mann - es hieß, er sei gekreuzigt worden wie der Herr, an einem Fensterkreuz in
Picknell Street ...
Nun gut, das letztere war ein Totschlag im Milieu der Dirnen gewesen, und Picknell Street lag
auch nicht wirklich in der Nähe. Und schließlich war London eine große Stadt, hier geschah
jeden Tag etwas Pittoreskes - kam darauf an, man hörte wahrscheinlich nicht von allem. Wie
dem sei, ich verfluchte den Teufel, der mich geritten, als ich auf den gemeinsamen Abend mit
Tardieu verzichtet und statt dessen hier durchs Dunkel stolperte. Geschah mir recht, dachte
ich, wie er mich kitzelte - der bohrende Stachel meiner Angst. Ach, ich hätte jetzt etwas
darum gegeben, im „Belle Sauvage“ zu sitzen und die Überlandkutsche von Gloucester ras154
selnd und donnernd durch die Einfahrt nach hinten in den Hof rollen zu hören, und die
Reisenden, die ihr entstiegen, hätten die Gemeinschaft derer, die in der Schankstube auf einen
wohligen Abend hofften, vermehrt. Vielleicht wäre sogar der Marlowsche Teufel wieder aufgetaucht – ich hätte selbst ihn dieser dunklen Gasse in der Tat bei weitem vorgezogen.
Von vorne vernahm ich plötzlich den dünnen Ton einer Glocke, die die siebte Stunde schlug,
und ich erkannte ihren Klang von dem hellen Abend im September wieder und entsann mich
wohl des weißen Kirchleins seitab, als ich mich im Mondschein bei den Lagerschuppen am
Fluß heimlich mit der hübschen Gastwirtstochter getroffen. Wie lange zurück kam mir all dies
vor! Aber der zage Ton des Glöckleins kündete mir: Es konnte nun nicht mehr weit sein, und
so beschleunigte ich meine Schritte.
Und wirklich, ich hatte dies noch kaum gedacht, als ich in einiger Entfernung vor mir die erleuchteten Fenster der Taverne gewahrte. Das tief herabgezogene Strohdach, die freie Fläche
des Gartens daneben, hinter dem Zaun, wo man zum Fluß hinuntergelangte - es war alles wie
damals – und doch nicht. Heute, wie gesagt, gab es keinen Mond in dieser Gasse, und die
Bänke und Tische im Garten waren still zu Gerüsten zusammengestellt, niemand da, der
lärmte und lachte. Stimmengemurmel drang indessen hinter den gelben Fenstern hervor, und
nachdem ich mich einen Augenblick gegen die kühle Hauswand gelehnt und mit meinem
Schnupftuche meine Stirn getrocknet hatte, stieß ich entschlossen die niedrige Tür zur
Gaststube auf und trat ein.
Wie immer in solchen Momenten wurde es zunächst absolut still. Man blickt in aufmerksame,
fast feindselige Augen, die einem sagen, daß man hier nicht bekannt, nicht erwünscht sei, ein
Fremder. Ich nahm daher flink den Hut ab, beugte gefällig das Haupt und entbot artig und
vernehmlich einen guten Abend in die schweigsame Runde. Nun, man bekommt nicht wirklich eine freundliche Reaktion darauf, aber die allgemeine Aufmerksamkeit läßt tunlichst
nach. Stimmengemurmel, das abrupt ausgesetzt hat, brandet gelegentlich wieder auf, es werden einem sorglose Rücken zugedreht, in zwei oder drei Gesichtern erblickt man, bevor sie
weggekehrt werden, sogar so etwas wie die Andeutung eines Grußes. -- Oh Gott im Himmel,
wenn ich in diesen Sekunden auch nur entfernt geahnt hätte, welch grausame Art von Aufmerksamkeit all der Versammelten ich dieses Abends noch erringen würde, ich glaube, ich
hätte auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre entsetzt hinausgestürzt.
So jedoch ließ ich mich arglos und mit einem höflichen Nicken an einem der Tische gleich in
der Nähe der Eingangstüre nieder, an dem drei weitere Männer auf ihren Bänken zusammenrückten, als ich bei ihnen Platz nahm. Ich ließ sogleich meinen Blick zur anderen Richtung
schweifen, um ihnen anzudeuten, daß ich nicht gewillt sei, sie in ihrem privaten Gespräche zu
stören. Ich schaute: Die niedrige, geschwärzte Decke – ich glaube, ich habe dies zuvor berichtet - war von Balken gestützt, was dem Raume eine gewisse Behaglichkeit verlieh. Es
mochten zwanzig oder fünfundzwanzig Männer anwesend sein, die hier vereint saßen beim
Porter oder beim Gin. Ein Mädel besorgte die Bedienung der Tische. Es ging heute in der Tat
weniger lustig zu als seinerzeit draußen im Sonnenuntergang – da war, wie ich mich entsann,
die Wirtsstube sowieso so gut wie leer gewesen - und weniger laut heute hier herinnen, auch
der Rauch der Tabakspfeifen und Tabakkolben hing weniger dicht unter der Decke, als ich es
in anderen Kneipen schon erlebt. Das von Tisch zu Tisch eilende Mädchen war aufgehend in
der Frische ihrer Leiblichkeit, jung und anmutig zugleich, ihre Zugewandtheit, wenn sie sich
über die Tische lehnte, mochte die Phantasie der anwesenden Männer anregen wie ein Strauß
Blüten im Frühling.
Doch Rosetta Manderlay war nicht da ...
Zuerst fühlte ich nur, wie mir dies eine leichte Irritation im Kopfe gab ... dann verspürte ich –
und dies geschah zu meiner unmäßigen Verwunderung - eine beißende, ehrliche, zehrende
Enttäuschung im Herzen. Was war es, fragte ich mich betroffen, was war dies, das hier ge155
schah? Was verursachte mir diese plötzliche Mißstimmung, diese elende Niedergeschlagenheit, dieses Bohren in der Brust wie von einem eklen Wurm, wie von einer Krankheit? Warum hatte ich sie überhaupt treffen wollen? fragte ich mich aufgebracht. -- Sie wird auf einen
Augenblick in ihrem Zimmer sein, beruhigte ich mich, weibliche Erledigungen besorgen.
Womöglich hatte der Vater sie auf einen Botengang geschickt, - jetzt, um diese Zeit?
Vermutlich besuchte sie für Tage eine arme Bekannte auf dem Lande, überlegte ich, vielleicht
lag sie selber oben krank darnieder. -- War es überhaupt Motiv genug gewesen - nur weil ich
mich zufällig in der Nähe befunden - eilends hierher zu laufen und sie unbedingt zu treffen? Nun gut, ich hatte auf einen wahrscheinlich höchst unterhaltlichen Abend mit dem französischen Maler verzichtet, grübelte ich, ich war durch Nacht und Furcht hierhergeeilt. - Aber es
konnte doch all dies nicht wirklich der Grund sein für das, was ich jetzt im Tiefsten fühlte nur weil ich sie wider Erwarten eben nicht antraf?
Ich entsann mich von damals ihrer hohen, schwellenden Gestalt im weißen Mondlicht, wie sie
hernach über die Straße und davongeschritten war. Ich entsann mich sogar ihres sanften Duftes, wie sie zuvor dicht bei mir gestanden und mir ihre innersten Geheimnisse vertraut. - Und
ich erinnerte mich manch verwirrend atemlosen Moments danach, wann immer der Gedanke
an ihren üppigen gefälligen Anblick unvermutet vor mir aufgetaucht. Herrgott, was war es,
das ich für Rosetta Manderlay empfand? Ich fürchtete mich vor mir selbst. Suchte das Herz
bereits Auswege – nur weil die andere, die eigentliche, am Ende doch unerreichbar bleiben
würde, weil sie, wenngleich vielleicht in Gefahr, mir sicherlich doch ewig in der Ferne blieb
... wie ein weißes Einhorn im Mondschein, wie eine unsichtbare, traurige Fee, wie eine verzauberte Färse in der unendlichen Nacht?
Oh, Io, Io, Io, was sollte ich tun ...
Mein Blick ging unstet in der Taverne umher.
Der Wirt, Rosettas Vater – ich hätte, bevor ich hier eintraf, kaum noch zu sagen vermocht,
wie er ausgesehen – jetzt aber, als ich mich niedersetzte, als mein Auge wieder auf ihn fiel,
wie er da hinten im Lichte stand, mit seinem schütteren Haar, seinem verzagten, traurigen
Gesicht, wie er mit einem Tuche den Schanktisch wischte – da war die Erinnerung wieder da.
Ich sah ihn über die Entfernung wie von ungefähr an - er sah mich gleichfalls, und der Blick,
ein sonderbarer Blick, mit dem er mich traf – etwas wie plötzlicher Alarm schien darin –
machte mich geneigt zu glauben, daß auch er mich wiedererkannt.
Damit hatte ich nicht gerechnet. Und konnte es sein? Gewiß, wir hatten uns damals gerade ein
wenig unterhalten – da war dieses Mißverständnis gewesen, er hatte geglaubt, ich hielte seine
Tochter für eine leichtfertige Person – und er hatte mir von seiner toten Frau und seinen gefallenen Söhnen berichtet - aber konnte ihm dies kurze Gespräch mein Gesicht derart ins Gedächtnis gebrannt haben, daß er sich heute noch meiner entsann? Oder – ich erschrak - konnte
er gar meine innersten Gedanken lesen und die unzüchtigen Gespinste, die ich gerade gehegt,
klarer als in einem Buch? Ich knetete die Hände unter dem Tische, gerade, als das Mädchen,
das die Gäste bediente, zu mir herantrat, anmutig das Haupt beugte und mich nach meinen
Wünschen fragte.
„Ein Ale.“
Sie lächelte, nickte, verschwand. Meine Blicke schweiften, meine Gedanken gingen mildere
Wege. Als sie wenig später das Ale vor mich hinsetzte, beugte sie sich tief zu mir, ihr Haar
streifte mein Ohr. Ich zuckte elektrisiert zusammen ob dieser überraschenden Vertraulichkeit.
Was war dies? Ich spürte leicht ihre Brust an meiner Schulter. Sie wischte flüchtig den Tisch
vor mir mit einem Tuche, rings um das Glas, obwohl es nicht nötig gewesen wäre.
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Doch bevor ich noch näher, wie auch immer, reagieren konnte, wisperte sie: „Der Wirt
möchte Sie sprechen“, war im nächsten Moment davon und setzte lächelnd ein Glas vor jemand anderen nieder.
Mein Herz schlug plötzlich hart und trocken. Ich sah zu dem Manne am Schanktisch hin und
bemerkte, wie er mich fixierte. Dann schaute er angelegentlich fort – er nahm es für hinreichend und gegeben, daß unsere Augen das Rendezvous getroffen. Und, bei Gott, er mochte
recht haben.
Ich trank von meinem Ale und versuchte meinen Atem zu beruhigen. Weder die anderen bei
mir am Tische noch jene in der Wirtsstube hatten etwas von der Verabredung bemerkt, von
daher hatte das Aufwartmädel eine herausragende Arbeit getan. Ich suchte sie mit meinen
Augen, ihr Anblick wäre mir vielleicht tröstlich gewesen, doch sie war auf der anderen Seite
des Raumes heiter im Gespräch gefangen.
Er hatte mich also erkannt - das, was ich zuvor vermutet, war nun gewiß. Trotzdem – warum?
Was konnte er von mir wollen? Ich war seiner Tochter nicht nahegetreten, ganz gleich, was
ich bei Gelegenheit Unkeusches von ihr gedacht haben mochte oder nicht. Und solcherlei
konnte er nicht von mir wissen – wußte ich es selbst ja doch kaum! Gleichwohl: „Der Wirt
will Sie sprechen - der Wirt will Sie sprechen.“ Plötzlich war da ein anderes „... will Sie sprechen“ vor meinem Gedächtnis -- damals, in der Nacht, im Garten an der Themse, als Sir Enid
Luciter mich hatte bitten lassen, durch einen seiner Lakaien ... und da war ich dem Rufe arglos und neugierig gefolgt wie ein blökendes Lamm zur Schlachtbank, wie ein einzelner Träumer im Zug der Lemminge auf dem Weg in den Ozean. –
Nun gut: Was konnte er von mir wollen? Daß es Gefahr für mich hätte, ging mir nicht in den
Sinn. Er war ein ehrlicher Tavernenwirt und Vater, der seinen Lohn hartem, saurem Tagwerk
abverlangte - keine goldene Spinne, kein Alderman, kein grauer Herr im Dunkeln.
Schließlich stand ich wie angelegentlich auf und schlenderte hinüber zu ihm zum Schanktisch,
lehnte mich dagegen, zeigte auf die Flasche Gin hinter ihm an der Wand. „Wollen Sie mir
bitte einen davon geben, guter Mann?“
Wiewohl der eine oder andere der Anwesenden kurz aufgeblickt haben mochte, als ich aufgestanden, war meine nachlässige Bewegung durch den Raum doch gänzlich ohne Aufmerksamkeit geblieben, und ich beglückwünschte mich dazu. Ich lehnte mich gegen das Holz,
ahnte jedoch nicht, daß ich meiner unangebrachten Zufriedenheit binnen kurzem gänzlich
überhoben sein würde.
Der Wirt nickte nur knapp, wie es sein Metier ihm anempfahl - er legte das Tuch, das er
führte, für den Augenblick beiseite, langte nach einem Glase unter dem Tisch und der Flasche
hinter sich, entkorkte die letztere, goß das Glas gewandt halb voll und schob es mir mit oftmals geübter Bewegung über den Tisch. Eine ölige Brise des Gins, dem ich beileibe nicht
gewogen bin, wehte mich an, und ich mußte eine leichte Übelkeit dämpfen. Ich nahm gleichwohl das Gefäß wie spielerisch in beide Hände.
Der Wirt - ich bemerkte mit einem Male, wie ängstlich gespannt er wirkte - ergriff aufs neue
das Tuch, trat mir gegenüber auf, und er fragte in unterdrücktem Tone: „Und, Sir? ... Wann
kommt sie nun zurück?“
Ich blickte auf. - Was sage ich - es war dieser belanglose, kurze Satz des alten, traurig aussehenden Mannes mir gegenüber etwas wie ein plötzlich beklemmend rieselnder Wasserfall im
Hintergrund meines Denkens, unheimlich und bösartig.
„Bitte, wovon sprechen Sie?“ schnappte ich und versuchte aus meiner Stimme die Resonanz
und das Entsetzen gleichermaßen zu bannen.
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Er tat seinen Mund weit auf wie ein Ertrinkender unter Wasser, dann schloß er ihn wieder,
und nach einer kleinen Weile wiederholte er nur, genau so unterdrückt und leise wie zuvor:
„Bitte, wann kommt sie zurück?“
„Was soll das heißen?“ fragte ich. Ich wehrte eine Art von Panik ab, die lautlos und unheimlich wie eine leichte Welle über mich hinspülte. „Sie ist nicht hier? Ich meine, bitte … ich
meine, seit wann? – Und … bittesehr … was sollte ich am Ende damit zu tun haben?“
Er beobachtete mich und sprach mit leiser Stimme: „Sie, Sir, haben sich hier so sonderbar
nach ihr erkundigt, damals ... ich entsinne mich genau ... Haben Sie ein Herz, Sir! Fühlen Sie
mit einem alten Mann -- wollen Sie mir jetzt nicht ...“
Ich wehrte mit den Händen ab. „Aber nein“, stieß ich entsetzt hervor. „Sie irren sich. Im Gegenteil, ich bin hier, um ...“ Es war dies ein Alptraum. „Ich weiß nichts von ihr. Dies ist ein
Mißverständnis. Ein Mißverständnis, Sir.“ Ich dachte an seine Söhne, die als Helden vor Waterloo gefallen waren, an seine verstorbene Gattin.
Er wischte mechanisch mit dem Tuch über den Schanktisch, zog sich dabei langsam von mir
zurück, schüttelte traurig seinen Kopf. Sein Blick brannte ein Loch in meine Seele. „Wissen
Sie, junger Mensch …“ wisperte er, „-- Sie sollten sich schämen ...“
Zu diesem Zeitpunkt, es läßt sich nicht leugnen - während die meisten Anwesenden noch
nichts bemerkt hatten - war das Gespräch an den nächststehenden Tischen jedoch bereits verstummt, und die Männer dort, die dies hier womöglich für einen sich anbahnenden Streit halten mußten, heischten lieber etwas von unserer Konversation zu erhaschen als selbst ihre Unterhaltung fortzusetzen. Ich schaute unsicher nach ihnen hin, als sie stille wurden, musterte sie
kurz, bevor ich mich wieder zum Schanktische wandte.
Ich mußte, dies war mir klar, diese seltsame und dumme Situation unbedingt und sehr schnell
in Stille meistern, es galt hier ungesagte Mißhelligkeiten auszuräumen, sonst konnte der
Abend am Ende für mich ganz unerwartet enden. Die meisten Männer an den Tischen
ringsum wirkten, als ob sie tagsüber auf den Schleppern und Barkassen draußen im Strom
ihren Lohn erwarben, kräftige Kerle, deren Hände vom Greifen der Taue und Eisen im Laufe
der Jahre rauh geworden.
Meine – ich muß es gestehen - vorübergehende Rettung indessen kam in diesem Augenblick
von gänzlich unerwarteter Seite, denn es öffnete sich die Tür, und von draußen trat ein neuer
Gast herein, der sofort die Aufmerksamkeit aller auf sich zog. Und ich beging den fatalen
Fehler, nun einfach am Schanktische stehenzubleiben, statt den billigen Moment zu einer
Flucht zu nutzen, da ich wohl meinte, noch einige Erkundigungen einzuziehen und zweifelhafte Umstände erklären zu müssen.
Dabei hätte ich sofort mißtrauisch sein müssen, denn der Fremde, der hereingekommen - das
zeigte sich in den ersten Momenten - war mitnichten ein Gast. Die Art, wie er die Anwesenden von unten herauf ansah, wie er den Hut unterwürfig in der Linken hielt, wie sein irrender
Blick alsobald den Wirt ausmachte und er zögernd zuerst, dann flinker ebenfalls näher an den
Schanktisch herantrat, all das stellte ihn als jemanden dar, der nicht zum Vergnügen hier war,
sondern als einen, der einen Auftrag zu erledigen hatte: Der fremde Hereintretende war unzweifelhaft ein Bote.
Jedoch um diese Zeit?
Der Mensch war klein von Gestalt, schmutzig, mittleren Alters, von ungesunder Komplexion,
seine Nase und sein Gesicht überzog ein Labyrinth von geplatzten Äderchen, zudem hatten
seine fast farblosen Augen die sonderbare und unheimliche Eigenschaft, gleichzeitig zu den
Seiten hin auseinanderzulaufen, so daß er fast wie ein Blinder wirkte - aber wie immer oder
wer immer er auch war, er wußte sich in dieser Minute zumindest der ungeteilten Aufmerk158
samkeit des gesamten Raumes versichert. Er trat an den Schanktisch heran, so daß er ein,
zwei Schritte entfernt zu meiner rechten Seite stand, und als ihn der Wirt nun mit einem Heben seiner Augenbraue aufforderte zu sprechen, stieß dieser abscheuliche Mensch mit einer
gedämpften Stimme, die gleichwohl vom Trunke zeugte, jene unglaubliche Frage hervor, die
mir partout nicht in den Kopf wollte und die doch der ganze Raum deutlich hörte.
Er fragte mit gemeiner Betonung: „Ist hier ein Domenic Holland? -“
Man hätte nun ein Bläschen auf dem Ale platzen hören können. Ich konnte sogar meinen eigenen Herzschlag vernehmen. Was hatte er da gesagt, fragte ich mich ungläubig – wie war das
gerade gewesen?!
Hatte er wirklich, bei Gott, meinen ehrlichen Namen genannt, auf den ich christlich getauft? –
Niemand, niemand kannte mich hier. Niemand auch wußte, daß ich hier war. Wer bereitete
mir diese ekle Überraschung, offenbar dazu ausersehen, mich zu verderben? Ja, Himmel und
Hölle, selbst wenn es die Gazetten verkündet hätten, daß ich hier sei - kannte ich denn jemanden, der ihn mir geschickt haben würde, diesen schmutzigen Boten des Bösen? Ging das noch
mit rechten Dingen zu? Wie dann, zum tiefsten Pfuhl der Verdammnis, hatte er wissen können, daß ich mich heute und jetzt hier aufhalten würde - hatte ich es vor einer schmalen
Stunde doch selbst noch nicht gewußt? –
Ich fühlte, wie etwas wie ein stinkender, gieriger Abgrund sich auftat – spürte, wie das starre
Grauen mich antastete. Da war etwas … ich wußte es nicht zu benennen … da war mit einem
Male etwas Dunkles, Dämonisches, Tiefes, das diesen Ort schwängerte, wenn ich denn jemals
etwas Dergleichen erlebt. Wer war da ... fragte ich mich … unsichtbar im Dunkeln, aber ganz
nah, ganz nah, so scheußlich nah … wer war da … jemand, der jeden meiner Schritte kannte
... voraussah ... überwachte ...?! -- Jemand, der diesen Menschen hierher gesandt ...
Es herrschte eine Stille, wie am Anfange aller Zeit. Und was gleich darauf geschah, war im
Grunde, wenn auch nicht so unglaublich wie die Frage von zuvor, für mich doch genauso
verstörend. Denn der Wirt bewegte sich, und er zeigte barsch mit dem Finger auf mich, und er
sagte haßerfüllt: „Dieser da, mein guter Mann, dieser ist es, den du suchst.“
Ich hätte ein „Nein“ schreien wollen, mit all der Luft, die meinen armen Lungen zur Verfügung stand, aber ich fühlte, ich wäre nur grundsätzlich lächerlich gewesen.
Sie, keiner von denen hier konnte es wissen, auch nicht der Wirt, und doch hatte er mich benannt. Und da half es auch nichts, daß man in einer ruhigeren Zeit sich natürlich hätte erschließen können, warum er dies getan. Denn wenn man davon ausging, daß er seine Gäste
kannte, weil dieselben oftmals wiederkehrten, und man fürders annahm, daß unter denen kein
weiterer Domenic Holland zu finden sei, so mußte sich ihm mit Klarheit erschließen, daß der
einzige Anwesende, zu dem der Name paßte, mithin nur ich, der Fremde, sein konnte – ein
einfacher Gedanke, mitnichten Magie.
Der späte Bote kehrte sich zu mir. „Sie sind ... Domenic Holland?“ erkundigte er sich.
„Ja“, bestätigte ich mühsam. Es war ein Krächzen mehr denn eine klare Antwort.
„Nun gut, Sir“, meinte er mit einem befriedigten Nicken und zog einen schmutzigen Zettel
hervor. „Dann habe ich hier eine Lieferung für Sie.“ –
Nun, ‚Lieferung’, dachte ich spöttisch, ich dachte an einen Brief.
Aber es war nur ein purer Zettel, kein Brief. Jetzt, wo der Mann mich geradeheraus zu fixieren schien, war es mir fast nicht möglich, ihn meinerseits anzusehen, zu schrecklich war diese
Angewohnheit seiner Augen, nach zwei Richtungen zugleich auszuweichen. „Wollen Sie bitte
quittieren?“
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„Quittieren?“ fragte ich fassungslos. Es wurde dies doch immer kurioser. „Bester Mann“, rief
ich - konnte es jedoch nicht hindern, daß mir verschiedentlich die Stimme wegbrach, „ich
erwarte keine ... keine ‚Lieferung’“, rief ich, „schon gar nicht hierher! Ich betrete dieses Haus
heute zum ersten ... will sagen, zum zweiten Male im Leben, und das andere Mal liegt fast
zwei Monate zurück.“
Ich hatte plötzlich eine Idee. „Eine Lieferung also?“ fragte ich. „Von wem denn, wer schickt
mir etwas?“
Der Bote senkte seine schielenden Augen auf das Papier. „Weiß nicht“, brummte er unstet.
„... war ein junger Mann, gut gekleidet – ich kann die Schrift nicht lesen.“
„Zeigen Sie her.“
Er reichte mir das Papier hin - es war eine Verladebestätigung des Kontors der East India
Shipping Company über eine Charge ‚Harts Horn, Gable Worm Seed, Saffron and Dirty
White Candy’ für Fortnum und Mason in 181 Piccadilly - das ganze, soweit ich sehen konnte,
datiert gut zwei Jahre zurück.
Fast wäre ich in Lachen ausgebrochen.
„Hören Sie“, sagte ich und schob ihm das Papier zurück. „Sie können überhaupt nicht lesen,
guter Mann. Weiß der Himmel, wo Sie das her haben, aber ein Lieferschein ist es gewiß nicht,
zumal keiner über eine Sendung an mich. Was also soll das lose Geschwätz?“
Bevor der Bote seinen dubiosen Zettel wieder an sich nehmen konnte, hatte der Wirt ihn flugs
ergriffen. Er hob ihn an seine Augen, las ihn, blickte auf die Rückseite, ließ ihn dann langsam
sinken, schaute mich verständnislos und leer an.
Inzwischen war auch das letzte Gespräch in der Gaststube erstorben, alle Köpfe waren längst
zu uns gekehrt, einige der Männer hatten sich sogar von den Bänken erhoben.
„Aber ich habe eine Lieferung“, maulte der Bote aggressiv und mit durchaus kräftiger
Stimme. „Ein junger Mann hat’s mir gegeben.“
„Gott weiß, was Sie haben!“ rief ich verzweifelt aus. „Aber es ist keinesfalls für mich bestimmt.“ Ich zeigte auf den Zettel, der vor ihm lag. „East India Company, zwei Jahre alt.“
Ich richtete mich an die aufmerksamen Männer hinter mir. „Irgendetwas aus einem Kontor in
den Docks, Leute ... zweifellos ein Streich ... ein dummer Witz, der sich aufklären wird.“
„Aber Sie sind doch Domenic Holland“, blökte der schielende Bote und übertönte mich. Das
immerhin war es, woran er sich halten konnte. „Domenic Holland. Das sind Sie doch, Sir,
oder sind Sie’s nicht?“
Ich überlegte kurz. „Also gut: Was für ein junger Mann?“
„... weiß nicht, Sir“, brummte er. „Ein junger Mann eben, mit Augengläsern und einem kleinen Bart. Gut gekleidet. Vorhin, als die Uhr schlug. Drüben an der Anstalt, wo die Irren drin
sind. In Bedlam.“
Ein unangenehmer Schauder ging flach über meinen Rücken.
„Kenne ich nicht, einen solchen jungen Mann“, murmelte ich schwach. Flüchtig war zwar der
Gedanke an Sebastian Frideric-Horne aufgetaucht – und ob ihm ein solch perfider Spaß womöglich zuzutrauen - doch ebenso schnell wieder fallengelassen worden. Und bei all dem Hin
und Wider, bei alldem, was sich hier auf der Oberfläche der Konversation bewegte - blieb
doch jener geisterhafte Rätselschatten die ganze Zeit deutlich im Hintergrund: Woher sollten
er … oder irgend jemand überhaupt wissen, daß ich augenblicklich hier war?! - Nun noch die
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Verbindung nach dem Asyl des Bethleham Royal Hospital, von wo ich gerade noch hergekommen ... allzu eigen war dies … und unheimlich!
„Also gut“, sagte ich kurzentschlossen. „Dann lassen Sie uns doch sehen, was es wohl ist, das
Ihr junger Mann mir da schicken will.“ Ich streckte meine Hand aus. „Geben sie her.“
Er wich vor meiner Hand zurück, als habe ein Insekt ihn gestochen. „Nein, nein“, sprach er
hastig, „ich habe es draußen, Sir, auf dem Wagen. - Und Sie sollen mir erst fünf Schilling
geben.“
Ich zögerte nur kurz, dann nahm ich meine Geldbörse hervor und händigte ihm die verlangte
Summe ein. Es stellte sich mithin heraus, daß er kein Bote, sondern ein Kutscher war. Und als
ich ihn bezahlt und mit ihm hinausgehen wollte, wehrte er erneut ab, lachte sogar ein wenig
und meinte, daß ich allein wohl nicht in der Lage wäre, die Kiste vom Wagen herunterzuheben, und einige meiner Freunde müßten mir da wohl schon helfen.
Ich wandte mich an die bunte Schar in der Gaststube. „Also gut, Leute, für jeden einen Penny
...“
Ich hätte das Handgeld sicher nicht ausloben müssen, denn alle kamen sowieso und freiwillig
mit hinaus. Zu interessant hatte sich das Drama vor ihren Augen bisher gestaltet, als daß sie
jetzt den letzten Akt hätten versäumen mögen. Vor der Tür – einige der Männer waren geistesgegenwärtig genug gewesen, Lichter mit hinauszunehmen - fand sich ein Wrack von Karren stehend, der gerade aus vier klapprigen Rädern und einigen Brettern bestand, welche eine
ebene, rauhe Fläche ohne jede Begrenzung ringsherum bildeten, davor eingespannt ein müder,
knochiger Gaul, der seinen Kopf hängen ließ. In eine eiserne Öse seitlich am Gefährt war die
Peitsche eingesteckt. Auf dem Fuhrwerk, wenn man es denn so nennen mochte, erblickten wir
eine vernagelte Holzkiste ohne Aufschrift stehend, von etwa drei Fuß der Länge und zwei Fuß
im Geviert.
„Nun los, Männer, wer also packt mit an?“
Vier kräftige Leute fanden sich, um die Kiste sogleich vom Wagen herabzuheben, ich
brauchte nichts dazu zu tun. Ein weiterer kam plötzlich gelaufen und trug, ich weiß kaum
woher, ein Stemmeisen in der Hand. Niemand dachte daran, das Gepäckstück auch noch in
die Wirtsstube hineinzutragen, sondern es wurde mit großem Hallo polternd vor der Tür im
gefrorenen Schlamm der Straße abgesetzt. Mit einem Male schien es ihrer aller Eigentum zu
sein, zu neugierig war ein jeder inzwischen bezüglich seines Inhalts. Männer standen und
leuchteten mit erhobenen Lichtern. Kommandos wurden gerufen und lästerliche Späße flogen
zwischen ihnen hin und her, und so wurde unter derbem Gelächter und Scherzen das Stemmeisen an die Kiste angesetzt - der Kutscher stand dabei - das Holz quietschte, Nägel zeigten
sich und glänzten im Licht, mit einem Krach brach der Deckel auf. Das Ganze hätte eine
Szene auf einem alten Gemälde sein können, die derben Kerle mit ihren Tüchern und Hüten
hätten Piraten in der Südsee sein mögen oder ein Volk Schmuggler in der Bucht von Neapel.
Nur daß es zu kalt war für südlichere Gefilde.
Nun traten die Männer zurück, um mir, dem Anführer, Platz zu machen, und es wurde stiller
in der nächtlichen Gasse vor dem Wirtshause. Alle blickten nun mich an und die Kiste schließlich war sie mir als Eigentum zugestellt gewesen. Sie standen mit ihren Lichtern und
ein, zwei lohenden Fackeln um mich herum und warteten ab, was ich tun würde. Ich unterzog
die Lieferung einer ersten Inspektion. Es erwies sich, daß das Innere mit einer gelblichen,
wasserdichten Plane oder Persenning gründlich angefüllt war, der Stoff wirkte stark und fest
wie Segeltuch - oder genauer, es schien etwas in diese Persenning eingewickelt.
„Also, Leute“, sagte ich, „dann wollen wir doch sehen ...“
Meine Hände berührten die Persenning und falteten sie zur Seite.
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Und noch heute, in meinen schwärzesten, bösesten Träumen, sehe ich manchmal dieses Bild,
erblicke ich den Anblick meiner eigenen forschenden Hände dicht vor meinen Augen wie
damals im Kreise jener Männer, als sie den gelben Segeltuchstoff sorgsam auseinanderlegen.
Und noch heute glaube ich, daß wenige Menschen … geprüft werden in der Art, wie ich geprüft wurde in jenem Moment. Ich berührte etwas Weiches.
Es war durchaus angenehm zu berühren, dachte ich im ersten, überraschten Moment, obwohl
es dort im Innern der Kiste feucht schien und klebrig und kühl – es war nichts Schleimiges,
Glitschiges wie meinethalben Fisch, das ich berührte, sondern es war etwas Weiches, Sanftes.
Auf sonderbare Weise begegnete es meinem tastenden Griff mit Bekanntheit, Vertrautheit …
ich hatte so etwas oder ungefähr so etwas schon gespürt. Ich zog es vorsichtig ans Licht …
und hörte undeutlich den gleichzeitigen Schrei mehrerer Männer ringsum.
Ich weiß es nicht, aber ich bin sicher, ich selbst schrie nicht. Ich hätte nicht zu schreien vermocht in dieser Sekunde, nicht weil mein Entsetzen nicht gereicht hätte, mich schreien zu
machen, sondern weil mein Selbst, mein Inneres, meine Seele, mein Auge, mein Herz, meine
Lippen, mein Mund, mein Hirn, weil alles, das ich war, alles, in diesem Moment in unendlichem Grauen gebannt war wie die Fliege im Innern des Bernstein. Meine Empfindung war
gefangen in der leeren, dunklen Nacht, eingefroren oder versteinert oder zu Asche verbrannt.
Es gibt Dinge, die zu gräßlich sind, als daß wir sie wirklich lebendig erleben.
Was ich da aus der Persenning zog, war die zarte Hand eines Mädchens, dunkel und fett von
gestocktem Blut. Darauf folgte ein Arm … meine Hände rissen die steife Persenning auseinander wie von Sinnen, wie in Fieberschauern. Eine weiße, gleichwohl blutige Schulter tauchte
auf, eine Lende, ein offensichtlich gebrochener Schenkel, ein Fuß, das Mädchen war nackt,
wie Gott sie geschaffen, hineingestopft in diese viel zu kleine Kiste wie ein krankes Tier, mit
Gewalt hineingebogen, zerbrochen und gezwängt, zusammengedrängt wie Unrat … ich sah
einen dunklen, sanften Haarschopf, fühlte vorsichtig hin, ein zarter Kopf offenbahrte sich dort
in der Ecke der Kiste, ein blutiges Gesicht halb abgewendet im Segeltuch.
Jetzt hörte ich einen einzelnen Mann schreien, einen Mann, wieder und wieder. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sie ihn stützten und wegzerren wollten, fast körperlich spürte ich, wie
er sich wehrte. Und doch waren die anderen stärker als er, und so schafften sie ihn nach drinnen in die Gaststube. Es war der Wirt, der über sein verlorenes Kind weinte.
Ich dachte an die andere, das fremde spanische Mädchen, das man erst vor wenigen Tagen
gefunden, hineingestopft in den Abwässerkanal der alten Gerberei von St. Marylebone. Ich
hatte sie nicht gesehen, sie nicht gekannt. Aber wie auch immer, dies hier dünkte mich grausamer, gemeiner, leerer, hohler, - es schien dies von einer sonderbar gewollten Barbarei, die
alles Vorstellbare übertraf - diese zelebrierte Geste des Wegwerfens war so abgrundtief böse,
das Leben geringschätzend, die Schöpfung selbst verachtend, daß mich fror - und das alles
hatte noch nichts damit zu tun, daß ein grenzenlos sinistrer und fühlloser Jemand das Mädchen am Ende an mich adressiert.
Meine ungefühlten Tränen tropften in das schreckliche Behältnis. Die sieben Geliebten des
Zeus. Meine Finger wischten manisch und sinnlos das Blut von einer makellosen Lende. Die
Brust des schönen, jungen Mädchens gab es nicht mehr. Statt dessen gähnte unterhalb der
Schultern und des Halses ein grauser, schwarzer Sumpf aus geronnenem Blut und Knochen
und Leere. Mich hielt das Entsetzen in seinen kalten Klauen wie die verbliebenen Männer
ringsum. Ich weinte, ohne es zu spüren, und ich fühlte keine Erleichterung darüber.
Ohne Herz war Rosetta Manderlay zu ihrem Vater heimgekehrt.
162
.....
Ich weinte um die schöne Wirtstochter. Zum letzten Mal fragte ich mich, was ich für sie empfunden. War meine Seele bereits jener anderen gegenüber untreu gewesen – aus welchem
Grunde – gleichviel?
Hatte ich dieses tote Mädchen begehrt?
Ich roch ihren Duft, wie sie bei mir gestanden, damals in der Nacht vorn am Lagerplatz, ich
hörte ihre geflüsterten Worte, fühlte ihre Angst wieder, vor dem Vater, der uns entdecken
mochte, wie vor dem, was sie Gräßliches erlebt. Ich spürte ihr Haar unter meinen Fingern,
ihre sanfte, warme Haut, ihre Lippen. Ich sah uns im hellen Mondlicht stehen wie ein Liebespaar. Ich hatte ihre Geschichte im Ohr von dem großen, dunklen Haus in Mayfair, wo der Alte
– Enid Luciter stand zu vermuten - ihr Konfekt angeboten und der junge Mann – wer auch
immer - die ferneren Arrangements getroffen. Die Lockungen eines blanken Goldstücks für
ein Kind wie dieses .... Und ich stellte mir vor: das Verlies in dem Cottage mit den Einhörnern
in Cornwall, und wie Condonniere oder Schuster oder wie auch immer er hieß, in der blauen
Stunde zu ihr gekrochen war auf ihr Lager, um ihr ekle Dinge anzutun. Sie war so blühend
gewesen. Ich sah ihre hohe, schöne Gestalt durch das Mondlicht über den weißen Sand davonschreiten, damals, in jener hellen Nacht. - So hatte ich sie zuletzt gesehen, aber ich hatte
nichts gewußt, nicht geahnt, daß es das erste und das letzte Mal sein würde.
Ja, ich weinte um die schöne Wirtstochter, ich ließ meinen Tränen freien Lauf. - War es nicht
allzu absurd, wie ich mich in der Entscheidung schnellen Augenblicks heute abend kurzerdings entschlossen, stracks hierherzueilen, um dem Tage, der im Bethleham Royal Hospital
mit so schnöder Enttäuschung zu enden gedroht, doch noch einen Sinn zu verleihen?
War das nun dieser „Sinn“ geworden? –
Rosetta Manderlay das Herz herausgeschnitten wie vor ihr Asunción Lozano … Zwei junge
Frauen aus dem obskuren griechischen Bilde barbarisch hingeschlachtet … Europa und Semele … mein Kopf hatte mir nichts anzubieten, zu welchem Zwecke diese zwei Mädchen hatten sterben müssen - und warum sie dabei ihr Herz eingebüßt.
War es nicht gar zu absonderlich, gar zu abscheulich? Gesetzt den Fall, ich hätte diesen Platz
heute abend und meinethalben auch in fernerer Zukunft gemieden – was dann? - dann zumindest hätte mir ein böses Menschenungeheuer Rosettas toten Leib nicht „liefern“ können wie
vorab geschehen. Aber hätte sie deshalb noch gelebt?
Ich war an jenem Abend, als ich draußen vor dem „Ye Olde Bell Inn“ angesichts der offenen
Holzkiste im gefrorenen Staube der Straße kniete und bitterlich um das tote Mädchen
schluchzte, nicht vermessen genug, einen Zusammenhang zu sehen zwischen dieser Höllentat
und meiner eigenen Person, nicht hellsichtig genug – und ich war mir nicht im entferntesten
klar hinsichtlich der Konsequenzen, wenn es denn eine solche Verbindung gegeben hätte.
Dabei – dort herinnen – so lange als es geschienen, daß es offenbar um nichts als einen schalen Schabernack ging – „Ist hier ein Domenic Holland? … Sir, ich habe eine Lieferung für Sie
…“ – so lange hatte ich mir durchaus Fragen gestellt - über das Wie hauptsächlich, und auch
das Warum … Wie hatte, wer immer es war, mich ausfindig machen können? … Wie hatte er
– und dies sozumeinen früher als ich es selbst - wissen können, daß ich heutigen Abends
überhaupt hierher ginge? … Dann jedoch, als die Situation so schauerlich umgeschlagen, da
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hatte ich in momentaner Fassungslogigkeit aufgehört mir dergleichen Fragen zu stellen. Ich
weinte um das schöne Menschenkind. Das Rätsel, weshalb man gerade mich mit der Leiche
bedacht, stellte sich mir nicht - der kranke, krude, obszöne Spaß, den sich jemand mit mir
erlaubt, indem er mir Rosetta Manderlays Leichnam angedient … ich war geneigt, kostbarer
Leser, für den Augenblick zu übersehen, daß der Lieferant dort drinnen vor Zeugen ja ausdrücklich meinen Namen ausgerufen, daß er von jemandem eigens zu mir gesandt worden
war, daß ein satanischer Mordbube im Dunkeln die Verbindung zwischen der Wirtstochter
und mir längst hergestellt.
Was verband mich wirklich mit Rosetta Manderlay?
Das einfache Volk, immerhin, das herumstand, hatte allzu schnell seine Schlüsse gezogen.
Hatte falsche Schlüsse gezogen, zu weit gehende, teilweise wohl von blanker Eifersucht diktierte. Interessant mag die Frage sein, ob meine Tränen an diesem Abend mein Leben retteten
– bedacht oder geplant hatte ich es nicht.
Es hatte in der Tat einen sehr intensiven, scheußlichen Moment gegeben, gerade als das
Grauen buchstäblich über der Szene zusammengeschlagen war, die Fackeln all das Blut und
den malträtierten Leib in der Kiste grell beleuchtet hatten, der Wirt schreiend nach innen geführt worden war, als das Durcheinander der Stimmen plötzlich zum Einhalt gekommen und
diese entsetzliche, gewalttätige Stille entstanden war, die lauter schrie als jeder Sturm – da
hatten entschlossene Handgelenke geknackt, da waren grobe Halsadern geschwollen, Blicke
geworfen worden - da hatten im Fokus bestürzten und sprachlosen Zorns zwei Personen gestanden – jener Lieferant und ich.
Das hatte einen Augenschlag, kaum länger, gedauert, ich erinnere mich, daß ich in der Stille
das dünne Stimmlein jener Glocke drei Viertel auf acht schlagen hörte, jener Glocke, die zu
dem weißen Kirchlein nahe am Ufer gehören mußte, das ich an dem Abend mit Rosetta gesehen - drei Schläge – dann hatte der Bursche, jener ungeflügelte Hermes, der Lieferant des
Todes, ein Lamento und Geheul angehoben, das ihn augenblicks in den Bereich der Feigheit
und Belanglosigkeit gebannt – ein solcher Mensch hat mit dergleichen Nemesis nichts zu tun.
Und ich? Ich muß sagen, ich nahm diesen Moment erst im Nachhinein wahr, als er längst
vorüber – ich war, als die drei metallischen Schläge der Glocke ertönten, wie ich zuvor gesagt, damit befaßt, sinnlos das Blut von Rosetta Manderlays weißer Lende zu streichen – ich
bemerkte auch erst lange danach - lange danach - daß ich dazu jenes Tuch mit dem Monogramm benutzt, das mir der verwirrte Mensch in dem Asyl überlassen - und – auch dies habe
ich zuvor angemerkt – es rannen mir die heißen Tränen über die Wangen, und es krampften
sich meine Schultern im Schmerz, während das Tuch sich mit dem Blute Rosetta Manderlays
tränkte … zum zweiten Mal an diesem Tage überließ ich mich meiner atemlosesten Fassungslosigkeit ...
Dies mochten die rauhen Männer um mich her schließlich als Stimme meines schlichten Herzens erkannt haben, und ein Moment unbemerkter Gefahr ging so lauter an mir vorbei. Vorüber ging allerdings auch die Gelegenheit zu überdenken, ob dies vielleicht der ganz banale
Grund gewesen, wieso man mir das Mädchen ursächlich geschickt – eine kostbare Frage,
nicht gestellt und nicht beantwortet: ob von dem heimtückischen Blutmonster im Verborgenen einfach intendiert gewesen, mich von rechtschaffenen Menschen in einer wilden Aufwallung des gerechten Grolls beseitigen zu lassen? –
Was wußte ich denn schon?!
Ich weinte um Rosetta Manderlay.
164
.....
Irgendwann fühlte ich eine mitleidige Hand auf meiner Schulter.
„Kommen Sie!“ sprach mich ein Mann aus der Gruppe der Umstehenden an. „Hier werden
Sie nichts mehr tun können.“
„Nein, Sir“, sagte ich und barg das blutige Tuch in meiner Hand. „Nein, Sir, Sie haben völlig
recht, Sir. Das kann ich nicht.“
Er half mir auf und führte mich wieder nach drinnen in die Schankstube.
Andere, das sah ich im Abgang, kümmerten sich um die grauenvolle Kiste. Der Deckel wurde
locker daraufgelegt. Es war von irgendwo ein großes Tuch besorgt worden, das wurde jetzt
darübergebreitet, und vier oder fünf Männer trugen kurz nach mir das Behältnis in die Wirtsstube. Sie setzten es behutsam in einem der hinteren Winkel beim Schanktisch ab.
Ich wurde von dem Manne, der mich getröstet, und einem anderen an einen Tisch geleitet,
nahe bei der Pforte in den Garten, dem Schanktisch ungefähr gegenüber. Der Bote, der mit
dem Fuhrwerk die Kiste gebracht, hatte an einer Tafel Platz gefunden nahe jener niedrigen
Tür, die in die hinteren Räumlichkeiten führte. Von dort war damals, ich erinnerte mich, laut
und fröhlich das bunte Theatervolk hereingeströmt, unter ihnen die anmutige Wirtstochter. Da
hatte ich sie zum ersten Mal gesehen.
Er saß jetzt da, der Bote, mit seinem geheimnisvollen Schielen, das wirkte, als ob er in verborgene Winkel von sich hineinstarrte, und irgendeine gute Seele hatte ihm sogar ein Glas
Gin hingestellt. Den Wirt, den Vater der Rosetta, konnte ich nirgends ausmachen. Er war im
oberen Geschoß zugegen, da war ich sicher, in seinem Zimmer oder dem seiner toten Tochter.
„Möchten Sie etwas zu trinken haben, Sir?“ fragte mich der Mann, der mich hereingeleitet.
„Nein“, sagte ich. „Nein, Sir, vielen Dank.“
Er nickte mir zu und trat ab, der andere, der ihm geholfen, war schon vorher zu anderen herübergetreten. Ich betrachtete das blutige Tuch in meiner Hand, dessen Monogramm nicht
mehr lesbar war, und schob es in meinen Hosensack. Es war mir gleich, ob ich mein Beinkleid dabei beschmutzte, das von der guten Mrs. Hamlet, wie bemerkt, immerhin nur geliehen
war.
Ich schaute mich um. Es war dies die Taverne von zuvor, die Gaststube, die ich kannte, und
doch war es nicht mehr das trauliche “Ye Olde Bell“: Es war, genaugenommen, überhaupt die
Atmosphäre eines Schanklokals nicht mehr. Es hätte ein Kontor sein können oder eine Bürgerversammlung.
Der Raum war ebenso erfüllt mit Menschen wie zuvor, es waren sogar eher mehr zugegen als
am frühen Abend, aber kaum einer von ihnen trank, nur wenige rauchten Tabak. Wenige saßen, die meisten standen, die Gespräche wurden in ernstem, unterdrücktem Tone geführt. Von
einem bestimmten Zeitpunkt an, ich hätte nicht zu sagen vermocht, wann sie aufgetaucht waren oder wer sie geholt hatte, waren auch eine Reihe Frauen unter den Anwesenden, und die
Art, wie sie mit den Männern redeten, machte mir klar, daß es ihre Frauen und Töchter waren.
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Sie liefen mit Tüchern und Krügen über die Treppe im Hintergrund nach oben, sie kamen von
draußen oder gingen nach draußen, und es wurde mir offenbar, daß sie wohl den pflegebedürftigen Wirt versorgten.
Irgendwann bemerkte ich auch, daß jemand einen Schemel vor die zugedeckte Kiste in der
Ecke gerückt und darauf eine Kerze angezündet hatte. Da brannte still und unbeachtet das
kleine Licht und beleuchtete das grüne Wolltuch, das über das grauenvolle Behältnis gebreitet war, - aber so primitiv und dürftig, wie der karge Altar auch anmuten mochte, so rührte er
doch zutiefst meine Seele.
Ich befand mich in einer sonderbaren, somnambulen, fast traumartigen Stimmung. Allzu
Schreckliches war geschehen, oh so Widerwärtiges, Grauenvolles - aber es war geschehen.
Trotz all dem, das ich fieberhaft versucht hatte, zu ändern, zu bessern, zu verhüten, aufzuhalten, und wenn auch mein Versuch, im Interesse des Glückes etwas zu hindern, unvermögend
ausgesehen haben mochte, tölpelhaft, komisch, unwissend und naiv – Rosetta Manderlay, das
zweite Mädchen, war trotzdem kaltblütig ermordet worden. Niemand, kein Gott, vermochte
die Uhr zurückzudrehen, und das hieß, wie ich mit Überrraschung zur Kenntnis nahm: Es war
vorbei. Es war unumkehrbar, unrücknehmbar geschehen - aber auf unaussprechliche Art gewann ich daraus, schien mir, Sicherheit … und etwas wie Wut - nicht Panik.
Ich fühlte mich wie ein Stein. Gesetzt, ein Stein, dachte ich bei mir - gesetzt, ein Stein lebte
genau so ein Leben wie wir alle, nur unendlich viel langsamer als wir - gesetzt, er beobachtete
uns bei unserem Tun. - Es war gut möglich, daß er uns gar nicht wahrnahm in seiner Welt der
Steine, die doch genau die unsere war - ob unserer kolibri-, atemschnellen, augenschlagschnellen Erschütterungen. Wir sausten an ihm vorbei, um ihn herum, schneller, als das steinerne Auge uns folgen konnte, vielleicht nahm er unsere ganze Existenz nur als das plötzliche
unerklärliche Vorbeiwischen einer Farbe im Augenwinkel, als optische Täuschung wahr und
war sich unsicher, ob er uns überhaupt gesehen, und der Ablauf eines Lebens wie des unseren
dauerte ihm nicht einmal eine kurze Dehnung seiner steinernen Haut – so wie uns die Langsamkeit seiner Unruhe Stillstand deuchte und unsere Lebensspanne nicht auslangte, um seine
Wanderung zu überprüfen. So viel Hast und Bewegung war im Raum, doch ich fühlte mich
wie ein Stein.
Ich dachte auch an Frank Purcell, der unter die Kutsche geraten war. Ich dachte zu jener
Stunde an ihn mit Mäßigkeit, ich wußte überhaupt nicht, ob ich im vorgetragenen Zusammenhang an ihn denken sollte. Gehörte er überhaupt in die Reihe der Opfer aus dem Bilde der
Geliebten des Zeus, denn er hatte ja sein Herz dabei behalten dürfen? -Die Tür zur Straße schlug ein ums andere Mal, Männer gingen hinaus und andere kamen herein. Indem ich mich an die Gesichter gewöhnte, bemerkte ich nach und nach, daß sie auf Botengänge liefen und von ihnen zurückkehrten. Ich horchte mit der Zeit heraus, daß sie versuchten, den zuständigen Constable aufzutreiben, ihn offensichtlich aber, wie ich hörte, bei
der Witwe, wo er um diese Zeit zu vermuten gewesen wäre, nicht angetroffen.
Ein anderer Name kursierte, den ich nicht verstand, ein Vorschlag machte die Runde, die
Männer nickten und konferierten miteinander. Einer, der nicht dazugehörte, kam plötzlich
herein und brachte unwillig vor, daß man die Schindmähre des Boten besser hinter dem Haus
versorge, das Tier sei wohl krank und verschmutze unzuträglich den Fahrdamm. Zwei Männer liefen, um das zu erledigen – der Bote, um dessen Vieh es ging, starrte währenddessen mit
einem Auge teilnahmslos in seinen Gin, das andere Auge hatte er trübe geschlossen.
Der Mensch, der mich hereingeführt, kam ein weiteres Mal zu mir und bot mir etwas zu trinken an. Ich hatte unterdessen, aus dem, was er verschiedentlich gesagt und auch, wie er von
anderen angesprochen worden war, herausfunden, daß er der Schwager des Wirtes sein
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mußte. Ich lehnte sein freundliches Anerbieten dankend ab, aber ich fragte ihn warm, wie er
heiße.
„Cobb“, sagte er kurzangebunden und kehrte sich wieder weg von mir.
Einmal, als die Tür sich öffnete, und einige, die hinausgingen, sich mit solchen, die gerade
hineinkamen, knapp und in verhaltenem Tone verständigten, hörte ich die kleine Glocke
draußen halb zehn schlagen.
Und kurz danach trafen die ein, die wohl in Ermangelung des Constables geholt und erwartet
worden waren. Draußen hörte man sich näherndes Pferdegetrappel, vernahm, wie die Tiere
angehalten wurden, hörte wildes Gewieher. Dann öffnete sich die Tür.
.....
Es war eine Gruppe von fünf Männern, und mit ihrem Eintritt wurde es spürbar stiller und –
man gewann den Eindruck – auch kühler im Raum. Sie kamen in einer unbeschreiblichen
Aura von Bedeutsamkeit und Gewicht herein. Lag es daran, daß sie sich eine Winzigkeit zu
langsam bewegten, ihre Absätze mit erbarmungsloser Strenge auf den Wirtshausboden setzten, war es die Art, wie sie ihre Blicke unter den sehr breitkrempigen Hüten hervor schweifen
ließen und die Hüte nicht abnahmen oder lag es nur daran, daß sie alle in tiefstes Schwarz
gekleidet waren? Dabei war keiner von ihnen über Mittelmaß gewachsen oder von sonstiger
körperlicher Prägnanz. Überhaupt schienen sie eher für die Pferdekoppel als für die Stadt gekleidet, all das Leder an den Beinen und Jacken – der eine indessen, der älteste von ihnen, er
mochte an die fünfzig Lenze zählen, während die anderen wesentlich jünger, weniger als
dreißig Jahre waren, trug die violette Weste des Friedensrichters. Er, der Anführer, blieb stehen, versammelte die anderen um sich, zog, sich umblickend, lässig seine Handschuhe aus.
Jemand schloß hinter ihnen die offen gebliebene Tür. Und Cobb, der Schwager des Wirts, näherte sich ihnen, verbeugte sich und sprach den Mann an.
Ich hörte nicht, was verhandelt wurde, der Friedensrichter redete sehr leise und ließ währenddessen über Cobbs Schulter weiter seine Augen schweifen, und demnach sprach auch Cobb
nur unterdrückt mit ihm, in unterwürfiger Körperhaltung. Der Friedensrichter nickte, machte
kleine Zeichen mit den Händen, wedelte mit den Handschuhen, ordnete etwas an. Ich konnte
seine Stimme allzu schlecht wahrnehmen - er sprach zu leise - um irgend etwas von dem zu
verstehen, was er befahl, aber ich konnte aus dem, was jeweils dann geschah, auf seine Instruktionen schließen.
Zuerst wurde die kleine Kerze bei dem Altar der grünen Kiste gelöscht und fortgeräumt –
dabei hatte ich nicht den Eindruck gewonnen, daß der Mann überhaupt schon in die Richtung
des schrecklichen Behältnisses geblickt. Dies spätestens, diese achtlose, gleichgültige Vernichtung des kleinen Tabernakels, machte mir ihn zu einem Menschen, den ich nicht mochte,
wiewohl ich an dem weiteren beifällig erkennen mußte, daß er seine Arbeit, und wohl mehr
als das, recht gut verstand und mit Umsicht absolvierte.
Denn es liefen, nachdem er an Cobb weitere leise Kommandos erteilt hatte - die dieser weitergegeben hatte - Männer herbei und brachten aus den hinteren Gelassen mehrere große Pa167
ravents mit, die sie um den Winkel mit der traurigen Kiste herumstellten – ich täuschte mich
vermutlich nicht in der Annahme, daß diese Sichtschirme zu dem Fundus der dramatischen
Truppe zählten, bei welcher seinerzeit Rosetta Manderlay mitgetan.
Auch die vier Amtsgehülfen des Friedensrichters waren jetzt durchaus behende tätig. Sie gingen hinaus und kamen mit einer größeren, sargähnlichen Kiste zurück, die sie hinter die
Wandschirme schleppten.
Einige der Frauen, die zuvor zum Wirt hinauf und hinuntergelaufen waren, eilten jetzt mit
Tüchern und etlichen Schüsseln und Krügen mit dampfend heißem Wasser herbei, welches sie
sorgsam ihren wartend an den Sichtschirmen stehenden Männern überreichten. Nach kurzer
Zeit kamen hinter den Paravents die vier Gehülfen hervor und trugen die Tücher und das
Wasser dahinter.
Am Nebentisch tuschelten zwei Männer, die jeder ein Ale vor sich hatten. Ich glaubte sie aus
jenen auszukennen, die schon anwesend gewesen waren, als ich eingangs die Schenke betreten. Aus dem, was sie sagten, erschloß sich mir im Laufe der Minuten, die ich sie belauschte,
während ich in die Richtung der Paravents blickte, daß der Name des Friedensrichters wohl
Wayne Leonard Kirby lautete, daß er seit letztem Frühjahr den Bezirk von London Southwark
betreute und daß er davor nach vielen Jahren aus den transatlantischen ehemaligen Kolonien
zurückgekommen sei. Unklarheit herrschte bei den beiden, die ich belauschte, ob er aus einer
Stadt namens Boston gekommen war oder aus dem französischen Teil der Vereinigten Staaten, einer Siedlung im Süden, genannt New Orleans. Dies alles, dachte ich bei mir, erklärte
zumindest zum Teil das eigenartige Auftreten des Menschen.
Hinter den Paravents wurde es lebendig.
Ein Helfer kam heraus und trug die Kiste, in der sich der Leichnam der Wirtstochter befunden, in den Händen. Daran, wie er sie trug und daß er sie alleine trug, wurde offenbar, daß der
Körper jetzt nicht mehr darin war, die Kiste bis auf Reste des Segeltuches und Reste von Blut
leer. Auch von außen war die Kiste blutig, und der junge Mensch war an den Händen und den
Ärmeln und auch vorne an der Hemdbrust blutig wie ein Fleischergeselle, aber es schien ihm
nichts auszumachen. Er schleppte recht unbewegt die Kiste hinaus und kam dann zurück.
Von hinter den Paravents erschienen plötzlich Hände, griffen seitlich zu, wurden die Schirme
beiseitegeräumt, der Friedensrichter tauchte wieder auf, und gleich darauf, auf sein gemurmeltes Kommando hin, das Cobb halblaut an die bereitstehenden Männer weitergab, wurden
die Blenden von ebenjenen, die sie zuvor hereingetragen, wortlos wieder hinausgeschafft.
Hinter den nun nicht mehr vorhandenen Schirmen war jetzt, aufgebockt auf zwei Stühle, die
größere, sargähnlichere, menschenwürdigere Kiste, in der sich der Körper der toten Wirtstochter befinden mußte, zu sehen. Auch an dieser Kiste klebte von außen Blut, aber an den
Spuren wurde deutlich, daß man versucht hatte, es abzuwaschen. Überall, auf Tischen und
Stühlen, standen die Schüsseln und Krüge, lagen die Tücher, die zuvor hinter die Schirme
getragen worden waren, und all diese Gegenstände waren jetzt befleckt oder troffen von Blut.
Wayne Leonard Kirby – ich mußte unwillkürlich an die Überlieferung von Pontius Pilatus
denken - wusch sich in einer Schüssel die Hände und trocknete sie danach an einem halbwegs
reinen Tuch. Das ließ er dann, ohne hinzusehen, in die Schüssel fallen, und mit einer achtlosen kleinen Geste bedeutete er den umstenden Frauen, daß er fertig sei und daß man die Utensilien samt und sonders abräumen könne.
Ob die Assistenten sich überhaupt die Hände reinigten, versäumte ich zu beobachten – möglicherweise wischten sie das Blut von ihren Händen direkt in die herumliegenden Tücher.
Wayne Leonard Kirby redete eine Weile mit Cobb, immer noch mit dem merkwürdig ernsthaft und bedeutsam über die Schulter des Gesprächspartners schweifenden Blick, während
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dieser sprach. Zumeist führte in der Tat Cobb das Wort, Kirby hörte nur zu. Allerdings wurde
mir deutlich, daß ich das vornehmste Thema dieser Unterhaltung war - ich und der Bote auf
der anderen Seite des Raumes, der an seinem Tische inzwischen eingedämmert war - denn
eines um das andere Mal schweifte das stechende Auge des Friedensrichters wie auch das
Cobbs flüchtig zu mir her, wie, seltener, zu dem Schlafenden hin.
Schließlich nickte Kirby, und Cobb trat von ihm zurück, doch wenn ich geglaubt hatte, jener
Bote oder meine Person wären nun zum Zwecke einer Befragung in den Mittelpunkt intensiven Interesses des Friedensrichters gerückt, so sah ich mich getäuscht und auch tunlich verblüfft. Kirby und seine Männer setzten sich vielmehr - nicht unmittelbar dort zwar, wo sie
gerade zuvor so blutig gearbeitet, aber doch recht dicht dabei - zu fünft an einen Tisch und
steckten dringlich die Köpfe zusammen.
Das heißt, Kirby sprach, leise, unhörbar, die anderen hörten zu. Auch hier mochten das
Thema zum Gutteil meine Person oder der Schlafende ausmachen, denn gelegentlich blitzte
das Auge eines Gehülfen zwischen den Köpfen der anderen hindurch zu mir herüber und
kehrte sich sofort von mir, wenn seinerseits mein Blick ihn traf. Aber all dies geheime Konferieren führte nicht dazu, daß der Lieferant oder ich nun einvernommen oder sonstwie zweckdienlich befragt worden wären.
Dann war Kirby mit seiner Rede fertig, was sich darin äußerte, daß er sich als einziger der
Gruppe weit vom Tische gegen die Lehne seines Stuhls zurücklehnte. Die Runde schwieg
einvernehmlich.
Zwei von den Männern standen schließlich auf und verließen grußlos den Raum.
Den drei anderen, die zurückblieben, unter ihnen Kirby, wurde von Cobb, mir schien, unaufgefordert, je ein Glas Porter hingestellt - welches im Folgenden von dem Friedensrichter nicht
angerührt wurde, während seine Gehülfen gelegentlich davon nippten.
Weiter geschah nichts.
.....
Die Männer im Raum hatten alle wieder zu Sitzplätzen gefunden, auf von mir zunächst unbemerkte Art waren auch die anwesenden Frauen wieder verschwunden, und es hätte dies
durchaus eine normale Wirtshausszene sein können, wenn es nur um ein weniges lebhafter
zugegangen wäre und wenn irgendein Mädchen oder ein Bursche herumgegangen wäre zur
Bedienung oder hier und dort sich jemand ein Lachen oder ein Liedchen erlaubt hätte. Aber
einesteils war der improvisierte Sarg im Hintergrund eine schreckliche Mahnung an das, was
geschehen, und andererseits wurde das, was von den anwesenden Leuten gesprochen ward,
wenn überhaupt, nur getuschelt oder gewispert – weniger übrigens, gewann ich den Eindruck,
aufgrund der Anwesenheit des Leichnams und der Kiste, als aufgrund der drei finsteren Männer am Tisch, die kein Wort sprachen. Es war so still, daß man gelegentlich durch die Fenster
das dünne Läuten der entfernten Glocke hörte, die die Viertelstunden schlug, und auch später,
als der Schlag zur Sperrstunde erklang, rührte oder änderte sich in der Schankstube nichts.
Mir wurde schließlich klar, daß wir auf Wayne Leonard Kirbys Anweisung hin gezielt auf
irgendetwas warteten - nur … was war es, dessen wir harrten?
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Die Viertelstunden dehnten sich zu halben und dann zur vollen Stunde. Inzwischen hätte ich
es durchaus nicht mehr abgelehnt, einen Schluck zu trinken zu bekommen, Hals und Schlund
waren mir trocken wie eine Wüste, und das lag sicher nicht nur an der traurigen Gegenwart
Rosetta Manderlays in ihrem unaussprechlichen Behältnisse auf der anderen Seite oder gar
am regulären und per se so unerträglich langsam dahintropfenden Ablauf der Zeit, sondern
allein an der Anwesenheit jener irritierend schweigsamen, reglosen Trias am Tisch dort herüben. Aber jetzt boten mir Cobb oder jemand anders nichts mehr zu trinken an.
Dann, endlich, vernahmen wir alle, die wir dort versammelt saßen, draußen das herannahende
Geräusch einer großen Kutsche und mehrerer Pferde, wir hörten Kommandos und wie die
Gefährte und die Tiere vor dem Wirtshause zum Halten kamen. Von außen nahten sich
Schritte der Tür. Sie wurde grob aufgestoßen, die beiden für Stunden fortgegangenen Gehülfen Mr Kirbys erschienen auf der Schwelle, ließen ihre Blicke finster durch die reglose
Gaststube schweifen und nickten ihrem Herrn und Meister zu.
Der, mit seinen Gehülfen, erhob sich langsam von seinem Sitze, stützte sich mit den Händen
auf den Tisch. Die beiden Zurückgekehrten blieben gleich einer Ehrenwache beiderseits der
geöffneten Pforte stehen, nahmen erstmals die Hüte ab.
Von ferne schlug das kleine Glöcklein dünn Mitternacht, von draußen näherte sich neuerlich
einzelner, schwerer Tritt - und dann trat ein Mann unter die Tür, schwarzbärtig, mächtig, eine
Brust wie ein Baumstamm, beeindruckend - ein Brocken, ein Bär von einem Kerl, einen Kopf
größer als alle anderen Versammelten im Raume.
Dunkle, durchdringende Augen musterten uns. Genau so, ich erinnere mich, war es – so betrat
Noah Whelmsley die Szene … und das finstere Feld dieser Geschichte - so traf ich ihn zum
allerersten Mal.
Wir schrieben bereits den 1. November.
170
3. Teil
November, abwaerts
9. Kapitel
Inquisition
Ich habe Noah Whelmsley an anderer Stelle bereits beschrieben. Er gehörte zu den Wenigen,
die in dem unheimlichen Haus mit den toten, leeren Fensterhöhlen in Bow Street aus und eingingen, der einzigen Adresse in London, von wo so etwas wie öffentliche Sicherheit und ein
offizieller Kampf gegenüber dem Verbrechen in der Metropole ausging. Wie vermeldet:
171
Manch redlicher Bürger bedauerte, daß es jemand wie den Banditen Vidocq nur in Paris gegeben, der sich vom Schurken und Strauchdieb, vom Saulus, zum Hüter der Ordnung und
Paulus gewandelt und der französischen Hauptstadt die Segnungen der Sûreté geschenkt. Die
mehreren verwiesen jedoch darauf, daß man als Briten, die lange vor irgendeiner anderen Nation - und in Sonderheit vor den Franzosen! - bereits den Parlamentarismus gekannt, die
Überwachung durch eine Horde uniformierter ehemaliger Diebe, Raubmörder, Lumpen und
Gesindels nicht nötig hätte. Und so waren die wenigen Bow Street Runner - es waren nie
mehr als fünfzehn gewesen - in ihren mannigfaltigen, zum Teil aberwitzigen Verkleidungen
eine zugegebenermaßen verwegene Truppe - die sich den Titel von Friedensrichtern und die
violette Weste dazu anmaßte – Wayne Leonard Kirby gehörte auch dazu – ein Troß Volkes,
der sicher, wenn es darauf ankam, wie ich bereits eingangs bemerkt, auf seinen eigenen Vorteil achtete oder fünfe gerade sein ließ – und dennoch war dieser unerschrockene, winzige
Haufen unbestritten so etwas wie die Morgenröte über dem Schlamm der Nacht.
Und Noah Whelmsley war zweifellos der prominenteste und mächtigste von ihnen allen. Von
Wayne Leonard Kirby hatte ich nie zuvor gehört gehabt - von ihm, von Noah Whelmsley,
schon. Und jetzt, im „Ye Olde Bell Inn“ stand er mir erstmals gegenüber.
Allerdings verhielt er sich zunächst wie der andere, er beachtete mich nicht, sondern setzte
sich zu den fünf schweigsamen schwarzen Gestalten an den Tisch und konferierte mit ihnen.
Als Cobb zu ihm kam, um ihm etwas zu trinken anzudienen, winkte er unwirsch ab. Wenig
später zog er ein Behältnis aus den Weiten seines umfänglichen schwarzen Mantels, das aus
dem Zahn eines See-Elefanten gemacht schien, schraubte mit geübter Bewegung den dort
angebrachten massivgoldenen Verschluß ab und gönnte sich einen tiefen Schluck.
Immerhin, einerseits, dachte ich, hatte er das Gewicht, alleine zu kommen, er brauchte keine
Eskorte wie der andere zur Unterstreichung seines Ranges, andererseits kam aber gerade in
diesen letzten Minuten des Wartens auch so etwas wie Respekt für den stillen Kirby bei mir
auf: Denn immerhin hatte jener den mächtigen Whelmsley holen lassen und nicht etwa, was
durchaus nahegelegen hätte – warum nicht? – den aufsehenerregenden Casus des geschlachteten Mädchens zur Mehrung des eigenen Ruhms und vielleicht des eigenen Geldbeutels
rücksichtslos für sich requiriert. Und warum dies? Da mochte ein intuitives Gespür für eigene
Grenzen eine Rolle spielen, und ein Mann, der so etwas bei sich selbst erkannte, mußte in
meiner Überzeugung per se eine gewisse Größe besitzen. Insofern bat ich ihm auch den Pontius Pilatus wieder ab, Wayne Leonard Kirby hatte die Verantwortung keineswegs bedenkenlos übernommen und sie dann pervertiert wie jener - er hatte sie nur kühlentschlossen abgelehnt und weitergegeben, unter den Umständen, befand ich, ein ausnehmend mutiger Schritt.
Und warum, schließlich, fand die vierköpfige Begleitung des Amerikaners so etwas wie meinen Spott? Im Grunde war dies wohl unangemessen gewesen, denn sie hatten doch nur umsichtig, geraden Weges und mit verteilten Rollen das Nächstliegende und Notwendige getan.
Nun aber übernahm Noah Whelmsley das Ruder. Das zeigte sich, indem er sich erhob – denn
es schien nun alles abgemacht - und die Männer an seinem Tische folgten seinem Beispiel. Er
reichte ihnen der Reihe nach die Hand, sie neigten ernst die Köpfe. Darauf gingen die vier
Gehülfen zu dem Behältnis mit dem Leichnam Rosetta Manderlays, hoben es umstandslos auf
und trugen es hinaus, während Kirby ihnen die Tür aufhielt. „Hinten auf die Kutsche“, hörte
ich ihn murmeln, und das war so ungefähr das einzige, das ich von ihm vollends und aus erster Hand vernommen. Es folgte ein letzter seiner so sehr ernsthaften, kreisenden Blicke durch
die Schankstube – einen jeden von uns Anwesenden schien er in sein dunkles Auge zu fassen
- und dann ging er - grußlos - hinaus. Hinter ihm schloß sich die Tür. Einige Minuten später,
wohl nachdem der Leichnam verstaut war, hörte ich ihn und seine Männer die Straße hinunter
davonreiten.
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Noah Whelmsley hatte mich kurz gemustert, sich dann aber auf der anderen Seite bei dem
schielenden Boten niedergelassen, der unterdessen vollends wieder erwacht war und dessen
Augen unstet zur Seite auswichen, als Whelmsley mit ihm sprach. Was genau verhandelt
wurde, hörte ich nicht, konnte es mir naturgemäß aber denken. „Wie bis du an die Kiste gekommen? Wo ist das geschehen? Wer hat dir aufgetragen, sie hierher zu schaffen?“ Vielleicht
noch: „Wie heißt du?“ und „Wo wohnst du?“, denn ich sah, daß Whelmsley einen Zettel hervorgefischt hatte und darauf etwas notierte.
Schließlich stand der Friedensrichter wieder auf. Die Art und Weise, wie der Bote gleich darauf zur Türe stolperte – fast schien es wie eine Flucht - zeigte mir, daß er von jenem entlassen
war. Jemand begleitete ihn hinaus, wohl um ihm zu zeigen, wohin unterdessen sein Pferd verbracht worden. Whelmsley baute sich mitten in der Schankstube auf.
„Hört, Männer“, sprach er mit dröhnender Stimme. „Mein Name ist Noah Whelmsley. Ich bin
ein Londoner Friedensrichter. Geht jetzt alle heim, ihr werdet hier nicht mehr gebraucht. Seid leise, denkt daran, daß längst Sperrstunde herrscht. – Mr. Cobb bleibt noch und wird die
Wirtschaft seines Schwagers für die Nacht verriegeln, wenn ich fertig bin – und dieser Herr
dort bleibt ebenfalls.“ Er zeigte auf mich. „Das ist alles, Leute. Geht!“
Er zog den See-Elefantenzahn hervor und erfrischte sich mit einem kräftigen Zug, verstaute
ihn wieder, während um ihn herum die Männer gesittet aufgestanden waren und nun die Taverne verließen. Es ging äußerst gedämpft dabei zu und es dauerte nicht lange, da schloß der
letzte hinter sich leise die Tür. Cobb stand hinten am Schanktisch und wusch gesenkten Blikkes Gläser sauber. Es hatte etwas von Verlegenheit, wie er sich da beschäftigt hielt. Es war
still in der Stube.
Noah Whelmsley war an meinen Tisch herangetreten und hatte seinen schweren Leib mir gegenüber auf einem Stuhle plaziert. Er saß weit zurückgelehnt, er brauchte auch im Sitzen viel
Raum.
„Haben Sie Durst, Mr. Holland?“ fragte er mich. „Sie sehen aus, als könnten Sie einen gesunden Schluck gebrauchen.“
Ich nickte.
Daß ich inzwischen auch gehörigen Hunger litt - denn ich hatte seit dem Mittag, wo ich in
Finley Burkitts Kontor meine Brote verzehrt, nichts zu mir genommen – vertraute ich ihm
nicht. Immerhin war ich froh, daß er in friedlichem Tone mit mir zu verkehren gedachte – ich
wußte nicht, was ich erwartet. Daß er meinen Namen kannte, verwunderte mich kaum, denn
er hatte ja zuvor mit dem Boten gesprochen. Ich war sicher, die ganzen sonderbaren Umstände der Lieferung jener Kiste waren ihm inzwischen vertraut, wenn nicht durch den Lieferanten, so durch Kirby oder einen seiner Leute.
„Mr. Cobb“, sagte Noah Whelmsley über seine Schulter nach hinten, „bringen Sie Mr. Holland … -- einen Gin?“ fragte er mich.
Ich nickte abermals.
„Einen Gin“, bestellte Whelmsley nach hinten. „-- Können Sie bezahlen?“ erkundigte er sich
bei mir.
„Natürlich“, sagte ich.
Er nickte befriedigt. Wir warteten, bis Cobb das Getränk brachte. Whelmsley beobachtete
mich währenddessen unter seinen dichten, schwarzen Brauen, aber ich fürchtete ihn nicht,
diesen Blick. Warum hätte ich ihn fürchten sollen, dachte ich – was hatte ich zu verbergen –
und was mit der Untat an Rosetta Manderlay zu tun?
Cobb kam und stellte das gutgefüllte Glas vor mich hin.
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„Was kostet das?“ fragte ich ihn.
„Thrip’nce …“
Ich warf die Münze auf den Tisch, er klaubte sie auf und ging. Ich kostete vorsichtig – ich
wollte nicht, daß mir das Gift zu Kopfe stieg - während Whelmsley mir dabei zusah. Die Art
seines wohlwollenden Blicks dünkte mich wie die eines Vaters oder guten Onkels. Ich setzte
das Glas zurück auf den Tisch und wartete, was kam.
„Nun, Mr. Holland“, sprach Noah Whelmsley schließlich warmherzig, „Mr. John Cavendishs
Zeugnis … das ist der Bote, dem die Blickrichtung so sonderbar abhanden gekommen ist …“,
er zeigte mit dem Daumen über die Schulter, „… Mr. John Cavendish können wir getrost der
Vergessenheit anheimgeben. Er hat leider nichts gesehen oder gehört, das uns unmittelbar
weiterhülfe. Dank seiner Auskunft müßte ich jeden Mann in London zwischen zwanzig und
vierzig Jahren einvernehmen und festsetzen, denn ein solcher, eindeutig blond bis schwarzhaarig oder kahl, mit oder ohne Hut, ist es gewesen. Vielleicht trug er einen Bart, vielleicht
aber auch nicht. Er war eindeutig klein oder groß, im Grunde fast zierlich, dabei aber doch
wohl recht untersetzt, wie ich höre. Immerhin, es war dunkel, gibt Mr. Cavendish zu bedenken. Oh, ein Junge von etwa vierzehn, darauf legt er sich fest, habe ihn bei sich zu Hause herausgeläutet – das ist in der St. Thomas’s Street in Höhe des Guy’s Hospital – habe ihm bestellt, er solle sein Gespann bereitmachen, und ihn anschließend zur Grove Lane geführt, das
sei auf der Rückseite des Geländes des Bethleham Royal Hospital, und dort habe ihn … ein
weiterer gemieteter Junge und eben dieser geheimnisvolle junge Herr bereits mit einer geschlossenen Kutsche erwartet. Es galt, die Kiste aus der Kutsche heraus auf das Fuhrwerk des
Mr. Cavendish umzuladen, das war schwere Arbeit, meint er, weil er es mit den beiden Knaben alleine habe verrichten müssen … der junge Herr stand derweilen daneben und rührte
keinen Finger. Er habe dann die Burschen und ihn bezahlt und ihm die Adresse eingeprägt
…“
Noah Whelmsleys Blick ging ins Weite.
„Er habe weiße Handschuhe getragen, jener junge Herr, meint Mr. Cavendish“, fuhr er fort,
„und Augengläser, die er vermutlich nicht nötig gehabt habe, denn als er das Geld aus seiner
Tasche gezählt habe, habe er sich zweimal dabei vertan und dann ärgerlich die Brille abgenommen und ohne sie weitergezählt …“ Whelmsleys Blick kehrte träumerisch zu mir zurück.
„Was sagen Sie dazu, Mr. Holland? – Trotz dieser auseinanderirrenden Augen … welch ein
Beobachter, nicht wahr?“
„Und ein Lügner“, setzte ich hinzu.
Noah Whelmsley lächelte fein. Er schien wenig überrascht. Er faltete die Hände über seinem
Bauch. Man hätte kaum glauben können, daß ein so schwerer Mann ein so zartes Lächeln auf
sein Gesicht bringen konnte.
„Und was bringt Sie zu dergleichen Vermutung, wenn ich fragen darf?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Mit Verlaub, Sir“, sagte ich. „Der Junge sucht den Boten auf, der zieht sich an, schirrt sein
Pferd ein, holt den Wagen hervor und so weiter, zusammen fahren sie ein ganzes Stück, dann
das Umladen der Kiste, endlich die Fahrt hierher. Vorher, das darf man nicht vergessen, war
der Junge offenbar schon einmal an der geschlossenen Kutsche gewesen. Er hat schließlich
den Auftrag empfangen, zu diesem … wie war der Name … Cavendish zu laufen, und davor,
verzeihen Sie, müßte jemand von hier, vom ‚Ye Olde Bell’, zu dem ominösen jungen Herrn
gelaufen sein und ihm vermeldet haben, daß ich mich jetzt hier befände. Punktum, das ist ein
Gelaufe und Gefahre und eine Organisation, die, wenn Sie mich fragen, gut und gerne zwei
oder drei Stunden in Anspruch nimmt - mindestens. Nun trifft es sich aber zufällig, daß ich
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bestenfalls eine halbe Stunde hier weilte, bevor die grauenvolle ‚Lieferung’ an mich kam,
nein, wenn ich es recht betrachte, eher weniger. Und solange mir niemand den Trick verrät,
wie man einen derartigen Ablauf wie den skizzierten in lächerliche zwanzig oder fünfundzwanzig Minuten preßt - solange, Mr. Whelmsley, Sir, erlaube ich mir, lieber nicht an diese
unsinnige Fama zu glauben.“
Ich nahm einen weiteren Schluck von meinem Gin.
Fast war ich zornig darüber geworden, indem ich mir - mit meiner eigenen Rede - die Phantastik dieser Kette von Behauptungen vor Augen führte. Warum am Ende war ich denn vorhin
so verblüfft gewesen, hatte gar angenommen, daß der Verursacher dieser Lieferung es vor mir
gewußt haben müsse, daß ich hierher kommen würde? Ja, wenn es denn so einfach gewesen
wäre! - wenn denn so viel Zeit über dem Ins-Werk-Setzen dieser Teufelei verstrichen wäre, so
hätte ich sie halt gemessen zur Kenntnis genommen, aber mich nicht darüber zu verwundern
und zu erschrecken brauchen. Diese Geschichte war eine ausgemachte Schelmerei!
Noah Whelmsley, ausgebreitet auf seinem Stuhle, musterte mich, nachdem ich zu Ende gesprochen. Sein Lächeln war womöglich noch eine Spur zarter geworden.
„Mr. Cobb“, meinte er plötzlich sanft nach hinten über seine Schulter. „Wollen Sie jetzt bitte
Bescheid geben …“
„Jawohl, Sir.“
Cobb kam auf uns zu, schritt an unserem Tische vorbei und schlüsselte die seitliche Tür auf,
jene, welche in den winterlichen Wirtsgarten führte. Ich war ihm mit den Augen gefolgt und
sah, wie er hinaus ins Dunkle trat und die Tür hinter sich schloß. Ich wendete den Kopf,
schaute Whelmsley an, wollte etwas Fragendes bemerken, da hörte ich hinter mir das Geräusch, wie die Tür sich wieder öffnete.
Ich blickte mich um, Cobb kam schon zurück, hinter diesem trat John Cavendish herein – es
war ihm anzusehen, daß er nicht freiwillig wiederkehrte, bei ihm war jener Mann, der ihn
vorhin hastig hinausbegleitet und von dem ich geglaubt, daß er ihm nur hatte zeigen wollen,
wohin man seine Mähre verbracht – und hinter den dreien, finster und dunkel wie eh, die
Hände in den Taschen seiner Beinkleider, schob sich, langsam und mit Betonung, Wayne
Leonard Kirby durch die Tür, den ich geglaubt hatte, mit seinen Männern wegreiten zu hören.
Ich fuhr herum und starrte offenen Mundes Noah Whelmsley an.
Der hatte jedoch scheinbar nur Blicke für den wiedergekehrten Boten, der, von Kirby vorangedrängt, nun unruhig neben unserem Tisch stehengeblieben war und dessen flackernde Augen unstet auseinanderliefen.
„Mr. Cavendish!“ rief Noah Whelmsley mit Freude in der Stimme, so als ob er nach langer
Zeit einem alten Bekannten begegne. „Nun, aber so etwas! … wollen Sie sich nicht setzen?!“
Cavendishs Züge verflachten, ich vermeinte ein hastiges, schwaches, verneinendes Kopfschütteln zu erblicken. Wayne Leonard Kirby, hinter ihm stehend, schlug mit einer erschrekkend plötzlichen Bewegung und im übrigen völlig unbewegten Gesichtes seine beiden Hände
auf Cavendishs Schultern und drückte ihn blitzschnell auf einen Stuhl an unserem Tische nieder, Cavendish kam so gewaltsam zum Sitzen, daß das Möbel unter ihm krachte. Ich starrte
Kirby an. Diese Bewegung mußte mit einer enormen Kraft geschehen sein, die man dem kleinen Mann kaum zugetraut hätte - jetzt stand er wieder so ruhig wie zuvor und blickte ausdruckslos ins Weite.
Noah Whelmsley pochte vorsichtig mit seinem Finger auf den Tisch. „Mr. Cavendish, Mr.
Cavendish“, murmelte er bekümmert. Er schüttelte den Kopf. Er zeigte kurz auf mich und
erklärte dann betrübt: „Ich muß Ihnen gestehen, Mr. Holland ist mit Ihrem Kindermärchen
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nicht einverstanden, Mr. Cavendish. - Er hält es zuversichtlich für ein ausgemachtes Geschwätz - wie ich übrigens auch .... und wie Mr. Kirby … und dieser nette junge Mann, der
Ihnen die ganze Zeit Gesellschaft geleistet hat … und wie Mr. Cobb übrigens ebenso.
Stimmt’s, Mr. Cobb?“ rief er, halb zurückgebeugt, über seine Schulter.
Cobb, gerade wieder bei seinen Gläsern angelangt, blickte überrascht hoch und wußte nicht,
wie er reagieren sollte.
Whelmsley nickte bestätigend, wie als ob er genau das erwartet hatte, lehnte sich wieder nach
vorne und meinte ruhig zu Cavendish: „Sehen Sie, Mr.Cobb findet das auch …“
Er betrachtete den Boten ob dieser Mitteilung genau. Doch Cavendish saß völlig still. Es sah
nicht so aus, als ob er es gewagt hätte, sich zu rühren.
Noah Whelmsley nickte düster. „Eine elende Sache, Mr. Cavendish“, meinte er lässig. „Es ist
spät in der Nacht, sehr spät sogar … sehr, sehr spät … hier sitzen fünf ermüdete Männer, die
heim wollen … die ärgerlich sind … die sehr wütend sind … ehrlich gesagt, auch beleidigt,
weil man sie offensichtlich für dumm verkaufen will … -- ein junges Mädchen ist schrecklich
zu Tode gekommen … und Sie, Mr. Cavendish, … sitzen da und spielen ein Spielchen … mit
diesen sehr ärgerlichen … beleidigten … sehr ungeduldigen fünf Männern.“
Der schielende Bote saß still wie ein Stock, seine Augen, gesenkt, zwinkerten nervös.
Whelmsley schien plötzlich irritiert. Es war, als ob er das Thema wechseln wollte. Er beugte
sich leicht vor und erkundigte sich bei dem Boten: „Was ist das, Mr. Cavendish? - Was haben
Sie da?“
Der Mann zuckte etwas zurück, als Whelmsley sich so plötzlich näherte, und schluckte. „Was
…? – Wo …?“ stotterte er nervös.
„Nun, da, Mr. Cavendish“, Whelmsley hob den Finger und zeigte aus sehr kurzer Entfernung
auf Cavendishs Augen. Er wirkte besorgt. „--- Was haben Sie da? - Das sieht irgendwie …
merkwürdig aus, finden Sie nicht? … so als ob Sie … als ob Ihre Augen irgendwie …“
Whelmsley machte eine skeptische, schaukelnde Geste mit seiner mächtigen Hand, schüttelte
beunruhigt den Kopf. „Ich meine … seit wann haben Sie das? - Von Geburt?“
„Nein, Sir“, Cavendish schluckte erneut, seine Stimme klang rauh und kratzig. „Das kam … -- das kam … später, Sir.“
Whelmsley sperrte den Mund auf, wie als ob er Schwierigkeiten mit dem Inhalt der Bemerkung hätte. „Daß Ihre Augen … nach außen … in zwei unterschiedliche Richtungen schauen,
kam, meinen Sie, später?“
„Ja, Sir.“
Whelmsley lehnte sich beruhigt zurück. Er nickte, das Thema war für ihn abgetan. „Später“,
sagte er, an uns alle gewandt, „ich verstehe …“ Er zuckte die Schultern, wie als ob er
schließlich auch nicht dafür verantwortlich sei.
„Und das stört Sie nicht?“ fragte er den Boten.
„Nein, Sir.“
„Nein?“
„Nun … Sir …“ Cavendish zögerte.
„Ja?“
„Gelegentlich stört es mich wohl, Sir.“
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Whelmsley lehnte sich plötzlich erneut ganz weit vor und hob seine wuchtige Hand, um nach
dem Auge zu greifen. „Zeigen Sie mal her“, sagte er gönnerhaft.
Cavendish schrie, bevor Whelmsley ihn berührte.
Whelmsley erstarrte mit der Hand in der Luft, als ob er über Cavendishs Schrei erschrocken
sei, und machte eine vorwurfsvolle Pause. „Aber Mr. Cavendish, ich tue Ihnen doch nichts“,
sprach er unterdrückt. „– Und sagt uns die Schrift nicht im übrigen, daß wir das Auge ausreißen sollen, das uns stört? – Nun also …!“
Und dann, mit einem neuen Ton von Härte: „- Dem Mädchen – bitte – dort draußen … wurde
sogar das Herz ausgerissen …“
„Bitte …!“ keuchte Cavendish und schwitzte vor heller Angst, „bitte, ich weiß doch nichts!“
„Das ist bedauerlich, Mr. Cavendish, sehr bedauerlich. Ihr Auge, allerdings, in der Tat,
scheint wenig zu taugen, nicht wahr? Sie erkennen ja nicht einmal, ob jemand groß ist oder
klein oder dick oder dünn … Wollen Sie mir bitte assistieren, Mr. Kirby?“
Jener, als ob er nur darauf gewartet, griff im nämlichen Moment mit weitaufgespannten Händen von hinten zu und packte Cavendishs Kopf beidseitig starr wie in einer Schraubzwinge.
Cavendish schrie erneut, in Panik.
„Daß Mr. Kirby Sie hält, tut nicht weh, Mr. Cavendish, und geschieht nur zu Ihrer Sicherheit“, sagte Noah Whelmsley ruhig. Es war bemerkenswert, daß er, obwohl er ganz verhalten
sprach, mit seiner sonoren Stimme Cavendishs Geschrei jederzeit übertönte. „Und jetzt wollen wir doch einmal sehen …“
Er erhob sich von seinem Stuhl und trat seitlich an den anderen heran. Der zappelte mit dem
Leib und stieß wild mit den Füßen. Whelmsley packte seine Hände, drückte sie zusammen
und riß sie hoch. Kirby setzte seinen Griff erneut an, diesmal mit nur noch einer Hand im Nacken des Sitzenden, und übernahm sogleich mit seiner Rechten die beiden Hände des Boten
aus Whelmsleys klobiger Faust. Schon setzte Whelmsley seinen linken Unterschenkel auf
Cavendishs Knie und drückte mit seinem Gewicht die Beine des Mannes nach unten. Jetzt
quietschte Cavendish vor Schmerz. Whelmsley packte mit Daumen und Mittelfinger beider
Hände Ober- und Unterlid am linken Auge des sitzenden Mannes und zog sie weit auseinander, so daß der Augapfel groß und schrecklich hervorquoll. Die ganze Zeit über sprach er und
übertönte problemlos das Gewinsel des Gefolterten.
„Ein wesentliches Detail Ihrer lügenhaften Ausführungen, Mr. Cavendish, enthielt allerdings
die volle Wahrheit. Wir wollen das der Fairness halber nicht unter den Tisch fallen lassen und
hier der Vollständigkeit wegen lobend anmerken: - Jawohl, Ihr Auftraggeber täuschte sicher
nur vor, daß er eine Brille benötige. Sie haben da eine gute Beobachtung gemacht, Mr. Cavendish, als sie bemerkten, daß der junge Mann beim Geldzählen durch die Augengläser nur
schauerlich irritiert war. - Sie haben da ein wackeres Beispiel dienlichen Erspähens geleistet jedoch was, Mr. Cavendish, verrät uns dies exzellente Exempel Ihrer Hellsichtigkeit gar Trauriges bezüglich der restlichen Scherben Ihrer Mär? - Nun, daß Sie uns hier spät in der Nacht
offenbar überaus boshaft zum Narren halten wollen. - Denn schauen Sie, wenn der junge Herr
sich beim Zählen dreimal verzählt hat, was wohl sein mag, bringt mich das jedoch zu dem
Schluß, daß es eine ganze Reihe von Banknoten gewesen sein muß, nicht wahr, denn bei drei
oder fünf dieser köstlichen Papiere verzählt man sich schwerlich, stimmen Sie mir zu? Und da
die geringste Note, die die Bank von England augenblicklich ausgibt, meines Wissens genau
fünf britische Pfund sind, Mr. Cavendish – korrigieren Sie mich, wenn ich mich täuschen
sollte - bringt mich das dahin, unweigerlich zu glauben, daß dieser junge Herr Ihnen … eine
ganze Menge Geldes verehrt haben muß – vielleicht die Summe, um sich ein neues Pferd zu
kaufen?! - Und nun hören Sie, Verehrtester, meine Schlußfolgerung - sie ist einfach, kurz und
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auch für einen Menschen Ihres Geistes hinlänglich leicht zu verstehen: -- Mr. Unbekannt wird
Ihnen nicht ein kleines Vermögen vermacht haben für den Transport einer dummen Kiste über
knapp zwei Meilen – verstehen wir uns? – Nun also: - Ich werde Ihnen jetzt, Mr. Cavendish,
das linke Auge heraussaugen, das tun die Eingeborenen auf Borneo manchmal, wenn sie die
Ernte verbessern wollen. – Wollen doch sehen, wie das unsere Ernte verbessert.“
Und damit beugte er sich über den Mann, der sich unter ihm in Höllenangst zusammenkrampfte, und setzte diesem, alptraumhaft, mit weichen Lippen, seinen weit und rund geöffneten Mund aufs Auge. Cavendish schrie wie ein Tier, das abgestochen wird, und jetzt hätte
er zweifellos auch Whelmsley übertönt, der wie ein schattenhafter vampirischer Riese über
ihm kauerte und mit saugenden, ekelhaft schmatzenden Lauten intensiv an seiner Augenhöhle
beschäftigt war.
Ich mußte schnell meinen Kopf abwenden. In meiner Kehle würgte es mich und ich griff hastig nach dem Glase Gin vor mir und tat einen verzweifelten Zug. Ich erwartete jeden Moment,
Whelmsley das blutige Auge des Boten auf den Boden spucken zu hören. Im Hintergrund
stand Cobb wie erstarrt am Ausschank und hielt ratlos ein Tuch in Händen.
Cavendish brüllte, zappelte, versuchte unter dem schweren Manne sinnlos zu entkommen.
„Nein, hören Sie auf … lassen Sie mich los … ich rede ja … ich rede ja doch … ich sage
doch alles!“ Mit einem Mal war das irrsinnige Gequietsch des Boten auch mit verständlichen
Ausrufen durchsetzt, aber Whelmsley schien sie nicht zu hören und fuhr fort, seinen Wahnsinn an der Augenhöhle zu betreiben.
Dafür hörte ihn Wayne Leonard Kirby. Er ließ mit der Rechten die Hände Cavendishs los und
schlug den Boten knapp und hart ins Gesicht. Cavendish, der die Hände jetzt frei hatte,
stemmte sie gegen den über ihm hockenden Whelmsley, aber das war genauso ergiebig, als
hätte er sie gegen einen Berg gestemmt. Er schrie in heulender Verzweiflung: „Ich rede ja
doch!“
„Sie reden?“ fragte Kirby verächtlich mit eisklarer, schneidender Stimme. „Bis jetzt haben Sie
einen Kehricht getan! Whelmsley hat geredet. Er war der einzige, der geredet hat. Was denken Sie, jetzt zu tun: lediglich das zuzugestehen, das man Ihnen nachgeweist?“
„Nein, ich rede!“ schrie Cavendish mit überschnappender Stimme.
Jetzt endlich löste sich Whelmsleys Mund mit einem malmenden, fast küssenden Geräusch
vom Auge seines Opfers, und er stieg behäbig herunter von Cavendish wie von einem Wildschwein, das er erlegt. Er holte mit einem schauerlichen Geräusch das aus tiefer Kehle hoch,
was ihm dort saß, sammelte es und spie breit und ertragreich auf die Holzdielen aus.
„Teufel noch eins .,..“, sprach er. „Hat er gesagt, er redet?“
Dann zog er seinen See-Elefantenzahn hervor, schraubte ihn auf, nahm einen ersprießlichen
Zug, verschloß das Gefäß und verstaute es wieder.
Kirby stand so ungerührt hinter Cavendish, als habe er sich nie bewegt. „Er hat gesagt, er redet“, bestätigte er milde.
Whelmsley spie erneut aus, nickte befriedigt, nahm umständlich wieder auf seinem Stuhle
Platz und musterte Cavendish mit spielerisch hochgezogener Augenbraue und der gespanntesten Erwartung.
„Nun, dann lassen Sie uns hören …“
Der Bote unterdessen hatte sein malträtiertes Auge, das rot und blutunterlaufen aussah, kurz
mit der Handfläche bedeckt, zitternd die Hand daraufgepreßt und dann wieder heruntergenommen und dort hineingestarrt, als ob dort etwas zu sehen wäre.
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„Wir hören …“ wiederholte Noah Whelmsley trocken in die Stille.
„Was soll ich sagen? … Was wollen Sie wissen?“ Cavendishs Stimme klang kläglich.
„Nun, fangen Sie damit an“, Whelmsley hob die Hand und wies in einer gönnerhaften Geste
auf mich, „wie lange Sie sich schon … an die Spuren von Mr. Holland geheftet haben.“
„Ich weiß, wo er arbeitet, Sir.“
„Das ist keine klare Antwort.“
„Ich weiß, wo er arbeitet, Sir“, wiederholte Cavendish nach einer Pause – er klang erschöpft.
„Gelegentlich, nach der Arbeit, … macht er Besuche.“
„Ach ja?“ Mich traf ein interessierter Blick von Whelmsley.
Der Bote nickte müde. „Gestern zum Beispiel suchte er ein Anwesen am Canonbury Square
auf, drüben in Marylebone. Er ging dort hin und sprach dann in dem Gartenhäuschen, das
dabei liegt, bei dem Verwalter vor. - Eine halbe Stunde, denke ich. Hinterher kam er heraus. Ich bin bei solchen Gelegenheiten, Sir, selten mit dem Gespann unterwegs, das ist zu auffällig, sondern meist zu Fuß. - Gestern habe ich ihn aus den Augen verloren. Mir schien auch,
offen gesagt, daß er mich bemerkt hatte, denn er wich seitwärts in das Sumpfgelände nach
Hampstead hinüber aus, zu den alten Lehmgruben hin, – das würde kein vernünftiger Mensch
tun, Sir … es war ziemlich neblig, da bin ich nicht hinterher, das ist gefährlich.“
„Aha“, machte Noah Whelmsley und nickte. Mich traf abermals ein versonnener Blick.
Und ich wußte nicht, was ich denken … fühlen sollte. Ich meine, achtbarer Leser, daß ich
nichts zu verbergen hatte in all dem, was ich getan, und doch … ich bin im Grunde nicht in
der Lage zu schildern, wie eigenartig es mich berührte, meinen gestrigen Besuch bei Barrabas
im Gartenhaus, als ich das Entsetzliche von Asución Lozano erfahren, hier überraschend von
fremder Zunge referiert zu finden … und meinen unüberlegten, dummen, unsinnigen Ausflug
hernach ins Moor, der in dieser Darstellung möglicherweise Unterstellungen hervorrief. Nein,
ich bin außerstande, mein ungewissestes, wenn auch schauernstes Unbehagen zu verdeutlichen … ich weiß es nicht. Da denken wir, vortrefflicher Freund, vielleicht, wir seien unter
uns, unbeobachtet, allein, um dann, am anderen Tage, zu vernehmen, wir waren es nicht, sondern, im Gegenteil, im Fokus fremden, unheimlichsten Interesses, sozusagen klinischer
Nacktheit ausgesetzt, machtlos wie ein Käfer unter dem erbarmungslosen Okular des Wissenschaftlers. Ein heimliches Schlachtfeld mit fremden Soldaten … Und alles, was Du besitzt,
ist plötzlich von unbekannten Fingern berührt. Alles, auch das Privateste scheint uns mit einem Male beschmutzt und widerlich; mißbraucht, erforscht und durchstöbert von eklen anderen … ach, wie mache ich mich Dir deutlich …?
Einen Moment stieg Übelkeit in meine Kehle hoch. Erst langsam und wie durch Nebel drang
die Stimme Noah Whelmsleys wieder an meine Wahrnehmung. Die Schankstube des ‚Ye
Olde Bell Inn’, und daß wir spät, unsinnig spät in der Nacht hier saßen …
„Und nun, Mr. Cavendish … Sie wollten uns, denke ich, gerade erzählen, seit wann das abläuft, daß Sie Mr. Holland jeden Tag am Hacken sitzen wie eine Schmeißfliege.“
„Das sind … das sind jetzt vierzehn Tage“, sagte John Cavendish trotzig.
„Zwei Wochen?“
Der Bote überlegte, leckte seine Lippen. „Seit Crispinus.“
Whelmsley blickte Kirby an.
Der neigte den Kopf. „Der sechzehnte …“, murmelte er.
Whelmsley nickte, rechnete. „Donnerstag vorletzter Woche, nun gut.“
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Er schlug auf den Tisch und kehrte sich wie schon einige Male halb über die Schulter zu Cobb
um. „Seit wann, Mr. Cobb, vermißte Mr. Manderlay seine Tochter?“
Cobbs Stimme klang rauh, unnatürlich. „Das ist um ein weniges länger her, Sir. Sie ging den
Sonntag nach Erntedank zur Frühmesse. - Von da kehrte sie nicht zurück.“
„Erntedank ist der fünfte“, murmelte Kirby halblaut, „… also am zwölften …“
„Am zwölften“, wiederholte Whelmsley und knabberte sich auf den Lippen. „Das sind jetzt
knapp drei Wochen …“
Beide Männer sahen sich an und hingen Gedanken nach, zu denen mir, wie ich wußte, zumindest zum Teil die Voraussetzungen fehlten. Es ging um Rosetta Manderlay, soviel war klar,
und wie lange zuvor sie verschwunden. Aber ich muß bekennen, daß es mir augenblicklich
schwerfiel, der Konversation zu folgen.
„Gut, Mr. Cavendish“, begann Noah Whelmsley schließlich erneut. „Sie wollten uns erzählen,
wie Sie an diesen sonderbaren Auftrag gekommen sind.“
„Das, Sir, war recht genau so, wie ich es Ihnen erzählt“, beeilte sich Cavendish zu versichern,
besorgt, ob man ihm glaube. Man spürte, daß er sich bemühte, die Dinge jetzt richtig zu machen. Er blickte nicht zu mir her. „Ein Kind kam zu mir gelaufen und sprach mich an, als ich
den Gaul ausschirrte: Wenn ich gleich zur Rückseite des Bedlam gefahren käme, sei für mich
einige Münze zu verdienen.“
„Und das war, sagen Sie, vorletzte Woche, Donnerstag?“ vergewisserte sich Whelmsley.
Cavendish verdrehte die Augen, als er nachdachte. „Ja, Sir, jawohl. - Es war schon dunkel.“
„Und dort wartete mithin dieser ominöse junge Herr?“
„Ja, Sir.“
Whelmsley zuckte die Achseln und schlug sich auf die Schenkel. „Warum sagen Sie ‚Herr’,
warum sagen Sie nicht ’Mann’?“
„Weil er reich zu sein schien. Er war edel gekleidet, Sir, mit Handschuhen, Zylinder, Frack,
Mantel, Schal, mit einer Anstecknadel … und außerdem …“ Cavendish verstummte.
„Nun“, fragte Whelmsley nach einer Pause ungehalten, als nichts weiter mehr folgte.
Kirby räusperte sich eigentümlich und starrte ins Weite.
Whelmsley sah ihn überrascht an, das dauerte einen Augenblick. Dann winkte er grimmig ab
und stieß ärgerlich hervor: „Natürlich … ich begreife … weil er Ihnen einen Haufen Geldes
anbot. Nun schön. Wie sah er aus? Dick? Dünn? Mager? Hatte er zwei Beine?“
„Er war klein“, sprach Cavendish langsam, „eher sogar kleiner als ich, würde ich sagen …
obwohl er die meiste Zeit oben auf den zwei Stufen stand, … jung, kaum Mitte zwanzig, … er
trug einen dünnen, kurzen Bart auf der Oberlippe. Und eine randlose Brille, die er meiner
Ansicht nach …“
„Das wissen wir ja“ fiel ihm Whelmsley ins Wort.
Meine Gedanken gingen trübe … und ich wußte nur, daß ich niemanden kannte, auf den eine
derartige Beschreibung auch nur halbwegs zutraf … was wollte dieses fremde Scheusal von
mir?!
„Was also wollte der junge, reiche Mann, der eine falsche Brille trug?“ fragte Noah Whelmsley im gleichen Augenblick.
„Er wollte, daß ich Mr. Holland nachmittags ab fünf beobachtete“, gab John Cavendish Auskunft. „Er nannte mir die Adresse von der Zeitung, wo er zu finden sei, und er gab mir eine
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sehr genaue Beschreibung von ihm. - Ich ging gleich an einem der nächsten Abende dort hin,
Sir, und es war nicht schwierig, Mr. Holland aus all den anderen ausfindig zu machen. Denn
den Abend, Sir, trat Mr. Holland heraus und stand noch eine ganze Weile im Torweg und unterhielt sich mit einem Kameraden, der, wie ich annehmen muß, ebenfalls bei der Zeitung
angestellt ist.“
Fast ließ es mich schon unberührt. Das mußte die Gelegenheit gewesen sein, dachte ich matt,
als William Carlysle mir Namen und Adresse von Fiona de Cato genannt. Also war er mir
einige Tage später dahin auch gefolgt …
„Sie unterhielten sich ernsthaft, aber sie lachten und sie scherzten auch miteinander“, berichtete der Bote.
„Ja, nun gut, nun schön, schön …“, sprach Noah Whelmsley ungeduldig. „Sie überwachten
also Mr. Holland. Sie beobachteten, belauerten, bespitzelten ihn. - Wozu? Wofür? - Um sich
einen schönen Tag mit dem Wissen zu machen?“
„Nein, Sir“, sprach John Cavendish wichtig, „natürlich nicht, Sir. Nein, Sir, - ich mußte Bericht erstatten.“
„Sie mußten Bericht erstatten?“
„Jawohl, Sir.“
„Wem? – Dem jungen Herrn?“
„Ganz richtig, Sir.“
„Wie das?“ fragte Noah Whelmsley bissig. „Wohnt er bei Ihnen auf der Etage?“
Cavendish brachte fast etwas wie ein Lächeln zustande. „Nein, Sir, das sicher nicht. Nein, Sir,
aber ich traf mich mit ihm.“
„Ah ja, wo?“
„Wie beim ersten Mal, hinter dem Bedlam.“
„Gut – und wann?“
„Ja, sehen Sie“, sagte John Cavendish vorsichtig, „das ist der sonderbare Zufall: - Heute. Wir
waren nach zwei Wochen für gestern verabredet, aber gestern war der Knabe wieder da und
bestellte mir, heute könne der Herr nicht, ich solle morgen, also heute wiederkommen.“
„Ah. Also Sie trafen den jungen Herrn heute zum ersten Mal wieder.“
„Ja, und der Zufall ist nun, daß Mr. Holland heute auch zum Bedlam fuhr.“
Noah Whelmsley stutzte und fixierte mich scharf. „Stimmt das?“ fragte er nach einem Moment kühl.
„Ja“, sagte ich müde. „Aber das ist eine völlig andere Geschichte …“
„Hm“, machte Whelmsley und trommelte fast eine Minute lang, während der er nachdachte,
mit seinen dicken Fingern auf den Tisch. „Gut“, sagte er schließlich, und an Cavendish gewandt: „Gut. Weiter. Kommen Sie zum Ende.“
„Ich folgte Mr. Holland von seiner Arbeitsstätte“, berichtete der Bote. “Ich mußte selber eine
Kutsche bezahlen, weil ich, wie ich Ihnen sagte, ohne Fuhrwerk war, und Mr. Holland nahm
eine Kutsche.“ Cavendish pausierte, aber da niemand ihm ob seiner Ausgabe Anteilnahme
bekundete oder in Mitleid zerfloß, fuhr er fort: „Mr. Holland fuhr zu meiner Überraschung
zum Bedlam. Er ging vorne hinein, saß zuerst im Park und unterhielt sich mit einem älteren
Herrn. Dieser war auch ein Patient, nehme ich an. Später ging er hinein, ich meine Mr. Holland ging hinein.“
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Ich hörte fassungslos zu. Für einen kurzen Moment kehrte die Übelkeit von zuvor zurück, und
ich griff nach meinem Glase und schluckte hastig etwas von meinem Gin. Alles hatte dieser
Lump ausspioniert, alles, - nichts hatte er mir gelassen. Das Getränk half nicht wirklich –
vielleicht wäre Cognac besser gewesen, aber einen solchen wollte ich nicht auch noch trinken
– geschweige denn bezahlen müssen. Das, was Cavendish allerdings gleich darauf verlautete,
war, das muß ich offen zugeben, auch für mich eine Erhellung.
„Als er hineinging, folgte ich ihm nicht, denn es war die Zeit, zu der ich auf der Rückseite
verabredet war“, berichtete der Bote geschäftig.
Nun, schien es mir, wo er erst einmal angefangen, seine schmutzige Seele auszuschütten, war
es wie ein veritabler Fluß, der aus ihm herausströmte.
„Und der junge Herr“, fuhr er fort, „erschien kurze Zeit, nachdem ich eingetroffen war, an der
bezeichneten Stelle hinter dem Bedlam. Ich mußte ihm berichten, was ich alles mit Mr. Holland erlebt. Als er hörte, daß Mr. Holland drinnen im Hause sei, wurde er … wie soll ich das
nennen … wurde er sehr aufgeregt, Sir. Er meinte, wenn das so sei … wenn das so sei, sagte
er, Sir, dann ahne er, wohin Mr. Holland heute abend noch gehen werde. Ich habe die Bemerkung zu der Zeit auch nicht recht verstanden, offen gesprochen. Er befahl mir, daß ich flugs
heimlaufen und mein Fuhrwerk holen sollte, und damit sollte ich wiederkehren und sollte
unbedingt dort auf ihn warten, auch wenn er nicht da sei. Und genauso verhielt ich mich, Sir.
Ich holte meinem Karren und wartete eine ordentliche Zeit, und plötzlich, als ich da wartete,
kam ein Kutsche mit zwei Männern gefahren, und die hatten … die hatten diese Kiste dabei.“
Noah Whelmsley zog grimmig die Augenbrauen zusammen. „Was?!“ fragte er.
„Ja, Sir, sie hielten bei mir an und begannen ohne Umstände, die Kiste auf meinen Karren zu
laden, und als ich sie ansprach, was sie da täten, meinten sie, ich solle gefälligst meinen Mund
halten, das sei alles schon in der Ordnung. Da stellte ich mich beiseite, Sir, und dann warteten
wir zu dritt. Und nun dauerte es nicht lange, da kam die Kutsche des jungen Herrn mit höchster Geschwindigkeit herangesprengt, und der junge Herr sah aus dem Fenster und sagte, es
sei genauso, wie er sich das gedacht habe, Mr. Holland sei soeben auf dem Weg hierher, und
ich solle mich nur eilen und ihm hier die Kiste bringen. Und er trug mir genau auf, wie ich das
zu machen hätte: - obwohl mir Mr. Holland ja bekannt war, sollte ich nach dem Namen fragen
und so weiter, und daß eine Lieferung für ihn draußen sei … nun, und all das, wie ich es
nachher auch ausgeführt habe. Und er drohte mir, daß er mir Schaden zufügen möchte, wenn
ich ihn verrate oder wie es zu all dem gekommen.“
„Ja gewiß“, sprach Noah Whelmsley ungeduldig, „die übliche Litanei halt in solchen Fällen.
Da hätten Sie vorher dran denken sollen, Mr. Cavendish, bevor Sie von einem Unbekannten
viel Geld für undurchsichtige Aufträge annehmen …“
„Mr. Whelmsley, Sir, mit allem gebührenden Respekt, unsereins nimmt immer das Geld von
Unbekannten, wie sollte das anders gehen? - Sie sind ein Bürger, mit Verlaub, Sir, Sie wissen
nicht, wie das ist, aber meinesgleichen …“ Er vollendete nicht, sondern fügte hinzu: „Ich habe
etliche Mäuler zu stopfen, Sir, Weib und Kinder, die Hunger leiden, und wenn ich nicht genug
nach Hause bringe …“
„Der Schankwirt, dem das hier gehört, hatte auch Weib und Kinder“, bellte Whelmsley grob.
„In der Kiste, die Sie herbrachten, habe ich gehört, steckte das letzte von ihnen.“
John Cavendish schwieg angesichts dieses Ausfalls. Er senkte den Kopf und spitzte die Lippen.
„Was haben Sie gedacht, Mann, was in der Kiste ist?“ schnauzte Whelmsley hart, „nach all
dem Getue und Affentheater … Bisquits?!“
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„Mit Verlaub, Sir …“
„Sparen Sie sich das ewige ‚mit Verlaub, Sir’, verdammt …!“
„Mit Verlaub, Sir“, sprach John Cavendish fest, „ich habe Mr. Holland über Tage beobachtet.
- Es war alles, was ich dort sah, derart grundlegend harmlos … Nein, Sir, ich habe nicht daran
gedacht, daß etwas derartiges in der Kiste sein könnte. Es ist, mit Verlaub, auch nicht die
richtige Form, so etwas zu erwarten. Die Kiste ist zu kurz. Und ich habe sie selbst nicht angefaßt, Sir, nicht angehoben - nur gefahren …“
Fast schmerzhaft wurde mir klar, dass der Mann die Wahrheit sagte.
„Schön … ja, … schön-schön, gut …“ Noah Whelmsley winkte gereizt ab. „- Diese zwei
Männer, die da überraschend in Ihrer Geschichte aufgetaucht sind, die; die die Kiste gebracht
haben – was können Sie uns über die sagen?“
„War da einer dabei, der eine gespaltene Oberlippe hatte?“ entfuhr es mir. „Älter? Grauhaarig
… mit einem Vollbart …? - Gut gekleidet?“
Whelmsley; Kirby, alle Anwesenden waren überrascht, als ich mich plötzlich einmischte.
Cavendish schwieg irritiert und wußte sichtlich nicht, wem er zuerst antworten sollte.
„Nun?“ fragte Whelmsley ihn ungeduldig.
„Nein, Sir, nein“, stotterte der Bote in meine Richtung, „da war kein derartiger Mensch dabei.“
Whelmsley machte eine ungeduldige Geste in meine Richtung, etwa der Bedeutung: War es
das, was Sie wissen wollten?
„Gut. – Also weiter, was dann?“ fragte er.
„Nun, Sir“, Cavendish senkte, weil er die kommende Reaktion wohl voraussah, unstet den
Blick in den Schoß, „die beiden Männer, nun, das waren … ich wollte sagen, das waren …
Nun, Sir, das waren … Neger.“
Whelmsley blieb der Mund offen stehen. „Was haben Sie eben gesagt? – Mein Gott, wollen
Sie, daß ich Sie prügele, Mann!? – Menschenfresser? … Kannibalen? … spanische Sklaven
… oder wie?“
„Sir, die Hand soll mir verfaulen, wenn ich Sie belüge. Die waren gekleidet wie unsereins.
Einfach Leute. Aber sie waren … eben schwarz, Sir, dunkelhäutig, … Neger …--. Sie sprachen Englisch.“
Mir ging, als ich das hörte, eine leise Gänsehaut über den Rücken. Eine ach so ferne Erinnerung tauchte in meinem Kopfe auf. Es war, als ob geisterhaft hinter Schleiern eine kalte,
dünne, böse Musik anhob. Ein sonniger Nachmittag … Fackeln … die Präsentation eines Bildes. Schwarze hatten in Rokokoperücken danebengestanden …
„Gut, zwei Schwarze, warum auch nicht.“ Whelmsley hob die Schultern und erlaubte sich ein
boshaftes kleines Lachen. „Und der Kutscher, Cavendish? Chinese? Eskimo?“
„Welcher Kutscher, Sir?“
„Nun, Sie sagten uns des öfteren, daß der junge Herr mit einer Kutsche unterwegs sei – hat er
die selbst gesteuert?“
Cavendish machte einen augenblicklich ratlosen Eindruck. „Sie haben recht, Sir, natürlich
war da ein Kutscher … aber auf den habe ich … nicht sonderlich geachtet. Man achtet nicht
auf Kutscher, Sir. Er saß auf dem Bock, er trug einen Mantel, wegen der Kälte mit hochge-
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schlagenem Kragen, einen niedrigen Zylinder, natürlich Handschuhe … und er hatte seinen
Schal über Mund und Nase gezogen. Nein, man sah nicht viel von ihm, tut mir leid, Sir.“
„Nun gut“, knurrte Whelmsley ungnädig, „es wird am Ende so wichtig nicht sein.“
Ich aber fragte mich insgeheim, ob der Kutscher Kragen und Schal so hochgezogen hatte, um
den grauen Bart und die Hasenscharte zu verbergen ... Und … „zwei Neger“, dachte ich, und
daß dies konkret etwas Unumstößliches sei, was den Mord an Rosetta Manderlay mit Enid
Luciter verband. Ich entsann mich jenes düsteren Zimmers mit den Ampeln und den Düften
und wie dieser Teufel in Menschengestalt schauerliche, überzogene Drohungen gegen mich
ausgestoßen. Hatte er mich nicht gewarnt, er werde mir auf den Fersen bleiben und sogar
noch meiner Frau und meinen Kindern das Leben zur Hölle machen? Ja, gewiß, dergleichen
Unsinn hatte er verlautet. Und da wunderte ich mich, wenn ein letzten Endes bedauernswerter, jedoch harmloser Schelm wie Cavendish vorübergehend auf meine Spur gesetzt ward?
Ich hatte nichts davon bemerkt, verfolgt worden zu sein. Ob es Frank Purcell ähnlich gegangen war - und ob er doch gestoßen worden war, als die Kutsche ihn überrollte und zu Tode
schleifte? Und abermals sah ich hier die dünne Linie, die dieses Unglück mit Enid Luciter
verknüpfte.
Ich grübelte und fiel von einem Gedanken in den anderen. Dieser junge Herr, dieses Ungeheuer, das in der Haut eines normalen Menschen in London herumlief, dieser Mann, der offensichtlich so etwas wie ungesunde Regungen beim Quälen anderer verspürte, der eine
kranke Freude dabei empfand, die schlimmsten Schmerzen zu bereiten, der eine überflüssige,
ekelhafte Lust dabei gefühlt haben mußte, mir das über die Maßen entsetzliche Treffen mit
Rosetta Manderlay zu verschaffen: Bei Gott, ich kannte niemanden, der diesem Strolch auch
nur von ferne ähnlich sah. Sebastian Frideric-Horne, mein alter Freund Seb, war groß, nicht
klein, abgesehen davon, daß ihm die Verwicklung in derart scheußliche Begebnisse genauso
wenig zuzutrauen war wie den Mond zu stehlen. Die Heerscharen der Diener natürlich bei Sir
Enid Luciter, dachte ich, abermals Enid Luciter, aber diese Männer waren in meiner Erinnerung, wenngleich jung, doch alle eher kräftig von Wuchs gewesen, keine Milchgesichter wie
das unmenschliche Scheusal, welches mir Rosetta Manderlay geschickt.
Ich war in diesen Momenten ganz bei mir und in meine Gedanken versunken, nun jedoch
nahm ich wahr, daß Noah Whelmsley eine schwere, goldene Uhr hervorgezogen hatte.
„Meine Herren“, sprach er, „wir haben an diesem munteren Abend die unglaubliche Zeit von
kurz vor halb zwei Uhr erreicht, und deshalb erachte ich die Versammlung an diesem Orte für
beendet. Wir konnten naturgemäß nicht alle unserer Probleme lösen, über einiges jedoch haben wir uns Klarheit verschafft, und dies nicht zuletzt dank der wackeren Mithilfe unseres Mr.
Cavendish.“ Er blickte den Boten an, und ein anderer als ich hätte nun entscheiden müssen,
ob auch nur die winzigste Spur von Spott oder Hohn in seiner Stimme zu vernehmen war.
Vorhin hatte er auf ihm gehockt wie ein unflätiger Riesentroll, jetzt verabschiedete er ihn mit
der Contenance eines Lordkanzlers: „Gehen Sie, Mr. Cavendish, gehen Sie, und gehen Sie
unbedingt wohlgelitten. Wir danken Ihnen.“
Und ich hatte die seltsame Sensation, daß der Mann mit seinen scheußlichen auseinanderlaufenden Augen seine Mütze abnahm, sie in den Händen knetete, sich ausdrücklich in meine
Richtung verneigte und sprach: „Verzeihen Sie, Sir, und, bitte … nichts für ungut.“
Ich nickte kurz. Ob ich ihm verzeihen würde, wußte ich zu dem Zeitpunkt nicht - dabei, was
scherte es ihn, wir würden uns nicht wiedersehen. Ich war rechtschaffen müde. Und ich
verwunderte mich darüber, was mir begegnete, der ich doch immer ein Mann der Harmonie
und des Einklangs gewesen.
184
Jener andere junge Mensch, der Bekannte von Cobb, dessen Namen ich nie zu hören bekommen, nickte nun zum Abschied in die Runde und geleitete Cavendish zum zweiten Mal nach
draußen, diesmal vermutlich wirklich nur, um ihm den Verbleib seines Gaules zu zeigen.
Whelmsley war unterdessen aufgestanden, auf Kirby zugetreten und drückte ihm mit einigen
warm empfundenen Worten des Dankes die Hand. Kirbys Gesicht, sonderbar, blieb dabei so
unbewegt wie die ganze Zeit zuvor – es war, als ob dieser in vielen Dingen begabte Mann
unfähig war, im Antlitz auch nur das leiseste Gefühl auszudrücken - und dann ging er. Und war es die Uhrzeit oder die geringe Zahl der Anwesenden - unter der Tür unterblieb diesmal
sogar der gewohnte nachdenkliche Blick rundum. Die Tür schloß sich einfach hinter ihm.
Whelmsley hatte ihm sinnend lächelnd nachgesehen. „Ein wahrhaft vorzüglicher Mann“,
sagte er tiefbefriedigt. Er drehte sich zu dem Schwager des Wirtes um. „Sie, Mr. Cobb“,
sprach er, „werden so gut sein, sogleich nach unserem Abgang dieses Schiff vor Anker zu
legen – während Mr. Holland“, er wendete sich um und zeigte auf mich, „und ich noch eine
wichtige Verabredung haben, weshalb er die Ehre genießen wird, mich auf ein weiteres
Stündchen zu begleiten.“
In mir brach milder Schrecken auf. „Oh, bitte nein, Sir, hat das nicht auf ein andermal Zeit?“
wandte ich bittend ein. „Ich bin entsetzlich … furchtbar müde!“
„Nun, wundert Sie das?“ fragte Whelmsley trocken. „Ich sagte Ihnen ja, wie spät es ist.“ Er
zeigte auf mein Glas mit Gin. „Da - trinken Sie das aus, mein Freund“, und er setzte freundlich hinzu: „Sie werden es nötig haben.“
Ein fröstelnder Schauer ging über mich hin, vielleicht gerade, weil er so jovial gesprochen.
Und noch während ich das Glas an die Lippen hob und es leerte, wurde mir deutlich, daß mir
das Fatum heute nichts ersparen wollte. Denn während ich trank, wurden im Hintergrund tappende Schritte hörbar, und als ich das Glas niedersetzte, erschien der Wirt, Mr. Manderlay,
am Fuße der Treppe, die nach oben führte, barfüßig, mehr schlecht als recht in einen Nachtmantel gehüllt, mit der zerknüllten Nachtmütze schief auf dem Haupte, fast somnambul - der
Auftritt des gehörnten Gatten in der französischen Komödie, und man hätte womöglich lachen
können, wenn man sich nicht so schmerzhaft deutlich gewahr gewesen wäre, daß dies alles
andere als eine französische Komödie war.
„Raymond …!“ stieß Cobb zu Tode erschrocken aus und trat hinter dem Ausschank hervor.
Jedoch Raymond Manderlay ignorierte ihn völlig, wie im übrigen auch Whelmsley, sondern
er kam, barfüßig, wie er war, eine Geistererscheinung, quer durch den Raum auf mich zu und
legte mir die Hand auf die Brust.
„Rosetta ist tot, das Kind“, sprach er. „Nichts bringt sie mir zurück. Aber Sie“, er richtete ein
vor Kummer krankes Auge auf mich, blickte über mich hinweg. „Sie sind es, Mr. Holland,
den ich ausersehe.“ Er nickte, sah durch mich hindurch. Mich berührte eine eisige Hand, die
nicht die seine war. „Sie werden meine Rache ausführen und mir den Mörder meiner Tochter
bringen.“
Ich starrte hilfesuchend auf Whelmsley. „Verzeihen Sie“, sprach ich zu Manderlay. „Dort
steht Mr. Whelmsley. Er ist der Friedensrichter, er wird …“
Manderlays Stimme brach aus ihm hervor wie träge Lava, ich hatte das Bild vor mir, wie eine
Unzahl düsterer Lemuren rachestrotzend aus einer Höhle kroch. Es war eine Stimme, schwarz
vor Trauer und Haß. „Nein, Sie, Sie sind es, Mr. Holland, Sie sind der Mann! Sie werden mir
den Mörder meiner Tochter bringen und ihn mir zu Füßen legen! Sie werden ihn töten, so wie
er Rosetta getötet hat! Reißen Sie ihm das Herz heraus! Tun Sie es, für mich, und für sich
selbst! Sie werden es tun.“ Seine Hand krallte sich in den Stoff meiner Hemdbrust. „Bringen
Sie ihn mir. Versprechen Sie das!“ Blicklose Augen starrten mich an.
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„Ja“, sagte ich langsam und zurückgenommen, „ja, Mr. Manderlay, ich werde es tun.“
Der Griff an meinem Hemd erschlaffte. Er kehrte sich von mir ab. „Danke“, murmelte Raymond Manderlay kraftlos. „Nun kann ich getrost zur Ruhe gehen.“ Er schlufte nach hinten
und ließ sich ohne Widerstand von seinem Schwager die Treppe hochgeleiten.
Ich stand dort und versuchte das ungezügelte Zittern zu überwinden, das in mir war.
Whelmsley verharrte in einigen Schritten Entfernung und starrte versonnen vor sich auf die
Dielen. Als ob seine Hände eigenes Leben hätten, fingerten sie über seine Kleidung und zogen den See-Elefantenzahn heraus. Wie im Traum wurde der massive Schraubverschluß geöffnet, am weit ausgestreckten Arm und ohne mich anzusehen hielt Whelmsley mir das Gefäß
hin. „Da – nehmen Sie …“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, danke vielmals, aber ich habe heute schon zu viel getrunken.“
„Sie wissen nicht, was Sie versäumen, Junge“, dröhnte er rauh. „Das ist zwölfjähriger irischer
Whiskey.“ Dann setzte er selbst die Flasche an die Lippen. Hinterher schraubte er sie geschäftig zu und steckte sie fort. Mit dem Alkohol schienen seine Lebensgeister zurückgekehrt.
Wieder streckte er den Arm gegen mich aus, diesmal ohne Flasche, und er schaute mich an
dabei. „Kommen Sie“, sagte er munter, „damit Mr. Cobb hier absperren kann, wenn er zurückkehrt …“
So traten wir hinaus. Eine außerordentlich, geradezu furchtgebietend große schwarze Kutsche
in Doppelbespannung wartete vor dem Haus gegenüber. Lampen brannten beiderseits am
Fond. Ich verzögerte unwillkürlich den Schritt. „Das gelbe Kreuz haben wir neulich abgenommen …“, erlaubte sich Noah Whelmsley zu spaßen, als er mein intuitives Stocken spürte.
Auf dem Bock saß ein Kutscher im Schlafe und so verhüllt, daß er demjenigen aus der Schilderung Cavendishs glich. Einen Moment zuckte ich zusammen – sah ich jetzt schon überall
das Gespenst von Dr. David Gideon Copeland? Whelmsley weckte den schlafenden Mann,
indem er kurz an das untere Ende der Peitsche rührte. „Kommen Sie zu sich, Chase, wir fahren noch einmal zurück.“
Whelmsley hielt mir die Tür des Gefährts auf. Bevor ich hochkletterte, sah ich hinten auf der
immensen Ablage die unsägliche Leichenkiste aufgeschnallt. Auch das kleinere Behältnis, in
dem der Leichnam zuerst gewesen, befand sich sicher dort geborgen.
Die Kutsche schwankte in der Federung, als der Friedensrichter zustieg. An dem Geruch und
dem Schmuck der Polster bemerkte ich, daß es ein geradezu ehrwürdig altes Gefährt war.
„Gehörte meinem Vater, Gott hab’ ihn selig“, sagte Whelmsley, als ob er meine Gedanken
habe lesen können.
Ich warf einen Blick zurück auf das niedere Haus mit dem Strohdach, aus dessen Fenstern
noch bernsteinfarbenes Licht fiel. Länger als heute, dachte ich mit einem Anflug von unechtem Amüsement, war ich niemals in einem Wirtshause gewesen …
Dann rollten wir die Strecke durch die finstere Gasse zurück, die ich vor sieben langen Stunden zu Fuß gekommen, wo ich mich im Dunkeln vor umherschleichenden Mördern gefürchtet
… lächerlich … da war er mir in der Tat nachgeschlichen, jener vermaledeite Mordbube, und
ihn hatte ich nicht einmal bemerkt … er war mir nachgeschlichen, allerdings nicht, um mich
zu töten - allenfalls um zu erfahren, ob ich wirklich ins „Ye Olde Bell“ eilte. Oh, ich sah ihn
vor mir, wie er am Platz, vorne, wo es über die Brücke ging, da ich aus Ambroise Tardieus
Kutsche gestiegen, ebenfalls die seine verlassen und zu warten befohlen hatte, um mir nachzustöbern, und allzu bald hatte er es gewußt, wohin ich gewollt, denn welch anderes Ziel hätte
ich in diesem dunklen Wege haben sollen? Und er hatte es sogar vorher geahnt, hatte er Cavendish wissen lassen, der kleine, grauenvolle, schlaue Vogel … Wer bist du, fragte ich mich
… denn ich hatte Rosetta Manderlays Vater ein schreckliches Versprechen gegeben …
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Wir kamen an den Platz vor der Brücke, an den ich zuvor gedacht, der jetzt, so weit jenseits
der Sperrstunde, natürlich ebenfalls im Dunkeln lag, das Gas der Lampen abgedreht, und bogen zur Themse ein. Wir rollten, und mit uns, dachte ich mit einem plötzlichen Grauen, rollte
das schöne Mädchen Rosetta Manderlay. An der Brücke, ich bemerkte es mit mildem Erstaunen, zog der Posten das Gatter auf und winkte uns ohne Halt hindurch, die Kutsche eines
Noah Whelmsley war bekannt, und er brauchte den Zoll nicht zu bezahlen. Wir rollten über
die Brücke, das tote Mädchen im Gepäck.
Hatte ich sie geliebt?
Hatte der Täter sie mir deshalb persönlich geschickt, um mich zu strafen? –
Ich fühlte, wie ein Schauer mich berührte.
Unsinn, denn selbst wenn ich sie geliebt hätte, woher hätte je ein anderer Mensch dies wissen
sollen? dachte ich, – hatte ich es doch selbst nicht gewußt – und, bei Gott, wußte es jetzt noch
nicht!
Geschweige denn er! –
Aber immerhin hatte er vor mir gewußt, daß ich sie heutigen Tages besuchen würde, das war
gewesen, als ich gerade das Bethleham Royal Hospital betreten! Da hatte er solches zu Cavendish gesagt. Das frühe Wissen hatte ihm die Zeit gegeben, nachher das Kunststück mit der
Leiche zu bewerkstelligen. Eine Stunde, bevor ich selbst den Plan gefaßt, zu ihr zu gehen,
hatte e r bereits mit seinem Teil der Ausführung begonnen. Für einen Augenblick drohte mich
das Grauen vor dieser alleswissenden Bestie zu übermannen.
„Woran denken Sie?“ fragte mich Whelmsley aus dem Dunkel seiner Ecke. Es war mir unangenehm, denn irgendwie hatte ich das Gefühl, er habe mich die ganze Zeit beobachtet.
„Oh, an entsetzlich vieles ….“, wich ich aus. „Zum Beispiel frage ich mich, wohin wir fahren.“
Ich hörte ihn lachen, ein freudloses Geräusch. Ich fühlte die Bewegung im Dunkeln, als er
seinen dauernden Zahn hervorholte und einen Schluck nahm, danach das diffuse Gewerk, wie
er ihn wieder verstaute.
„Ich sage Ihnen, was Sie wirklich denken, mein Sohn“, sprach er. „Sie fragen sich vielleicht
eine Menge, Sie fragen sich dies und jenes, aber eigentlich wollen Sie nur wissen, ob Sie am
Tode dieses Mädchens schuld sind.“
Die Barriere am anderen Ende wurde aufgezogen Das leichte Schwingen der Kutsche zeigte
mir, daß wir von der Brücke fuhren. Jetzt knirschte Sand unter den Rädern, die Pferde trabten
aus. Wir rollten nach Westminster hinein und bogen rechts ab Richtung Whitehall.
„Nein, um Gottes Willen“, widersprach ich matt. „Ich bin nicht daran schuld.“
„Zählen Sie doch zwei und zwei und zwei zusammen“, sagte er, „wie ich es getan. Dieser
Bluthund wußte, daß sie ins ‚Ye Olde Bell’ laufen würden. Warum? Woher wußte er das?
Ganz einfach: Ich will es Ihnen verraten: - Er hätte dies nicht wissen können, wären Sie nicht
schon mindestens einmal zuvor dagewesen und hätte er nicht von diesem Besuch oder diesen
Besuchen Kenntnis gehabt. Also? Waren Sie zuvor schon einmal da?“
Leibhaftig sah ich mich und Rosetta dort im weißen Mondlicht stehen. Und er, der blasse
Wicht, mußte in irgendeinem Winkel gekauert haben und uns beobachtet. Somit war ich bereits damals – so wie heute – das Opfer seiner heimtückischen Überwachung gewesen – unheimlich genug …
Meine Gedanken taumelten zurück, während unsere Kutsche durch die nächtlichen, geisterhaft leeren Straßen fuhr: Das Fest bei Sir Enid Luciter, das der Präsentation jenes Gemäldes
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gegolten, welches alles ausgelöst - wie er mich bedroht hatte und wie ich über die nächtliche
Heide geflüchtet, ja, geflüchtet war – eine Flucht, bei der mein Freund Sebastian mich geborgen. Ich entsann mich des scheußlichen Traums in dieser Nacht und … ja , bereits am nächsten Tage war es gewesen, daß Sebastian mir den Boten mit dem reizenden Brief geschickt,
welcher mich auf die Fährte von Rosetta Manderlay gesetzt … - Wunderlich kam es mir mit
einem Male vor, wie schnell die Dinge sich damals entwickelt, in jenen schönen Spätsommertagen … Nur ein Tag lag dazwischen – gewiß, nur ein Tag: - da waren wir im Mondlicht
also nicht alleine gewesen, Rosetta und ich … einen Tag, nachdem Sir Enid Luciter mich gewarnt, er würde mich jagen und verfolgen bis ans Ende der Welt …
War es wirklich so? … die Lösung so einfach? … daß Luciter dahintersteckte, der einen
Mordbuben auf meine Fährte gesetzt? - Aber warum mußten dann die Mädchen sterben –
Asunción Lozano und Rosetta Manderlay - was hatten die ihm denn getan? –
Und ich begriff, daß sich ein weiteres, ganz anderes Problem hier vor mir türmte: Was wußte
ich über Noah Whelmsley und dessen Verbindung zu Luciter? Daß sie der gleichen Schicht
angehörten? - vielleicht das eine oder andere Glas zusammen leerten? - vielleicht noch ganz
andere Vergnügungen teilten? - vielleicht gar Freunde waren? – Ich konnte es nicht ahnen aber was immer mir mit Luciter, dem bösen Schelm, auf der Seele lag, durfte ich es Whelmsley anvertrauen?
Ich fühlte seine Augen auf mir aus der Dunkelheit. „Sie sind recht schweigsam, junger
Mann“, hörte ich seine Stimme, fast klang sie mir ein wenig spöttisch. „Ich hatte Sie gefragt,
ob Sie Rosetta Manderlay schon einmal vor dem heutigen Tage getroffen, sprich: als sie noch
lebte. – Also: haben Sie oder haben Sie nicht? - Doch lassen Sie nur, ich kenne die Antwort
auch so. - Denn sonst hätte nichts von dem, was hier geschah, überhaupt einen Sinn, nicht,
daß er vorab gewußt, wo Sie zu finden sein würden heute abend, und schon gar nicht, daß er
sie gerade Ihnen in den Schoß geworfen hat wie einen Sack Abfall.“
„Abfall … sagen Sie so etwas nicht …!“ wehrte ich ihm schwach.
„Nun, dann erklären Sie mir den Sinn dieser Geste, denn um etwas derartiges, davon bin ich
überzeugt, muß es sich handeln …“
Einmal abgesehen, dachte ich, von der scheußlichen, aber wohl belegbaren Tatsache, daß es
dieser Blutbestie einfach pure Freude bereitet hat, mich in kaltes Entsetzen zu stürzen … warum überhaupt ich?!
„Ich habe nichts mit Ihrem Tode zu tun“, brachte ich hervor.
„Oh doch, mein Sohn“, sagte er bestimmt, „es gibt eine Verbindung zwischen diesem Mord
und Ihnen. Sie haben etwas damit zu tun. Sie haben mehr damit zu tun als irgendwer sonst, ob
Ihnen das nun konveniert oder nicht. Glauben Sie, ich würde mir sonst mit Ihnen die Nacht
um die Ohren schlagen? Selbst wenn es keine Verbindung gäbe - er hat sie schlicht hergestellt, diese Verbindung, verstehen Sie?“
„Aber warum ich?“ rief ich aufgebracht. „Rosetta Manderlay hat so viele Menschen gekannt.“
„Zweifellos, zweifellos“, murmelte er, „und insofern ist das eine berechtigte Frage, Mr. Holland.“ Ich spürte, wie er in seinen Westentaschen nestelte und etwas hervorzog. „Aber vielleicht hilft uns dies hier ja weiter“, meinte er. „Es lag am Grunde der Kiste bei der Toten.
Kirby hat es gefunden, als er sie herausnahm. Geben Sie acht, sich nicht zu beschmutzen, es
ist getrocknetes Blut daran.“ Er reichte mir ein kleines Stück festen Kartons, in der Tat
scheußlich verkrustet von Blut. Ich hielt ihn in die Nähe des Fensters, auf daß etwas von der
Helligkeit von draußen darauffalle.
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Der Name … die Adresse … The Monthly Mercury … es war meine Karte. Es war die Karte,
die ich ihr am Ende der hellen Mondnacht gegeben.
Sie entfiel meiner Hand. Mir war, als habe mir jemand brutal in die Eingeweide geschlagen.
Es schien, als sei eine dunkle Tür aufgetan und ein böser, eisiger Wind fege herein – ich
preßte meine Faust vor den Mund, um nicht aufzuschreien.
Noah Whelmsley bückte sich, um die Karte vom Boden aufzulesen, was ihm in Anbetracht
seiner Korpulenz nicht leichtfiel. Er verstaute sie umständlich wieder in der Tasche seiner
Weste. „Nicht wahr“, meinte er beiläufig, „das gibt zu denken … ein Mädchen, so nackt, wie
Gott sie schuf … und sie hatte als einziges - … dies - … dies da dabei. - Man fragt sich natürlich unwillkürlich – ich frage mich das, Mr. Holland … ein Zeichen … ein Menetekel … ob
sie Ihretwegen starb … ob Sie Ihnen … geopfert worden ist.“
„Hören Sie auf“, brachte ich hervor, und das Entsetzen ließ mich zittern wie im Frost. „Ja, ich
habe sie einmal zuvor getroffen, Sir …ein Mal! … und nichts ist da vorgefallen, nichts, Sir,
nichts, was jenes hier … irgendwie berechtigte, Sir, ich schwöre es Ihnen!“
„Schwören Sie nicht, mein Sohn“, sagte er sehr ruhig. „Man geht nicht so leichtfertig mit Eiden um.“
Für Augenblicke wurde der Klang unserer Räder dröhnend von steinernen Wänden, erschrekkend dicht vor den Fenstern unseres Gefährts, zurückgeworfen - wir passierten ein enges Tor.
– Ich hatte nicht sonderlich achtgegeben, ich vermutete, daß es Temple Bar war im Verlauf
von Fleet Street. So dicht an meinem Arbeitsplatz! fuhr es mir durch den kranken Schädel.
Oh, wäre dies doch nur ein Alp, und ich würde soeben erwachen und wäre der Normalität
meines Alltags wiedergegeben.
„Wann“, erkundigte sich mein Begleiter, „sagen Sie, war das, Ihr Treffen mit der jungen
Dame?“
Ich hörte Wortfetzen vor meinem Ohre, hörte wie eine ferne Musik ihre sanfte Stimme. „Sie
haben mich bestellt, Sir …Wie haben Sie mich ausgefunden?“ - „Ich habe keine unredlichen
Absichten gegen dich.“ - „Aber ich habe doch zu niemand darüber gesprochen. Dies ist nun
nichts, mit dem ich mich schmücken würde.“ - „Und mir?“ fragte ich. „Würdest du mir auch
etwas verraten?“
Mein Kopf wirbelte. Ich mußte mir auf die Zunge beißen, um ihm nichts von Enid Luciter zu
erzählen.
Ich war dennoch unachtsam. „Mitte September“, gab ich Auskunft. „Am Montag, dem fünfzehnten …“
Sein Kopf ruckte hoch, es gab eine kleine Pause - er blickte mich erstaunt an. „So, am Montag, dem fünfzehnten?“ wiederholte er langsam, mit Betonung.
„Ja, so ungefähr“, beeilte ich mich anzufügen. Ich schwitzte trotz der Kälte in der Kutsche. Ja,
es war tatsächlich der Termin gewesen – das stand mir nur allzu genau im Sinn, weil die Vernissage am Tag zuvor, Sonntag, dem 14. ausgerichtet gewesen war – zu lange hatte ich die
Einladung in der Tasche herumgetragen.
Whelmsley betrachtete mich einen Moment mit schlechtverhohlenem Mißtrauen. „Gut“,
meinte er, „einigen wir uns also auf den fünfzehnten. Wenn ich Sie fragen würde, warum Sie
das so genau in Erinnerung behalten haben, würden Sie mir vermutlich antworten, es sei der
Sterbetag Ihrer Mutter, habe ich recht?“
„Wie meinen Sie, Sir?“
„Und warum haben Sie ihr die Karte überhaupt gegeben?“ wollte er wissen.
189
„Nun, ich …“, brachte ich vor, „… warum schon – falls sie mich wiedersehen wollte, damit
sie wußte, wohin sie sich wenden kann.“
Er blickte mich unbewegt an.
„Manche Mädchen kann man mit so einer Karte beeindrucken“, setzte ich hinzu.
„Oh, ganz gewiß“, murmelte er. Aber ich konnte geradezu körperlich spüren, daß er mir den
raffinierten Causeur nicht abnahm.
Draußen schwankte ein Straßenzug um den anderen vorbei, mittlerweile östliches oder nordöstliches London, aber ich erkannte nichts. Ich wußte längst nicht mehr genau, wo wir uns
befanden.
Ich schwieg. Meine Gedanken flogen zurück. Ich dachte daran, worüber wir uns unterhalten,
dort im Mondlicht, Rosetta und ich … über das dunkle Haus in Mayfair … Angebote von
Konfekt und Gold … in Cornwall: das unzüchtige Lager in der Nacht, wenn der feiste
Maestro kam ...
Warum ich die Verbindung zwischen diesem bestialischen Mord und mir nicht enger, enger,
ganz eng knüpfte? - Warum ich die Dinge nicht so sehen wollte, wie sie offensichtlich lagen?
– Weil ich mir am Ende hätte sagen müssen, daß dieses Mädchen vielleicht getötet worden
war, damit sie nicht mehr sprechen konnte?
Erstmals hier in der Kutsche von Whelmsley hatte ich diesen absolut phantastischen Gedanken. Daß sie ermordet worden war, weil jemand gefürchtet hatte, sie würde etwas verraten,
das das Licht des Tages scheute? Eine Rotte reicher Mäzene und Anwälte in noblen Häusern,
die tiefe, dunkle, finstere, böse Geheimnisse, teuflische Abgründe hüteten, Spiele mit nackter
Haut und Früchte der Verderbtheit, eleusische Mysterien – und sie hatten gefürchtet, die Welt
erfahre davon. Hatte das Mädchen mir damals schon zu viel verraten und war dafür bestraft
worden? War Rosetta Manderlay in der Tat, wie Whelmsley gesagt, das Opfer, das mir gebracht worden war - mir meinerseits zur Warnung, meinen Mund zu halten? - War sie meinetwegen getötet worden? - Hatte man sie mir deshalb geschickt?
Whelmsley beobachtete mich immer noch von der Seite. „Worüber haben Sie mit dem Mädchen geredet?“ wollte er wissen.
„Wir haben uns unterhalten“, sagte ich und zitterte dabei. „Über die Liebe und dergleichen
Dinge, Sir. Die Schönheiten der Liebe. Das Scheusal muß uns auch damals schon beobachtet
haben. Ein Schatten in der Nacht.“
„Glauben Sie?“ fragte er mich aus dem Dunkel. Etwas an seiner Stimme beunruhigte mich,
ich konnte nicht sagen, was – es war etwas Neues.
„Glauben Sie nicht?“ fragte ich zurück
Die Kutsche polterte über einige gröbere Steine und fuhr jetzt etwas wie eine Allee entlang.
Die Gegend dünkte mich ländlicher, ich erkannte undeutlich steinerne Pilaster, Alleen von
Trauerweiden und verwilderte Gartenauffahrten. Der Mond kam gelegentlich in kleinen Flekken durch die Wolken.
„Nein, ich denke nicht, Mr. Holland. Ihr kleines Parlando und die Entführung liegen zu lang
auseinander. Wenn er Sie bei Ihrem Rendezvous beobachtet hätte, warum hätte er so lange
mit der Entführung warten sollen - die geschah erst am Sonntag nach Erntedank, am zwölften,
annähernd drei Wochen später, Sie entsinnen sich der Aussage Mr. Cobbs – nein, das leuchtet
mir nicht ein.“
„Sehen Sie, dann hat der Mord doch nichts mit meinem Treffen mit diesem Mädchen zu tun!“
rief ich und fühlte eine Sekunde lang eine unendliche Erleichterung.
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Whelmsley schüttelte den Kopf.
„Wie ist er an Ihre Karte gekommen, einen Monat später?“ entgegnete er ernst und so, als ob
er mich nicht gehört. „Vor drei Wochen wurde Rosetta Manderlay aus dem Hause Ihres Vaters entfernt … und seit zwei Wochen wurden Sie, Mr. Holland, genauer Überwachung unterzogen. Ich fürchte, das kann nur bedeuten, daß Sie und Ihre Karte während der Zeit der Gefangenschaft, genauer im Verlauf der ersten Woche ihres Maryriums, Gesprächsthema von
Täter und Opfer gewesen sind. Und wenn Sie mich fragen, nicht nur Ihre Person, Mr. Holland, war Thema, sondern das, worüber Sie sich damals bei Ihrem Rendezvous unterhalten
haben. Umgekehrt, hätten die beiden nicht ebenso das beredet, was Sie damals erörtert, so
hätte es für Rosetta Manderlay nicht der Notwendigkeit bedurft, Sie oder Ihre Karte aufzuführen, und so wäre der Täter nicht daran gekommen - können Sie mir soweit folgen, Mr. Holland? - Eigentlich möchte ich Ihnen wünschen, junger Mann, daß damals wirklich nur die
Wunder unschuldiger, junger Liebe abgehandelt wurden, aber ich muß Ihnen offen bekennen,
Sir, so, wie die Sache heute abend ausgegangen ist, spricht mir doch einiges grundsätzlich
dagegen.“
Er schaute mich düsteren Blickes an.
„Drei Wochen“, sagte er mit ätzender Stimme, „um schließlich doch noch hingeschlachtet zu
werden. - Drei Wochen in seiner Gewalt … Wir müssen uns fragen, was das bedeutet.“
Ich preßte die Schläfe gegen die scharfe Kante Holzes neben dem Fenster, die Kutsche rüttelte
und stieß, daß es mich recht schmerzte, und ich hoffte, daß es den Schmerz in mir übertönen
möge. Ja, gewiß … drei Wochen in der Gewalt dieses Unholds – was mochte dies Abscheuliches und Abstoßendes heißen?! Ein kalter Kerker … mangelhaftes Essen … Hunger … Ketten, Folter, körperliche Zudringlichkeiten, Weinen, Angst? Oh grauenvoll, grauenvoll! Was
mochte die schöne Rosetta Manderlay gelitten und ertragen haben …!
„Jetzt fragen Sie sich natürlich“, fuhr mein Begleiter erbarmungslos fort, während der Wagen
um eine Ecke bog und mich auf die andere Seite warf, „wie lange sie von diesen drei Wochen
überhaupt noch gelitten hat.“ Whelmsley hob betrachtend seine Hand vor Augen, schloß sie
zur Faust. „Anders gefragt: wann ist sie getötet worden?“ Er blickte mich an. „Vor einer Woche? - Gestern? - Heute? – und woraufhin, nicht wahr?“ Er ließ die Faust sinken und wandte
den Blick von mir ab, sah auf seiner Seite aus dem Fenster, als die Kutsche nun gemächlicher
rollte, und sprach sehr ruhig, aber mit einem Groll, der ihm gefährlich und tief aus der Kehle
stieg: „Aber wir werden es erfahren, mein Sohn, dessen seien Sie versichert, wir werden es
erfahren: das ‚Woraufhin’ … irgendwann, wenn wir den Verantwortlichen gestellt und unserer Gerichtsbarkeit überantwortet haben … und das ‚Wann’ … schon bald, sehr bald … morgen oder übermorgen! Überdies haben wir diesbezüglich bereits sehr konkrete Vermutungen.“
Draußen waren die Anwesen einer stillen Ortschaft oder eines anderen Teils von London zu
sehen. Die Kutsche schwankte über einen Sandweg.
Whelmsley nickte. Sein Kopf drehte sich träge zu mir herum, ein ausdrucksloses Gesicht.
„Dr. Gaddison … kennen Sie ihn? – Nein, natürlich nicht … Hat seine Approbation verloren,
aber das macht nichts. – Er ist ein guter Mann … arbeitet für mich. - Er wird uns einiges über
den Todeszeitpunkt sagen können … und auch, was ihr sonst angetan worden ist. Ob sie noch
gelebt hat, als ihr das Herz herausgeschnitten wurde … oder, falls nicht, woran sie sonst gestorben ist … ob sie vorher in die Kiste gestopft worden ist oder danach … nun: all dies. –“
Er sann einen Moment nach. „Kirby meinte, es sei nicht vor heute Nachmittag passiert, das
geronnene Blut noch recht frisch, wie Fett, nicht hart, nicht vertrocknet, nicht einmal der rigor
mortis eingetreten, was nach drei bis sechs Stunden geschieht.“
Er sprach im Tone größter Vernunft, unaufgeregt, zurückgenommen, wie andere Leute über
die Preise von Tee reden oder die Schiffahrtspläne. Mich dagegen spülte eine elende Welle
191
von Übelkeit hinweg. Ich fürchtete, mich übergeben zu müssen. Ich kniff mich krampfhaft in
die eigenen Hände.
Whelmsley nahm dies nicht wahr. Er strich sich sinnend durch den Bart, bewegte seinen bedeutenden Zeigefinger gegen mich. „Noch in einer anderen Weise kommt Ärger auf Sie zu,
junger Freund“, warnte er mich.
„Was meinen Sie?!“ stammelte ich erschreckt. Ich war kaum in der Lage zu sprechen.
„Aber haben Sie es nicht bemerkt?“ fragte er mich überrascht. „Der Lump, von dem wir sprechen, hat heute nebenbei erfahren, daß Sie im Bethleham waren.“
„Und was heißt das?“
Er lächelte böse. „Nun, ich weiß nicht, was Sie dort wollten … aber er wird es herausbringen.
– Nehmen wir der Einfachheit halber an, Sie haben dort jemanden besucht … nur eine Theorie, Mr. Holland … nun, dann würde ich diese Person … eindringlich warnen … oder schleunigst in Sicherheit bringen …“
„Meinen Sie?“ fragte ich schwach.
Ich hörte von ferne das „Brrrr“ des Kutschers vom Bock. Der Wagen verlangsamte seine
Fahrt, schaukelte, bog in eine Art Hof oder Gehöft ein, kam zum Stehen. Ich hörte das Quietschen der Kurbeln, als die Bremsen festgezogen wurden. Noah Whelmsley orientierte sich mit
einem kurzen Blick aus dem Fenster.
„Oh ja“, sprach er, „wir sind da. Treten Sie vor, mein Junge, wir sind am Ziel. Vorsicht - lassen Sie mich für Sie öffnen - es klemmt etwas, und wenn man nicht Bescheid weiß …“
Während er die Tür auf meiner Seite aufstieß und zuerst hinunterkletterte, fragte ich mich,
was verheerender zu bewerten sei, daß, wie ich heute abend von Tardieu erfahren, meine Io
das Bethleham Royal Hospital längst verlassen und somit weder eine Warnung an sie möglich
war, noch sie unmittelbar zu bergen und in Sicherheit zu führen, oder die Tatsache, daß Luciter selbst sie geholt und sie somit längst im Netz der Spinne zappelte.
Ich erhob mich erschöpft von meinem Polstersitz und stieg auf die Stufen hinaus. Welch ein
Tag, welch eine Nacht, dachte ich. In Noah Whelmsleys Gegenwart hätte ich ahnen sollen:
Sie war noch nicht vorüber.
Das Unglück breitete weit seinen Mantel aus.
192
10. Kapitel
Bunhill Fields
Die dünne Mondsichel, drei Tage vor Neumond, stand tief im Westen hinter ziehenden Wolken, aber ihr Licht erlaubte mir gleichwohl eine erste Orientierung. Das, wo wir gehalten, war
tatsächlich ein Hof, umgeben auf drei Seiten von niedrigen Stallungen und Scheuern, ein eigentliches Wohnhaus war nicht unmittelbar auszumachen. Dafür befand sich hinter uns, ebenfalls in völliger Dunkelheit liegend, jenseits des Weges, den wir gekommen, ein größeres,
schmuckloses Gebäude wie ein Klosterstift oder ein Hospiz, seitlich von welchem sich eine
verfallene Ziegelmauer in die Ferne zog, über die hinweg die Kronen vereinzelter großer, sehr
alter Bäume zu erkennen waren. Die Mauer war an einzelnen Stellen fast gänzlich niedergebrochen und erlaubte dort den Blick auf das Gelände unter jenen Bäumen – undefinierbare
Schattenformen schienen da ungewiß im Nachtwind zu warten - und wenn der Mond etwas
deutlicher aufgeschienen wäre, hätte ich gleich erkannt, wo wir uns befanden. So jedoch gewann ich fürs erste lediglich den Eindruck eines gespenstisch düsteren Ensembles - die Lichter an dem Wagen stellten neben dem blassen Mondschein die einzige Beleuchtung im Um193
kreis dar. Die Fahrt hierher mochte eine halbe Stunde oder länger gedauert haben, es mochte
demnach gut zwei Uhr vorbei sein, der Mond stand kurz vor seinem Untergange.
Noah Whelmsley hatte mit dem Kutscher einige Worte getauscht und diesem einige Befehle
erteilt – es ging um die Versorgung sowohl der Equipage als auch der aufgeladenen Kisten;
ich hörte etwas von „Wecken Sie Swensson, wecken Sie Cruikshank“ – sieh da, dachte ich,
auch er hat also seine Leute, genau wie Wayne Leonard Kirby – nun jedoch trat der beleibte
Friedensrichter zu mir heran und mit der weitausholenden Geste eines Zeremonienmeisters
wies er mich über die Straße auf jenes größere Gebäude zu: „Kommen Sie, Mr. Holland, ich
habe da noch etwas für Sie, das Sie unbedingt sehen sollten.“ Ich warf einen letzten Blick
zurück auf die Kiste mit Rosetta Manderlays geschundenem Leichnam, dann trat ich neben
Whelmsley über die schlaglochübersäte Straße.
„Vorsicht“, mahnte er. „Stürzen Sie nicht …“
Indem wir uns dem großen Haus gegenüber näherten, sah ich, daß es gewissermaßen gegen
die Mauer lehnte und daß diese sich auch nach der anderen Richtung zu erstreckte. Links, von
wo wir gekommen, herrschte weiter Blick vor, Bruchwiesen, Ödland, über dem niedrig und
bleich die Mondsichel stand, aber rechts hinunter weitete sich die Straße fast zu einer Art jetzt natürlich geisterhaft leerem - Marktplatz. Dort erhoben sich dunkle Stadthäuser.
Und - war es die geringfügig veränderte Perspektive, sobald man aus dem Gehöft hinaustrat –
oder war es auch nur, daß der Mond für einen Augenblick deutlicher durch ein Wolkenloch
fand – mit einem Mal jedoch hatte ich mit den Platz erkannt, an dem wir uns befanden, und
ich verhielt unwillkürlich den Schritt, denn um diesen Ort, sozusagen, hätte ich wohl auch bei
Tageslicht vorgezogen einen Bogen zu schlagen. Der Friedensrichter, vor mir, bemerkte, daß
ich zurückblieb. Er blieb gleichfalls stehen, drehte sich um und lachte: “Was haben Sie, mein
Sohn?“
„Dies ist City Road, Sir“, sagte ich. „Wir sind in Finsbury.“
„Oh, Sie kennen sich aus, junger Mann“, lachte er anerkennend. „Und nun? Sie werden nichts
gegen Finsbury haben.“
„Dann muß dies das alte Schulhaus sein“, sagte ich alarmiert.
„Gewiß“, schmunzelte Whelmsley, „in einer Minute werden Sie es zweifelsfrei riechen.“
„Aber dann ist das hinter der Mauer … Bunhill Fields!“
Whelmsley ließ seine Schultern und seine Heiterkeit fallen.
„Nun gut, Mr. Holland“, sagte er ungeduldig, „Sie brauchen hier nicht den Maitre de Plaisir
zu machen. Ich kenne mich an dieser Stelle weit besser aus als Sie. Also bitte … wollen wir?“
Er fingerte ein üppiges Schlüsselbund aus seinem weitläufigen Wams, drehte sich abrupt um
und strebte vorwärts. Das Schulhaus war sein Ziel. Was blieb mir also übrig, als ihm zu folgen …?
Ich muß, fürchte ich, geneigter Leser, an dieser Stelle eine Information einfügen, für den Fall,
daß Dir die genannten Namen nichts sagen, aber mir liegt sehr daran, Dir zu verdeutlichen,
warum dieser Flecken Erde hinter der Mauer und das dabeigelegene Schulhaus für mich seit
je mit einer ganz eigenen Qualität und Intensität von Schauder behaftet waren.
Ganz sicher ist es nicht, aber man nimmt heute an, daß der Begriff „Bunhill“ sich ursprünglich von „Bone Hill“ herleitet; da der Platz erstmals seine Auflassung erfuhr, als im Jahre des
Herrn 1549 zunächst Wagenladungen von Knochen aus dem völlig überfüllten Gottesacker
von St. Pauls hierher transportiert wurden. Das Gelände, das seit dem Mittelalter im Besitz
der Corporation of London war, sollte nach der großen Pest von 1664 zum Pestacker umge194
widmet werden, zu der Zeit wurden auch die Mauern und Tore darum herum errichtet. Es kam
letzthin zwar nicht zur Bestattung von Seuchenopfern, unbestritten jedoch ist auch, daß der
Friedhof niemals geweiht wurde, was in der Folge dazu führte, daß der Ort verstärkt Bestattungen von Gehenkten sowie Nonkonformisten erfuhr, die auf den Beistand des Common
Prayer Book verzichten mußten oder wollten,. – man nannte die Stätte damals deshalb häufig
auch „Tyndall’s Burial Ground“ – ein anderer Name, den der Ort erwarb, war „Friedhof des
Puritanischen England“.
Nachdem schon lange zuvor das Problem aufgetreten war, daß auf den Kirchhöfen der vielen,
kleinen Pfarreien im Raume Londons der Raum für die Toten ausging, führte das aufstrebende Wachstum unserer Metropole seit cirka achtzig oder hundert Jahren zu einer derart
dramatischen Platznot auf den Friedhöfen, daß es gerade hier in Bunhill Fields zu den makabersten Auswüchsen des Bestattungswesens kam. Wurde zunächst einerseits der verstärkte
Gebrauch von Gruben praktiziert, in welche die Toten, nur in ein Tuch eingeschlagen, zu sehr
großen Zahlen gemeinsam versenkt wurden - jede Schicht von Leibern zwecks schnellerer
Zersetzung mit ein paar Schaufeln ungelöschten Kalkes bedeckt - so war ein anderer Ausweg,
das Problem zu lösen, die Dahingegangenen zwar in Särgen, aber diese derart dicht bei dicht
und in bis zu sechs Lagen übereinander zu bestatten, daß sie nur jeweils ein oder zwei Inches
Erde zwischen sich hatten und auch die oberste Erdschicht nicht mehr als eine Daumenbreite
betrug. Abgesehen davon, daß es zu Unglücken aufgrund von Einbrüchen kam, wenn das verfaulende Holz einzelner Sargschichten nachgab, muß man berichten, daß diese Zustände binnen kurzer Zeit ein offener Skandal und der Ort das Eldorado von Gelichter ward, das die
Toten massenhaft ausraubte oder sogar ihre Körper stahl.
Darauf ging man dazu über, und das nicht nur hier in Bunhill Fields, sondern auch anderenorts, die obersten Schichten von Toten wieder herauszuholen und die Särge an verschlossener
Stelle, nämlich in Zwischendecken und unter dem Fußboden von Schulen und Krankenhäusern zu verstauen, wo nun die Kinder und die Kranken die faule Luft zu atmen hatten. Erst in
letzter Zeit waren solche Gebäude vermehrt geräumt worden – von den Lebenden – die Leichen befanden sich immer noch darin. Und ich wußte von Meredith, der einen anklagenden
Bericht darüber verfaßt, daß zum Beispiel die nun vor mir liegende Schule zu solchen „Leichenhäusern“ gehörte – und allein dies war der Grund für mich gewesen, mich Whelmsley
gegenüber so irritiert zu verhalten wie geschildert.
Wir näherten uns dem Haus, der Friedensrichter stieg die vier Stufen davor hinauf, ich, notgedrungen, folgte ihm. Whelmsley schob den Schlüssel ins Schloß und sperrte auf. Er trat vor
mir ein. „Kommen Sie“, sagte er nachlässig über die Schulter. Ich trat furchtsam durch die
Tür und hielt mit dem Atem inne. Der Eingang fiel mit einem Klappen hinter mir wieder zu.
In der völligen Finsternis hörte ich Whelmsley rascheln, dann, nach einiger Zeit, flammte ein
Öllicht auf. Fieberhafte Überlegungen zuckten unterdessen durch mein Hirn, ob ich besser
durch die Nase oder den Mund Luft holen sollte, ich konnte den Atem naturgemäß nicht ewig
zurückhalten, dann, als es nicht mehr ging, ließ ich es einfach geschehen, riß den Mund auf
und holte die Luft ein. Und – was soll ich sagen – es war auf unbeschreibliche Weise gleichzeitig schlimmer und weniger schlimm als erwartet. Es war, denke ich, fast mehr eine Sache
des Kopfes denn des Geruchssinnes.
Natürlich war ein grauenhafter Gestank im Hause – dennoch, ohne Kenntnis der wahren Ursache dessen hätte ich, offen gesprochen, kaum gewußt, was die Nase da aufnahm, denn was
es wirklich heißt, einen – nein, viele Menschen im Zustande der Fäulnis zu riechen, das können sich die wenigsten von uns vorstellen. Und so war dieser Verwesungsodem, der aus den
Fußbodendielen drang, mir gleichermaßen gräulicher Pestatem wie Ausfluß von etwas Natürlichem, es hätte in großer Menge vielleicht auch stockendes, schimmelndes Papier, verdorbenes Fleisch oder eine Jauchegrube sein können, die man da wahrnahm. Und in alledem war
auch etwas – verlache mich nicht, treuer Leser – beinahe anrührend Frisches oder Luftiges zu
195
spüren, und ich schob das darauf, daß die meisten der Toten, die ich hier roch, den Zustand
des Fleisches zum größten Teile seit langem hinter sich hatten.
Vermutlich ohne daß er es ahnte, bestätigte mich Whelmsley bereits im nächsten Augenblick.
„Merken Sie auf, Mr. Holland“, meinte er gönnerhaft, „es ist gar nicht so gräßlich, nicht
wahr? – die meisten sind trocken, ausgedörrt, längst weitgehend mumifiziert, überlegen Sie,
wie lange es her, daß sie abgegangen …! – Folgen Sie mir jetzt, wenn Sie die Güte haben
wollen ...“
Die Zeit meiner Reflexion hatte ihm wohlauf gereicht, mehrere der Öllampen anzuzünden, die
offensichtlich im Bereich der Haustüre auf den Eintretenden warteten. Er gab mir eine davon
und trug selber zwei in der mächtigen linken Hand. Nun kehrte er sich um und bewegte sich
durchs Haus. Ich, wie zuvor, folgte ihm.
Es war gespenstisch, wie sehr dieser stille Bau, sah man von dem erwähnten Verwesungsgeruch ab, nein, rein von dem her, was die Augen erblickten, den Charakter einer Schule behalten hatte, obwohl es von jedem Mobiliar entblößt worden war; unwillkürlich stiegen Erinnerungen an meine Kindheit in mir auf, wo ich das Glück gehabt, über einige Jahre ein privat
geführtes Institut besuchen zu dürfen – die Treppen, die nach oben führten, die Dielen, die
knarrenden Korridore, die großen, stillen Räume zur Seite, das Glas, das unser vorbeigleitendes Licht für einen Augenblick aus der Finsternis riß … viel fehlte nicht, und ich hätte die
Kleiderhaken noch an den Wänden der Flure erblickt, die in Wirklichkeit natürlich längst abgenommen und entfernt waren.
Wir benutzten die Treppen nicht, blieben im Erdgeschoß, Noah Whelmsley führte mich einen
lautlosen Korridor hinunter in den rechten Teil des Gebäudes, sein mächtiger Schatten mit
den zwei Öllichtern in der linken Hand glitt mir vorweg. Die Türen seitwärts standen offen,
und aus ihnen heraus stank es …
„Haben Sie ein Taschentuch und Duftwasser dabei?“ fragte er mich plötzlich über die Schulter.
„Ersteres ja, letzteres nein“, gab ich zur Antwort.
„Dann sollten Sie es auf alle Fälle jetzt applizieren“, meinte er so unschuldig wie möglich.
„Denn wir statten jetzt den jüngsten Bewohnern des Hauses einen Besuch ab …“
Hier, am Ende des Korridors, stiegen wir ein paar Stufen hinunter, vermutlich genau die
Höhe, die wir vor der Haustür hinaufgestiegen. Dies hier war ein Teil des Hauses, schloß ich,
der nicht unterkellert war. Whelmsley öffnete dort eine eiserne Tür, die mittels gewaltiger
Hebel verschlossen war – fast schien es, als galt es einen riesigen Tresor zu öffnen - und sein
Licht fiel dahinter in ein einigermaßen weiträumiges, wenngleich fensterloses Gelaß, welches
- worauf der Steinfußboden hindeutete, über den Rinnen hinliefen, in denen Wasser abfließen
konnte - wohl ehemals ein Waschraum oder eine Küche gewesen sein mußte. Jetzt war der
Raum wie all die anderen Räumlichkeiten hier leer – bis auf vier Tische, die gleichmäßig
verteilt in den vier Winkeln standen. Es waren allerdings keine normalen Tische, sondern sie
waren ihrerseits aus Stein oder Coade-Terracotta aus Lambeth, sie sahen vom Material her
aus wie Bänke oder Taufbecken, aus alten Kirchen gestohlen.
Ich konnte mich jedoch nicht in erster Linie um den Augeneindruck kümmern, denn hier, anders als bisher in diesem Hause, war es, als sei ich gegen eine Wand wahrhaft mörderischen
Gestanks gelaufen. Ich riß entsetzt ein Taschentuch hervor,– im Lichte der Lampe, die ich
trug, bemerkte ich gerade rechtzeitig, bevor ich es an Mund und Nase preßte, daß es – BRH –
jenes einst unschuldige, unterdessen jedoch mit dem Blute Rosetta Manderlays besudelte
Stück Stoffes war, das mir jener ältere Herr in Bedlam mit dem leeren, freundlichen Geiste
eines Kindes ungewollt übereignet – ich fühlte, daß die Lampenschale in meiner Hand
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schwankte und klirrte, als ich zu zittern begann – dies, was ich hier zu riechen genötigt war,
war strikt jenseits dessen, was der Chronist entfernt in der Lage ist darzustellen.
„Ja, es ist unangenehm“, beeilte sich Noah Whelmsley einzugestehen, „jedoch, Mr. Holland,
für den Augenblick tatsächlich unumgänglich. Ich muß Sie dringend bitten, einen Blick hierauf zu werfen.“ Er hatte seine Ölschalen auf ein erhöhtes Bord an der Wand plaziert und
nahm mir jetzt mein Licht ab. „Kommen Sie.“
Ich drängte mit dem letzten Atem des Verzweifelten oder sollte ich sagen der Verzweiflung
des Erstickenden den unerbittlich in meiner Kehle aufwachsenden Brechreiz gegen diese olfaktorische Hölle von bestialischer Fäulnis und Verwesung zurück und folgte, taumelnd in
den Knien, Noah Whelmsley die wenigen Schritte, wie er mich an einen der vier Tische
führte, auf dem, wie ich erst jetzt bemerkte, mit einem glatten, weißen Tuche bedeckt, ein
länglicher Gegenstand hingebreitet lag. Ich wußte sofort und mit jeder Faser meines Herzens,
mit jedem Atom meines Gehirns, daß es ein menschlicher Körper war, der dort lag, lange,
lange, bevor Noah Whelmsley es mir bestätigte. Seitlich waren eine ganze Reihe kleinerer,
länglicher Packen oder Bündel gegen den größeren Laib gelehnt, und hier im Licht, aus der
Nähe, nahm ich einen unheimlichen dünnen Nebel war, der aus den kleineren Paketen aufstieg, lautlos über den steinernen Tisch kroch und an den Seiten herunterfloß wie zähflüssiger,
weißlicher Hexenbrei.
Der Friedensrichter begann, ohne viel Federlesens diese kleinen Bündel mit den Händen zur
Seite zu reißen, wobei mir auffiel, daß er sie nur so knapp als irgend möglich berührte. „Trokkeneis“, gab er mir über die Schulter zur Kenntnis.
Es schien mir, daß ich längst das Maß dessen erreicht hatte, was mir an einem einzigen Tage
der Schöpfung an Grauen zuzumuten war, gleichwohl starrte ich, unerlösbar und gebannt,
zitternd und mit einem fauligen Würgen in der Magengrube, darauf hin, wie Noah Whelmsley
nach der Entfernung der Trockeneisbündel darum herum begann, das Tuch um den Leichnam
selbst aufzuschlagen.
„Diese junge Frau“, sagte Noah Whelmsley, und die Art, wie er während der geschäftigen
Tätigkeit seiner Hände seinen Kopf halb zurückzog, halb abwandte, zeigte mir, daß auch er
hier seine Grenzen erreicht hatte, „dürfte zwei bis drei Wochen tot sein, und es wird somit in
der Tat höchste Zeit, daß sie christlich unter die Erde gelangt. Sie ist trotz meiner Versuche,
sie durch Kälte zu konservieren, wie Sie sehen, inzwischen in einem stark verwesten Zustand.
Sie war schon, bevor wir sie fanden, schrecklich zugerichtet – wir haben sie vor einer Woche
aus einem Abwasserkanal geholt, dort hat sie eine Woche oder länger gesteckt.“
Er schlug das Tuch am Kopfende zurück, und eine dunkelbraune, schauerliche Fratze mit zurückgezogenen Lefzen und halbgeöffneten, zerstörten Augen, den Kopf halb zur Seite geneigt, blickte mich an. Die Stirn, die Wange, das Kinn, überall hockte die Verwesung bereits
gierig bei der Tafel, die sehr langen schwarzen Haare waren verfilzt und stumpf, sie verdeckten das Gesicht teilweise, der ganze Kopf starrte von gräßlichstem Schmutz. Dies war ein
ehemals menschliches Antlitz, das einer jungen, anmutigen Frau, wie ich wohl aus den Andeutungen wußte, aber es sah aus wie das einer uralten Indianerin. Eine Ähnlichkeit zu jenem
Bilde war im Grunde nicht mehr auszumachen, da der schnöde Tod alles, was dieses Wesen
an äußeren Merkmalen besessen, ihr in so kurzer Zeit geraubt, er hatte sie gesichtslos gemacht
- der seelenvolle Blick, der schöne Mund, die edle Form der Wangen oder die marmorweiße,
lilienreine Haut – all das war mit dem Sonnenglanz ihres kurzen Lebens verweht. … Asunción Lozanos Seele und Körper waren nun beide fortgegangen.
„Nun?“ fragte Noah Whelmsley. „Sagt Ihnen das Gesicht etwas? Kennen Sie die junge Frau?“
„Das Gesicht, Sir …“, würgte ich hervor, „… nun - es ist, Sir, … nachgerade nicht mehr zu
identifizieren.“ - Das war nicht einmal gelogen.
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„Ich habe Sie gefragt, ob Sie wissen, wer diese Frau ist!“
Ich schüttelte stumm den Kopf.
„Sehen Sie, hier“, sagte Noah Whelmsley spröde. Mit einem grausamen, kurzen Ruck, so daß
der ganze verwesende Körper sich bewegte, zerrte er das Tuch über Brust und Bauch der Toten auseinander – man konnte sehen, daß sie bekleidet war, ein ehemals weißes Nachtgewand,
aber der Stoff war über dem oberen Bauch völlig zerfetzt, man sah das faulige, schwarze
Fleisch darunter und den dunklen Trichter, wo ihr das Herz entnommen worden war. Ich
wendete mich hastig gegen die Wand, stützte mich dort ab, beugte mich und würgte. Ich
mußte auch deshalb würgen, weil ich im letzten Moment, als ich dort hingeschaut, etwas eminent Scheußliches gesehen. Ein winziger Käfer, nicht größer als ein kleiner Fingernagel, war
Asunción Lozano aus dem Munde gekrochen, blitzschnell über das Gesicht gelaufen und ihr
im Auge versunken.
„Nun, wie schaut es aus, Mr. Holland?“ fragte mich Noah Whelmsley dröhnend, während ich
keuchend gegen die Wand gelehnt stand. „Das Herz entfernt …– zweimal dieselbe Methode
… wie? … zweimal zum gleichen Zweck? - Würden Sie nicht meinen, nein?“
Ich schwieg - zum Teil, weil ich nicht sprechen konnte.
„Hören Sie, Mr. Holland, bevor Sie mir weiter Märchen erzählen, die Ihnen nicht einmal Ihre
Großmutter abkaufen würde … gehen Sie in sich und geben Sie sich einen Ruck! Als Mr.
Cavendish vorhin erläuterte, Sie seien gestern … verzeihen Sie mir: vorgestern … in Marylebone am Canonbury Square aufgetaucht und hätten da mit dem Verwalter gesprochen, wissen
Sie, da habe ich ganz laut die Glocken läuten hören. Unter dieser Adresse hat sie nämlich bis
vor etwa zweieinhalb Wochen als Gouvernante für einen Arzt gearbeitet. - Hieß Asunción
Lozano und stammte aus Spanien … aus Zaragoza oder weiß der Teufel …“
Ich schwieg. Was wollte er von mir noch hören, da er sowieso schon alles wußte.
Er betrachtete mich in einer Weise, die mir zeigte, daß sein Wohlwollen mir gegenüber rapide
im Schwinden begriffen war.
„Also gut“, sagte er schließlich, „dann schweigen Sie eben - es geht auch anders, mein Sohn.“
Er drehte sich um und klaubte irgendetwas Kleines von einem Wandbord im Hintergrunde. Er
kam damit zurück und zeigte es mir. „Das haben wir bei ihr gefunden, junger Mann. Sie hatte
es dort in einer Tasche ihres Rocks.“
Es war ohne irgendwelches Blut daran, es war zerknittert, blaß und ausgewaschen vom Liegen im Wasser – Domenic Holland … Schreiber … ‚Monthly Mercury’ …- Es war meine
Karte.
„Aber das ist nicht möglich“, stieß ich hervor.
„Wie meinen?“
„Ich sage, das ist nicht möglich! Ich habe dieses Mädchen nie getroffen. – Bei Gott, ich habe
sie nie gesehen!“
„Aber trotzdem ist sie tot und hat dieselbe Wunde wie ein anderes totes Mädchen, das Sie
zugegebenermaßen trafen. Zwei tote Frauen - zwei Ihrer Karten! Welche Schlüsse würden Sie
daraus ziehen?!“
„Aber das ist falsch“, rief ich, „es ist alles nicht richtig! - Ich wollte sie treffen, ja, ich habe sie
gesucht, das ist wahr, aber zu diesem Treffen ist es nicht gekommen! Überlegen Sie doch
selbst, Sir! – ich war gestern – vorgestern am Canonbury Square – da war sie, sagen Sie,
schon lange tot. - Ich habe dieses Mädchen nie gesehen und kann ihr deshalb meine Karte
nicht gegeben haben!“
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„Aber von irgendwoher hatte sie sie. - Von wem? - Sagen Sie, mein Sohn, verstreuen Sie dieses Bütten sehr generös über ganz London?“
„Ich weiß es nicht, Sir. Im Laufe von annähernd drei Jahren – so lange arbeite ich für den
‚Mercury’ - werde ich sie dem einen oder anderen gegeben haben.“
Ich erinnerte mich, daß ich Fiona de Cato und vorher bereits Mrs. Purcell respektive ihrem
Knaben je eine Karte überlassen. Und Eusebia Purcell hatte immerhin das spanische Mädchen
für mich gesucht … War auf diesem Wege vielleicht eine Verbindung möglich gewesen?
Konnte es die nämliche Karte sein, die ich Eusebia Purcell gegeben?
Die ganze Zeit standen wir in diesem Gelaß, in dem der infernalische Gestank der Verwesung
wütete.
Um Whelmsley meinen guten Willen zu bezeugen, fügte ich hinzu: „Das Mädchen stammte
übrigens aus Córdoba, Sir, nicht aus Zaragoza.“
„So?“ nickte er halbwegs amüsiert, halbwegs besänftigt. „Nun gut, nun gut, Holland. Sie und
Asunción Lozano. - Sie wollten sie also doch sprechen!“ Er faßte mich fester ins Auge. „Möchten Sie mir verraten, warum?“
Ich zögerte. „Sir, bitte … ich bitte Sie …“, sagte ich schwach. Ich zeigte auf die Leiche auf
dem Tisch. „Können wir das nicht an anderer Stelle verhandeln? Ich denke, mir ist nicht gut.“
Er zog eine Grimasse, die mir bedeuten sollte, daß er nicht viel von meiner Weichlichkeit
hielt. Seine Stimme klang plötzlich von neuer Energie durchdrungen, als er mir entgegnete:
„Wir gehen, Mr. Holland, wir gehen sogleich, haben Sie nur etwas Geduld mit mir. Schulden
Sie es meinem Alter, wenn ich nicht mehr der Schnellsten einer bin. – Wir sind sozusagen
schon auf dem Wege. Eine Kleinigkeit möchte ich Ihnen allerdings vorher noch zeigen möchte doch zu gerne wissen, was Sie davon halten. Schauen Sie …“
Er nahm das Licht und drehte sich damit um, tat ein paar flinke Schritte und riß somit einen
anderen Teil des düsteren Gelasses aus der Finsternis. Auch dort gab es einen der steinernen
Tische, ich hatte ja vermerkt, daß ich bei meinem Eintritt vier davon gesehen. - Aber hatte
mich vorhin die Gesamtheit des ersten Eindruckes oder der olfaktorische Schock zu sehr vereinnahmt – ich hatte ja bei dem ersten Tische zuerst auch nicht gesehen, daß sich eine Leiche
darauf befand – so ging es mir hier ein weiteres Mal ebenso, es war, als ob ein grauenvolles
Schicksal mich zwang, die gräßlichsten Ereignisse, die ich mir vorstellen konnte, wieder und
wieder zu durchleben – erst jetzt nahm ich wahr, daß auch auf diesem Tische ein in ein helles
Tuch eingeschlagener Leichnam zwischen Paketen lautlos rauchenden Trockeneises ruhte.
Unglauben rührte mich an.
„Sorgen Sie sich nicht“, ließ mich Whelmsley mit volltönender Stimme wissen, während er
mit vorsichtigen Händen die Trockeneisbündel beiseite räumte. „Diese hier ist erst drei, vier
Tage tot. Sie ist in einem noch durchaus respektablen Zustand, die Leichenstarre noch nicht
einmal völlig vergangen. Auch eine junge, hübsche Frau. Schauen Sie nur …“
Der große schwere Mann breitete mit fast liebevollen Händen die Tücher auseinander, und die
unbekleideten Schultern einer jungen Frau wurden sichtbar.
„Natürlich haben wir auch hier wieder den notorischen Schönheitsfehler“, räumte Whelmsley
ein, und in dem Augenblick enthüllte der auseinanderfallende Stoff die bekannte, gräßliche
Verletzung neben dem Brustbein. Ich preßte entsetzt die Hand an den Mund - zum dritten Mal
an diesem Abend sah ich die grauenvolle Wunde, wo einer jungen Frau brutal das Herz herausschnitten worden war. Hörte das nie auf? Diese Tote schien reinlich gewaschen, weshalb
die sichtbare, getrocknete Menge Blutes sich in Grenzen hielt und sich im Grunde auf die
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geöffnete Brust der Toten beschränkte. Die Öffnung dort schien mir wie ein widernatürlicher,
klaffend aufgerissener Mund, der eine unhörbare und unsagbare Anklage hinausschrie.
Noah Whelmsley deutete auf die entblößte Brust der Toten. „Sehen Sie sich ihren Busen an,
mein Sohn … Dr. Gaddison vermutet, daß sie vor kurzem schwanger gewesen ist … schauen
Sie … dreimal dieselbe Wunde, Mr. Holland - nur hatte diese Frau Ihre Karte nicht dabei …“
„Gott sei Dank“, dachte ich matt. „Schrecklich, gleichviel! Lieber Gott im Himmel …!“
Er hatte es bis jetzt vermieden, mir ihr Gesicht zu zeigen. Jetzt zog er wie beiläufig das Tuch
von ihrem Kopfe. Ein totes Antlitz blickte zur Decke, ausdruckslos, erloschen, still - und dennoch schien es mir voller unsäglicher Trauer über das, was geschehen, liebenswert, milde und
verzagt.
Ich starrte dort hin und mein Herz stand still.
Es waren die Züge von Leto, Mrs. Eusebia Purcells Gesicht.
Plötzlich war alles ganz weit weg, drehte sich sonderbar - ein Rauschen kam über mich wie
mächtige Meeresbrandung. Ich sah Whelmsley winkend noch für einen Augenblick ganz am
Ende eines langen Tunnels. Dann weiß ich von nichts mehr, und alles war fort ...
.....
Als ich zu mir kam, lag ich, in weiche Kissen gebettet, auf einem ledernen Kanapee in einem
Raume, der eine Bibliothek sein mochte. Ein behagliches Feuer brannte im marmornen Kamin, den zwei majestätische Löwenköpfe zierten, und es waren mehrere Lampen angezündet.
Ferner gab es einen mächtigen Schreibtisch, linkerhand am Boden stehend einen riesigen,
kostbaren, alten Globus, gepolsterte Sessel mit soliden Arm– und Rückenlehnen; ich blickte
durch zwei Fenster rechts in den Nachthimmel. Und ein Mann saß auf meinem Kanapee, den
ich nicht kannte, und hielt meinen Puls.
„Er wacht auf, Sir“, meinte er.
„Wird Zeit“, sagte Whelmsley und trat seitlich in mein Blickfeld. Er hielt ein Glas mit bernsteingelber Flüssigkeit in der Hand.
Noch ein dritter Mann stand im Hintergrund. Auch ihn kannte ich nicht.
„Sie waren fast zwei Stunden abgetreten, mein Sohn“, begrüßte mich der Friedensrichter ungnädig. „Wahrscheinlich haben Sie sich gründlich ausgeschlafen, während unsereins an Ihrem
Lager Wache hielt. - Sie befinden sich, um Ihnen die übliche alberne Frage ‚Wo bin ich’ zu
ersparen, im Allerheiligsten, meiner Wohnstätte in dem Gehöft gegenüber von der alten
Schule. Es geht mittlerweile auf vier. - Hier, trinken Sie das, es ist Cognac. Hinterher gibt es
Tee. Sie kosten mich ein Vermögen.“
Ich nippte vorsichtig von der bernsteinfarbenen Flüssigkeit. Allzuselten, befand ich, berührte
solche Köstlichkeit meine Zunge, rollte hinunter in meine Eingeweide und versah meinen
Leib daselbst mit neuen Kräften. „Danke“, murmelte ich.
Noah Whelmsley, schien mir, war, was Lebenssäfte anbetraf, erstaunlich ausgestattet.
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Der Friedensrichter winkte unwirsch ab. „Gaddison“, sagte er zu dem Manne, der bei mir saß,
„Ihrer bedürfen wir nicht mehr; der junge Mensch kommt jetzt, denke ich, allein zurecht. Ich
danke Ihnen herzlich. – Sie dagegen, Swensson“, sagte er zu dem anderen, „bleiben noch ein
wenig. Schauen Sie sich das merkwürdige Tierchen ruhig genauer an.“
Dr. Gaddison … Swensson … Namen, die ich schon gehört …
Gaddison, ein Mann von vielleicht vierzig Jahren, mit ernstem, schmalem, glattrasiertem Gesicht und Augengläsern steckte seine Uhr weg, erhob sich, verneigte sich knapp vor Whelmsley und verließ mit ruhigen, abgezirkelten Bewegungen den Raum. Swensson, im Hintergrunde, rührte sich nicht. Er war ein Mann in seinen Dreißigern, bestenfalls mittelgroß, bläßlich, sehr blond, fast farblos, und sein Gesicht war auf bemerkenswerte Art nichtssagend in
der Weise, daß man ihn ansah und schon eine Sekunde später Schwierigkeiten gehabt hätte,
sich vor das Gedächtnis zurückzurufen, was denn sein Aussehen nun eigentlich ausmache.
„Die beiden Gentlemen haben Sie herübergetragen, Mr. Holland“, ließ Noah Whelmsley mich
wissen, „als … nun als Ihre Kräfte nachließen. Und sie haben Ihre Freundin, die Wirtstochter,
zu den beiden anderen gelegt.“
Hatte vorher seine spaßig gemeinte Bemerkung mit dem „Tierchen“ - womit er offensichtlich
mich bezeichnet - mir lediglich jenen schrecklichen Anblick vor das geistige Auge zurückgerufen, da der kleine Käfer in das Auge von Asunción Lozano eingetaucht war, so brachte die
Erwähnung der Wirtstochter mir schlagartig alles, alles, was ich an Schrecklichem erlebt,
wieder – von der „Lieferung“ der Kiste am frühen Abend und dem grausigen Fund darin über
das Auftreten Whelmleys und Kirbys im „Ye Olde Bell Inn“, die Fahrt hierher, den nächtlichen Blick auf das wüste Gelände von Bunhill Fields, den Gestank herüben in der Schule,
alles bis zu den zwei Leichen in der alten Waschküche, wo das Bewußtsein mich verlassen.
Ich richtete mich auf dem Kanapee auf.
„Bleiben Sie liegen, bleiben Sie liegen“, mahnte Whelmsley hastig. „Wir werden uns jetzt
noch ein halbes oder dreiviertel Stündchen in netter Form unterhalten, Sie werden meinen
Cognac und meinen Tee trinken und uns dafür erzählen, was wir wissen wollen, danach dürften Sie hinreichend wiederhergestellt sein - außerdem ist dann die Sperrstunde abgelaufen - so
daß wir Sie Ihrer Wege werden schicken können, und Sie können getrost hingehen, wohin Sie
wollen, etwas beschwingt zwar möglicherweise und vom genossenen Alkohole duftend, aber
nichtsdestoweniger bereit für all die bedeutenden Dinge, die Sie heute zweifellos vorhaben.“
„Bitte, Sir“, fragte ich, „beantworten Sie mir auch die eine oder andere Frage?“
„Das kommt darauf an“, meinte er gönnerhaft, „ob Sie mir meine Fragen beantworten.“ Er
zog sich einen Sessel näher und ließ sich darauf nieder. „Vielleicht beginnen wir damit, junger Mann, daß Sie mir erzählen, was Ihnen der Leichnam der dritten Frau dort herüben sagte.
Denn ich hatte den unbedingten Eindruck, daß Ihre Lebensgeister Sie gerade verließen, als ich
Ihnen ihr Gesicht zeigte. Ich würde daraus schließen: Diese Frau dort unter den Toten zu treffen, damit haben Sie offensichtlich nicht gerechnet.“
„Sie meinen Mrs. Eusebia Purcell?“ versicherte ich mich.
„Ah, Sie wissen also ihren Namen, das ist doch schon einmal ein Beginn … Woher kennen
Sie sie?“
Ich überlegte und erzählte ihm dann umfänglich die Geschichte, wie ihr Mann von der Kutsche getötet worden war. Ich verbreitete mich ausführlich über die sonderbaren Umstände des
Unglückes und daß mir irgendetwas daran nicht zu stimmen scheine … der Kutscher … die
Zeugen … der befreundete Redakteur … irgendetwas sei da faul. Noah Whelmsley saß währenddessen breit in seinem Sessel, die Hände gefaltet und hörte mir mit einer Art wohlgefälligen Behagens zu. Ich berichtete von der Visite bei ihr, von der armseligen, aber herzlichen
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Atmosphäre, davon, wie sie mir bei der Suche nach Asunción Lozano habe helfen wollen und
daß ich ihr wohl deshalb die Karte gegeben hatte, die nun offensichtlich bei der Spanierin
gefunden worden sei. Den mit Myrsilos Ludo unterschriebenen Zeitungsartikel indessen sowie Sir Enid Luciter als Ursache oder Auftraggeber des Kutschunglückes ließ ich fuglich aus.
Im Gegenzug erfuhr ich von Whelmsley, daß man die Frau tot bei sich zu Hause aufgefunden,
während die Kinder oben eingesperrt gewesen waren. Die Kleinen waren völlig verschüchtert
und in Angst gesetzt und außer zu dem Hinweis, daß es mehrere Personen, Männer und
Frauen gewesen, die gekommen seien, und daß die Mutter gräßlich geschrien habe, zu keiner
Aussage hilfreich gewesen. Das kleinste Kind, kaum über drei Wochen alt, war dem Hungertode nahegewesen, es sei jedoch, und zwar ohne die übliche Wahl zu den regulären Konditionen im Findlingshospital in der Guilford Street aufgenommen worden – Captain Coram
sei Dank! - und die größeren hatte man ins St. Josephs verbracht, von wo sich ihre weitere
Verwendung finden würde. „St. Josephs“, dachte ich flüchtig, und daß Dr. Copeland Arzt dort
war … Merkwürdig immerhin sei, fuhr Whelmsley fort, daß, wenn die Frau geschrien habe
wie geschildert, keiner der Nachbarn etwas bemerkt haben wolle - es sei jedoch eine arme
Gegend und daher möglich, daß diesem Schweigen in der Umgebung eventuell mit Geldgeschenken durch die Täter nachgeholfen worden sei.
Er wollte von mir wissen – und kam damit auf eine alte Frage von sich zurück - zu welchem
Zwecke ich Asunción Lozano denn nun habe aufsuchen wollen, und ich machte sie der Einfachheit halber zu einer Zeugin des Kutschunglücks. Ich heischte im Gegenzug zu wissen,
warum er mich nicht arretiere, wo ich doch zu allen drei Toten Beziehungen besessen – er tat
dies mit einem Lachen, einem „Cui bono“ und einem Hinweis auf meine Magenschwäche ab hinsichtlich Rosetta Manderlays blieb ich meinerseits und auch trotz schließlich schärferer
Nachfrage bei der sich anbahnenden Liebesgeschichte. So tasteten wir uns, bildlich gesprochen, umeinander herum, es war ein rechtes Katz-und-Maus-Spiel, das wir betrieben.
Ich muß zugeben, die Unterhaltung, so scheinbar freundlich und offen sie oberflächlich geführt ward, strengte mich rechtschaffen an. Ich war müde wie ein Hund, denn natürlich hatte
ich nicht, wie der Friedensrichter zuvor gescherzt, geschlafen. Während der ganzen Zeit
mußte ich mir überdies herzlich Mühe geben, mir keine Blöße hinsichtlich der Hintergründe
zu erlauben. Und drittens bewegte ich in meinem Kopfe, was die Aufklärungen, die ich erfuhr, für mein weiteres Verhalten bedeuten mußten.
Die drängendste Frage von allen – im Grunde war dies ein ganzes Knäuel von Fragen: Von
den sieben Geliebten des Zeus hatte ich bislang vier ausgefunden, und nach so kurzer Zeit
lebte nur noch eine einzige von ihnen, Fiona de Cato. Die drei anderen waren in einer rätselhaften, böse verläßlichen Regelhaftigkeit ermordet, tot, das Herz ihnen blutig herausgeschnitten. Hieß es am Ende, daß ich es war, der womöglich die Beachtung des Mörders oder
sein Interesse oder seine Wut ursächlich auf diese Frauen hingelenkt? Traf mich insofern eine
Schuld? Falls dies eine gewisse Richtigkeit hatte, wodurch um alles in der Welt war ich ihm
verdächtig geworden? In diesem Zusammenhang fiel mir abermals nur die Szene in dem trüben Hinterzimmer bei Sir Enid ein, wo er mich auf den Tod verwünscht.
Wie weiter? Hieß es, daß ich mit dieser grauenhaften Kenntnis Fiona de Cato warnen mußte?
Ihr mitteilen, daß ich sie durch meinen Versuch in tödliche Gefahr versetzt, da sie die letzte
Überlebende sei? Oder war dem Mörder im Gegenteil durch eine glückliche Fügung mein
erster Besuch bei ihr entgangen, und erst durch neuerlichen Kontakt lenkte ich ihn nun auf
ihre Spur? Doch hier besann ich mich, daß Cavendish mich auch an dem Abend verfolgt …
zumindest hatte er mich bei dem Gespräch mit Carlysle im Torweg beobachtet, und ich war
unmittelbar danach zu ihr hingelaufen.
Was bedeutete dies alles überhaupt für meine Suche? Mußte ich sie nicht umgehend einstellen, um die anderen drei noch lebenden Unbekannten nicht zu gefährden, unter ihnen meine
202
Io? - Was war gefährlicher für diese Frauen, daß ich sie aufspürte oder ignorierte? Dieselbe
Frage nochmals gestellt unter der Prämisse, daß ich in jedem Falle wußte, daß Enid Luciter
meine Io seit spätestens gestern in seiner Gewalt besaß. Würde ich sie also durch künftiges
Nichtstun töten - oder durch den Versuch meiner Rettung? Der alte Mann in Bedlam, fiel mir
plötzlich ein, hatte in seiner kindhaften Unschuld etwas derartiges Furchtbares gesagt … oh,
wie war mir zu raten, zu helfen?!
Ein zweiter, nie erlöschender Fragenkomplex betraf das Rätsel, wen wir denn hier eigentlich
verfolgten, wenn wir vom „Mörder“ dieser jungen Frauen sprachen, von der Bestie, die Menschenherzen herausnahm. Da war einerseits dieses menschliche Monstrum, dieser junge Mann
unmittelbar im Umfeld des Mordes an Rosetta Manderlay, den John Cavendish verhältnismäßig verläßlich beschrieben. Doch auch Dr. David Gideon Copeland mochte ich nach allem
nicht aus dem Katalog der zweifelhaften Zeitgenossen entlassen. – Ja, und im Falle Eusebia
Purcells war die Rede gewesen von gleich mehreren Frauen und Männern – was also war dies
alles hier, die Verschwörung einer geheimen Sekte?
Eine weitere, gewissermaßen dritte Ungewißheit quälte mich: Hatte mir Noah Whelmsley
bislang durch irgendetwas den Anschein oder den leisesten Verdacht seiner Illoyalität vermittelt, der es wirklich rechtfertigte, ihn hinsichtlich Sir Enid Luciters derart im Unklaren zu
lassen – oder beging ich hier den nächsten schrecklichen Fehler, indem ich es ihm verschwieg? Wäre es nicht besser gewesen, zu zweit, gemeinsam, sozusagen in der doppelten
Kenntnis der Sachlage an die Lösung dieses schrecklichen und gefährlichen Rätsels zu gehen?
Aber wie dem sei, ich hatte meine Entscheidung fürs erste getroffen und bezahlte sie mit einer
quälend bohrenden Unsicherheit und fast so etwas wie schlechtem Gewissen.
Zu Beginn, als wir über Eusebia Purcell gesprochen, hatte der blasse Swensson, dieser stille,
etwas unheimliche Mensch, unbeweglich seitab gestanden, dann, irgendwann, später, hatte ich
bemerkt, daß er verschwunden war, und ich begriff in der nämlichen Sekunde, daß ich seinen
Abgang nicht registriert hatte. Jetzt, gegen Ende des Gesprächs – es schien mir das Ende, da
auch Whelmsleys Fragen langsamer auf mich heruntertropften, da meine Erkundigungen
spärlicher wurden, da die Pausen, die in unserer Unterhaltung entstanden, sich verlängerten –
jetzt gegen Ende des Gesprächs tauchte Swensson ein weiteres Mal auf, allerdings nur, um
mir einen weiteren Tee zu servieren. Der Friedensrichter blieb bei Cognac. Die ganze Zeit
hatte er, behäbig in seinem Sessel sitzend, dieses unerklärliche Flair von Zufriedenheit verströmt, das mir vielleicht angemessen geschienen hätte, wäre der Fall gelöst gewesen, aber
nicht unter den obwaltenden Umständen.
Nun, als Swensson mir den Tee einschenkte, lachte Whelmsley mit einem Male sonderbar.
„Schauen Sie nur Bo, Sie werden ihn wiedersehen. Schauen Sie ihn sich nur gut an. Ich verspreche Ihnen, es gibt ein weiteres Treffen.“
Swensson schaute mich mit seinen großen, blassen, nichtssagenden Augen an, was mir ein
wenig unheimlich war, dann stellte er die Kanne ab und ging still hinaus. Angesichts meiner
Müdigkeit war mir sein sonderbarer Vorname – Bo – fast eindrucksvoller als der seltsame
Ausfall in den Bereich unmotivierter Heiterkeit, den ich bei Noah Whelmsley soeben erlebt.
„Ja, Mr. Holland“, fragte der Friedensrichter und wurde wieder ernst, „wie verfahren Sie nun
weiter?“
Ich war einen Moment unsicher, wie er seine Frage verstanden wissen wollte: „Wie meinen
Sie, Sir? Ich denke, ich werde nach Hause gehen, das wird mich eine Stunde kosten. Dort
werde ich mich etwas erfrischen und dann ins Kontor gehen zur Arbeit. Bald wird es hell
werden.“
203
Whelmsley wiegte den Kopf. „So schnell wird es noch nicht hell.“ Er stand plötzlich auf, trat
ans Fenster und schaute hinaus, obwohl dort in der Tat nichts zu sehen war außer der Nacht,
und er verschränkte die Hände auf dem Rücken. „Zur Arbeit?“ versicherte er sich.
„Ja, Sir.“
„Der ‚Monthly Mercury’, nicht wahr?“
„Ja, Sir, richtig, Sir.“
„Ah, ja …“ Er schien angestrengt zu überlegen, kratzte sich am Kopf . „Sagen Sie, der
‚Monthly Mercury’ … gab es da in der Ausgabe Oktober …“, er brach ab, schüttelte den
Kopf, setzte erneut an, seine Stimme klang unschuldig wie die eines Kindes, „gab es in der
Ausgabe Oktober nicht irgendwie den Bericht … über eine recht sensationelle Vernissage in
Morass Manor oben an der Themse? – Wie? - Ein lauer Septembernachmittag, gut gekleidete
Gäste, schmackhafter Imbiß, Hunde im Zwinger. Später ein Kaminzimmer, aufgeregte Damen, soignierte Herren, ein eloquenter Gastgeber, dann das Bild, ein sonderbarer Maestro,
Neger in Rokokoperücken … helfen Sie mir …“
Ich saß ganz still. In mir war alles wie Eis.
„Morass Manor“, erklärte der Friedensrichter leutselig. „Das ist, falls es Ihnen entfallen sein
sollte, das Landhaus eines verdienten Mitgliedes der Gesellschaft, eines gewissen Sir Enid
Luciter. Ja? – Nein?“
Noah Whelmsley am Fenster drehte sich um und musterte mich. Sekundenlang sah er mich
an, aber diese Zeit dehnte sich mir zu Stunden. „Auf dem Gemälde sollen sich sieben junge,
sieben entkleidete Frauen mehr oder minder unzüchtig getummelt haben -- äußerte zumindest
der Artikel - man hörte die Entrüstung des Schreibers sozusagen heraus … ein gewisser D
Punkt H Punkt übrigens, soweit ich mich erinnere …“
Noah Whelmsley kam unendlich langsam zu seinem Sessel zurückgeschritten und ließ sich in
seiner opulenten Fülle darin niedergleiten. „Wollen Sie auch noch einen Cognac?“ fragte er.
„Ja, Sir“, brachte ich hervor.
Wir saßen uns mit ausgestreckten Armen gegenüber, ich hielt das Glas, er goß mir ein.
Eine große Stille breitete sich aus.
„Ich nehme an“, meinte Whelmsley schließlich, „das ganze riesige Geheimnis – ich spreche
von dem, was Sie nicht in dem Artikel erwähnt haben - ist, daß Sie sich in eine von diesen
sieben verguckt haben müssen - und begannen, ihr nachzuspüren, ist es nicht so?“
„Ja, Sir, wenn Sie so wollen ...“
Er nickte eindringlich. „Es ist immer das gleiche mit Euch jungen Leuten“, seufzte er. „Und?
- War es Rosetta Manderlay?“
„Nein, Sir, es ist eine von denen, die noch leben. Es war keine von den drei Toten. Ich habe
im Grunde nur versucht, über die anderen die meine zu finden …“
„Die Ihre …“, wiederholte er spöttisch und schnaubte durch die Nase. „Und jetzt fragen Sie
sich natürlich, ob Sie sie stattdessen durch Ihre Nachforschungen nur gefährden, richtig?“
„Ja, Sir … beziehungsweise: nein, Sir, leider dramatischer als das. – Denn ich weiß verläßlich, daß sie im Bedlam gefangengehalten wurde … und daß sie jetzt wieder bei Sir Enid Luciter ist. Die Gefährdung ist schon eingetreten, Sir – akut!“
„Luciter“, wiederholte er versonnen. „Der alte Lump …“
Eine neue Pause breitete sich aus.
204
„Sie wissen noch nicht alles, Sir“, äußerte ich schließlich kleinlaut.
„Oh nein?“ fragte er ironisch. „Sie überraschen mich! - Nun denn … wenn Sie so gut sein
wollen … lassen Sie hören.“
Ich nickte und faßte meinen letzten Mut zusammen. - Und dann erzählte ich ihm, wie Luciter
mich auf seinem Fest hatte abführen lassen und hinter den Kulissen bedroht hatte. Ich wies
darauf hin, daß ihm durchaus derlei zuzutrauen sei, denn auch das vorerwähnte Kutschunglück, das mich zu Eusebia Purcell geführt, war der größten Wahrscheinlichkeit nach im
Auftrage von Luciter ausgeführt, und dies, auch wenn es so vertrackt nach nichts als einem
wirklichen Unfall aussah. Ich sprach ihm von Dr. Copeland und seiner vermutlichen Verstrikkung in das Verschwinden einzelner Mädchen, erklärte mich ferner erschöpfend zu allem,
was ich über die restlichen Frauen einschließlich meiner Io bislang herausgebracht, daß eine
eine Hausgehilfin und eine eine Straßendirne sei, nannte Fiona de Cato beim Namen und bekannte, daß ich im Gegensatz zu all dem über die, auf die es mir eigentlich ankam, noch recht
wenig - respektive nur allerlei Widersprüchliches gehört.
Whelmsley hörte mir zu, diesmal jedoch nicht im Habitus des wohlgelaunten Bonvivant, sondern in aufmerksamster Ernsthaftigkeit und Konzentration. Zum Schluß, als ich schwieg, saß
er eine Weile tief in Gedanken versunken.
„Tja, mein Sohn“, sagte er dann. „Wenn ich mir eine Wiederholung der Frage von zuvor erlauben dürfte, wie Sie denn nun weiter verfahren wollen, so werden Sie mir diesmal sicher
nicht solchen Unfug von Nach-Hause-Gehen und Zur-Arbeit-Eilen erzählen, sondern daß Sie
als nächstes so umgehend wie möglich vorhaben, in ‚Morass Manor’ einzudringen und der
Dame ihres Herzens beizustehen, habe ich recht, mein Junge?“
„Ganz gewiß, Sir, das haben Sie.“
„Ja, so schätze ich Sie ein“, nickte er, „- impulsiv, naiv, unbelehrbar - mit einem Worte:
jung.“ Er betrachtete mich versonnen. „Sie bringen es glatt eine ganze Nacht lang fertig, mich
mit Schnickschnack und Kinkerlitzchen aufzuhalten, Sie unverschämter, grüner Lümmel,
obwohl ich Sie bereits zwischenzeitlich ermahnt habe, mich mit Großmutter-Kram und AltWeiber-Märchen gefälligst zu verschonen.“
Ich senkte beschämt den Kopf. „Ja, Sir, ich weiß. - Es tut mir sehr leid, Sir.“
Er nickte wohlgefällig, als er meine Reue sah. „Andererseits haben Sie mir durchaus gezeigt,
daß Sie verschwiegen sein können“, sprach er bedächtig. „Und das … nun … das ist eine Eigenschaft, die ich bei jungen Leuten auch durchaus zu schätzen weiß.“ Er betrachtete mich
aufmerksam.
„Sir?“ fragte ich, da ich ihn nicht verstand.
Er schüttelte bedauernd den Kopf. „Ich fürchte, ich kann Ihnen bei all dem, was Sie vorhaben,
sehr wenig helfen“, sagte er. „Sie werden das unternehmen, was zu unternehmen Sie meinen
das Richtige ist. - Und ich denke“, setzte er langsam hinzu, „Sie tun vermutlich wohl daran, es
zumindest zu versuchen.“
Ich blickte auf. „Meinen Sie, Sir? – Ich danke Ihnen.“
Das Kaminfeuer war heruntergebrannt. Es war kühl im Raum, und ich hüllte mich in den von
Mrs. Hamlet geliehenen Mantel
Noah Whelmsley betrachtete seine Fingernägel. „Ich werde Ihnen als letztes heute eine kleine
Lektion erteile, junger Freund“, sprach er bedächtig, „bevor ich Sie nach Hause entlasse …“
Er blickte auf. „… eine Lektion in Vertrauen“, setzte er hinzu.
„Sir?“ fragte ich.
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Der schwere, mächtige Mann in dem Sessel mir gegenüber versuchte ein zartes, vorsichtiges
Lächeln, fast schläfrig. „Hören Sie mir zu, mein Sohn.“
Aber es bedurfte dieser Ermahnung nicht – ich war von gespanntester Aufmerksamkeit.
„Zunächst …“, begann Whelmsley, „Sir Enid Luciter ist nicht an dem Kutschunfall schuld
…“
„Sir?!“ fuhr ich auf.
„Wollen Sie mir zuhören, junger Mann?“ fragte er mit einiger Schärfe und ich schwieg.
Ich schwieg aus Enttäuschung, auch aus barem, reglosem Entsetzen. Hatte ich also doch den
verhängnisvollen Fehler gemacht - den einzigen, den es zu vermeiden galt – hatte ich mich in
ihm gröblich versehen und mußte mir nun die Litanei anhören, daß Sir Enid Luciter unschuldig sei. - Was kam danach? - Schlimmeres? Arbeitete er also doch mit ihnen zusammen?
„Nehmen Sie zur Kenntnis“, sagte Whelmsley einigermaßen grob, „daß Sie nicht der einzige
Ritter in schimmernder Rüstung sind, der in den großen Straßen Londons unterwegs ist. Ich
versichere Ihnen: Da gibt es noch einige mehr. Und jetzt reißen Sie sich zusammen und hören
Sie zu. Luciter ist gewiß ein Schweinehund und Roßtäuscher, aber mit dem Unfall von Purcell
hat er nichts zu tun. – Und Sie? - Sie haben zwar ein Problem mit drei bestialisch abgeschlachteten Mädchen am Hals, verheerend genug! - aber kein Problem mit irgendeiner Kutsche. Denn ich versichere Ihnen jetzt etwas, mein Freund …“
Er hob seinen dicken Zeigefinger in die Höhe und sprach langsam: „Luciter hat mit diesem
Kutschunfall gewiß nichts zu tun, Mr. Holland, denn es hat diesen Unfall nicht gegeben.“
Ich schwieg, einerseits weil ich vor Verblüffung sowieso nicht imstande gewesen wäre, meinen Mund aufzutun, andererseits, muß ich gestehen, war mein gerade zuvor aufgekommenes
Mißtrauen angesichts dieser kühn behaupteten Wendung noch längst nicht gedämpft.
Whelmsley sah sich mein Schweigen eine Weile lang an. „Wir“, sagte er dann, „… wir haben
diesen Unfall lanciert.“
Mein Hals war trocken. „Wer: ‚wir’?“ fragte ich.
„Wer? – Ja, was glauben Sie wohl, wer?!“ – Er zuckte nachlässig die Schultern. „Bow Street
Runner … Public Informer … Thief Takers … -- Friedensrichter … was haben Sie denn gedacht, die Gilden der Büdner und Bäcker?“
Er winkte ab, als ich etwas sagen wollte. Es war fast, als ob er zu sich selber sprach. „Nehmen
wir für einen Augenblick an, mein Sohn, nur für einen winzigen Augenblick“, sagte er, „daß
wir auch hinter Luciter her sind, seit Jahren, wie der Teufel hinter der armen Seele, daß wir
ihm gerne ans Leder wollen, nennen Sie es, wie Sie mögen.“ Er blickte mich finster an. „Also
schreibt Frank Purcell einen gemäßigt gegen Luciter eingestellten Artikel. – Wenig darauf
kommt er ums Leben und wir täuschen Zeugen, einen Redakteur, eine Untersuchung vor, lancieren die Gerüchte, alles deutet auf Luciter als den Täter hin. Wir haben uns gefragt: Wie
wird Luciter reagieren, wenn er im Mittelpunkt des Verdachtes steht, und im Unterschied zu
sonst ausnahmsweise einmal weiß, daß er unschuldig ist. - Wir haben uns eine Menge davon
versprochen - wir haben Protest erwarte, irgendeine Frechheit, eine Unvorsichtigkeit, aber der
Lumpenhund hat seine Nerven gut im Schuß – im Grunde hat er gar nicht reagiert. Schade.“
Ich saß da, wie vor den Kopf geschlagen. „Aber Frank Purcells Frau war auf dem Gemälde
dabei“, rief ich erregt. “Und es gibt diese Unterschrift unter seinem Artikel, die Luciter signalisiert, daß der Ehemann von der Eskapade mit dem Gemälde wußte. Ich sage Ihnen, Luciter
fühlte sich bedroht, und er hat Frank Purcell aus dem Wege geräumt, wie auch immer ...“
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„Sie haben immer noch nicht verstanden“, unterbrach mich Noah Whelmsley milde. „Ich
sagte Ihnen doch: Es gab keinen Kutschenunfall. – Frank Purcell lebt. Er ist am Leben.“
Mir verschlug es erneut die Sprache. „Er ist am Leben?! Ich meine, er war die ganze Zeit am
Leben? – Und seine Frau, die jetzt dort herüben liegt, mit ihren Kindern … es sind auch seine
Kinder …“ Ich brach ab. Ich war fassungslos.
„Die Frau hat nichts davon gewußt“, sprach Noah Whelmsley sehr ernst.
„Aber wie konnte dieser Mann …“
„Frank Purcell ist einer von uns“, fiel mir Noah Whelmsley ins Wort. „Ein Bow Street Runner. Und diese Aufgabe verlangt manchem von uns manches ab. Natürlich war diese Geschichte nicht auf Ewigkeit ausgelegt, und natürlich sollte er zu seiner Familie zurück. Er
wird irgendwann zu seinen Kindern zurückkehren, aber nicht jetzt, ehe dies vorbei ist. Daß
seine Frau ums Leben kam, war nicht in unserem Plan, das versteht sich von selbst - und
wenn ich erst weiß, wer das zu verantworten hat … Sie haben schon immer von den abenteuerlichen Verkleidungen der Bow Street Runner gehört, die Geschichten von Camouflage und
doppelter Existenz. Dergleichen, Holland, ist uralt. Sie werden den Namen Christopher Marlowe kennen – er hat den ‚Dr. Faustus’ geschrieben. Er ist, wie Sie wissen, angeblich in einer
Messerstecherei in einer Kaschemme am Hafen ums Leben gekommen, aber ich sage Ihnen,
er hat für die Krone gearbeitet, und sein ‚Tod’ war ein Tribut an seine eigene Sicherheit …
übrigens auch eine Maßnahme, um die Durchführbarkeit künftiger Arbeit zu ermöglichen.
Ähnlich verhielt es mit Frank Purcell, der dringend ein neues ‚Leben’ benötigte ...“
„Aber Mrs. Purcell“, rief ich bitter aus. “Sie glaubte, daß ihr Mann ums Leben gekommen sei.
Sie mußte es ihren Kindern sagen. Sie weinte sich die Augen aus, sie wohnte in Armut. Vielleicht ist sie umgebracht worden aufgrund der ‚Arbeit’ ihres Gatten.“
„Letzteres glaube ich nicht – oder warum wären dann die anderen Frauen auf die gleiche
Weise gestorben? Nein, das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Indessen, bezüglich der
ersten Punkte konzedier ich Ihnen: Es ist hart.“
„Hart? Hart?“ rief ich aus. „Sie sind hart! Die Kinder, die jetzt leiden, weil sie als Waisen
dastehen ...“
„Mr. Holland“, unterbrach mich der Friedensrichter grob, „diese Kinder sind im St. Josephs
und im Foundling Hospital in der Guilford Street bestens untergebracht, ich sagte es Ihnen.
Und ich teilte Ihnen auch mit, daß es dank meiner Intervention ohne die übliche Aufnahmeprozedur abging. Wissen Sie, daß ansonsten aus einer Ledertasche Holzkugeln gezogen werden müssen, rote, weiße und schwarze, um über die Aufnahme der Kinder zu befinden?
Frauen, Mütter, Witwen, Nachbarinnen stehen in einer Schlange, um Kinder, oftmals ihre
eigenen, die sie sonst nicht durchbrächten, abzugeben. Früher hieß es: Wer zuerst kommt,
mahlt zuerst. Heute hat Weiß Anrecht auf eine ärztliche Untersuchung und bei nachgewiesen
einwandfreiem Zustand verläßt das Kind die Mutter und gelangt hinein. Bei Schwarz werden
Mutter und Kind gleich wieder weggeschickt, und Rot wird eingetragen in einer Aufrückliste,
was eine zweite Chance in einem Monat oder einem Jahr bedeutet. Können Sie sich das tagtägliche Elend vor dieser Pforte vorstellen?! Also bitte! – Und haben Sie die Schilderungen
gelesen, die uns von Captain Coram überliefert sind, der der Gründer dieser wohltätigen Einrichtung ist, von den Kindern, ich darf ihn zitieren, ‚die von ihren Eltern massenhaft auf die
Dreckhaufen der Straße hingeschleudert werden, damit sie dort krepieren mögen’. Und wenden Sie ja nicht ein, mein Sohn, das sei das London von vor achtzig Jahren! Ich bin zufällig
Friedensrichter und kenne daher auch einige aktuelle Zahlen. Wie würde es Ihnen gefallen,
junger Mann, wenn ich Ihnen sagte, daß über die Hälfte der Menschen, die heute in Londoner
Hospitälern stirbt, Kinder unter zwölf Jahren sind. Dabei nehmen die meisten Hospitäler aus
Prinzip überhaupt keine Kinder auf, nicht wahr, außer es geht um Amputationen!? Also lassen
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Sie es nur gut sein“, bellte er ärgerlich, „die Nacht ist zu weit fortgeschritten und ich bin einfach zu müde, um mit Ihnen in einen Disput über die Schlechtigkeit der Welt einzutreten!“
Er sprang erregt auf und stellte sich ans Fenster wie zuvor, die Hände auf dem Rücken gefaltet. – „Abgesehen davon, das Elend von Frank Purcell kümmert Sie nicht?“ stieß er hervor.
„Einem meiner Leute ist bestialisch seine Frau ermordet worden, während er für König und
Vaterland einen Auftrag durchführte. Einen Auftrag übrigens, der nichts mit Luciter zu tun
hatte. Oh ja, gewiß, mein Junge, denn Luciter ist nicht der einzige Schurke im Land. Er war
uns in diesem Fall nur recht, um die Farce mit der Kutsche zu inszenieren, damit Purcell eine
neue Existenz bekam – er sollte uns zur Abwechslung auch einmal nutzen. – Sie dagegen …“
Noah Whelmsley stand am Fenster und verstummte.
„Ich habe Sie verstanden“, sagte ich. „Da gibt es Leute, die leisten etwas für König und Vaterland. Ich dagegen bin in diese Geschichte hineingetappt wegen ein wenig naivem HerzSchmerz und einer lächerlichen Schwärmerei.“
„Nun, nun, nun - nur nicht gleich so empfindlich!“ Whelmsley drehte sich um. Er war sehr
ernst. „Purcell hat den Tod seiner Frau aus nächster Nähe miterlebt, sozusagen“, meinte er.
„Er war nicht dabei, als man sie fand, aber er war bei denen, die sie von der Kutsche genommen und drüben im alten Schulhaus abgelegt haben. Hat ihn hart getroffen, er hat es schlecht
weggesteckt. - Er macht mir Sorgen.“
„Er war hier?“ fragte ich.
„Oh, er ist noch hier“, erklärte Whelmsley. „Ich habe ihm fürs erste Quartier gegeben – was
hätten Sie denn getan?!“
Ich zögerte. „Ja, gewiß“, sagte ich vorsichtig. „Ich glaube, ich hätte ihn gern kennengelernt.“
„Ach ja?“ Whelmsley sah mich vom dunklen Fenster aus an, etwas erstaunt, wie mir schien.
„Kennengelernt? – Aber das haben Sie, Mr. Holland, das haben Sie.“
Ich machte eine unsichere Geste, weil ich nicht wußte, was er damit meinte.
„Nun, die neue Identität“, erinnerte mich Noah Whelmsley. „Er heißt jetzt Bo Swensson …“
.....
Eine Wanduhr im Hause des Friedensrichters hatte auf fünf gezeigt, als ich es verlassen.
Draußen lag noch die tiefste Nacht, längst kein Mond mehr am Himmel. Über die Kieswege
westlich von Finsbury, die ich unter meinen Füßen schwach und geisterhaft schimmernd wie
das Meer bei Nacht wahrnahm, und mit dem Geräusch meiner Schritte auf dem Kies im Ohr
war ich meiner Wohnstätte entgegengestrebt, nachdem ich die Häuser von Holborn vor mir
auftauchen sah, mit ruhigerem Schritt. Ich fühlte mich, während ich ausschritt, sonderbar
durcheinander, mir war heißer am Leibe, als mir angesichts der Kühle hätte sein sollen,
gleichzeitig klapperte ich vor Kälte, und die Zähne schlugen mir aufeinander. Die Gedanken,
die mir im Kopfe wirbelten, kamen mir seltsam unordentlich und wirr vor.
Zum Beispiel fragte ich mich, ob es sich überhaupt noch verlohne, zu Fiona de Cato hinzulaufen und sie vor dem herz-herausreißenden blassen, jungen Manne zu warnen, wo sie doch
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wahrscheinlich schon mit blutender, leerer Brust unter den Palmen ihres Wintergartens lag –
wir hatten sie nur noch nicht gefunden. Dann jedoch wiederum sah ich sie vor mir, wie sie
sich in ihrer Griechentoga dem kleinen Hause in Bethnal Green näherte, in dem Eusebia Purcells Familie zu Hause war, und mit ihr schlichen, Dolche und ein Seil in den Mänteln verborgen, das Mordmonster mit der falschen Brille, Sir Enid Luciter, Dr. Copeland und Bo
Swensson. „Mehrere Frauen und Männer“, sagten die Kinder, die ängstlich hinter der halbgeöffneten Türe standen, und die Mutter hat so entsetzlich geschrien …
Als ich vom Felde herunter war, schritt ich durch Straßen, in denen die Anzahl der beleuchteten Fenster zunahm, weil ews auf den Tag ging. Meine Gegend, mein Heim hatte ich, wie
ich zuvor richtig eingeschätzt, nach einer guten Stunde Weges erreicht. Ich bog in die stille,
mir wohlbekannte Gasse ein, schleppte mich zu jener Haustür, durch die ich nun schon einige
Jahre treten durfte, ich war müde und verschwitzt und wollte eben den Schlüssel unter dem
Stein am Zaune hervorziehen und taumelte wohl ein wenig, als die Tür mit einem Schlage
aufgetan ward und Mrs. Hamlet vor mir erschien - aber wie sah sie aus, mit ihrer Nachtmütze
und dem Schlafmantel! – ich mußte so sehr herzlich lachen darüber!
Ich nahm undeutlich wahr, daß sie mir die heftigsten Vorwürfe machte, ich hätte ihr nicht
Bescheid gegeben, sie habe sich schließlich die abscheulichsten Sorgen gemacht, und noch
nie sei ich eine ganze Nacht fortgeblieben, wie ich nach Brandy röche, wenn das meine Mutter noch erfahren hätte, und ich hielt dagegen, daß sie mir bei Gott nur vom Leibe bleiben
sollte und begann mich zu entkleiden - ich bemerkte, daß ich mich etwas waschen wolle nach
dieser höllischen Nacht, bevor ich Finley Burkitt wieder unter die Augen träte. Und „oh du
gutes Kind, du verkochst mir ja“, hörte ich sie lamentieren, nachdem sie meine Stirne berührt
– und der Rest, offen gesprochen, ist nichts als ein vager, verwirrender Eindruck in meiner
Erinnerung von Wadenwickeln, Dampfbädern, Nachthemden, die mir nicht gehörten und
kalten Güssen – ich lag im Bett und schwitzte und fror. Und ich träumte.
Ich träumte, ich striche durch das hohe Grass von Bunhill Fields. Die Sonne schien, obwohl
es ein schwarzer, nächtlicher Himmel war. Dort drüben lag das alte Schulhaus, und ich wußte,
daß ich da erwartet wurde. Aber es war eine so schöne, friedliche Stimmung, daß ich mich
nicht eilen mochte. Ich konnte die verfallene Mauer am Rande des Geländes erkennen und
dahinter die dunklen Stadthäuser. Eigenartig leere Fensterhöhlen, und ich mochte dort nicht
hinschauen. Hier dagegen war es schön und ich wollte ewig verweilen. Die Sonne schien, und
der Wind bewegte das Gras. Hier und dort lagen halbversunkene Grabsteine mit verblaßten
Jahreszahlen im Grase, meine Finger glitten zärtlich darüber hin.
Dann erschrak ich, weil ich hinter mir ein seltsames Geräusch hörte, wie von bröckelndem
Gestein, und schaute mich um. Da sah ich, daß dort die Erde ein kleines Stück eingebrochen
war und ein dunkles Loch sich auftat wie ein Mund. Und während ich mich noch darüber
wunderte, ob etwa ein kleines Tier dieses Loch verursacht habe, ein Fuchs oder ein Iltis, gerade da gaben mit einem Male ringsum auf großer Fläche krachend die mürben Grashügel
nach, und gelber, stinkender Staub wölkte auf, in welchem man die verfaulten Särge erkannte,
die kreuz und quer hervorpolterten und sich zum Teil schrecklich öffneten.
Noch immer war ich eigenartig ohne Angst, ich wunderte mich lediglich furchtbar, denn in
allen diesen Särgen lagen Noah Whelmsleys und Bo Swensons, und ich dachte nur, daß ich
meinen Termin im Schulhaus wahrnehmen mußte und wollte loslaufen, da trat mein rechter
Fuß in ein Loch, das sich soeben unter mir auftat. Und ich kam nicht wieder heraus, weil irgendetwas meinen Fuß umklammert hielt. Als ich hinschaute, sah ich, daß ich den verfaulten
Kopf von Asunción Lozano zertreten hatte, wie ein Apfel war er geplatzt, und mit dem zweiten Fuß steckte ich in dem Loch in ihrem Brustkorb fest. Nun kam das Entsetzen über mich
wie eine Woge. Ich versuchte zu flüchten, zu laufen, aber ich kam kaum voran. Überall trat
ich in die klebrigen Körper der Toten, und dies hielt unzuträglich meine Beine fest. Die Erde
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war aufgeschnitten, ich stand wie am Grunde einer Schlucht. Ich sah jetzt die Schichten der
Särge als Gesamtes wie ein Gebirge über mir, ein Gebirge von Schubladen übereinander und
nebeneinander wie an einem übermäßigen Schrank. Erdkrumen und Staub rieselten und brökkelten von oben auf mich herab. Aus allen Schubläden winkten und hingen die Toten heraus,
und jetzt waren es alles Rosetta Manderlays mit blutigen Brüsten, - im nächsten Moment Eusebia Purcells, die mich um Hilfe riefen – aber ich konnte ihre Stimmen nicht hören - dann
Fiona de Catos, in blutbefleckter Toga - lächelnd.
Irgendwann war ich im Schulhaus. Ich erkannte es an dem Gestank, den ich schon einmal
gerochen. Irgendetwas zwang mich, den gleichen Weg wie damals zu gehen. Ich hörte die
Dielen knarren und das Seufzen der Toten in ihnen. Ich hörte sie leise wehklagen, wenn ich
sie trat, und es tat mir sehr leid, sie zu treten. Die Tür zur Waschküche öffnete sich vor mir
wie von Geisterhand, nein, zwei Neger waren es, die sie von innen mit ausdrucklslosen Gesichtern aufzogen. Ich schwebte die Stufen hinab und wunderte mich, daß ich schweben
konnte. Warum nur, Gott im Himmel, stank es so?
Auf einem der Tische lag eine eingehüllte Gestalt. Aber sie war nicht tot, sie lebte noch. Sie
richtete sich, als ich nähertrat, langsam, wie aus dem Schlafe erwachend, zum Sitzen. Die
Tücher fielen nach und nach von ihr herab wie welkes Laub. Die Frau unter den Tüchern war
gänzlich unbekleidet, wie in dem Bilde. Ich erkannte, daß es Io war, und ich hatte es immer
gewußt, daß sie es war. Sie lächelte wie am Ende eines Traums, und ich wollte zu ihr hinstürzen, sie herzen und kosen. Ich war auf dem Gipfel meines Glücks. Da drehte sie mir die andere Seite des Gesichtes zu. Es war keine Färse, aber es war bereits ein Totenschädel, ihr Leib
versunken und verfault.
Aus ihrem Auge kroch ein kleiner Käfer …
.....
Irgendwann lag ich traumlos und schlief. Dann war ich halbwach und sah mich verwundert in
meiner Dachstube um, die verwunschen wirkte und viel kleiner, als ich sie in der Erinnerung
barg. Nachts lag ich wach und hörte die Katzen rumoren. Am vierten Tag ging das Fieber
herunter. Vier Tage waren es gewesen, teilte mir Mrs. Hamlet mit. Sie klopfte jedesmal an die
Tür, wenn sie eintrat und mir etwas brachte, aber ich hatte keinen Hunger. Vier Tage, dachte
ich, wenn ich alleine lag, hatte ich versäumt, vier kostbare, unersetzliche Tage hatte das Fieber mir gestohlen.
Vier Tage länger als zuvor war meine Io in den Händen dieses Mannes oder dieser Leute.
Mrs. Hamlet berichtete mir, daß sie am ersten Morgen einen Burschen zu Finley Burkitt geschickt, der mich dort entschuldigte habe, und sie überreichte mir eine handgeschriebene Note
als Antwort meines Brotherrn vom dritten Tag. Ich bedeutete meiner Wirtin hinauszugehen
und brach das Schreiben auf. Ich las:
„Holland!
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Ich sende Ihnen Wünsche zur Genesung an Ihr Krankenlager. Kurieren Sie
sich aus, und dann tun Sie, was Sie tun müssen. Mißverstehen Sie nicht dieses Schreiben: Sie sind jederzeit wieder im Kontor willkommen, jedoch gewähre ich Ihnen einen Urlaub von zwei Wochen.
Burkitt
Postsciptum:
Nach Jahren des Stillschweigens hat mir mein alter Freund, der Friedensrichter Noah Whelmsley, einen überraschenden Besuch abgestattet. Wir haben uns bei einem Glase Rotweins gut unterhalten.“
.....
Ich lag auf meinem Lager, und die Tage waren verstrichen in einer sonderbaren Zeitlosigkeit,
die mir klarmachte, wie weit von einer wirklichen Genesung entfernt ich wohl immer noch
mich befand. Gleichwohl verstatteten es mir die Stunden, in denen es mir besser ging, mich
sehr wohl um meine Sache zu bekümmern und folglich Pläne zu schmieden für die Zeit, wenn
ich erst wieder hinauskönnte an die rauhe Winterluft.
Noah Whelmsley hatte es mit seinem scharfen Verstande glasklar vorbezeichnet, er hatte
recht, ich würde aufbrechen zu einer Fahrt, deren Ziel westlich von London lag, ich würde
vordringen – ich wußte nicht wie, aber ich würde es zweifellos tun - in das Zentrum des Bösen, das der Ausgangspunkt von all diesen Scheußlichkeiten gewesen war, in den Landsitz des
Schurken Luciter, „Morass Manor“.
Ich entsann mich jenes Dieners vorne am Tor zur nächtlichen Allee, den ich mit einem Silberstück bestochen und den ich gefragt hatte, was er dazu sage, daß ich dort irgendwann in der
Zukunft ungesehen eindringen wolle. Er halte dies nicht für unbedenklich, hatte er mir geantwortet, der unbändige Spaßvogel. Irgendwann zukünftig – der Zeitpunkt war nun nahe …
Dort hatte alles angefangen, dort hatte Luciter mich bedroht, ich solle es nicht wagen, ich
solle ja seine Kreise nicht noch einmal kreuzen, anderenfalls er mit Schrecklichstem gedroht
hatte. - Nun, und? Was sollte das am Ende wohl Dummes heißen?
Es war ja Schreckliches passiert, in der Tat passiert, es waren drei der blutigsten Verbrechen
geschehen, die man sich denken konnte. Lächerlich: Womit wollte er mir danach noch drohen? Was also? Wie?
Jawohl: Ich würde auf irgendeine Weise dort hinein vordringen, eindringen, mich umtun, und
am Ende mit meiner Io wieder hinausgelangen - oder überhaupt nicht, einerlei wie.
Und ich hatte überdies Raymond Manderlay ein Versprechen gezollt, das mir jetzt am Herzen
nagte und mich in schauerliche Angst versetzte, aber ich wußte tief in meinem zornigen, immer noch fiebrigen Innern, daß ich gedachte, dieses Gelöbnis unverbrüchlich einzuhalten,
oder sollte es mein Leben kosten. Der Tag würde kommen, da die Bestie mit dem Skapell von
meiner Hand fallen würde, oder Gott hatte diese Welt nicht in sieben Tagen erschaffen. Ein
Milchgesicht mit weißen Handschuhen – wie lächerlich auch dies!
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Ich brütete auf meinem Lager und besaß immerhin so viel Vernunft, mich zu beschränken und
mir zu sagen, daß diese großen Pläne nichts waren für die allernächste Zeit. Ich mußte mit
Kleinerem, Vorsichtigerem, Unbedeutenderem anfangen, auch wenn es mich maßlos hart
ankam, meine gerechte Ungeduld zu zügeln. Aber sei es drum, der weiteste Weg begann mit
einem Schritt – so sagen ja wohl die Chinesen.
Denn ich war bezüglich des Vorgehens in einem Detail zu vorbehaltlicher Klarheit gekommen, immerhin, wenngleich der Begriff Klarheit dem Leser vielleicht auch gänzlich übertrieben erscheinen mag. Ich hatte mir fürs erste die Frage gestellt und beantwortet, ob es besser
sei, geduckt zu verharren und auf den nächsten Einschlag des Gewitters zu warten, oder ob es
eher angeraten war, den Kontakt zu den verbliebenemn Geliebten des Zeus dennoch weiter zu
suchen. Die Frage, ganz unverstellt, lautete: Brachte ich durch meine Bemühungen diese armen Geschöpfe in Gefahr oder half ich ihnen, indem - womöglich längerfristig - ein Übel aus
der Welt geschafft ward? Nein, es war natürlich keine Klarheit, aber es war ein Entschluß aus
der Notwendigkeit heraus geboren, daß man, wie ich mir sagte, mit ängstlichem Stillehalten
wie die Maus vor der Schlange gegenüber solchen Teufeln in Menschengestalt gewißlich
überhaupt nichts würde ausrichten können.
Eine der Geliebten zumindest, nämlich meine Io, befand sich, das war ausgemacht, seit Tagen
in tödlichster Gefahr, und zwar ganz gleich, ob ich jetzt noch etwas untnahm - oder es auch
unterließ. Und drei der armen Frauen, wer wollte das bestreiten, hatten sich in fürchterlicher
Gefahr befunden und sie waren ihr auf grauenvolle Art erlegen.
Die Frage mithin, ob neben Io die drei Verbliebenen sich eventuell in Gefahr befänden oder
nicht, war im Grunde akademisch - desungeachtet im übrigen, welche haarfeine Rabulistik
man anstellen wollte, daß nur ich es schließlich gewesen sei, der die Gefahr überhaupt heraufbeschworen.
Nein, ich war in dem Punkte zu der glücklichen Überzeugung gelangt, daß womöglich sogar
eine unziemliche Hybris darin liegen mochte, solcherlei zu vermuten – meine Person konnte
es beim besten Willen nicht gewesen sein, die derart am Anfange aller Dinge stand – dessen
war ich unterdessen sicher.
Hybris oder Bequemlichkeit? Zuweilen wird sehr deutlich, aus was für unbeständiger Materie
der menschliche Geist gemacht ist. Ich wollte nicht am Tode dieser drei unschuldigen Frauen
schuld sein, so erschreckend einfach war wohl die Wahrheit. Deshalb lag ich in meiner düsteren Dachklause und bog meine Gedanken so lange in die rechte Form, bis ich den Beweis
meiner Unschuld erbracht hatte, einen Beweis, den ich allerdings benötigte, weil ich mich
sonst bis ans Ende aller meiner irdischen Tage überhaupt nicht mehr würde bewegt oder handeln haben können.
.....
212
Am fünften Tage nach dem Beginn des Fiebers aß ich ein Butterbrot, das Mrs. Hamlet mir
bereitet, und begab mich auf einen kleinen Ausflug. Es war dies der 5. November, ein Mittwoch, und in einem überraschenden Wechsel war dies ein Vormittag mit einer kühlen, klaren,
winterlichen Sonne, die die Farben sehr rein und schön erstrahlen ließ und die, als wir auf die
Felder hinter Holborn kamen, einen weiten Blick bot. Ich hatte mir abermals den Luxus einer
Mietdroschke geleistet - nun, offen gesagt, Luxus vielleicht weniger als vielmehr dringende
Notwendigkeit, denn eine längere Fußwanderung mochte ich meinem noch recht unbeständigen Leib vernünftigerweise nicht zumuten. Ich ließ den Wagen am North Canal anhalten,
stieg aus, entlohnte den Kutscher und sagte ihm, daß ich für den Rückweg eine andere Möglichkeit finden würde. Ich wollte an meinem Ziele nicht mit der Kutsche auftauchen, sondern
mich unauffälliger und zu Fuße nähern.
Als das Gefährt fort und sein Geräusch verklungen war, lehnte ich in der Stille unter den kahlen Bäumen am Geländer und blickte in die spiegelnden Schemen und Sonnenreflexe, die das
Wasser mir heraufwarf. Mein Kopf war wie leer. Da war ich also, halbwegs genesen, und
plante meine weiteren Schritte. Immer noch recht schwach in den Gliedern, eingehüllt in
Mantel und Schal, trug ich inzwischen wieder meine eigenen Kleider, wenn auch den Stock
des verblichenen Mr. Hamlet und hoffte so, bei allem, was ich fürders vorhatte, eine einigermaßen unauffällige Figur zu machen. Wie im einzelnen ich vorzugehen hatte, das wußte ich
im übrigen überhaupt noch nicht, denn allzu viel hing von Faktoren ab, die meines Erachtens
nicht vorher planbar waren.
Die Sonne, wiewohl klar und hell, war zu winterlich, um mich wirklich zu wärmen, und so
löste ich mich denn nach einer Viertelstunde der trägen Betrachtung von dem Kanalgeländer
und schritt im Tempo eines Müßiggängers gemächlich zur New North Road hinüber. Die
Straßen waren leer, niemand begegnete mir auf meinem Wege, es hätte beinahe Sonntag sein
können. Umso mehr ich mich meinem Ziele näherte, desto mehr verlangsamte ich meinen
Schritt. Was würde ich vorfinden? Nichts? Ein geräumtes, ein leeres Haus? Unheimlich hallende leere Flure und Treppen? Tuschelnde Nachbarn? Ein verweintes Dienstmädchen? Eine
Nachricht von einem Mord vor zwei oder drei Tagen?
Oder – ich fühlte, wie ob des überstandenen Fiebers unnatürlich schnell und hart mein Herz in
der Brust schlug – oder würde ich doch eine Lebende finden, ein menschliches Wesen, das
man noch warnen konnte? Wenn letzteres der Fall war, und ich betete, dass es so sein möge,
wie würde sich unser Gespräch entwickeln? Wovor würde ich sie tunlichst warnen wollen
oder können? Niemandem, keiner Gruppe von Menschen, keinem jungen Mann mit falscher
Brille, keinem Hasenschartigen die Tür zu öffnen? Vielleicht nicht einmal ihrem Bekannten
und Feind Sir Enid Luciter? Mein Gottt, was tat ich eigentlich hier? Was vermaß ich mich zu
erreichen - in welcher Weise überschätzte ich schon wieder meine Bedeutung?
Nun, immerhin würde ich sie wiedersehen, zum zweiten Male sehen, und das war mehr, als
mir bei manch einer der anderen gelungen war ... Ich würde ihr immerhin erzählen können,
was ich inzwischen erlebt und erfahren hatte, ich würde all das Entsetzliche in der Folge des
Gemäldes offenbaren können, ich würde ihr von den toten Frauen berichten. Und vielleicht ganz am Rande meines Bewußtseins hoffte und dachte ich dies, es war zweifellos sehr wenig
Uneigennützigkeit dabei – vielleicht, dachte ich, würde sie sich bedanken, würde für mich ein
wenig den Schleier heben und sich doch noch mit einem oder zwei Winken hinsichtlich meiner Io revanchieren. Io, die in Gefahr war, und die niemand rettete, wenn ich es nicht tat.
Das Haus kam in Sicht, und im Grunde wußte ich in der nämlichen Sekunde, daß alles anders
kommen würde als in meinen vermutlich noch fieberbehafteten Überlegungen, wie ich sie
Dir, teurer Leser, soeben ausgebreitet habe. Denn so ist das mit Plänen und mit eitlen Gedanken, die man sich vorher macht. Man zermartert sich den Kopf, zergrübelt sich die Stirn, ist
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äußerst klug, und dann trumpft das Schicksal leicht auf und sagt einfach: Nein, mein Lieber,
so nicht.
Denn vor dem Haus stand eine Kutsche.
Irgendetwas läutete in mir oder hätte jedenfalls läuten müssen, als ich die Kutsche sah, aber
ich halte es erneut meinem knapp überstandenen Fieber zugute, daß mein Kopf nicht so funktionierte, wie er es – vielleicht – bei besserer Gelegenheit getan hätte. So verzögerte ich lediglich um ein weiteres meinen Schritt, und wenn meine Annäherung für einen unbeteiligten
Betrachter nun endgültig den Eindruck eines verträumten Spazierganges in den Tag hinein
gemacht haben mag, so schossen meine Gedanken doch in meinem Kopfe umher, indem ich
mich mit der veränderten Sachlage abzufinden trachtete.
Eine Kutsche. Nun ja.
Gut daran war, daß Fiona de Cato ganz offensichtlich noch lebte. Wäre sie ermordet gewesen,
dann hätten mehrere, ja, eine Menge, in der Tat, viele Kutschen vor dem Haus gestanden,
dann hätte man die Anwesenheit von Leuten des Schlages von Wayne Leonard Kirby oder
Noah Whelmsleys gespürt, dann hätten sich Zeugen dort herumgetrieben – nein, eine Kutsche
bedeutete: Hier war nichts Aufregendes geschehen, Gott sei Dank, wenngleich …
Andererseits zeigte die Kutsche mir, daß gerade jetzt eben jemand bei Fiona de Cato war und
somit ein Gespräch meinerseits mit ihr nicht würde statthaben können. Und nachdem ich diesen eher selbstischen Gedanken getan, wurde mir siedendheiß bewußt, daß eine Kutsche auch
heißen konnte, daß gerade in dem Moment ein junger Mann mit falscher Brille bei Fiona de
Cato einsprach, und daß er soeben sein Skalpell aus dem Mantel zog zur gefälligen Verwendung.
Mir stockte der Atem. Auf dem Bock saß eingemummt ein Kutscher. Ich dachte an den Kutscher in der grauenvollen Geschichte, die der schielende Bote, Cavendish, uns nachts im „Ye
olde Bell“ aufgetischt hatte. Was ging hier vor? Ich versuchte, den Mann auf dem Bock zu
mustern, doch ich sah ihn nur aus einiger Entfernung und zudem recht von hinten, ich erkannte nicht allzu viel. Immerhin sah ich etwas von seinem Haar und bildete mir ein, daß dies
nicht der Kopf von Dr. Gideon Copeland sein konnte. Was sollte ich jetzt tun? Was würde
sein? Ich machte die waghalsigsten Überlegungen, während ich langsamen Schrittes näherund näherkam, ob und wie ich jetzt an diesem Kutscher vorbei und ungesehen ins Haus gelangen konnte. Und ich fragte mich, was ich darinnen vorfinden würde, ob ich noch rechtzeitig kam oder ob sie schon entseelt und geschächtet unter den Palmen und Orchideen ihres
Wintergartens lag, ob es am Ende auf einen schrecklichen, blutigen Kampf hinauslaufen
würde, den ich mit einem plötzlich auftauchenden dunklen Schatten würde ausfechten müsssen, ich unbewaffnet, während in seiner Hand ein mörderisches Skalpell funkelte und blitzte.
Und ehe ich noch solcherlei trübe Gedanken zuende gedacht, verhöhnte mich das Schicksal
ein weiteres Mal und machte alles, was ich zuvor gedacht, mit einem einzigen Streich zunichte. Denn es öffnete sich die Haustür, der mir bekannte Diener trat vor, und dann erschien
sie, die Dame des Hauses, Fiona de Cato, kostbar zum Ausgehen gekleidet, einer zweiten
Sonne gleich, mit etlichem Geschmeide an den perlgrauen Handschuhen und auf dem malvenfarbenen Tuch am Hals. In ihrer Begleitung ging ein junger Mann, der sie aufmerksam hofierte, jawohl, ein junger Mann, aber ohne Brille und mit schwarzen, nicht mit weißen Handschuhen, und auch er in einem erlesenen Geschmack gekleidet. Irgendein Scherzwort flog
gerade zwischen ihnen hin und her, das ich nicht verstand, aber ich hörte Fiona de Catos
glockenklares Lachen.
Der Kutscher stieg von seinem Bock herab, während das junge Paar beschwingt den Vorgarten durchschritt und öffnete den Schlag am Wagen, ich sah, wie zwei Stufen automatisch herunterklappten, während am Haus der Diener wieder verschwand und die Türe leise hinter sich
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schloß. Der junge Mann half Fiona de Cato galant in den Wagen, danach kletterte er selbst
hinterher, der Kutscher schlug den Schlag hinter ihnen zu und enterte wieder auf, ich hörte
sein Signal, und die Kutsche fuhr mit mahlenden Rädern auf der Straße an und entfernte sich
gemächlich von mir Richtung Norden, Richtung Hampstead Heath, nicht Richtung Themse
oder Westminster.
Ich war, als der Diener erschienen war, wie erstarrt stehengeblieben, denn ich wollte nicht
gesehen werden, und, obschon ich dort mitten auf der sonnigen Straße stand, hatten sie mich
wohl in der Tat nicht gesehen, zu sehr waren sie mit sich selbst beschäftigt gewesen. Dann,
als die Kutsche davongerollt und um eine entfernte Biegung meinen Augen entschwunden
war, stand ich immer noch reglos an der gleichen Stelle, und fand mich wie vom Donner gerührt.
Das Schicksal machte sich einen vertrackten Spaß mit mir, ganz zweifellos. Um Dir, werter
Leser, meine Fassungslosigkeit, auch meinen Schrecken, ungefähr vermitteln zu können,
mußt Du mir gestatten, daß ich kurz rekapituliere.
Ich war seinerzeit hier erstmals aufgetaucht mit den übelsten Geschichten im Kopf, die man
mir von Fiona de Cato erzählt, daß sie Spaß an den erzwungenen Orgien dort im fernen
Cornwall gefunden hatte, daß sie ständig ihren Mann hintergehe, daß ein junger, aufstrebender Anwalt dabei im Spiele sei, und sie hatte mich betört und becirct, so daß ich am Ende der
Zusammenkunft ihre Hände hatte küssen und mich entschuldigen wollen für meine schwarzen
Gedanken.
Von ihr, nebenbei, und niemandem sonst stammten die einzigen, die greulichen Kuriosa, die
ich über meine Io kannte, das unaussprechlich Geschehene im Schweinekoben, „die kleine
Wilde“, Dinge, die mich vorübergehend dazu genötigt hatten, gar eine Geisteskrankheit bei
ihr nicht mehr auszuschließen. Fiona de Cato hatte es alles darauf angelegt, daß ich die Suche
nach dem Zauberwesen abbrach, „weil sie ja doch tot sei“ – und hatte sich auf weitere Erklärungen nicht eingelassen und stattdessen rätselvoll geschwiegen. Die arme, unverstandene,
kinderlose Frau, die bejammernswert an der Seite eines Mannes ohne Zärtlichkeit und Spielers litt. Die ihre pekuniären Probleme einem namhaften Londoner Anwaltsbüro übergeben
hatte.
Oh je, und ich Tropf hatte dies alles aufgesogen und hatte es für bare Münze gehalten und in
mich gesaugt, als sei es Manna. Oh, ich Tölpel, ich Tor!
Fiona de Cato, die zugegebenermaßen eine gute Bekannte von Sir Enid Luciter war ...
Nun denn, es war offenbar.
Das eine war ein Gespinst aus herzbewegenden Lügen, das andere die lautere Wahrheit. Dies:
die Erzählungen, die ich über sie gehört. Dies, grotesk, war die Frau, die ich gekommen war,
vor dem Mörder zu warnen, während sie doch in Wahrheit wahrscheinlich inmitten des Zentrums des Bösen lebte.
Das, was mich in Schrecken und eiskalter Erstarrung und wohl auch in Trauer dort inmitten
des Sonnenlichts verharren ließ, längst, als das Mahlen der Kutsche schon verhallt war, lag
indessen nicht in der Person Fiona de Catos. Es war vielmehr der junge, in der Tat sehr erfolgreich aufstrebende, frohgelaunte Anwalt an ihrer Seite gewesen, der mir einen Schock versetzt, wie man ihn gar selten erhält. Er war es in der Tat gewesen, von dem ich immer geglaubt hatte, ihn als meinen besten Freund mir bezeichnen zu dürfen:
Der Mann an der Seite dieser Frau war Sebastian Frideric-Horne gewesen.
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.....
Mrs. Hamlet erschrak fürchterlich, als sie mich zurückkommen sah, ich sei weiß im Gesicht
wie ein Laken - in letzter Zeit, erschien es mir, nahm sie sich in unzuträglichem Maße der
Rolle an, meine selige Mutter zu ersetzen. Ich wehrte sie ab, gelangte auch alleine in meine
Kammer, der Abend graute. Ich war entgegen meinen ursprünglichen Plänen den ganzen Weg
zurück gelaufen, hatte nur da und dort am Wegrain und später am Straßenrand, an ein Geländer gelehnt, ausgeruht und im übrigen seit dem Butterbrot morgens nichts in den Magen bekommen. Mir war sterbenselend, gewiß, und einen weiteren Tag lang, den ich halb schlafend,
halb unruhig im Bette verbrachte, setzte ich Mrs. Hamlet in Sorge, ich würde einen gefährlichen Rückfall meiner Krankheit erleiden.
Mir war sterbenselend, aber das war weniger meiner körperlichen Befindlichkeit, der Schwäche und der mangelnden Nahrung geschuldet – ich verspürte keinen Hunger, ich hatte es im
Grunde vergessen, etwas zu mir zu nehmen - als vielmehr nur der unbeschreiblichen Enttäuschung, dem Schmerz über den Verrat, den Treuebruch des Freundes. Den Tag, den ich, wie
erwähnt, neuerlich im Bette zubrachte, in seinen wachen Phasen zumindest, zerquälte ich mir
das Hirn, bis der Kopf mir schmerzte.
Was war geschehen? Wie hatte es dazu kommen können? Was überhaupt bedeutete es, dies
alles? Was waren die Konsequenzen - und ich ging im Geiste all die Punkte durch, die ich zu
bedenken hatte. Viel hätte wahrlich nicht gefehlt, und ich hätte mir eine Liste geschrieben
ähnlich der, in der ich über die sieben Geliebten des Zeus Buch führte.
Sebastian Frideric-Horne, der Verräter meines warmen Herzens.
Da war die Tatsache, daß ich ihn auf dem Fest bei Luciter getroffen. Nun gut, er hatte in der
Kutsche eine gute Erklärung zur Hand gehabt, warum er da gewesen - es sei der alte Mr.
Sweet gewesen, der ihn hingeschickt. Aber streng betrachtet, warum sollte man ihm dies eigentlich glauben? Es konnte sein, es konnte nicht sein. Warum war er so unbeteiligt geblieben, hatte die Drohungen Luciters, von denen ich ihm empört erzählt, und das Erscheinen Dr.
Gideon Copelands … ja, verlacht, nicht ernst genommen, verharmlost, in Abrede gestellt?
Wollte man bösartig sein, konnte man unterstellen, daß Luciter mich bedroht hatte, mich
künftig beobachten zu lassen – und dann hatte er, Luciter, als erstes folgerichtig „den Freund“
mit der Kutsche hinterhergeschickt, um mich in der nächtlichen Heide aufzulesen, zu „retten“.
Nun gut, es hatte auch diesen anderen Beobachter, diesen Verfolger, Cavendish, gegeben.
Und hatte ein aufstrebender junger Londoner Anwalt es wirklich nötig, Botendienste dieser
Kategorie wie ein Cavendish zu absolvieren? Cavendish war mir zweifelsohne hinterhergeschickt worden, um mich auszuspionieren, aber das war Wochen später gewesen. Was war in
der ersten Zeit nach dem Fest gewesen? War Seb da meiner Fährte gefolgt, nie fern von mir?
Ich hatte ihn nach der nächtlichen Kutschfahrt hinein nach London nicht wiedergesehen.
Ich lag rittlings auf dem Bett und starrte die Flecken an der Decke an, die gelegentlich dort
eindringender Regen hinterlassen hatte.
War es am Ende er gewesen, der mich aus den Schatten heraus beobachtet hatte, als ich mit
Rosetta Manderlay im weißen Sand der nächtlichen Straße stand? Mich fröstelte, als ich daran
dachte, wie sie meinte, jemanden haben „springen“ zu sehen. All die Geschichten von dem
jungen Mann mit der falschen Brille und den weißen Handschuhen wirbelten mir wieder
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durch den Kopf – konnte es sein, daß Seb sich als jener verkleidet hatte, wiewohl es hieß, daß
jener eher klein von Wuchs sei und Seb war gewiß nicht klein? Wie weit ging sein Betrug?
Überhaupt, war es mir nicht schon damals als seltsam aufgefallen - kaum hatte ich ihm auf der
nächtlichen Kutschfahrt von Io berichtet und den Wunsch blicken lassen, er möge mir auf der
Suche nach ihr helfen - als, schon am nächsten Tag, die Nachricht von ihm kam, die mich auf
die Spur von Rosetta Manderlay setzte - die man nun ermordet hatte. Damals das Auffinden
Rosetta Manderlays: War mich nicht schon damals Verwunderung darüber angekommen, daß
dies so unverzüglich hatte funktionieren können?
Und überhaupt: Ich bat ihn und er „lieferte“ mir prompt die Wirtstochter. Warum hatte er
nicht zum Beispiel Fiona de Cato „geliefert“, von der ja wohl kein Zweifel bestand, daß er sie
bestens kannte – oder gar Io? Nun, dies war im Grunde einleuchtend: Natürlich hatte er die
Komplizin und sich schützen müssen, Fiona de Cato, die, wie ich mit einem plötzlichen bösen
Abgleiten meiner Gedanken feststellte, interessanterweise die einzige war, die das bisherige
Geschehen wie auch meinen Besuch unbeschadet und bei bester Gesundheit überlebt. Im
nächsten Augenblick tat mir die grauenvolle Idee leid, sie erschien mir freventlich, und ich
nahm mir vor, bei nächster Gelegenheit dafür in der Kirche um Vergebung zu bitten.
Jedoch: die Liste bei mir im Kopfe, sie war noch nicht zu Ende. Seb, der gute, der allerbeste
Seb.
Da war er also „zufällig“ auf Sir Luciters anrüchiger Vernissage erschienen. Warum hatte er
bei der Rede, als Gideon Copeland mich angestarrt hatte, nicht bei mir verharrt? Überhaupt,
sein ständiges Auftauchen und Verschwinden an jenem Abend! Warum war er nie dagewesen,
wenn ich ihn brauchte? Zum Beispiel, als mich Sir Enid Luciter im Zimmer mit den Ampeln
seiner peinlichen Befragung unterzog?
Und dann: Was war in ihm vorgegangen, als er Fiona de Cato als Demeter/Persephone auf der
Leinwand erblickt hatte? Warum hatte er zu mir nichts darüber verlautet? Nun gut, derselbe
Grund wie zuvor: Er mußte die Geliebte schützen. Er mochte überdies von dem Bilde gewußt
haben, für ihn war es keine Überraschung. Was war – ich hatte diesen Gedanken vor einiger
Zeit und aus gegebenem Anlaß erwogen gehabt - was war parallel dazu in Dr. Gideon Copeland vorgegangen, als der Asuncion Lozano, sein Kindermädchen, als Semele auf der Leinwand erblickt hatte?
Zuerst er, jetzt Seb: Allmählich schürte sich bei mir der Verdacht, daß nahezu jeder der damals Anwesenden noch ganz anderes auf dem Bilde erblickt hatte, als ich mir in meiner Einfalt überhaupt hatte vorstellen können.
Seb …
Ich lag auf meinem Lager und trauerte um den Freund. Man kennt sich ein Leben lang, und
plötzlich ist alles fortgewischt, das Gute, die Vertrautheit, die lange Zeit, und da bleibt nur
noch Fremdheit und Kälte, ein fader Schemen, und man gesteht sich ein, daß man nichts über
den anderen gewußt, gar nichts. Seb, Seb … im Kreise derer, die ich zu meiden hatte! Ein
Heuchler, ein Anwalt des Unrechts, verschlagen, auf der falschen Seite, ein Mitwisser und
teuflischer Assistent bei den Scheußlichkeiten, die bereits zum Tode dreier junger Frauen
geführt hatten! Und in Kenntnis all dieser Schrecken, gepeitscht vom Horror der unerbittlich
verrinnenden Zeit, schwach vor Liebe und Sehnsucht, rannte ich einem Trugbild namens Io
hinterher ...
Oh Gott, es mußte anderes geben in dieser unserer Existenz!
Der Abend fiel, und in meiner Kammer wurde es dunkel. Ich überlegte, ob ich etwas essen
wollte, aber ich verwarf den Gedanken, nochmals aufzustehen und Mrs. Hamlet um ein Brot
217
zu bitten. So sah ich der Schwärze zu, wie sie vor meinem Fenster trübe sich niedersenkte, bis
ich nichts mehr wahrnahm und in eine Finsternis starrte, wie jene sein muß im Tode.
Ich weiß nicht, ob ich überhaupt schlief in jener Nacht, aber ich hatte tagsüber genug die Augen zugetan. Ich war nicht müde. Ich war nicht hungrig. Aber ich fühlte mich sehr allein. Das
Herz klopfte mir in gräßlicher Furcht vor dem, was die Zukunft für mich bereithielt.
Denn morgen würde der Kampf beginnen.
11. Kapitel
Verlies der Verdammten
Den Morgen danach ging es mir indessen besser, und ich besaß die Kühnheit, zum Zwecke
einer Malzeit in ein Wirtshaus nicht weit entfernt zu gehen. Ich hatte Momente überlegt, ob
ich in das „Belle Sauvage“ in der Seacoal Lane nördlich von St. Paul’s hinüberlaufen sollte,
auch kaum mehr als eine schmale Viertelstunde Fußweges, um vielleicht Ambroise Tardieux
wiederzutreffen, mit ihm zu speisen und zu plaudern, vielleicht mich seines Rates oder sogar
seiner Begleitung zu versichern, andererseits, rechnete ich mir aus, würde er, nach dem, was
er mir erzählt, mittlerweile wohl schon eher wieder auf dem Kontinent oder zumindest dem
Wege dorthin zu finden gewesen sein, und ich wollte diesen neuen Tag keinesfalls mit einer
wenn auch noch so kleinen Enttäuschung beginnen.
Ich zählte mein Geld, ein Bote hatte gestrigen Tages, während ich schlief, fünf Guineen mit
einer neuerlichen Nachricht von Finley Burkitt gebracht, des Inhalts, daß ich die Summe für
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ein außerdienstliches Salär halten sollte, um „die ins Auge gefaßten Unternehmungen während der Unterbrechung meiner regulären Arbeit ordentlich zu bestreiten“.
Mrs. Hamlet hatte mir, als ich des Morgens an ihrer Stube geklopft, den Umschlag mit der
Würde der Towerwache, wenngleich halb beleidigter Miene überreicht – sie wäre zu jener
Zeit wohl allzu gerne meine einzige Wohltäterin geblieben und mochte vom generösen Inhalt
des Umschlages etwas ahnen.
Gleichviel: Ich, der ich im Laufe der vergangenen neun Tage in so drastischer Weise darüber
belehrt worden war, mit welch erschreckender Heftigkeit unsere Existenz eine sehr endliche
sein kann und wie verräterisch schmal der Grat manchmal ist zwischen Leben und Ewigkeit,
ich, der ich nach all dem nicht einmal mehr ausschloß, selbst sehr bald in die Reihen derer
aufrücken zu müssen, die allzu jung einem ruchlosen Streiche zum Opfer fielen - ich verließ
diesen Morgen im übermäßig, ja, im unnatürlich deutlich wahrgenommenen Bewußtsein das
Haus, daß ich vorerst schließlich noch lebte, im Gegenteil, ich fühlte auf dem geschilderten
Hintergrunde mein Leben so heftig pochen wie selten zuvor.
So wandte ich mich kurzentschlossen in Richtung auf jenes kaum fünf Minuten Weges von
dort, wo ich logierte, unten an der Chancery Lane gelegene, recht preiswerte, wenngleich etwas herabgekommene Boarding House, das zwar den stolzen Namen „The Spaniard“ führte,
indessen nichts mit der gleichnamigen, aber sehr viel manierlicheren Taverne oben in Hampstead Lane zu tun hatte, um dort ein Frühstück einzunehmen. Das Angebot meiner wackeren
Mrs. Hamlet dazu hatte ich schnöde ausgeschlagen.
Wie mache ich mich Dir nur, geschätzter Leser, deutlich?
Ich besaß aus Finlay Burkitts nobler Hand so viel bares Geld wie im Grunde nie im Leben
zuvor, und dies vermittelte mir ein sonderbares, nie gekanntes Gefühl der Sicherheit und, daraus resultierend, mich selbst unendlich verblüffenden Glückes. All dieser Reichtum schien
mir gleich einem unverhofften Wall, einer Burg, die auf magische Weise um mich errichtet
ward, den Mächten des Bösen zu trotzen, sie auszukaufen, sie auszustechen, ja, zu vernichten,
wenn es Not tat. Und doch war das nicht einmal das eigentliche Wesen oder nur ein Teil meines jungfräulichen, mir selbst unbekannten Gefühls. Die Tage der erzwungenen Untätigkeit,
die auszehrende Zeit der Bitternis und Trauer, der Enttäuschung, der Trotz, das Bewußtsein
der bisherigen Machtlosigkeit, all diese böswilligen, widerwärtigen Schicksalsschläge hatten
– ich hatte es nicht bemerkt, und nun war es plötzlich da - ein Gefühl der Wut in mir wachsen
lassen, für die ich keine Worte und keinen Vergleich fand in meinem bisherigen Leben.
Woher sie gekommen, daß ich überhaupt fähig war, dergleichen zu verspüren – es verblüffte
mich selbst bis auf’s Blut, aber dieser erfinderische, neue Zorn war in mir und machte mich
stark, stärker, als ich möglicherweise war, und so schluckte ich die Bitternis, die mich unweigerlich befallen wollte beim kurzentschlossenen Betreten des ersten Wirtshauses nach dem
„Ye Olde Bell“ in einer einzigen, lächerlichen Sekunde hinunter, und ich stieß die Türe des
„Spaniard“ weit auf und trat hinein und ließ mich mit meiner so gutgefüllten Tasche am
nächtstbesten Tische nahe der Tür nieder und winkte dem Wirt und dachte dabei, wenn ich
schon zu denen gehörte, die verdammt waren für ein elendes Ende, warum sollte ich, der ich
augenblicklich und sonderbarerweise genug die Möglichkeit dazu besaß, mir nicht selbst ein
Fest bereiten, wenn nötig, um eigens mit dem Teufel ein Bankett zu feiern?!
Und so lief ich nach einer durchaus schmackhaften Mahlzeit, zu der ich mir einen großen
Krug gebutterten Bieres hatte reichen lassen, hinüber zur Frith Street in Soho. Jener Diener
aus ‚Morass Manor’, den ich aufzusuchen gedachte, Franklin Stifel mit Namen – ich hatte des
Morgens gleich nach dem Aufstehen meine Notizen dazu studiert – hatte mir damals etwas
erzählt davon, daß es die Nummer 15 sei, wo er an manchen Wochenenden zu erreichen sei,
und daß es unten im Hause einen Buchbinder gäbe.
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Als ich – ich hörte die Glocke gerade ein Viertel auf elf schlagen - an der bezeichneten
Adresse eintraf, fand sich dies bestätigt, ‚Charles Clark, Buchbinder’, stand über dem kleinen
Geschäft zu lesen. Hier also wohnte irgendwo die Tante jenes Bedienten von Sir Enid, eine
Witwe Coleman, bei der der junge Mann, wie er mir erzählt – ich hatte auch dies aus meinen
Aufzeichnungen wieder ausgefunden – häufig gerade am ersten oder zweiten Monatswochenende logierte.
Nun, das traf sich gut, denn wir schrieben Samstag, Samstag, den 8., und ich hoffte auf mein
Glück.
Es war im trüben Licht des Vormittags ein ordentliches, ein sauberes Haus, die gotische Front
gerade jüngst erneuert – es ragte zwei Stockwerke in die Höhe und trug eine Mansarde obenauf – was, wie die ganze schmale Straße, einen äußerst angenehmen Eindruck machte. Wäre
nur das traurige Wetter nicht gewesen! Deshalb rüttelte ich auch nicht am Eingang, um zu
prüfen, ob die Tür des Treppenaufstiegs offen oder verschlossen sei – dies hätte mir womöglich nur mißbilligende Blicke der Nachbarn eingetragen - sondern ich betrat nach einem Augenblick des Zögerns geradeheraus den Laden des Buchbinders, um hier mein Anliegen vorzutragen.
Ich fand den Besitzer des Geschäfts – unzweifelhaft war er dies: ein Mann von einigen dreißig
Jahren mit einer Lederschürze vor dem Leib - sogleich hinter der Türe an einer Maschine stehend - es war dies eine Presse - in die er gerade einen Buchblock einspannte. Auf der Seite
sah ich bereits die dazugehörige, in Seide geschlagene Buchdecke liegen. Weiter zur Linken,
an einem Arbeitstische auf einem Schemel sitzend und damit befaßt, Doppelseiten zu einer
Heftlage zu legen, erblickte ich eine junge Frau, die vermutlich die Gattin des Buchbinders
war und die Mutter der beiden anwesenden Kinder, eines Jungen von vielleicht neun Jahren
und eines kleineren Mädchens, die sich gänzlich im Hintergrund hielten und sich an der Erde
leise, aber vergnüglich mit Dachhaarpinseln, achatenen Falzbeinen, Resten von Kapitalbändern und Rückenhülsen unterhielten. Alle vier schauten nun auf und blickten mir mit einigem
Interesse entgegen.
Ich nannte dem Buchbinder höflich meinen Namen und erkundigte mich, wo hier im Hause
denn eventuell ein Mr. Franklin Stifel zu sprechen sei. Mr. Charles Clark nickte mir zu. Er
rief seinen Sohn kurz beim Namen und trug ihm auf, mich in den zweiten Stock zur Witwe
Coleman zu geleiten. Der Knabe, Benjamin geheißen, nickte daraufhin gehorsam, ich bedankte mich bei seinem Vater und ließ mich von dem Kinde durch eine seitliche Tür in einen
dunklen Stiegenaufgang führen. Die Mutter hatte die Augen längst wieder auf ihre Arbeit
gesenkt.
Der Bub sprang mit flinken, nackten Beinen vor mir die Stufen hinauf, ich eilte hinterher,
kaum, daß mir das gelang. Im zweiten Stock deutete er auf eine niedrige Tür unter den Dachschindeln zur Linken, und ich hielt ihn an der Schulter und gab ihm einen halben Penny.
„Danke, Sir“, sagte er mit frischer Stimme, bevor er sich kehrte und die Stufen wieder hinabsprang. Schon war er um die Biegung. Es drang nur spärliches Licht durch eine Dachluke.
Auf dem Holze der Tür vor mir im Halbdunkel heftete ein Zettel, ‚Mrs. Henry Coleman,
Witwe’, entzifferte ich schließlich. Da sich kein Klopfer fand, pochte ich mit dem Finger gegen die Füllung, und es dauerte nicht lange, da vernahm ich Schritte hinter der Tür.
„Ja?“ hörte ich eine Frauenstimme sagen.
„Mrs. Coleman?“ fragte ich höflich.
„Ja?“ machte die Stimme erneut.
„Nun, mein Name ist Domenic Holland“, sagte ich halblaut. - Ich mag es nicht, gegen geschlossene Türen zu sprechen – ich komme mir dumm und ausgenutzt dabei vor, gleichviel,
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wenn ich die Witwe verstand, die nicht jedem die Pforte öffnen mochte. Ich erklärte ihr, daß
ich gekommen war, um ihren Neffen zu sprechen, und erkundigte mich, ob er denn da sei. Es
sei wirklich dringend, setzte ich hinzu, als keine Antwort erfolgte.
„Warten Sie einen Augenblick“, sagte schließlich dieselbe Frauenstimme von zuvor – und
dann hörte ich gar nichts mehr hinter der Tür.
Ich hatte genügend Zeit und Zorn zu überlegen, wie es denn wohl weitergehen mochte mit
meinem verzweifelten Versuch, in die Festung von ‚Morass Manor’ vorzustoßen, wenn mir
gleich hier zu Beginn so gar kein Erfolg beschieden sein sollte, und ich war gerade dabei zu
entscheiden, ob ich mich von der Türe wegkehren und absteigen oder mich gegen das Holz
werfen sollte, als es, überraschend genug, doch noch einen Laut dahinter gab und die Tür sich
plötzlich auftat. Das Gesicht eines jungen Mannes schaute mich durch den Spalt an. Er sah
müde aus, es war offensichtlich, daß er geschlafen hatte und geweckt worden war.
„Ich weiß, wer Sie sind, ich erinnere mich“, sprach Franklin Stifel.
Er war es - obwohl ich ihn von mir aus nicht erkannt hätte, denn ich hatte ihn nur kurz und bei
schlechtem Lichte an jener nächtlichen Gartenpforte gesehen, und unsinnigerweise hatte ich
ihn mir wohl überdies in der Livree vorgestellt, die er an jenem Abend getragen. Jetzt aber
hatte er nur eine Decke um die Schultern geschlungen und stand dort in langen Pantalons und
mit bloßem Oberkörper, zudem halb hinter der Tür verborgen.
„Es tut mir leid, wenn ich stören sollte“, murmelte ich, für den Augenblick unerwartet aufgehalten in meinem aus der Krankheit hervorgeborenen Elan, „aber es ist dringend. Wenn ich
indessen ein andermal ...“ Es war mir trist und unangenehm, ihn in diesem halbnackten Zustande dort anzuschauen.
Doch er öffnete die Tür nun ein Stück weiter. „Nein, nein“, sagte er, nicht besonders freundlich, „kommen Sie herein, ich habe Sie auch sprechen müssen. – Es ist gut, Tante ...“ wandte
er sich an jemanden seitlich hinter der Türe, und wir ward klar, daß die Dame dort im Dunkeln stand und dem Bisherigen zugehört. Die Bemerkung, daß er mich auch habe sprechen
müssen, gab mir einen kleinen Stich, denn das klang mir den Umständen nach irgendwie verdächtig.
Er bewegte sich von der Türöffnung zurück und zog sie weiter für mich auf. „Kommen Sie
herein“, sprach er. „Wir gehen auf mein Zimmer.“
Er ließ mich eintreten, und als ich die Tür passiert hatte, erhaschte ich den einzige Blick auf
Franklin Stifels Tante, der mir vergönnt sein sollte, eine mürbe aussehende, ältere Person,
ordentlich, wenn auch ärmlich gekleidet, und die Haare zu einem Zopf geflochten. Ich grüßte
sie höflich, während Stifel mir den Weg wies. Sie reagierte nicht auf meinen Gruß.
Stifel öffnete eine knarrende Türe zu einer Kammer, in die Licht durch ein weiteres Dachfenster fiel. Irgendwie erinnerte der kleine Raum mich an meine eigene Stube, irgendwie aber
auch nicht – denn meine Mansarde war größer und besser eingerichtet, auch das Fenster eine
richtige Gaube statt der Luke hier. Diese Kammer barg nur ein Bett, das in seinem momentan
benutzten Zustande nicht erfreulich aussah, einen Tisch, unter dessen eines Bein ein mehrfach
gefaltetes Stück Filz geschoben war, damit er besser stand, und ein einzelner Stuhl. Auf einem
seitlichen Bord sah ich eine angeschlagene und geklebte Waschgarnitur, sonst gab es hier
nichts, das der Erwähnung wert gewesen wäre.
„Seien Sie vorsichtig“, meinte er warnend und zeigte mit dem Finger auf eine Rattenfalle, die
seitlich am Boden stand, und in die ich zweifellos ohne seinen Hinweis eine Sekunde später
getreten wäre.
„Danke“, murmelte ich.
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„Nehmen Sie den Stuhl“, sagte er kurzangebunden und wies darauf, während er sich fester in
seine Decke wickelte und auf dem Bette niedersaß.
Ich setzte mich ebenfalls, und es gab eine kurze Pause, in der wir uns gegenseitig musterten.
„Warum wollten Sie mich sprechen“, fragte ich dann und gab im Ton der Frage meiner ganzen Verwunderung Ausdruck, war ich doch eigentlich hergekommen, um ihn zu sprechen.
Statt einer Antwort sprang er ruckartig von seiner Liegestatt, kniete am Fußende derselben
nieder und kratzte, wo es sehr dunkel war, auf dem Boden herum. Bevor ich noch etwas dazu
sagen oder mir die rechten Gedanken über sein Verhalten hätte machen können, sah ich, daß
er ein kurzes Stück einer Bodendiele herausgehoben und aus dem Geheimfach darunter etwas
hervorgeklaubt hatte. Er verschloß mit geübten Fingern das Versteck, dann warf er das, was er
aus dem Boden geborgen, seitlich auf den Tisch. Dort glitzerte es im Licht des kleinen Dachfensters. Er nahm wieder auf dem Bette Platz, hüllte sich in seine Decke, musterte mich und
den Gegenstand, den er dort hingeworfen, gleichermaßen mißmutig, ja, feindselig, und stieß
hervor: „Da, nehmen Sie es zurück - es gehört Ihnen - ich will es nicht.“
Ich schaute es mir aus der Entfernung an. Es war das kleine Silberstück, das ich seinerzeit für
ihn an der Gartenpforte in den Kies hatte fallen lassen.
„Sie überraschen mich“, sagte ich und fühlte, wie mir der Mund trocken wurde. „Das ist für
Sie bestimmt, Mr. Stifel. Ich habe es Ihnen überlassen, es gehört Ihnen. Und Sie werden mir
eine kleine Gefälligkeit dafür erweisen.“
„Nein, das werde ich ganz gewiß nicht tun, Sir!“ sprach er langsam und bestimmt, seine Augen blickten dabei fahrig, fast wild. „Nehmen Sie das verdammte Silber wieder an sich, Sir.
Ich will damit nichts zu tun haben.“
„Aber womit wollen Sie nichts zu tun haben?!“ rief ich, und als er nicht antwortete: „Sie wissen doch gar nicht, was ich von Ihnen verlange!“
„Oh doch, das haben Sie mir seinerzeit gesagt, entsinnen Sie sich nicht?“
„Aber was habe ich Ihnen gesagt?!“ Ich breitete die Hände aus und versuchte ein Lachen,
obwohl mir nach allem anderen war, nur nicht danach. „Was hat Ihnen plötzlich die Suppe
versalzen, Stifel?“
„Das da hat mir die Suppe versalzen, das da“, zischte er haßerfüllt und zeigt auf das Silberstück. „Ich kenne Sie jetzt und Ihresgleichen!“
„Was kennen Sie, einen Unfug kennen Sie!“ sagte ich böse. „Hören Sie zu, ich leide es nicht,
zum Hanswurst gemacht zu werden. Wir sprachen an dem Abend, wenn auch nur kurz, aber
wir sprachen miteinander und wir sind einen Handel eingegangen. Der Beweis liegt dort auf
dem Tisch. Ich habe bezahlt, Sie sind der Händler, ich bin der Käufer, und jetzt will ich zum
Teufel das haben, was ich gekauft habe.“
Ich hörte mich selbst reden und ich mochte es selbst kaum glauben, daß ich es war, der dort
sprach.
Franklin Stifel, trotz seines entblößten Zustandes und trötz der Kälte in der ungeheizten
Kammer - ich bemerkte es mit einem Male und war unendlich verblüfft darüber - Franklin
Stifel schwitzte. Das Wasser rann ihm in Bächen die Stirn herunter wie das Fett beim
Schweineschlachten.
„Die Dinge haben sich geändert“, stieß er hervor.
„Die Dinge haben sich geändert!“ äffte ich ihn. „Was hat sich geändert?!“
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Er blickte mich an, und ihm traten fast die Augen aus dem Kopf. Ich sah ihm an, daß er innerlich seine Argumente abwog, und fast hätte ich sie lesen können auf seinem Gesicht. Ich
sah, wie er das Silber begehrte, und ich sah gleichzeitig und verblüfft die nackte Angst in seinem Blick. Und diese Angst - ich bekenne es, geneigter Leser - diese Furcht in seinem Angesicht war es, die trotz meines neuen starken Mutes etwas wie die Ahnung von eigenem
Schrecken in mein Herz senkte. Ich sah, wie die widerstreitenden Beweggründe in seinem
Gesicht um die Vorherrschaft rangen, und ich sah, wie schließlich die Gier gewann.
„Sie wissen, warum sich alles geändert hat“, stieß er hervor. Er rang noch einen Augenblick
mit sich, aber der Kampf war verloren. „Sie wissen, was sich geändert hat, Sie wissen es, Sir.
Sie sind es, Sir, der alles geändert hat. Die Atmosphäre in dem Hause hat sich geändert. Es ist
… Morass Manor … das Haus an der Themse … Mr. Luciters Anwesen … es ist nicht mehr
das gleiche, was es vormals war, Sir, und Sie sind der Grund, warum sich das so verhält. Und
Sie wissen es. Alle wissen es.“
Ich fühlte, wie mein Herz einen ungesunden Schritt aus dem gewohnten Takte trat, und ich
fühlte, wie das Blut mir aus dem Gesichte wich. Ohne es genauer benennen zu können, war
mir klar, daß diese Nachricht meinem ungenannten Ansinnen in äußerster, gefährlichster
Weise zuwiderlief. Ich rang eine Sekunde um meine Kaltblütigkeit, dann hatte ich sie vorübergehend wiedergefunden. Ich lächelte, ja, ich lächelte, und ich spürte, wie er vor diesem
Lächeln ein Stück weit in sich zusammensank.
„Interessant“, flüsterte ich. „Wollen Sie sich bitte näher erklären, mein Freund?“
Er stierte mich mit panischen Augen an. „Es hat Tote gegeben, tote Mädchen, mehrere,“ wisperte er, mit einem Seitenblick zur Türe, als ob seine Tante oder sonstwer ihn hören könne.
„Es ist dieses Bild, Sir, dieses große Gemälde, einige haben es gesehen, es ist … es ist …“,
seine Augen fuhren blicklos herum, als er nach dem geeigneten Ausdruck verlangte, „ es ist
ein Bild der Hölle, Sir, ein Bild des Abgrunds und der Unmoral. Es sind diese Frauen darauf,
Sir, und diese Frauen werden jetzt getötet.“
„Ach“, sagte ich, und ich spürte, wie mir selbst bei dieser einen, kümmerlichen Silbe die
Stimme wegbrach. Aber er spürte es nicht, im Augenblick hatte er nur Augen für sein eigenes
Inneres, er starrte in sich hinein, und seine Lippen wisperten, was sie hervorbrachten, fast
ohne sein Zutun.
„Drei von ihnen sind tot“, flüsterte er tonlos. „Und drei von den anderen sind jetzt im Keller
und werden gefangengehalten. Sir Enid hat das Bild nach Cornwall zurückschaffen lassen. Es
existiert nicht mehr. Nein, es existiert gar nicht mehr. Niemand darf es erwähnen - es ist ein
verbotenes Bild. Sir Enid hatte Schaum vor dem Mund, und er tobte und jammerte, denn er
hatte Pläne damit in London. Jetzt jedoch ist es nicht mehr da. Er hat es nach Cornwall zurückführen lassen, und der Maler ist auch in Cornwall.“ Franklin Stifel fixierte mich mit seinem starren Blick. „Und der Grund, warum Sir Enid seine Pläne ändern mußte, sind Sie, Sir,
Sie haben Sir Enid sehr verärgert.“
Einerseits, in dieser flüchtigen Sekunde, zuckte fast etwas wie Freude in mir hoch, Freude
darüber, daß ich, wie auch immer, etwas zerstört hatte, das zu besitzen ihn gefreut hätte, den
Feind, Sir Enid Luciter – ich hatte verächtlich seine Kreise gekreuzt und ihm etwas genommen, was auch immer, und das war Grund genug, in tiefste Befriedigung zu verfallen. Andererseits zuckte entsetzliche Angst mit mir auf, denn irgendetwas in meinem Innern sagte mir
durchaus, daß ich mit einem Frevel dieser Art, ja, selbst dieser Art, einer Dreistigkeit gegen
das Böse selbst, vom Bösen nicht ungestraft würde davongelassen werden können.
„Drei von den Frauen werden gefangengehalten in den Kellern von Morass Manor?“ nahm
ich das auf, was der Diener gesagt, und fügte an: „Deshalb bin ich hier.“
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Fast glaubte ich, Stifel würde mich anspucken, mit solcher Wut fuhr er auf mich los: „Ich
weiß, weshalb Sie hier sind“, giftete er, „dies ist es, weshalb ich Sie selber schon sprechen
wollte. Ich kann Ihnen in dieser Sache nicht helfen!“
„Sie haben das Silber genommen“, erinnerte ich ihn.
„Ich weiß, daß ich das Silber genommen habe“, bellte er. Er deutete auf die Anrichte. „Dort
haben Sie es zurück.“
„Wir drehen uns hier im Kreise“, sprach ich mild. „Ich will nach Morass Manor hinein, Stifel,
und Sie müssen mir den Weg verraten.“
„Das kann ich nicht“, schnappte er zurück, „ich sagte es Ihnen. Es war schon immer äußerst
… unbequem, sich mit Sir Enid anzulegen, Sir, aber neuerdings ist es schlicht gefährlich. Drei
Mädchen sind tot.“
„Das sagten Sie, das weiß ich, davon weiß ich mehr, als Sie ahnen“, sprach ich, und fühlte bei
diesen Worten, wie auch mir trotz der Kühle der Kammer klamme Feuchtigkeit auf die Stirn
trat.
Drei Mädchen tot, dachte ich, und drei in den Kellern. Asunción Lozano, Rosetta Manderley
und Eusebia Purcell tot, und die drei anderen in den Kellern. Fiona de Cato selbstredend nicht
in den Kellern, also die drei anderen, die drei letzten, darunter zwangsläufig meine Io. Und
nicht wirklich eine Überraschung, ich wußte es jetzt den sechsten Tag, daß sie aus dem Bedlam abgeholt worden war.
Er betrachtete mich, da ich in diesen Gedanken versank und nicht weitersprach, mit zweifelhafter Miene.
„Ich muß dort hinein“, nahm ich den Faden wieder auf, „um weiteres Unglück zu verhindern.
Und seinerzeit, ich entsinne mich, fanden Sie es, wenn auch schon ‚nicht unbedenklich’, so
doch zumindest nicht unmöglich, dort einzudringen, mein Freund. Mithin, es mag sich die
Atmosphäre im Hause verändert haben, wie Sie sagen, schon allein dadurch, daß drei Frauen
in den Kellern eingekerkert sind, was ein Verbrechen ist, wird sich dort die Atmosphäre verändert haben – natürlich haben Sie recht, soviel konzedier ich Ihnen. Niemand kerkert ungestraft Frauen im Keller ein. Deshalb mögen sie dort Entdeckung fürchten, und Furcht macht
zweifelsohne sehr wachsam und möglicherweise auch bissig, gewalttätig, gefährlich. Gleichwohl – ich weiß nicht, wie Sie es sich damals vorgestellt hätten, Stifel, mich dort hineinzubringen, es hätte auch seinerzeit zweifellos einer gewissen Vorsicht bedurft. Nun denn, wenn
die dort den Grad an Aufmerksamkeit erhöht haben, müssen wir halt den unseren an Vorsicht
steigern – das ist aber auch schon alles, denke ich.“
Er schnaubte, es sollte ein Lachen sein, aber es war keines. Er zog das Bettuch enger um die
bloßen Schultern. „Sie wissen nicht, wovon Sie reden“, sagte er unterdrückt. „Es hat dort immer einen Wachdienst gegeben, ähnlich wie im Tower, Leute, die an den Zäunen und Hecken
entlang patroullierten, und nachts waren stets die Hunde draußen. Aber es wäre vielleicht
möglich gewesen, dennoch hineinzukommen, denn ich gehörte gelegentlich zu jenen, die patroullierten, gewöhnlich tagsüber. Ich hätte beiseite gesehen, wenn Sie zum Beispiel auf der
Ostflanke des Geländes zu verabredeter Zeit über den Zaun gekommen wären, mit ein wenig
Glück wäre es früh morgens neblig gewesen, die Hunde schon wieder im Zwinger, und Sie
hätten bis zum Abend Zeit gehabt, das Anwesen zu beobachten, mit Hilfe der Winke, die ich
Ihnen hätte stecken können, sich anzunähern und einzuschleichen, innen umzutun, was immer
Sie wollten, und zu verschwinden, ehe abends die Hunde wieder herausgelassen werden. Aber
so, wie die Dinge jetzt liegen, Sir, können Sie genausogut zum Hauptportal hereinmarschieren
und eine Blaskapelle mitbringen – entdeckt werden Sie auf jeden Fall, und wenn Sie noch so
heimlich eindrängen. Der Unterschied ist einfach und wirkungsvoll: Es gibt diese menschli224
chen Wachen nicht mehr, verstehen Sie, Sir, ich bin von diesem Dienste abgezogen. Dafür
sind die Hunde immer außerhalb des Zwingers und laufen frei umher.“
„Keine menschlichen Aufpasser?“ fragte ich überrascht. „Aber das ergäbe doch Möglichkeiten …?“
Franklin Stifel schute mich unlustig an.
„Bilden Sie sich nichts ein, Sir“, sagte er. „Es gibt vier, fünf Hundeführer, die sich auf dem
Gelände aufhalten, zumeist in einer kleinen Hütte, unten in der Nähe des Ufers. In unregelmäßigen Abständen streichen sie über’s Gelände, kontrollieren die Hunde und füttern sie.
Jeden anderen, auch mich, würden die Hunde zerfleischen.“
Er lehnte sich vor und zog die Decke mit sich. „Was wollen Sie tun, Sir? Diese zwölf Biester
vergiften? Das ginge nicht lautlos ab und ohne daß die Hundeführer es bemerkten, glauben
Sie mir.“ Er schüttelte träge den Kopf. „Ich weiß nicht, was Sie vorhaben, Sir - vielleicht als
Busch verkleidet den Zaun übersteigen und immer, wenn gerade niemand hinschaut, ein paar
Schritte auf das Haus zu vorrücken?“ Er winkte mit der Hand ab, als verscheuche er eine lästige Fliege. „Diese Bestien werden Sie riechen, Sir, da mögen Sie Essig um sich verschütten,
kübelweise, oder Pfeffer oder Curry in Wagenladungen mitschleppen – sie werden Sie wittern, noch wenn Sie zweihundert Yards außerhalb des äußeren Zaunes sind, und sie werden
einen Höllenalarm daraufhin schlagen.“
„Wie gelangen Sie durch den Garten und an den Hunden vorbei,“ fragte ich, „wenn Sie Ihren
Dienst antreten, Stifel? Lassen Sie sich am Seil von einer Wolke herab, oder nahen Sie sich
wie die Eumeniden unterirdisch?“
Ich sah, daß ihm das zu denken gab, und brauchte nicht lange abzuwarten, bis ich eine ernsthafte Antwort erfuhr. Aber auch seine letzte Replik, die flapsige Bemerkung mit der Wagenladung, hatte mir zu denken gegeben.
„Wir haben dort zwölf Stunden Dienst und wohnen im Gesindetrakt des Hauptgebäudes. Wir
können in unseren freien Stunden, wenn uns der Sinn nach frischer Luft steht, in einen ummauerten Garten treten, in den die Hunde nicht hineinkommen, brauchen jedoch nicht auf das
eigentliche Gelände hinaus. Es war schon früher nicht erlaubt, dort draußen herumzustreunen,
heute ist es tunlich, es zu unterlassen, wegen der Hunde. Gelegentlich, wenn einzelne von uns
das Anwesen für ein, zwei Tage verlassen dürfen, um Verwandte zu besuchen oder Besorgungen zu unternehmen – dies geschieht nach einem festen Plane, Sir, so daß nie mehr als
zwei oder drei der Diener gleichzeitig dort fehlen – so finden wir uns in der Fleischküche im
Hause ein und wenn wir zurückkommen, vor dem Tor. Wir werden dann von einem der Hundeführer vom Haus zum Tor oder vom Tor zum Hause geleitet. Die Hunde, die uns auf diesem Weg erspähen, kommen zwar herangehetzt, aber sie gehorchen den Führern und tun uns
nichts.“
„Ich könnte mich statt Ihrer dort hinbegeben“, schlug ich vor. „Sie leihen mir Ihre Livree, ihre
Uniform.“
Er starrte mich ungläubig an. Sein Blick prüfte, ob ich es ernst meinte. „Sir, wenn Sie glauben
sollten, es fiele niemandem auf, wenn morgen früh Sie sich dort statt meiner hineingeleiten
lassen, so täuschen Sie sich immens. Wir kennen uns dort untereinander von Angesicht. Wir
kennen auch die Hundeführer und die kennen uns. Ein Fremder fiele auf wie … wie …“ Ihm
fehlte der Vergleich.
„Nun“, sagte ich ungeduldig. „Das habe ich mir gedacht. Ich hatte auch nicht vor, mich für
Sie auszugeben, Sie müssen mich nicht für so ungeschickt halten. Aber könnte es nicht sein,
daß Sie erkrankt sind, daß Sie mich statt Ihrer vorübergehend dort hingeschickt haben, damit
Ihre Stelle nicht ausfällt, Ihre Arbeit getan wird.“
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„Sir!“ fiel er mir ins Wort, „das ist ganz und gar unmöglich! Nein! Bewahre! Wie immer Sie
dort eindringen wollen, Sir, und wann immer es geschehen sollte, es dürfte nicht offenbar
werden, daß ich damit zu tun habe, verzeihen Sie mir wohl, auf keinen Fall! Mein Name,
meine Person müssen dort heraußen bleiben, denn ich mag meine Arbeit nicht verlieren - abgesehen von dem, was Sie da anrichten werden, nach dem, was Sie schon angerichtet haben nein, ich habe partout keinen Spaß daran, Sir, mich der Rache dieses Menschen zu versichern
…!!“
Er sprach von seinem Herrn, Sir Enid – und irgendwo konnte ich ihn sogar verstehen. Was
hatte er mit meiner Geschichte zu schaffen oder einem Mädchen, das ich bei mir Io genannt?!
Was war mein kleines Silberstücklein gegenüber dem Rest seiner Tage! Trotz des Reichtums,
den ich bei mir trug – hier war Sir Enid Luciter der unumschränkte Sieger, auf diesem Felde
war er nicht zu schlagen, und alles Geld, was ich besaß, hätte nicht dazu hergereicht, ihm einen Menschen wie Franklin Stifel wirklich abzukaufen. Er hatte, ich besann mich, in diesem
Sinne damals schon sehr höhnisch zu mir gesprochen, auf jenem Abend, an dem alles begonnen, dort in dem fürchterlichen Salon mit den Dünsten und den roten Ampeln.
Ich biß mir auf die Lippen, nahm dann endlich das Stichwort auf, das mir die von ihm zuvor
leichtfertig erwähnten Wagenladungen verschafft. „Was ist mit Lieferanten?“ fragte ich ihn.
„Ein Anwesen dieser Größe muß versorgt werden, und sei es nur das Personal, das dort verpflegt werden muß, und die Hunde. Es wird Fleischlieferungen geben dorthin, Stifel, Gemüse,
Brot, Milch, Tee, Tabak, Champagner, was weiß ich. Wer bringt das, und wie? Ich meine, es
wird Wege geben, daß nicht jeder Lieferant gleich von den Hunden zerfleischt wird.“
Ich sah, wie meine Einwendung ihn nachsinnen machte – und zum ersten Male nickte er langsam.
„Wenn dergleichen Lieferungen kommen“, sprach er, „ist es häufig sogar so, daß die Hunde
solange weggesperrt werden. Wenn der Bäcker kommt, nicht, das geht schnell, aber wenn
Fässer abgeladen werden oder Kalbshälften. Natürlich würde es funktionieren wie beim Austausch des Personals, solange die Wächter danebenstehen, knurren die Hunde zwar, aber tun
nichts. Aber es verhält sich so, daß in diesen Fällen es den Wächtern durchaus zu dumm ist,
solange daneben zu stehen, und so kommt es vor, daß dann die Hunde weggeschlossen werden. Wenn Fleisch kommt, vielleicht auch wegen des Fleisches selbst, ich weiß es nicht,
möglicherweise ließen sie sich da nicht so einfach bändigen …“ Er versank in Betrachtungen
und schwieg.
„Und?“ fragte ich nach einer Weile, in der ich mir selbst die albernsten Gedanken gemacht,
ob es nicht am Ende möglich sei, mich etwa in einem leeren Faß oder einer Schweinehälfte zu
verbergen und dort „anliefern“ zu lassen.
„Ich kenne einen von den Gesellen des Fleischers“, sprach Franklin Stifel nachdenklich.
„Wenn Sie ihm ebenfalls ein Silberstück gäben, vielleicht wäre er bereit, sich von Ihnen vertreten zu lassen, wie Sie es vorhin mir vorschlugen – wenngleich … auch er würde nicht
gerne seine Arbeit verlieren, wahrscheinlich müßte man seinen Herrn einweihen – noch ein
Silberstück, ein größeres – und ich weiß wahrhaftig nicht, Sir, wie Sie von dort wieder herunterkommen wollen. Abgesehen von … wie soll das gehen? Sie fahren dort vor. Sie helfen
abladen. In der knappen Zeit und nebenher werden Sie ihr Anliegen nicht erledigen können.
Also, begreife ich Sie wohl, wollen Sie vorübergehend auf Morass Manor bleiben. Nun Sir,
und ich frage, wie soll das gehen? Wie stellen Sie sich das vor? Glauben Sie allen Ernstes, es
fällt niemandem dort auf, wenn der Fleischer zwar mit zwei Gesellen vorfährt, abläd, aber nur
mit einem das Anwesen wieder verläßt? Wenn es zweiundzwanzig Gesellen wären, aber es
sind zwei, Sir, manchmal ist es nur einer.“
„Und wenn jemand anders statt meiner mit hinausfährt?“ fragte ich. „Sie zum Beispiel?“
226
Einen Moment schwieg er verblüfft, lächelte dann leicht und wie mir schien, fast bewundernd, darauf jedoch schüttelte er den Kopf. „Abermals, Sir, Sie verkennen die Lage. Ich
sagte es Ihnen, man kennt sich dort von Angesicht zu Angesicht, ein solcher Betrug würde
ohne jeden Zweifel auffallen. Selbst mit Masken oder Verkleidungen, daß es so aussieht, als
führe derselbe hinein und hinaus …“ er breitete für den Moment lächelnd die Hände aus, so
daß die Bettdecke etwas herabrutschte, „und ich habe auch keinen Zwillingsbruder, Sir. Ich
denke, derlei Tand funktioniert sowieso nur auf dem Theater - mit Verlaub.“
„Ich habe nicht an derlei Verkleidungen oder Doppelgänger gedacht“, sagte ich steif. Im
Hinterkopf wurde ich jedoch nicht einmal den lächerlichen Gedanken an das Versteck im
Weinfaß ganz los. Es mußte doch einen Weg dort hinein geben, fluchte ich im Stillen bei mir,
schließlich war das nicht die Schatzkammer mit den Kronjuwelen!
„Abgesehen von … verzeihen Sie, Sir“, sprach er. „Denken Sie andersherum. Nehmen wir an,
Sie sind auf wunderbare Weise dort hineingelangt. Nun, Sir: Wie lange wollen Sie sich dort
aufhalten und unentdeckt bleiben? Und wie überhaupt wollen Sie irgendwann wieder hinaus –
gleichermaßen unentdeckt? Wenn Sie auf den nächsten Besuch des Fleischers warten, müssen
Sie sich einen vollen Monat in Geduld üben.“
Ich dachte daran, dass es noch komplizierter war, als er annahm, denn ich wollte ja nicht allein dort hinaus …
„Die Frauen sind im Keller gefangen“, sagte ich. „Was heißt das? - Sind Sie dort eingeschlossen?“
„Nun, was glauben Sie wohl?“ meinte er spöttisch.
„Ich meine, sind sie in einem kleineren Raum, einem Verließ, einem Gelaß, und ist das abgeschlossen, oder ist der Keller als solcher und als Ganzes abgeschlossen? Gibt es mehrere Zugänge dorthin, Zugänge in den Keller, Zugänge in dieses Gelaß. Gibt es Zugänge von außen,
eine Rutsche für Weinfässer meinethalben. Hat das Gelaß Fenster? Was meinen Sie? Besitzen
Sie Papier und Feder und könnten mir einen Plan der Keller des Anwesens aufzeichnen?“
Statt einer Antwort starrte er mich eine Zeitlang wortlos an. Dann stand er auf, ließ die Bettdecke herabgleiten, griff sich ein Hemd, das über einer Stuhllehne hing, warf sich dieses über,
verschloß es nachlässig und zog sich den nämlichen Stuhl an die Anrichte heran, auf der das
Silberstück lag, das er keines Blickes würdigte. Er öffnete eine Schublade der Anrichte, nahm
einen Bogen Papiers und einen Bleistift heraus, und während der nächsten Minute sah ich ihm
beim Zeichnen zu. Ich meinerseits stand auf und zog meinen Stuhl neben den seinen. Als er
fertig war, schob er mir das Blatt hin. Natürlich konnte ich nichts darüber sagen, wie sich das
Verhältnis der Wirklichkeit in Morass Manor zu dieser Zeichnung verhalten mochte, aber was
ich erblickte, schien mir nicht ungeschickt hergestellt. Ich sah es mir an. Er hatte nicht nur den
Keller skizziert, sondern drumherum einiges, daß ich mich orientieren konnte, zum Beispiel
am Rande des Blattes den Verlauf der Themse.
Er deutete mit dem Stift. „Dies hier sind die Räume, in denen die drei Frauen gehalten werden“, erklärte er und wies auf vier miteinander verbundene kleine Quadrate, die demnach an
der Nordost-Ecke des Gebäudes lagen. „Hier können sie schlafen, sie können sogar getrennt
voneinander schlafen, in unterschiedlichen Räumen, wenn sie das wollen, es gibt Türen zwischen den Räumen, aber soweit ich gehört habe, tun sie das nicht. Vom Rest des Kellers gibt
es nur einen Zugang in diesen Bereich - hier.“
Er zeigte mit dem Stift auf eine Barriere, die er eingezeichnet hatte, offenbar eine schwere
Tür, die, ich brauchte nicht danach zu fragen, natürlich abgeschlossen oder verriegelt war.
Diese Tür schloß eine Art Korridor ab, der rechtwinklig von einem zentralen Gang ausging,
welcher auf seine Länge einmal durch das Gebäude lief, an der Westseite nach Süden umbog
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und an der Südwestecke, diagonal dem Kerkerbereich der Mädchen gegenübergelegen, auf
eine Treppe nach oben ins Haus zu münden schien, wenn ich die Zeichnung recht deutete.
Stifel tippte wieder auf die Gelasse der Mädchen. „Hier ist eine Waschgelegenheit, einen Abfluß gibt es nicht, das Wasser muß hinein- und hinausgetragen werden. Keiner der Räume hat
Fenster, weil dieser Teil des Kellers komplett unter dem Erdboden liegt. Deshalb gibt es auch
keine Abflußrohre, das Gefälle würde nicht ausreichen, nur oben im Haus gibt es Abflüsse,
deren Rohre direkt hinunterführen zur Themse.“
„Abflußrohre?“ unterbrach ich interessiert. „Könnte man dort vom Haus aus zur Themse hindurchkriechen?“
Er schenkte mir einen kurzen Seitenblick, als hätte ich ihn gefragt, ob er in gerade Linie mit
dem Königshaus verwandt sei, und bedachte mich dann mit der unfreundlichen Antwort:
„Gewiß, Sir, wenn Sie eine Ratte sind.“
Ich sagte darauf nichts, nickte nur.
Er tippte wieder auf das Papier, nicht allzu weit von der eingezeichneten Treppe nach oben
entfernt, dort befanden sich größere Räumlichkeiten, die ebenfalls mit dem zentralen Gang
verbunden waren. „Hier haben Sie den Weinkeller, Sir, mit der Rutsche von außen für die
Fasser, nach der Sie fragten.“
Ich sah mir das Labyrinth näher an. In die Weinkeller, die sich bis an die Nordwestecke des
Hauses erstreckten, gab es also von der Westseite eine Rutsche von draußen, die bestimmt mit
einer Klappe versehen und verschlossen war. Gesetzt den Fall, man wäre trotz der Hunde irgendwie durch das Gelände gelangt und man hatte sich der Schlüssel versichern können, die
diese Rutsche öffnete, so konnte man dort eindringen, mutmaßte ich. Allerdings: Man kam
diese Rutsche sicher hinunter, grübelte ich, aber ebenso sicher nicht hinauf, zumal, falls man
ein junges Mädchen war.
„Wohin führt diese Treppe?“ fragte ich und zeigte darauf.
Er lächelte. „Vergessen Sie diese Treppe, Sir – sie führt direkt auf einen Korridor vor den
privaten Gemächern von Sir Enid. Falls Sie Sir Enid wirklich persönlich begegnen wollen, so
ist diese Treppe beziehungsweise der Korridor darüber wirklich der ideale Ort.“
„Nun“, sagte ich, „gibt es nur diese eine Trepppe nach oben? Es ist ein großes Haus. Wenn
Sie, die Dienerschaft, in den Keller muß, wimmeln Sie da alle über den Korridor vor dem
Zimmer Ihres Herrn? Wenn Sie Ihrem Herrn Wein bringen, denn das wird er vermutlich nicht
selber besorgen, wenn die Köchin in den Keller eilt, um Fleisch und Gemüse zu holen, wenn
Waschtag ist oder was weiß ich, bewegt sich das dann alles unmittelbar vor den Zimmern des
Besitzers? Dann möchte ich dieser Mann nicht sein. Dann könnte er gleich sein Lager in der
Mitte von Piccadilly Circus aufschlagen.“
Franklin Stifel lächelte nicht mehr, er nickte bedächtig. „Sie haben recht, Sir“, sagte er. Er
tippte auf den Bereich zwischen dem Weinkeller und dem Gefängnis. „Hierüber liegen der
Dienstbotenbereich und auch die Küche. Das Waschhaus ist außerhalb. Vom Dienstbotenbereich gibt es eine weitere Treppe hinab, diese hier.“ Er zeigte auf einen sonderbaren Kringel,
und nun ward mir klar, daß dies eine Wendeltreppe sein sollte.
„Augenblick“, faßte ich nach. „Es gibt einen Zugang zum Keller direkt vom Dienstbotenbereich? Ist dieser Zugang gewöhnlich offen oder braucht es einen Schlüssel?“ Ich korrigierte
mich und zeigte den Weg auf der Zeichnung, den ich meinte. „Wieviele Türen insgesamt beziehungsweise Schlüssel braucht es vom Dienstbotenbereich bis in das Gefängnis der Mädchen?“
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Er folgte mit den Augen meinem Finger, seine Lippen bewegten sich, als er im Geiste zählte.
„Drei, Sir, nein, Verzeihung, vier. Hier ist die Türe in der Küche, die den Keller abschließt,
vom Dienstrakt aus gesehen. Sie gehen die Treppe hinunter, geradeaus bis zum zentralen
Gang, wo Sie auch rechts zum Weinkeller kommen. Der zentrale Gang ist zumeist abgeschlossen, manchmal nicht, sicherheitshalber sollte man den Schlüssel haben. Dann den zentralen Gang hinunter, bis zu dem Gang, der zu dem Mädchengefängnis abzweigt. Diese Türe
ist bestimmt verschlossen, und auch der Kerker selbst hat mehrere Schlösser, drei, soweit ich
weiß. Soweit ich weiß, wurden hier früher Schießpulver und Munition gelagert.“
„Wenn ich recht gezählt habe, sind dies sechs Schlüssel“, fragte ich schwach.
„Dazu den Schlüssel zu der Gartenpforte, Sir“, sagte er, „und falls der Diensttrakt von außen
verschlossen ist, auch der Schlüssel zu diesem, also acht, Sir, insgesamt acht.“
„Augenblick“, sprach ich fest, obwohl in diesen Sekunden mein Zutrauen in meinen Plan im
absoluten Schwinden begriffen war. „Noch einmal zum Mitdenken, wie habe ich mir das
Ganze vorzustellen? Gartenpforte – Sie sagen Gartenpforte. Sprechen wir von dem ummauerten Garten, den Sie vorhin erwähnten?“
„Ganz recht, Sir.“
„Aha, nun wohl, mir klar. Die Dienerschaft hat diesen Garten sozusagen als privaten Bereich
zur Verfügung. Und wenn sie kommt und geht, was selten genug der Fall ist, geht sie nicht
durch den herrschaftlichen Teil des Hauses, sondern durch diesen Garten, und deshalb gibt es
eine Pforte in der Mauer zwischen diesem abgeteilten Garten und dem äußeren Gebiet, dem
eigentlichen Grund und Boden des Anwesens, auf oder in dem die Hunde sich frei bewegen?“
„Das ist richtig, Sir.“
„Gut, andersherum gesehen: Ich komme von außen, muß irgendwie den sehr hohen Zaun an
der Grundstücksgrenze überwinden, mich über eine freie Fläche bewegen, wo die Hunde
blutgierig lauern und stehe dann vor einer Mauer, die ein Gärtchen umschließt, in welches ich
hineinmuß, um von dort in den Dienstbotenbereich zu gelangen. Richtig?“
„Jawohl, Sir.“
„Und dieses Mäuerchen zu überklettern, dürfte mir nicht gelingen?“
„Nicht ohne Hilfsmittel, Sir, die Mauer dürfte an die zehn Fuß hoch sein und auf der Krone
stecken Glassplitter.“
„Nun befindet sich aber eine Pforte in dieser Mauer, durch die Sie, die Dienerschaft, kommen
und gehen, wenn Sie denn gelegentlich kommen und gehen.“
„Ein großer Bogen mit einem Gitter darin, Sir, durch das auch die Karren hineinrollen, die die
Vorräte bringen.“
„Was mich dem Problem aussetzt, daß die Hunde gerade dann nicht da sind, wenn eine größere Lieferung, beispielsweise Wein oder Fleisch, kommt. Nur dann ist die innere Pforte offen, nur dann könnte ich dort hineinschlüpfen, aber gerade dann wird sich dort auch der Fokus
der Aufmerksamkeit abspielen.“
„So ist es, Sir.“
„Wer hat die Schlüssel zu dieser Pforte, falls ich außerhalb der offiziellen Lieferzeit komme?“
„Dann sind die Hunde im Garten, Sir, denken Sie daran.“
„Ich denke daran, dennoch, wer hat die Schlüssel?“
„Mrs. Danray.“
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„Und wie könnte ich sie mir verbinden?“
Er lächelte. „Verbinden, Sir? Was meinen Sie? Mrs. Danray können Sie sich nicht verbinden.
Sie ist alt, häßlich, hat die allgemeine Schlüsselgewalt im Hause, aber sie ist ein Teufel in
Menschengestalt. Nichts und niemand kann oder wird sie Ihnen oder Ihrer Sache verbinden.“
„Also vergessen wir dieses Tor und die Lieferung; bleibt nur der Weg bei Nacht über die
Mauer.“
„Die Hunde, Sir, die Hunde. Der Außenzaun, die Hunde und die innere Mauer. Und Sie brauchen mindestens Seile und Decken, um über letztere hinüberzugelangen, und bis Sie auf der
Krone sind, haben die Hunde Sie längst getötet. Abgesehen davon, selbst wenn Sie hinübergelangten, und ich wüßte nicht, wie das gehen sollte: Seile und Decken würde man anschließend finden, solange Sie im Hause sind.“
„Es sollten sich mir fuglich Möglichkeiten und Wege erschließen“, sagte ich heftig, „ein paar
Seile und Decken zu verstecken, wenn es mir selbst doch gelingt, mich im Haus zu verbergen.“
Er blickte mich an, als hätte ich ihm soeben meine Absicht eröffnet, zur Belustigung des Volkes freihändig auf der Kuppel von St. Pauls hundert Saltos zu schlagen. Er schwieg.
„Vom Garten in den Dienstbotenbereich, die Tür“, fragte ich, ist sie abgeschlossen?“
„Tags nicht, nachts wohl“, gab er mürrisch Auskunft.
„Nun, tags, das haben wir hinlänglich festgestellt, tags wird mein Kommen nicht möglich
sein“, sagte ich mit einiger Bitterkeit. „Also nachts - ergo: Wer hat den Schlüssel?“
Er sah mich an, und ich wußte sofort die Antwort. Ich seufzte. Mühsam unterdrückte ich einen Fluch. Es ging hier wirklich wie mit dem Satan zu. Ich dachte nach.
„Sie erwähnten vorhin ein Waschhaus“, sagte ich schließlich, „das sich außerhalb des Hauptgebäudekomplexes befinde. Wo ist es?“
Er zeigte mit dem Stift auf seine Zeichnung. Es lag nordwestlich vom Hauptgebäude und näher zur Themse.
„Und wie weit weg etwa om Haus?“
Er zuckte die Schultern. „Hundert Yards, etwas mehr, etwas weniger, ich weiß nicht, Sir.“
„Und was gibt es dort?“ fragte ich.
„Was meinen Sie, Sir?“ gab er verblüfft zurück. „Es ist ein Waschhaus, im Grunde ein recht
großer, leerer Raum, einige Wände, einige offene Luken im Dach, nichts sonst.“
„Die notorische Frage, Stifel“, sagte ich langsam. „Ist es abgeschlossen, und wenn ja, wer hat
den Schlüssel?“
Sein Blick wurde plötzlich aufmerksamer als zuvor. Ich sah ihm seine Überraschung an. „Es
ist nicht abgeschlossen, Sir“, sagte er bedächtig. „Warum sollte es abgeschlossen sein? Da ist
nichts , absolut nichts …“
Eine Pause trat ein, in der ich meinen Gedanken nachging, und er mich mit sonderbarer Neugier betrachtete.
„Wenn ich recht verstanden habe“, hub ich schließlich vorsichtig wieder an, „sagten Sie, daß
die Vorräte ebenfalls in diesen ummauerten Garten beim Haus geliefert werden?“
„Gewiß“, äußerte er, hob indes fragend die Augenbrauen, hatten wir doch die Frage, ob ich
mit einer „Lieferung“ kommen könne, hinlänglich und leider abschlägig geklärt. „Die Vorräte
werden in diesen Garten geliefert. Ja, das ist richtig, Sir.“
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„Das heißt, wenn ich Sie recht verstehe“, fragte ich, „daß sich besagte Weinrutsche ebenfalls
innerhalb des umzäunten Gartens befinden muß.“
„Ja, Sir, ja – auch das ist wahr.“ Er zwinkerte mit den Augen.
„Und wer hat die Schlüssel zu dieser vermaledeiten Klappe? Und wagen Sie jetzt ja nicht,
‚Mrs. Danray’ zu sagen …!“
Er blickte mich sonderbar an. Nach einem Moment, der mir wie ein halbes Jahr vorkam,
sprach er: „Diese Klappe ist nicht abgeschlossen, Sir …“ – und ich spürte, wie mein Herz
einen Schlag tat.
Eine neue Pause senkte sich danach zwischen uns nieder, eine Pause, in der ich Atem
schöpfte.
„Nun gut“, sprach ich nach einiger Zeit und versuchte, den Aufruhr, der in mir tobte, nicht in
meiner Stimme hörbar werden zu lassen. „Setzen wir einmal den unglaublichen Fall, daß es
mir gelungen ist, bis in den Weinkeller vorzudringen. Wer läßt mich dann aus dem Weinkeller heraus, denn ich nehme doch an, daß Sir Enid seine Vorräte unter Verschluß hält. Sonst
könnte jeder aus dem Dienstbotentrakt dort hinunterlaufen und sich selbst bedienen.“
„Mrs. Danray hat die Schlüssel, selbstverständlich, Sir“, sagte Franklin Stifel, „sie hat die
Schlüssel zu jeder Tür in Morass Manor“, er blickte mich aus dem Augenwinkel an, und es
war fast etwas wie Schalk in seinem Auge, schien mir, und als er sah, wie ich auffuhr, setzte
er sehr schnell hinzu: „Aber zum Weinkeller, Sir, hat auch der Sommelier einen Schlüssel,
und das ist Patrick, Sir, und Patrick schläft mit mir im gleichen Raum.“
Ich ließ diese Mitteilung gebührend auf mich wirken. Ich sagte nichts. Es war schließlich
Franklin Stifel, der weitersprach.
„Sir“, sprach er langsam. „Sollte es Ihnen gelingen, bis in den Weinkeller vorzudringen, so
denke ich, daß ich alles für Sie tun kann, dessen Sie benötigen. Ich könnte mir die Schlüssel
verschaffen, die man braucht, um bis in das Gefängnis vorzudringen, die Schlüssel oder Abdrücke davon, sofern Sie mir nur genügend Zeit dazu geben. Sie könnten mit diesen Frauen
reden, und es sollte möglich sein, wenn Sie danach ebenso unauffällig verschwinden, wie Sie
gekommen sind, daß diese Sache unter uns beiden bleibt, Sir. Ich sollte die Schlüssel, die ich
mir verschaffen muß, wieder zurücklegen können, ohne daß jemand etwas bemerkt, und so
mag es am Ende alles gut ausgehen, für Sie wie für mich. Aber ich muß Sie dringend, dringend bitten, wenn Sie mich und sich selbst nicht ins Unglück stürzen wollen, Sir, sich unbedingt an diese Verabredung zu halten … und nicht etwa … irgendwelchen anderen Unsinn zu
betreiben.“
Ich versuchte, während er dies sprach, ausdruckslos auszusehen wie ein Stein, mir nichts anmerken zu lassen von dem, was in mir vorging. „Ich weiß wahrhaftig nicht“, sagte ich fest,
„was Sie meinen. Ich will nur mit ihnen reden …“
Er schauerte an meiner Seite plötzlich fröstelnd zusammen, erhob sich, setzte sich wieder auf
das Bett und legte trotz des Hemdes, das er nun trug, die Decke um seine Schultern. Er wirkte
kleiner als zuvor, als er dort saß, und geradezu eingefallen.
„Drei Mädchen sind tot“, flüsterte er.
Ich erhob mich und legte die ausgestreckte Fingerspitze auf das Silberstück auf der Anrichte,
schob es ein wenig hin und her.
„Jetzt müssen wir die Details besprechen, Mr. Stifel“, sagte ich. „Aber ich denke, Sie werden
sich dies hier rechtschaffen verdienen. Diese gefangenen Mädchen sind es wert, verstehen
Sie?“
231
Er saß auf dem Bett und fröstelte trotz der Decke um seine Schultern. Es war unterdessen weit
hinweg über die Mittagszeit, und das trübe Tageslicht hinter der Dachluke ließ langsam nach.
Ich zog mir den Stuhl zum Bett und ließ mich wieder bei ihm nieder.
„Wann“, fragte ich, „kehren Sie nach Morass Manor zurück, Mr. Stifel?“
.....
In vorbezeichneter Weise, geneigter Leser, führten Franklin Stifel und ich unsere Unterredung
noch geraume Zeit fort, wiewohl ich Dir die Einzelheiten dazu hier versparen mag. Allzu viel
war zu bedenken und zu kalkulieren, das Tageslicht hinter jener Luke in den Sparren des Daches fiel und schwand, und es war früher Winterabend, als ich endlich glaubte, alles Notwendige mit ausreichender Sicherheit erwogen und geprüft zu haben. Franklin Stifel hatte zuletzt
das Silberstück wieder unter den Dielen seiner Kemenate versteckt, und uns beide einte, während er damit beschäftigt war, das Gefühl, daß er sich seinen Lohn rechtschaffen erarbeiten
würde - beziehungsweise dies zu einem großen Stück bereits getan.
Dann, auf meine Bitte, kleidete er sich an und begleitete mich, als ich aufstand, um das Haus
in der Frith Street zu verlassen, er sprach ein, zwei nichtssagende, wenngleich Erklärung vorgebende Worte zu seiner Tante, ich nahm ihn mit und wir schritten hinüber zum weitläufigen
Soho Square und kehrten dort im Fauconberg House auf einen Abendimbiß ein. Viele der
Gäste waren Franzosen, die zuhauf in dem Viertel lebten, und einen Augenblick lang hoffte
ich auf ein Wiedersehen mit Ambroise Tardieu, aber diese Hoffnung war natürlich eitel Trug.
Franklin Stifel und ich hockten uns an einem Tisch im hellen Lichte nieder und plauderten
vertraut miteinander, tranken wohl auch ein erkleckliches Quantum dazu, was ich eigentlich
nicht gewöhnt bin.
Am Ende beglich ich unsere Zeche mit dem einen meiner Guinneas, mit dem ich schon mein
Mittagsmahl im ‚Spaniard’ bezahlt, und schob ihm dann den Rest davon hinüber, immer noch
eine ordentliche Anzahl Schillinge, die er zunächst ablehnte, aber ich nötigte ihn dazu, sie zu
behalten, denn es war in unserer Planung offenbar geworden, dass auch er noch etliche Ausgaben in unserer Sache haben würde.
Ganz recht, teurer Leser, ich hatte an diesem ersten einzigen Tag meines neuen Abenteuers,
das mich nach Morass Manor hineinführen sollte, wenn denn alles gelang wie erwünscht, den
Luxus oder die Leichtfertigkeit besessen, bereits ein Fünftel meines Burkittschen Vermögens
ausgegeben, aber es war mir wichtig, so unendlich wichtig, daß ich mich auf Franklin Stifel
und die Leute, die er mit hineinziehen mußte, würde gänzlich verlassen können, und so schieden wir denn zu recht später Nachstunde unter den Laternen des Soho Square nicht nur als
einige Handelspartner, sondern, schien mir, gar als etwas wie Freunde.
Die nächste Zeit allerdings, die Tage und schließlich die weitere halbe Woche, die verstreichen mußte, bevor die Dinge in Bewegung geraten konnten, war für mich die grausamste aller
denkbaren Foltern. Nein, nein, geschätzter Leser, ich drücke mich falsch aus, die Dinge,
hoffte ich, waren durchaus in Bewegung, ich hatte dieses Uhrwerk in Gang gesetzt, aber da
ich dies nicht unmittelbar wahrnehmen und nur hoffen konnte, daß es sich so verhielt, litt ich
höllische Qualen um meine Io und die Sicherheit ihres Lebens, Torturen, die ich im Grunde
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nicht zu schildern vermag. Des Nachts lag ich wach, des Tages verstrickte ich mich in sinnlose Betätigungen, die letztlich nur den Zweck erfüllen sollten, meine Zeit zu füllen und meinen Kopf zu leeren …
Samstag, den 8. November, hatte ich mit Franklin Stifel in der Frith Street geredet. Den
Sonntag lief ich nach Norden hoch zur City Road in Finsbury, den umgekehrten Weg, den ich
im Morgengrauen getan, als das Fieber mich befallen. Der Anblick des grauen Schulhauses an
der Seite der Bunhill Fields im trüben Tageslicht flößte mir unaussprechliches Grauen ein,
und ich fragte mich, ob die entseelten, geschändeten Körper von Asunción Lozano und Eusebia Purcell sich noch darin befänden. Ich läutete und klopfte an dem Gehöft gegenüber und
lief darum herum, aber weder Noah Whelmsley noch Bo Swensson noch einer der zahlreichen
Bediensteten ließ sich blicken, und das Anwesen lag wie tot.
Also marschierte ich wieder los, packte, als ich die Felder von Clerkenwell überquerte, das
von Mrs. Hamlet bereitete Brot aus und verzehrte es im Gehen. Eine Stunde später strich ich
den Regent’s Canal hinauf und beobachtete aus der Entfernung das Haus Fiona de Catos, aber
nichts regte sich auch dort. Sie war nicht daheim, natürlich nicht, und ich versank in trübe
Gedanken über meinen Freund Seb.
Auf dem Heimweg tat ich etwas, das ich in letzter Zeit sehr selten getan. Es war schließlich
Sonntag, so ergab es sich, aber als ich an der Church of The Holy Sepulchre Without Newgate
vorbeikam, deren Glocken gerade zur Abendmesse riefen, schlüpfte ich hinein und bekam
noch einen Platz nahe der St. Stephen Harding gewidmeten nördlichen Kapelle. Ich bekenne,
daß ich im Geiste kaum der Zeremonie folgte, aber bei mir selbst im Inneren versunken war in
dringendstes, innigstes Gebet. Noch später, nach der Messe, blieb ich in der nun geleerten
Kirche sitzen, bis mich schaudernd fror, und schaute blicklos zu jener zugemauerten Pforte
hinüber, die über einen unterirdischen Tunnel einst diesen Raum mit dem Newgate-Gefängnis
verbunden.
Sonderbar spielte der Zufall, daß ich auf meinem Wege gerade hier vorbeigekommen. Ich
sandte meine Blicke zu der zugemauerten Pforte und entsann mich des recht grauenvollen
Brauchs, welchen vormals Robert Dowe eingeführt und der mir die rätselhaftesten Bezüge zu
meinem eigenen jüngeren Erleben aufzuweisen schien. Es verhielt sich damals nämlich so,
daß in jeder Nacht vor einer Hinrichtung ein „bellman“ von hier aus durch jenen Tunnel in die
Kerker hinübergeschickt worden war, welcher eine Handglocke anschlug, zu deren Ton er die
Verse zu rezitieren hatte 2:
„All you that in the condemned hold do lie
Prepare you for tomorrow you will die.
Watch out an prepare the hour is drawing near
That you before the Almighty must appear.
Examine well yourselves. In time repent
That you may not to eternal flames be sent.
And when Sepulchre’s bell tomorrow tolls
The Lord may have mercy on your souls.”
2
Etwa: All Ihr, die Ihr im Verlies der Verdammten liegt,
Bereitet Euch vor, denn morgen müßt Ihr sterben.
Wacht und betet, denn die Stunde naht,
Daß Ihr vor dem Allmächtigen steht.
Prüft Euch selbst, bereut beizeiten,
Auf daß Ihr nicht den ewigen Flammen überantwortet werdet,
Und wenn St. Sepulchres Glocke morgen früh schlägt,
Möge sich der Herr Eurer Seelen erbarmen.
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Die letzten beiden schrecklichen Zeilen wurden direkt durch das Schlüsselloch der Zelle zu
dem Verdammten hineingebrüllt. Am Morgen dann gab die Glocke von Bailey, die zu jener
Zeit noch im Turme von St. Sepulchre hing, in ernster Tonlage das Signal, den Verurteilten
aus der Zelle zu holen. Dann wurde er durch den Tunnel geführt, und dort herüben, an der vor
weniger als hundert Jahren vermauerten Tür, wurde ihm zur Einleitung des nachfolgenden
Ereignisses zunächst sein eigenes, von der Gemeinde gestiftetes Grabgebinde überreicht.
Ich erreichte Mrs. Hamlets Klause an diesem Sonntag abend so spät, war den ganzen Tag über
aus gewesen, daß sie abermals bereits in helle Sorge über mich verfallen war, wofür ich, soweit es meine Müdigkeit nur irgend zuließ, sie in warmen Worten um Verzeihung bat.
Am nächsten Morgen, dem Montag, sprach ich im ‚Monthly Mercury’ vor, zumal am 15. des
Monats, das hieß im Laufe noch dieser Woche, wie ich Dir, treuer Leser, an anderer Stelle
bereits berichtet, üblicherweise die nächste Ausgabe unseres Blattes anstand, und erkundigte
mich dort, ob man meiner Hilfe bedürfe. Finlay Burkitt ließ mich zu sich rufen, ich stattete
ihm meinen tiefempfundenen Dank hinsichtlich der großzügigen und durchaus unüblichen
finanziellen Unterstützung ab, was er sich zwar mit ungnädiger Miene anhörte, aber so, als
stehle ich ihm nur die kostbare Zeit, anschließend schickte er mich nach Hause mit dem Hinweis, daß er sich künftiger schriftlicher Nachrichten an mich wohl versparen könne, wenn ich
diese, wie es hier offenbar werde, ja sichtlich doch nicht lese. Ich verneigte mich tief beschämt und trollte mich unverrichteter Dinge aus der Fleet Street.
Sofern dieses mein Herumlaufen quer durch die Stadt in jenen Tagen irgendetwas Positives
bewirkte, wo ich in Gasthäusern, die ich nie zuvor betreten und von deren Existenz ich nichts
gewußt, Mahlzeiten verzehrte und dabei unweigerlich in finstere Betrachtungen versank, oder
meine von Mrs. Hamlet bereiteten Brote irgendeines grauen Nachmittags, dem Treiben der
offenen Straße ausgesetzt, mich gänzlich heimatlos fühlend und an die Ecke irgendeines Gebäudes gelehnt, verspeiste, so mag es bestenfalls die Tatsache sein, daß nach meiner überstandenen Krankheit durch den Ablauf solcher Gepflogenheiten die Kräfte und notwendigen
Lebenssäfte, um das Künftige, Schreckliche vielleicht doch heil zu überstehen, langsam in
meinen Körper zurückzukehren schienen. Ja, ich saß in den Wirtshäusern unseres großen
London, ich spazierte fieberhaft hierhin und dorthin – im Grunde jedoch betäubte ich nur
mein unerträgliches, notwendiges Warten.
Den Montag, jenen, da ich im ‚Monthly Mercury’ vorgesprochen, wußte ich, nein, hoffte ich,
war Franklin Stifel in seine übliche Anstellung auf Morass Manor zurückgekehrt. Ich sah es
im Geiste vor mir, wie er und die anderen Abgelösten des grauen, nebligen Morgens auf das
Grundstück gelassen wurden, während die Wächter die Hunde im Zaume hielten, wie sie, die
Diener, hinüberliefen, wo Mrs. Danray für sie die Pforte im ummauerten Garten geöffnet
hielt. Franklin Stifel … Ja, ich hoffte, daß er sich seiner zusätzlichen Aufgaben bewußt blieb
und ihrer brav gewahr wurde, all dessen, was - alles in allem kompliziert genug - wir in seiner
Kammer besprochen.
Es galt einen anderen Diener, Steven Grains mit Namen, der dort arbeitete und den ich nicht
kannte, zu überzeugen, nein, zu bestechen, bei unserer Sache mitzutun. Franklin Stifel hatte
überlegt und war auf ihn verfallen - aus zwei Gründen. Erstens wurde dieser Mensch gewöhnlich Mitte der Woche, mittwochs oder donnerstags, abgelöst, das heißt, er würde noch diese
Woche in London bei mir auftauchen können, zur Übermittlung von Nachrichten und aus
anderen Gründen. Zweitens hatte dieser Steven Grains einen Cousin, Peter Hobblit geheißen,
der, wie verlautete, den Vorzug besaß, etwa drei Meilen oberhalb von Morass Manor, unweit
einer Garnison namens Hounslow einen Bauernhof und Fischerbetrieb direkt am Ufer der
Themse zu betreiben. Um die Sache noch besser zu gestalten, gehörte ferner dessen Schwager, einem Manne namens Pierce, in Höhe von Hammersmith, also zwei Meilen unterhalb
234
von Morass Manor, ein, wie es hieß, recht einsam gelegener Fuhrbetrieb, wenn auch nicht
direkt am Ufer unseres großen Flusses gelegen, so doch auch nicht allzu weit davon entfernt.
All dies schien Franklin Stifel und mir die rechte Vorbereitung und Möglichkeit, unser kühnes
Ansinnen ins Werk zu setzen. Weiteres kam hinzu. Sobald Steven Grains in der Mitte der
Woche Morass Manor würde verlassen haben, würde er, noch bevor er nach London kam,
sowohl Peter Hobblit, den Bauern und Fischer oberhalb von Morass Mansions, als auch Howard Pierce, den Fuhrunternehmer unterhalb, aufsuchen, über unser Vorhaben ins Benehmen
gesetzt und hinsichtlich unserer zeitlichen Planungen hinreichend unterrichtet haben. Erst
dann war er angewiesen, bei mir beziehungsweise Mrs. Hamlet aufzutauchen und mir bei der
Gelegenheit zu bestätigen, ob unser Plan bis dahin in geordeter Weise ablief oder abgesagt
werden mußte - wie gleichzeitig im letzteren Falle mir wertvolle Konterbande auszuliefern:
nämlich Kleidung, Schuhe und ein Flakon mit Parfüm, alles aus dem persönlichen Bestand
von Sir Enid Luciter.
Jawohl, Stifel hatte sich anheischig gemacht, auch derlei zu besorgen, zu leihen, vorübergehend zu entwenden - wie immer man das nennen mag - wenngleich leider auch nur unter der
Versicherung der Mithilfe einer weiteren Person, nämlich des persönlichen Kammerdieners
des Betreffenden – gelegentlich bekam ich Herzklopfen, denn es kam mir so vor, als sei inzwischen der halbe Borrough in unseren Plan eingeweiht, risikobehaftet, aber leider unvermeidlich. Der Raub dieser Dinge übrigens war selbstverständlich Bestandteil eines interessanten Versuchs, mich in gewissem Sinne zu verkleiden, wenngleich auch nur kurzzeitig und
ausschließlich für die mörderischen Hundebestien auf dem Territorium.
Für Mittwoch oder Donnerstag vormittag also war das Auftauchen Steven Grains’ in meiner
Klause annonciert, und noch am gleichen Tage sollte ich, gegen Nachmittag oder Abend und
ausgerüstet mit dem Notwendigen - Decken, Seilen und der Kleidung meines Erzfeindes - auf
dem Bauernhof bei Hounslow auftauchen, wo man meiner erwarten würde. Ich würde mich
umkleiden, und in dieser Nacht würden wir mit Mr. Hobblits Kahn themseabwärts treiben bis
Morass Manor – kein Rudern, kein Kämpfen, kein auffälliges Geräusch – ich würde dort an
Land gehen und mit Glück die Hundebestien und mit den mitgeführten Decken und Seilen
auch die innere Gartenmauer überwinden, während Mr. Hobblit weiter themseabwärts treiben
sollte, um seinem Schwager einen Besuch abzustatten.
Der würde am nächsten Tag den Kahn und Mr. Hobblit auf ein Fuhrwerk laden und es über
Land nach Hounslow zurücktransportieren. Mr. Hobblit seinerseits sollte in der nächsten
Nacht die gleiche Reise noch einmal tun, nur daß er diesmal auf der Zwischenstation Morass
Mansions einen Passagier – zwei Passagiere, wie ich es besser wußte – in sein Boot würde
aufnehmen müssen, anstatt einen auszuladen, bevor er seinem Schwager in Hammersmith
einen weiteren Besuch abstattete.
Der Plan war recht gut, befand ich bei mir, wann immer ich ihn überdachte. Er war sogar
noch weiter bedacht. Es war erwogewn einen weiteren Diener des Anwesens, einen gewissen
Carl Hamilton, ins Vertrauen zu ziehen, eigens aus dem Grund, weil dieser das Wochenende
nach Franklin Stifel freihaben würde. Er würde so die ausgeliehene Kleidung und Schuhe Sir
Enid Luciters nach Morass Mansions zurückschaffen können, so daß sie dort nicht allzu lange
fehlten, denn Franklin Stifels nächster freier Tag lag erst nach Weihnachten und der Jahreswende, im neuen Jahr.
Nach all diesem, kostbarer Leser, magst Du für Dich und ohne daß ich es Dir weiter erläutere,
selbst erahnen, in welcher Stimmung ich mich befand, während – unerträglich langsam – der
Sonntag, der Montag, der Dienstag, der Mittwoch verstrichen und ich auf den Besuch des
Dieners Steven Grains wartete, welcher mir, wie ich sagte, für den Mittwoch oder Donnerstag
angekündigt war …
235
.....
Über der Themse lagerte Dunst – dies Nebel zu nennen, wäre wohl zu viel gewesen. Es war
ein weißer, regloser, toter Brodem, den gleichwohl das Licht des zunehmenden Halbmondes
ohne Mühe durchdrang. Die Nacht hatte durchaus Ähnlichkeit mit jener, als ich damals Morass Manor das erste und letzte Mal verlassen … Der Diener, der mich hinausgeleitet … die
Fackeln im Kies der Auffahrt, das Zigeunerlager der Kutschen mit den am Boden brennenden
Feuern seitwärts im fleckigen Mondlicht unter den Bäumen der Allee. Und am Tor war ich
auf Franklin Stifel gestoßen.
Ja, so hatte all dies angefangen, damals im warmen September ... Jetzt lag das Anwesen still
und dunkel und tot gegenüber im weißen Licht. Ich konnte das Rasenstück hinunter zum
Wasser erkennen, auf dem damals das Bankett stattgefunden, mit den Damen in Weiß, den
Fräcken und Zylindern, heiterem Champagner und Plauderei … Jetzt lag diese Rasenfläche,
weiß von gefrorenem Tau leer und offen in der hellen Nacht, und wir beide starrten von der
gegenüberliegenden Seite des Flusses, wo wir uns, geborgen in den Schatten der Trauerweiden, an den Zweigen über unseren Köpfen festhielten, hinüber.
Dann tauchte das einzelne Paddel ins Wasser, ohne daß ich einen Laut hörte. Peter Hobblit
steuerte seinen Nachen mit großer Geschicklichkeit. Die Strömung war es im Grunde alleine,
die uns nun trieb, hinauszog auf den offenen Fluß und hinüberlenkte auf Morass Manor zu,
und während wir auf den Fluß hinausgetrieben wurden, passierten die Bilder des zurückliegenden Tages mein Gemüt.
Ja, Steven Grains hatte, kaum daß die Glocken zehn Uhr geläutet hatten, noch am Vormittag
und mißtrauisch beäugt von Mrs. Hamlet, bei mir vorgesprochen, ein mir gar nicht unsympathischer, heiterer junger Mann mit dunklen Locken, und er hatte das Bündel Kleidung mitgeführt, dessen Inhalt ich nun mehr schlecht als recht auf dem Leibe trug. Ich hatte den Rest der
Utensilien, Seil und Decken, dazugepackt, war noch am hellen Mittag von Holborn aufgebrochen, hinaus aus der Stadt, hinaus in die Heide, hatte mir die Ausgabe einer Kutsche verspart,
sondern mich auf einen mehrstündigen Fußmarsch nach Westen gemacht, im Grunde den
nämlichen, den ich seinerzeit, zurückkehrend von Morass Manor, in jener Septembernacht
unternommen, in der Sebastian Friderick-Horne mich mit der Kutsche aufgelesen. Allerdings
machte ich diesmal um Morass Mansion einen bedeutenden Umweg, ich mußte, dachte ich
mir, nichts unnötig riskieren, und war deshalb nach einem großen Bogen halbwegs bis hoch
nach Acton schließlich gegen Dunkelheit in Hounslow eingetroffen, wo ich Hobblits Anwesen ohne jede Schwierigkeit fand, indem ich mich dort einfach Richtung Themseufer hielt.
Hobblit und seine Familie hatten sich als sehr angenehm erwiesen, mir war - im Kreise der
vielköpfigen Menschenschar und im Scheine eines traut und warm flackernden Kaminfeuers
an dem großen blankgescheuerten Tische in der Mitte der Stube – sogar eine einfache, aber
sehr wohlschmeckende Mahlzeit aus Kartoffeln und mehrerlei Gemüse zuteil geworden – mit
viel Freude hatte ich die Vielzahl der Kinder, die ihre kleinen Hände zum Abendgebet falteten, beobachtet. Hinterher hatte ich mich umgekleidet, die Frau hatte mir mit Nadeln, Schlingen und Schnüren zur Seite gestanden, weil Sir Enids Anzug sich als zu ausladend für meinen
Leib erwies, seine Schuhe hatte sie im nötigen Maße, so daß ich damit laufen konnte, mit al236
tem Papier ausgestopft. Sie hatte auch Punsch bereitet, und nach zwei sehr wohltuenden Gläsern, die wir im Kreise der Erwachsenen einnahmen, zu der Stunde, da im fernen London die
Sperrstunde ausgerufen wurde, waren Peter Hobblit und ich hinausgetreten in die Kälte, waren die wenigen Schritte zum Fluß hinuntergegangen und hatten den Kahn ins Wasser gesetzt.
Er hatte uns mit wenigen eleganten Ruderschlägen hinausgelenkt, uns stetig in der Mitte des
Flusses gehalten, wir hatten während der Fahrt kaum einmal ein halblautes Wort miteinander
gewechselt. Auch die beiden Ufer blieben still, kein Laut, weder von einem Tier noch einem
Menschen. Zudem war der größte Teil des Ufers unbebaut, keine Häuser, keine Hütten, Binsen, Schilf, gelegentlicher Durchblick auf die nächtliche Heide. Es war ein lautloses, fast unheimliches Gleiten im weißen Mondlicht in der Mitte des Wassers, während das Land wie in
einem unwirklichen Traume an uns vorüberzog.
Dann, nach einer Stunde Fahrt oder sogar mehr, hatte Hoblitt die Finger an die Lippen gehoben, das Ruder eingeschlagen, und wir waren hinübergeglitten in den Schattenschutz der
Weiden am jenseitigen Ufer. Die herabhängenden Zweige strichen über unsere Körper und
Gesichter, und wir hatten hineingegriffen und uns und das Boot festgehalten. Es schwankte
leise in der Strömung, aber das winzige Plätschern, das man hörte, drang lediglich vom näheren der Ufern zu uns her, nicht von der Bordwand unseres Gefährts. Reglos hatten wir mehr
als eine dreiviertel Stunde verharrt und das Gelände gegenüber beobachtet. Endlos dehnten
sich die Minuten. Nur einmal hatte man in dieser Zeit von dort ein entferntes Japsen oder ein
unterdrücktes Bellen gehört, aber Bewegung erblickt hatten wir nicht. Und dann, ein paar
Minuten danach, hatten wir einen Mann mit drei oder vier Hunden um jene Ecke der Gartenmauer streichen sehen, über die zu klimmen eine der späteren Aufgaben dieser Nacht fütr
mich sein würden. Das lag nun jedoch bereits wieder eine Viertelstunde zurück und es blieb
totenstill dort drüben auf dem Grundstück.
Ich strengte die Augen an, aber die Zwinger neben der Bankettwiese schienen mir tatsächlich
leer. Alles in allem, wollte mir scheinen, war die Wachsamkeit dort drüben eine weitaus geringere als von mir befürchtet. Gerade, als ich dies gedacht, umrundete ein weiteres Mal ein
Mann mit Hunden die vorbezeichnete Ecke. Es schienen derselbe Mann und dieselben Hunde
zu sein.
Hoblitt und ich schauten uns an, wir hatten wohl beide denselben Gedanken, und es war, wie
ich beschrieben, daß er das Ruder ins Wasser tauchte, wir gemeinsam die Äste losließen und
hinausglitten ins volle weiße Mondlicht und er in Richtung auf die Mitte des Flusses steuerte.
Es mochte inzwischen zwei Uhr sein oder sogar später. Das Kreuzen des Flusses kostete uns
wenig Zeit. Das andere Ufer kam schnell näher, ich griff mein Bündel, machte mich bereit. Es
benötigte keinerlei Kommandos zwischen Hobblit und mir. Wenn ich ihn morgen wiedersah
und wir erst sicher wieder weg waren von hier, würde ich ihm dafür danken. Er steuerte eine
flache Stelle an, etwa hundert Yards oberhalb der Bankettwiese. Hier gab es in der Nähe des
Wassers einige winterlich kahle Obstbäume, Äpfel und Birnen, schien mir, und ich konnte
dahinter, auf halbem Wege zum Anwesen, das schäbige Gebäude des Waschhauses sehen.
Von hier bis zu der fraglichen Gartenmauer mochten es zweihundert Yards sein, vielleicht
etwas mehr. Wir näherten uns rapide, ich machte mich bereit zum Sprung.
Dann war alles die Sache einer Sekunde. Hobblitt legte das Boot bei, einen Augenblick
schwamm es parallel zur Böschung, schon stieß er es wieder zurück gegen die Mitte des
Stroms und zum anderen Ufer, und in genau diesem Moment war ich gesprungen. Ich war gesprungen, hatte sicher Fuß gefaßt, drückte mein Bündel an mich und wandte mich zum Gehen, nicht zu schnell, nicht zu langsam, auf das Waschhaus zu.
Der Mondschein unter den kahlen Obstbäumen. Ich blickte mich um, ob ich eine sichtbare
Spur auf dem glatten, knisternden Reif des Grases hinterließ, konnte aber nichts erkennen. Ich
wandte mich – ohne im Gehen zu verhalten - zum Fluß und war verblüfft: Auch Peter Hobblit
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und sein Boot konnte ich zu dieser Zeit bereits nicht mehr sehen. Ich richtete meinen Blick
auf das Waschhaus vor mir und schritt aus.
Ich sah, wie es vor meinen Augen näherkam. Es sah genauso aus, wie Franklin Stifel es mir
beschrieben hatte, ein schmuckloses, schäbiges Gebäude mit offenen Fensterhöhlen – wenn es
aus Holz gewesen wäre, hätte man es als Schuppen bezeichnen müssen. Aber Schuppen haben
keine Fenster, dachte ich. Ich schritrt darauf zu und sah es näherkommen. Ich wußte, daß die
Tür dort nicht verschlossen sein würde.
Ich schritt, nicht zu schnell, nicht zu langsam, dort im Mondschein über die Wiese. Es war
eine unwirkliche Situation. Ich sagte mir, daß ich mich unzweifelhaft in Gefahr befand, und
doch wollte mein Sinn die Gefahr nicht wirklich spüren. Ich war in einer frostigen Winternacht unterwegs, der Mond schien hell, ich war allein.
Es war so gut wie windstill. Wenn die Hunde jetzt auf der anderen Seite des Hauses waren –
ich war sicher, daß sie mich dort nicht wittern konnten. Ich dachte, das will ich bekennen, in
diesen Minuten nicht einmal an meine Io, obwohl ich ihr doch - endlich, endlich - so nahe
war, so unendlich nahe. Ich rechnete.
Eine Dreiviertelstunde oder länger hatten Hobblit und ich das Anwesen von dort drüben beobachtet, ohne daß eine Kontrolle erfolgt war. Dann war ein hastiger, flüchtiger Rundgang erfolgt. Eine Viertelstunde später hatte der gleiche Hundeführer eine weitere Runde gemacht,
und es waren gewiß weniger als zwölf Hunde bei ihm gewesen.
Was hieß das? Daß ein anderer Teil der Hunde und – wenn es wirklich, wie Franklin Stifel
gesagt hatte, fünf Hundeführer gab - weitere Männer auf dem Grundstück unterwegs waren?
Wenn ja, wo? Warum sah und hörte man nichts von ihnen? Oder arbeiteten auch diese Männer in Schichten? Und Wachhunde, schliefen die nachts?
Mir gleich, jedoch, eine dreiviertel Stunde und dann eine Viertelstunde hatte es gedauert, daß
hier Männer und Hunde vorbeigekommen waren, und das Ganze lag jetzt erst eine oder zwei
Minuten zurück. Fünfzig Sekunden, seit ich an Land gesprungen war, nicht länger. Es war
schlicht lächerlich zu glauben, daß binnen der nächsten Minuten sich irgendetwas hier tun
würde.
Ich kehrte aus diesen, meinen fliegenden Gedanken zurück und bemerkte verwundert, daß ich
am Waschhause vorübergegangen war, ohne dies zu wollen. Ich war verblüfft. Es war geplant
gewesen, daß ich auf etwa halbem Wege zwischen dem Ufer und dem Haus mich vorübergehend in dem Waschhause hatte bergen, die Lage sondieren und eventuell eine weitere Kontrolle hatte abwarten - und so die Strecke der Gefahr zwischen Ufer und Haus gewissermaßen
hatte halbieren sollen. Jetzt war ich am Waschhause vorbei, und im Grunde hatte nicht ich
dies entschieden, sondern mein Körper, meine Beine. Ich erschrak einerseits, weil ich mir
klarmachte, daß ich dergleichen lächerliche Fahrlässigkeit in einer Situation wie der meinen
ganz gewiß nicht gebrauchen konnte, andererseits war ich froh, so, gewissermaßen unfreiwillig, die Phase, die ich mich hier in offenem Gelände und noch nicht innerhalb der vergleichsweise sicheren Gartenmauern befand, abgekürzt, anstatt künstlich in die Länge gezogen zu
haben. Worauf hätte ich warten sollen, dort im Waschhause, und wie lange?! Wir hatten das
Gelände von gegenüber lange genug beobachtet, um, zumindest für den Augenblick, festzuhalten, daß es hier keine Kontrollen im Minutenabstand gab.
Minutenabstand ... Anderthalb, vielleicht zwei Minuten, seit ich an Land gesprungen war.
Von Hunden oder Menschen war nichts zu hören oder zu sehen. Es war nichts zu fürchten.
Inzwischen war ich der Gartenmauer bereits fast näher als dem Waschhause hinter mir. Eine
kurze Sekunde lang wallte mich Panik an, sinnlose dumme Panik, es gab keinen Grund dafür,
nichts war zu sehen oder zu hören. Warum also Panik? Ich war hier, weil ich das Recht hatte,
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hier zu sein. Ich war hier, weil ich die Sache der Rechtschaffenheit kämpfte. Ich war hier, um
dem Bösen seine Beute zu entreißen.
Ich näherte mich der Mauer, nicht zu hastig, nicht zu langsam, gerade so ruhig, wie es mir
möglich war. Es nestelte das Bündel von meiner Schulter, fingerte im Dunkeln nach dem Seil.
Es hatte sich ein wenig zwischen den Decken versteckt, aber da war es. Ich zog es ein Stück
weit heraus, fand das Ende mit der Schlinge. Oben auf der Mauer sollten sich eingesteckte
Glasscherben befinden. Daran, hatte ich geplant, sollte sich die Schlinge verfangen, daran
wollte ich mich nach oben ziehen, in ein zwei Sekunden. Wollte mich auf die gleiche Art drüben hinunterlassen, falls die Höhe zu groß war zum Springen. Ich hatte vorübergehend daran
gedacht, einen Anker oder etwas derartiges mitzuführen, aber ein Anker war schwer, und vor
allem, hatte ich gedacht, würde ein Anker laut sein oder mir selbst auf den Kopf fallen und
dergleichen Unsinn mehr. Ein Anker war lächerlich. Man konnte jegliches übertreiben. Ich
führte auch keine Steigeisen mit mir oder Eispickel. Dies war eine Mauer, ein Mäuerchen und nicht die Eiswand eines Gletschers.
Ich langte am Fuße der Mauer an, zweieinhalb oder drei Minuten seit meinem Sprung ans
Ufer.
Ich faßte das Seil und warf es in die Höhe, gegen die Mauer, über sie hinweg, wie mir schien aber es kam unverrichteter Dinge wieder zurück und fiel mir prasselnd vor die Füße. Ich
fluchte unhörbar, bückte mich, hob es auf und warf erneut. Es flog hoch und kam zurück wie
beim ersten Mal, kringelte sich im gefrorenen Tau des Grases vor mir. Ich bückte mich und
warf es zum dritten Mal, höher diesmal und weiter auf die andere Seite, wie mir schien, aber
es fiel zu mir herunter wie die Male zuvor, und plötzlich bemerkte ich Schweiß auf meiner
Stirn. Ich lauschte in die Nacht. Sollte ich zurückrennen zum Waschhause und mir etwas anderes überlegen? Keine Männerstimmen, keine Hunde. Ich überlegte nicht lange.
Ich warf das Seil erneut, und diesmal blieb es oben. Im ersten Moment wollte ich es nicht
glauben, es war ein Moment einer gleichzeitig heißen und schrecklichen Freude. Ich zog und
zerrte daran, aber es blieb oben. Ich begann daran hochzuklettern, plötzliche Angst verlieh
mir ungeahnte Kräfte, und ich spürte nicht mehr den Schweiß und die Angst dieser kalten
Winternacht. Es blieb still, keine Männer, keine Hunde.
Als ich in die Nähe der Krone kam, nestelte ich an der Decke aus meinem Bündel, um sie,
gefaltet, wie ich sie wußte, über die Glasscherben oben darauf zu werfen, damit ich hinüberkonnte, das heißt, ich versuchte es, die Decke herauszufischen, aber ich hätte vier Hände gebraucht, zwei zum Festhalten und zwei für die Decke. Es ging nicht, und ich spürte, wie ich
Zeit vergeudete. Ich machte zwei, drei Versuche, die Decke hervorzuzerren, aber es ging
nicht. Sollte ich wieder absteigen und versuchen, die Decke zu werfen, wie zuvor das Seil?
Das war Unfug. Von unten die Decke dergestalt auf die Mauerkrone zu werfen, daß sie in
genau dem gefalteten Zustande dort liegenblieb, wie ich sie brauchte – ich hätte doch den
Künstler sehen wollen, dem das gelang. Aber ich konnte mir die spitzigen Glasscherben so
recht aus der Nähe ansehen, um zu wissen, daß ich ohne die Hilfe meiner Decke nicht darüberklettern konnte, jedenfalls nicht, ohne mich erheblich und durchaus gefährlich zu verletzen.
Dann hörte ich Hunde bellen, näherkommend, und mein Herz setzte aus.
Es war ungerecht, befand ich, ein schlechter Spaß des Schicksals, eine Schurkerei. Eine dreiviertel Stunde und dann nochmals eine Viertelstunde hatten wir von dort herüben das Gelände
beobachtet, und keine Wache hatte die Stelle passiert, an der ich jetzt an meinem dummen
Seil baumelte – und nun kamen sie bereits nach weniger als fünf Minuten zurück. Oder kamen sie, weil sie mich bereits entdeckt oder weil die Hunde mich gewittert hatten? Sie kamen
diesmal aus Richtung des Ufers, von der Bankettwiese her.
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Jetzt zum Waschhause zurückzulaufen, dazu war es viel zu spät. Abgesehen davon, wenn ich
das tat, dann baumelte mein Seil im hellen Mondschein außen an der Mauer, und wenn sie
vorüberkamen, würden sie es hängen sehen. Nun, ich konnte, wenn ich abgestiegen wäre, es
immerhin mit gewaltigem Schwunge ganz und gar über die Mauer werfen, um seine Entdekkung vorerst zu verhindern, aber dann hatte ich mir auf alle Zeiten meinen Zutritt selbst abgeschnitten, und sobald es helle wurde, würde man es auf der Innenseite hängend oder liegend
finden.
Ich hätte am liebsten geschrien vor Wut. Stattdessen – ich hing an einer Hand, die langsam
erlahmte, warf beziehungsweise legte ich das Bündel mit der Decke komplett oben herauf,
nicht allzu vorsichtig, im Gegenteil, sondern dergestalt, daß die Scherben hineinschnitten. Ich
riß daran, um so das Glas noch tiefer hineinzutreiben, und dann griff ich wieder mit beiden
Händen ins Seil und zog mich hoch. Ich wußte, daß es um Sekunden ging, das Bellen der
Hunde, oder es war eher ein Japsen, erklang unmittelbar hinter der südlichen Ecke der Mauer.
Ich warf meinen Arm hinüber, über das Stoffbündel, schwang den Fuß seitlich hoch, bekam
auch die Schuhspitze auf die Mauer, allerdings im Bereich der Scherben, zwischen den
Scherben, versuchte mich zu halten, trat mit dem anderen Fuß gegen die Mauer, um Schwung
zu holen und warf mich mit der Brust auf den Beutel. Irgendetwas stach mich. Ich hielt das
Seil in Panik geklammert, obwohl meine Hände und Arme längst auf der anderen Seite waren,
und ich trat wild mehrfach ins Leere, ruckte nach oben, bekam Übergewicht, und der Rest war
ein unkontrollierter Sturz in die Dunkelheit vor mir. Dies alles in einem Augenblick.
Es riß mir fast die Arme aus, als das Seil sich spannte, mich herumwirbelte und die Füße am
Körper vorbei nach unten schlugen. Ich stieß mit dem Leib gegen die Mauer, daß ich dachte,
mir schwänden die Sinne. Ich unterdrückte den Schmerzensaufschrei, der sich mir entringen
wollte, ich ließ alles los, was ich in Händen hielt, stürzte ab und landete eine Sekunde später
auf dem hartgefrorenen Erdboden. Das hieß – mein Glück – die Erde war hartgefroren, gewiß,
aber es war ehemals aufgehäufelte Erde, und so gab sie trotz ihres Zustandes um ein Weniges
nach, ich brach in die Knie, ich fiel vorneüber und schlug mit dem Gesicht ins Erdreich.
Im nächsten Moment fielen mir Seil und Bündel auf den Rücken – auch da hatte ich Glück
gehabt, offen gesprochen, denn eines von beidem oben auf der Mauerkrone wäre gewiß entdeckt worden, denn in der nämlichen Sekunde hörte ich die Hunde drüben auf der anderen
Seite der Mauer japsen und schnüffeln, im Grunde nur durch die wenigen Inches von mir getrennt, die die Mauer im Querschnitt messen mochte.
Die Unruhe der Hunde übertrug sich auf den Wächter, man verhielt, die Hunde schnüffelten
und liefen herum, man blieb an Ort und Stelle, der Wärter rief die Namen der Tiere und verwunderte sich, was sie hätten, dann …“ Kommt … kommt!“, liefen sie in die Richtung weiter
wie zuvor, um auf die Nordseite des Gartens zu gelangen. Der Garten, winterlich karg, lag in
hellstem Mondeslicht, ich drückte den Kopf vom Erdboden hoch, dort, wo sie hinliefen, im
nördlich Querbereich der Mauer, konnte ich das Gitter, die Bogenpforte im hellen Lichte erkennen. Gleich würden sie dort hereinschauen. Wenn der Wärter Schlüssel hatte, würde er
hereinkommen …
Der Garten schien mir taghell. Ich lag in dem schmalen Streifen Schattens, den die Mauer
warf. Ich nahm den Kopf wieder herunter, drückte mich flach ans Erdreich, hielt wahrhaftig
den Atem an, schaute nur aus dem Augenwinkel hinüber zu Pforte, wo in der nämlichen Sekunde die erste Hundeschnauze zwischen den Gitterstäben erschien, gleich danach die weiteren.
Die Tiere waren verwirrt. Sie steckten die Mäuler hier hindurch und gleich darauf durch den
Abstand daneben. Sie japsten und jaulten aufgeregt. Ich hörte wieder die Stimme des Mannes
die Hundenamen rufen, unterdrückt, vermutlich, um niemandem im Hause zu wecken. „Was
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habt Ihr denn, Neptun, Uranus …?!“ Ich sah sein Gesicht, wie er jetzt selbst durchs Gitter
starrte und mit den Augen den kahlen, leeren Garten absuchte, genau in meine Richtung in
den Schatten starrte. Ich versuchte so tot und reglos zu liegen wie ein Stein, das Gesicht an
der kalten Erde.
„Keine Albernheit … Mars … Triton … Jupiter!“ hörte ich den Mann unterdrückt schimpfen
„kommt, ihr Banditen …!“ … und plötzlich waren sie fort vom Gitter und weitergezogen, war
die Pforte leer und der Spuk vergangen wie eine Fata Morgana. Ich konnte die Bestien nicht
einmal mehr hören.
Ich hatte, ich sagte es, bis hierher dreifach Glück gehabt, Beschaffenheit des Erdbodens beim
Sturz, daß die Mauerkrone oben leer war, als man draußen suchte, und daß die Augen des
Wächters dem tiefen Schlagschatten an der Mauer unterlegen gewesen waren - aber ich war
gegen das Schicksal nicht sonderlich dankbar, denn warum hatte es derart schnell überhaupt
Mann und Hunde schicken müssen!
Ich rang nach Luft, möglichst lautlos, versuchte zu Atem zu kommen, insgesamt hat man
Menschen schon eleganter über Mauern klimmen sehen, als mich in jener Nacht. Die Brust,
wo ich vom Glas verletzt war, schmerzte, meine Stirn schmerzte vom Aufschlagen, mein linkes Handgelenk, wo mich das Seil gerissen, meine Knie, die Seite, das rechte Bein schien
nicht in Ordnung, im Grunde schmerzte der ganze Leib.
Ich stemmte mich langsam auf Arme und Knie, hockte mich schließlich hin, musterte die
dunkle Fensterfront des Hauses auf der anderen, mondbeleuchteten Seite des Gartens. Alles
war dort still. Eine Sekunde später fiel mir die Luke am Erdboden auf, die Klappe, die die
Rampe für die Weinfässer verschloß, recht dicht beim vorerwähnten Gitter. Ich stand langsam
auf, erhob mich auf die Füße, hielt mich im Schatten und versuchte das unkontrollierte Zittern
zu überwinden, das mich befallen hatte, seit ich dort gelegen, vielleicht von der Kälte des Bodens, vielleicht von der Angst, vielleicht von dem Schock des Sturzes. Ich spürte jeden einzelnen Knochen im Leib, aber dies habe ich wohl schon vermeldet.
Ich brauchte nun keinen Mut mehr, dachte ich. Ich war ihr jetzt sehr nah. Oh, mein Gott – im
Grunde, welches Glück hatte ich, alles in allem, gehabt! Ich hätte jetzt dort draußen liegen
können, zerfleischt und in blutigen Fetzen!
Ich nahm Seil und Beutel von der Erde auf, band mir mit zitternden Händen beides um die
Hüften. Dann tastete ich mich seitwärts bis zu der Stelle, wo ein schmaler, vielleicht anderthalb oder zwei Fuß breiter Weg auf die Mauer zulief. Ob ich auf dem lockereren Erdreich
direkt an der Mauer dabei Spuren hinterließ, konnte ich in dem tiefen Schatten, der dort
herrschte, nicht ausmachen. Ich hoffte indessen darauf, daß man eventuelle Spuren, wenn sie
denn entstanden, vom Hause aus nicht sah, und ich glaubte mich im Recht, wenn ich annahm,
daß zu dieser winterlichen Zeit nächstens auch niemand Gelegenheit nehmen würde, tagsüber
bis hierher an die Mauer vorzutreten, um Beeren oder Kräuter zu pflücken.
Dann holte ich tief Atem, bückte mich und lief los, nach Möglichkeit kreuz und quer diese
Wege nutzend, auf die Luke an der Hauswand auf der anderen Seite des ummauerten Gartens
zu.
Ich lief, halb gebückt, durch’s hellste Mondeslicht, das Bücken war hochgradig lächerlich und
albern, es geschah aus einem Reflex heraus. Es war derart hell in diesem kahlen Garten, natürlich hätte mich jeder, der etwa im Dunkeln hinter einem dieser Fenster stand, gesehen wie
am hellichten Tag, und zwar ganz gleich, ob ich dort aufrecht stolziert oder auf dem Bauche
gekrochen wäre. Ich lief töricht gebückt, als ob mich das vor irgendwem hätte verbergen können, aber es gibt Situationen, da tun wir Dinge, die wir im Grunde nicht bedenken, da geschieht einfach, was uns unser dummer Körper diktiert. Dann langte ich an der Luke an und
ging hastig in die Hocke.
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Ja, ich konnte kein Schloß oder etwas dergleichen daran erkennen, ganz wie Franklin Stifel
versprochen. Meine Finger griffen nach der Ritze in der Mitte der Eisenplatten, wahrscheinlich würde es genügen, wenn ich nur eine Seite aufklappte. Aber, ermahnte ich mich, ich
sollte es tunlichst leise tun. Es wäre zu drollig gewesen, wenn mir zu diesem Zeitpunkt die
Lukenabdeckung aus der Hand rutschte und dröhnend, krachend, scheppernd zugefallen wäre.
Das Eisen der Luke war zwar dünn, aber dennoch hinlänglich schwer. Ich hob die eine Seite
an, streckte ein Bein hinein, dann das zweite, ich starrte nach unten, es ging in nachtschwarze
Finsternis. Ich ließ mich vorsichtig hinein, auf die Knie, auf die Lenden, hielt die Luke mit
meinem Arm und meiner schmerzenden Seite so weit auf, daß ich gerade hindurchpaßte, und
ließ mich mit Schneckengeschwindigkeit rutschten, immer weiter hineingleiten, bis ich, auf
dieser abfallenden Fläche liegend, an einem ausgestreckten Arme hing. Mit der anderen Hand
hielt ich die Klappe den letzten Spalt geöffnet, gab vorsichtig nach, klemmte mir selbstverständlich lächerlich die Finger – es ging gar nicht anders, ich fluchte unhörbar, dann ließ ich
los und rutschte nach unten.
Es war ein äußerst undramatischer Vorgang. Es war in der Tat eines der wenigen Dinge in
dieser Nacht, die kaum sich zu berichten lohnen. Ich rutschte, das dauerte drei, vier Sekunden,
geschah nicht besonders schnell, dann stießen meine Füße an den Erdboden, und ich hielt,
liegend auf dieser gewölbten, schrägen Rampe, auf dem Bauche liegend, an wie ein Mehlsack.
Dort lag ich, dann rappelte ich mich hoch. Das Problem war ein ganz anderes. Ich sah nichts,
ich sah absolut nichts. Es war in diesem Keller so finster wie im Bauche von Jonas Wal, und
an die Möglichkeit, eine Kerze oder ein Öllicht, einen Docht, Zunder oder sonst etwas, um
Licht zu machen, hatte ich bin all dem Wust meiner Vorbereitung nicht gedacht. Immerhin,
dachte ich, ich war im Haus – ich war im Haus – und bislang hatte mich niemand entdeckt.
Ich war im Haus und damit meinem Ziele … ich war ihr so nah wie nie zuvor.
242
12. Kapitel
Morass Manor
Ich tastete auf der glatten Rampe herum, auf der ich lag, dann erhob ich mich vorsichtig, zuerst auf die Knie, dann auf die Füße, und fühlte im Leeren umher. Man sah, wie es immer
heißt, die Hände vor Augen nicht. Ich bewegte mich bedachtsam wie ein Schmetterling und
langsam wie eine Raupe, ich vermied es, irgendwo anzustoßen. Ich beugte mich nieder, erfühlte den Rand der Rampe, streckte die Hände seitlich aus, drehte mich herum und gelangte
gleichwohl an nichts. Ich tat ein paar vorsichtige Schritte in den Raum hinein, erwartete, an
ein Faß zu geraten oder an Regale mit Flaschen. Im nächsten Moment hielt ich inne.
Was geschah, wenn ich in der Tat an eine Flasche stieß, was war, wenn ich trotz aller meiner
Vorsicht im Dunkeln eine herunterwarf oder gar ein derartiges Regal zum Kippen brachte. Es
war eine denkbare Leichtfertigkeit, hier wie ein blindwütiger Tolpatsch herumzutappen. Ich
durfte dankbar sein, wenn ich in dieser biblischen Finsternis nicht bereits gänzlich die Richtung verloren hatte und geradenwegs zur Rampe zurückfand, um mich dort niederzulassen,
ohne daß eine Katastrophe geschah. Ich schalt mich selbst einen Narren, ohne Not in diese
Finsternis hinein aufgebrochen zu sein. Ich hätte etwas für einen Leuchter gegeben. Auch
hätte ich gern einen Blick auf die Wunde in meiner Brust geworfen – gefährlich war sie wohl
nicht, aber sie schien gleichwohl ein wenig zu bluten, denn ich fühlte es da feucht und klebrig.
Ich ließ mich langsam auf alle viere wieder und kroch vorsichtig in die Richtung zurück, aus
der, wie mir schien, ich gekommen war, von der ich glaubte, daß sich dort die Rampe befin243
den mußte, über die ich hereingelangt. Wenige Sekunden später wurde ich hinsichtlich meines
Irrtums belehrt, denn ich stieß mit dem Kopf nicht stark, aber doch so, daß es mich wohl erschreckte, gegen etwas Hölzernes, ich zuckte instinktiv davon zurück, dann befühlte ich den
Gegenstand sorgfältig, eine gewölbte Wand aus hölzernen Planken und ein eiserner Beschlag
– wohl ein Weinfaß. Damit war offenbar, daß genau das eingetreten war, an dessen Vermeidung ich leider zu spät gedacht … es war mir gelungen, mich bereits nach wenigen Schritten
in dieser Finsternis vollständig zu verirren.
Ich schimpfte bei mir auf meine vermaledeite Dummheit, dann, gleichwohl, dachte ich: „Gott
befohlen …“, drehte mich herum, setzte mich an die Erde nieder und lehnte mich gegen das
Faß. Jetzt konnte ich nichts mehr tun. Ich besaß keine Uhr, ich hatte auch keine geliehene bei
mir, und, gleichviel, selbst wenn ich eine besessen – ich hätte sie in dieser Dunkelheit nicht
lesen konnen. An dieser Stelle meines Aufenthaltes waren auch keinerlei Glocken oder Uhren
von irgendwoher zu vernehmen. Wie spät mochte es wohl sein? Wie lange hatte mein Eindringen insgesamt gedauert? - Demnach schätzte ich es auf alle Fälle später als ein halb ein
Uhr und sicher früher als zwei. Das hieß, daß mir vermutlich eine erkleckliche Zeit zum
Warten verblieb … So setzte ich mich auf mein Bündel und machte es mir den Umständen
nach bequem.
Abgemacht war, daß gegen drei oder etwas später Franklin Stifel herunterkommen und mich
befreien und herausgeleiten, quer durch den Keller zum Verlies hinführen würde – und er,
dachte ich beruhigt, würde ein Licht dabei haben. Um drei würde er kommen oder auch etwas
danach, denn wir hatten in der Planung nicht recht absehen können, zu welcher Zeit genau ich
würde erfolgreich eingedrungen sein, und selbstredend galt es absolut zu vermeiden, diesen
wackeren Mann womöglich umsonst in den Keller zu schicken, wo sein jegliches Fehlen oben
im Haus, und sei es aus seiner Schlafkammer, gewiß nicht unbedenklich war.
Ich lehnte dort in dem nächtlichen kalten Keller an dem Weinfaß, und da ich sowieso nichts
sah, schloß ich die Augen, denn blickloses Starren ins Finstere strengt nur sinnlos an. Und
mochte es mein durchaus ermüdender, nachmittäglicher Fußmarsch von London nach
Hounslow gewesen sein oder der genossene Punsch im Hause der Familie Peter Hobblits am
Abend am Kamin oder die überstandenen Aufregungen des gewalttätigen Eindringens hier,
oder war es einfach der späten Stunde geschuldet - trotz der Bewußtheit, in welcher Gefahr
ich mich wohl prinzipiell befand, gleich auch, wie Unruhe, Angst und Freude, bald meine Io
anzutreffen, mich wachhalten mochten - jedenfalls mußte ich eingeschlummert sein, ohne daß
ich es bemerkte - und aus diesem sanften Schlummer riß mich ein Licht, das mir direkt in die
Augen blendete.
Ich fuhr auf. Vor mir stand ein Mann mit einem Leuchter, in der Uniform, die ich von den
Dienern auf Morass Mansions kannte, und er hatte sich über mich gebeugt und blickte mich
mit Artigkeit an. Franklin Stifel hatte ich erwartet – dieser junge Mann war es eindeutig nicht
- ein Mensch von wenig mehr als zwanzig Jahren, überaus zierlich gewachsen, wie ich sogar
aus meiner halb liegenden, halb sitzenden Position erkannte, kaum über fünf Fuß, und sobald
er mich erwachen sah, fuhr er von mir zurück, richtete sich auf. Wir waren wohl beide einen
Augenblick lang gleichermaßen erschrocken.
„Wer sind Sie?“ stieß ich mit halblauter Stimme hervor.
„James Crucible, Sir“, antwortete er gehorsam. Er sprach genauso gedämpft. Wir wählten
beide eine Lautstärke, die uns sicher nicht über die nächsten Yards hinaus vernehmbar machen würde.
„Mr. Crucible? – Aha, und wo, zur Hölle, wenn ich fragen darf, ist dann Mr. Stifel?“
„Mr. Stifel ist im Augenblick verhindert, Sir“, sprach der junge Mann unterdrückt. „Deshalb
hat er mich geschickt.“
244
Franklin Stifel verhindert? Etwas zuckte in mir hoch mit Mißtrauen. Was war dies? Ich hoffte,
daß es nicht mit neuen Schwierigkeiten für mein Vorhaben zu tun hatte.
„Wie spät ist es denn?“
„Es muß auf vier Uhr gehen, Sir.“
„Und was, wenn ich fragen darf, hat um diese Zeit Mr. Stifels Kommen verhindert?“
„Ich weiß es nicht zu sagen, Sir. Jedenfalls hat er mich geschickt.“
Ich sah mir den jungen Mann an. Ich hääte nicht zu sagen vermögen warum, aber er wirkte
ehrlich.
„Und wie lautet Ihr Auftrag?“
„Ich soll sie zu den Frauen im anderen Flügel bringen.“
„Welchen Frauen?“
„Den Frauen, die gefangen sind, Sir.“
Ich nickte langsam und schaute ihn mir an, ein frischer, junger Mann ohne Arg, wollte mir
scheinen.
„Nun gut, nun denn, Mr. Crucible“, sprach ich langsam. „Dann lassen Sie uns gehen. Und es
wird keine Schwierigkeiten mit unserem Gang haben?“
„Was meinen Sie, Sir? Mr. Stifel gab mir die Schlüssel, die er besorgt hat.“ Er zog die Schlüssel aus der Tasche, rohe Kopien, wie mir schien, und hielt sie mir zur Ansicht hin.
Ich nickte langsam, sah mich um. Das Licht in Crucibles Hand erhellte den recht weitläufigen
Raum zur Genüge, daß ich die Weinfässer in Reihen an den Wänden entlang mächtig im
Halbdunkel ruhen sah, auch die Flaschen in den Regalen, die ich erwartet, waren da, und ich
sah die Rampe wieder, über die ich gekommen. Im Hintergrund gab es eine halboffene Tür.
„Was bekommen Sie dafür, daß sie mich dort hinübergeleiten, Mr. Crucible?“ erkundigte ich
mich. „Was gibt Ihnen Franklin Stifel?“
Das Licht war nicht ausreichend, um dies mit Bestimmheit behaupten zu können, aber mir
schien doch, als ob er ob meiner Frage errötete.
„Ich verstehe Ihre Frage nicht, Sir.“
„Nun, die Frage sollte hinlänglich zu begreifen sein“, sagte ich. „Wofür tun Sie dies hier?
Glauben Sie, daß Sir Enid ihr Tun guthieße?“
„Nun, Sir“, wisperte der junge Mann. „Wenn ich es recht verstehe, so sind Sie gekommen, um
jenen Frauen dort zu helfen. Nicht alle im Hause, Sir, sind überzeugt davon, daß es gut und
gerecht ist, diese Frauen als Gefangene zu halten, nun schon seit so vielen Tagen. Ich wollte
mein Teil dazu tun, daß das aufhört, Sir, mehr nicht.“ Er senkte den Kopf, und ich hätte
schwören mögen, daß er noch mehr errötete.
Ich berührte ihn leicht an der Schulter, lächelte, er hob den Kopf.
„Es ist gut, Mr. Crucible“, sagte ich. „Lassen Sie uns gehen.“
„Es ist ohne Gefahr, Sir,“ murmelte er, „glaube ich; um diese Zeit befindet sich niemand im
Keller. Sollte doch jemand kommen, so weichen Sie am besten in einen der dunklen Seitengänge aus und verbergen sich, Sir, ich werde den anderen ablenken. Wir sollten ohne Gefährdung bis zu den Frauen gelangen können, Sir, denke ich. Ich nehme eine Weinflasche an
mich, so daß ich im Notfall einen Grund für mein Hiersein nennen kann.“
245
Er tat, wie er angekündigt, trat zur Seite und nahm nach einem kurzen, suchenden Blick irgendeine der neueren, das heißt weniger eingestaubten Flaschen von einem Bord herunter und
trat damit zur Tür. „Kommen Sie, Sir“, bat er mich.
Es war soweit.
Ich folgte ihm zur Tür, trat wie er hinaus, ich hielt das Licht, solange er abschloß. Dann gingen wir den Korridor hinunter bis zu jener Stelle, wo sich eine weitere Tür befand. War die
Tür zum Weinkeller eine nach der Art gewesen, wie man sie in Kellern vorzufinden erwartet,
so sah die, an der wir hier anlangten, eher aus, als ob sie in eine Burg gehöre, mit gehämmerten Beschlägen und und einem gewaltigen Schloß. Der junge Mann suchte den Schlüssel,
steckte ihn hinein, drehte ihn vorsichtig und fast lautlos. Die Tür öffnete sich, ich hielt wieder
das Licht, trat auf sein Zeichen zuerst hindurch, er folgte mir, ließ sie unverschlossen, da er,
wie ich wußte, hier wieder zurückmußte, um die Dienstbotentreppe nach oben zu erreichen.
Hier bog der Zentralkorridor nach links. Rechterhand vermeinte ich im Düster die Stufen jener Treppe wahrzunehmen, die nach oben direkt vor die Zimmer von Sir Enid führte. Ich befand bei mir, daß die Skizze, die Franklin Stifel von all diesem gefertigt, vorzüglich gewesen,
denn es befand sich hier alles in einem Maße nach der Vorstellung, die ich mir davon gemacht, daß ich, hätte ich nur die Schlüssel selbst besessen, mir durchaus auch zugetraut, mich
hier ohne jegliche Begleitung meines Weges auszufinden.
James Crucible hielt wieder das Licht. Er eilte auf leisen Sohlen den zentralen Korridor hinunter, ich folgte ihm. Gelegentlich passierten wir Türen, die alle eher von der Art „normaler“
Kellerverschläge waren. Dann sperrte ein weiteres jener schweren Portale den Weg, und, indem wir dies hinter uns gelassen, wandte sich der junge Bediente in einen schmaleren Gang
zur Linken, bis wir vor einer weiteren Türe standen. Diese war von äußerst robuster Bauart,
so mächtig wie keine all der Türen zuvor, und es kam mir in den Sinn, wie Franklin Stifel
davon gesprochen, daß in den Kammern hierhinter einst Schießpulver gelagert worden sei …
Diese schwere Tür … ich wußte von Franklin Stifels Zeichnung, daß sich dahinter die Gelasse
der Frauen befinden mußten.
Ja, ich war … ich war am Ziel.
Und hier, im allerletzten Moment davor, befiel mich ein unaussprechliches Grauen, daß mein
Vorhaben, aus hunderterlei Gründen, aus tausenderlei Unwägbarkeiten und Anlässen, schiefgehen mochte.
„Warten Sie“, wisperte ich, und er drehte sich erstaunt um.
Ich starrte ihn an. „Wissen die Frauen, daß ich komme?“
„Frank Stifel hat mit ihnen vor zwei Tagen gesprochen, Sir“, wisperte er zurück.
„Und,“ fragte ich drängend, „wen erwarten sie.“
„Nun, Sir“, stammelte er, von meiner Frage etwas überfordert. „Sie erwarten jemand, der es
gut mit ihnen meint, sollte ich doch denken, Sir, jemand, der ihnen helfen will, jemanden, der
sie vielleicht … hier herausführt.“
Und – so unglaublich dies vielleicht auch scheinen mag, kostbarer Leser, so gedankenlos und
dumm und grauenhaft oberflächlich dies mein ganzes Denken vor Dir erscheinen lassen mag
– ich muß ernsthaft bekennen, daß ich erst in dieser letzten Sekunde vor der Tür des Verlieses
dieser armen Wesen daran dachte, daß ich mir hiermit womöglich etwas aufgehalst hatte, das
notabene mir nicht möglich sein würde zu leisten.
Drei Frauen … ich hatte in all meinem blinden Drange nur an Io gedacht, an Io, meine Io, und
keine der anderen. Es existierte – natürlich - ein Plan, hier herauszugelangen, so wie einer für
das Hereinkommen existiert, und dieser zweite Plan hatte von vornherein enorme Schwach246
stellen, Punkte möglicher Gefährdung, weil ich beabsichtigte, Io mit mir zu nehmen. Hier,
jetzt, vor dieser dunklen Türe, hier griff mich zum ersten Male der unaussprechliche Verdacht
an, daß es womöglich drei Frauen waren, die mit mir hier hinauswollten … und mit drei
Frauen, Gott sollte mir beistehen, mit drei Frauen, grundgütiger Himmel, war der gefaßte Plan
im Grunde kaum noch ausführbar.
Abgesehen davon … Pläne und die rauhe Wirklichkeit ... Was würde mich hinter dieser Tür
erwarten? - Tränen? Schreien? Flehen? Verzweiflung? Wut? Drängen auf sofortigen Aufbruch, der keineswegs vorgesehen war? - Würde es womöglich so laut und schrecklich zugehen, daß wir die Aufmerksamkeit derer oben im Hause auf uns zogen?
James Crucible beobachtete mich ratlos im Schein seiner Lampe und fragte sich sichtlich, was
ich plötzlich hätte, er verstand meine so späten, zaudernden Fragen nicht.
„Sir?“ flüsterte er und suchte mein Auge.
Ich nahm all meinen Mut zusammen.
„Es ist gut“, sagte ich leise, so beherrscht, wie es mir gerade möglich war. „Öffnen Sie die
Tür.“
Er nickte mir, zögernd, wie mir schien, zu, kehrte sich um und tat wie geheißen. Er schob den
Schlüssel ins Schloß und drehte ihn leise mehrfach herum. Dann tat sich der Blick auf in das
Verlies der Frauen. Ich hatte fragen wollen, ob James Crucible mir sein Licht dalassen würde
und ob er ein zweites dabeihabe, das man am ersten entzünden konnte. Aber das erübrigte
sich nun, denn in dem Verlies war durchaus Licht, wenn auch ein schwaches. Es war ein
Raum, kaum zwölf auf zwölf Fuß, wie der Rest des Kellers aus jenen rohen Feldsteinen gemauert, in denen auch das ganze Haus oberhalb errichtet war, ohne Fenster, genau wie Franklin Stifel gesagt, mit einer Strohschütte unter der Stirnwand und einem Bottich für die Notdurft gleich neben der Tür. Es gab zwei weitere, offene Durchgänge in benachbarte Gelasse,
einen links, einen rechts in der Wand, offen, ohne Türen, aus dem linken heraus fiel das
schwache Licht.
Was mich bestürzte in der nämlichen Sekunde, in der ich an James Crucible vorbeitrat in den
Raum hinein, war die Tatsache - ich konnte keine der von mir erwarteten Frauen sehen, und
einen Augenblick lang glaubte ich gar, ich sei nur auf eine grausige Finte, einen schrecklichen
Einfall von Franklin Stifel oder Enid Luciter oder wem auch immer hereingefallen – warum
war der Diener nicht selbst wie verabredet hier erschienen, sondern hatte ein Milchgesicht wie
James Crucible geschickt - man hatte mich hierhergelockt, schoß es mir glühheiß durch den
Kopf, und hier gab es gar keine Frauen … Ich erwartete wahrhaftig einen Moment lang, das
heftige Zuschlagen der schweren Tür hinter mir zu vernehmen, Crucible fort und das sardonische Gelächter des Herrn dieses Anwesens hinter der zugefallenen Tür.
Dann bewegte sich ein Schatten in dem Durchgange links von mir, und eine Frau erschien in
dem offenen, kahlen, steinernen Rahmen. Das Licht verblieb hinter ihr, und so war es mehr
ihr Umriß, den ich erkannte, als alles andere. Sie trug ein Kleid mit Rüschen und Schleifen
unter der Brust und an der Seite und mit üppigem, weitem Decolleté, und dieses, ihr Kleid,
das ehedem schon mehr, wie ich sah, an Armen und Brust von ihrer bloßen Haut dargeboten,
als für eine Dame tunlich war, war nun durch den schlechten Zustand der Haft in einen noch
weit desolateren Zustand versetzt, und nicht viel besser ihre Unterwäsche. Jeder Inch ihres
Körpers, der sich mir dort in der Tür lehnend darbot, erzählte mir, wer sie war, und ich erkannte, daß ich schon vor langer, langer Zeit mit meinen kühnen Vermutungen – ausnahmsweise - einmal gänzlich richtig gelegen:
Sie war die Person der Straße, von der ich zuerst von Mrs. Eusebia Purcell gehört, lange,
lange zurückliegend in jenem Zimmer in Beulah Lane in Bethnal Green, in dem die traurige
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letzte Dämmerung sank, während oben die Kinder warteten … jene Virginia mit dem unpassenden Namen, von dem sie mir erzählt, und sie war überdies - wie ich lange zuvor auch dies
schon in meinen Notizen erkannt – sie war in der Tat die Metis des Gemäldes, gefallen, verfault, tot, geschächtet, an der Seite liegend, und mit gespreiztem Schoß. Eine Gänsehaut fuhr
mir über den Rücken, als ich sie dort jetzt lebendig stehen sah. Das Licht hinter ihr machte es,
daß ich den Blutschwamm auf ihrer Wange, von dem ich doch wußte, daß er da war, kaum
erkennen konnte …
„Sieh da“, sagte sie, „da ist er ja … unser Retter und Edelmann …“
Ich hob die Hand gegen sie, um sie zu bitten, einen Moment zu warten. Ich war verwirrt, über
ihren Ton, über was sie gesprochen. Weder der „Retter“ noch der „Edelmann“ schienen einem
verzweifelten Herzen entsprungen oder im Ansatz ehrlich gemeint. Ich war kein Edelmann,
nein, ich war der erste, der dies wußte, weder in wirklicher noch in metaphorischer Hinsicht,
niemand hatte mich je als solchen bezeichnet, noch hatte ich mich jemals selbst als solchen
gesehen, was also sollte dies – und ähnliches betraf auch das Wort des „Retters“. Vielleicht,
nein, natürlich - natürlich hätte ich mich gern als solchen meiner Io gesehen, aber dies Wort
aus ihrem Munde war nicht weit entfernt von offenem Hohn. Ihre Bemerkung, ich konnte es
nicht anders verstehen – und ich hatte den Verdacht, daß sie diese Bemerkung geäußert hatte,
damit ich ich sie so verstand – ihre Bemerkung setzte mich mutwillig der Lächerlichkeit aus.
Ich verstand nicht – schließlich hatte ich, wie mir schien, nicht weniger als mein Leben riskiert, um hier zu stehen, und dieses läppisch gemeinte Wort bewarf mich am Ende mit
Schmutz.
„Ich bin nicht ihretwegen hier“, sagte ich einigermaßen hart zu ihr, und ich war selbst überrascht, welcher Eingebung meines Innern mir dieser Ausdruck soeben entschlüpft war. Und in
der nächsten Sekunde kehrte ich mich zurück zu James Crucible, der mit seinem Lichte und
seinem jungen, freien Gesicht immer noch in der geöffneten Türe verharrte.
„Wann werden Sie wiederkehren?“ fragte ich.
„Wie es mit Mr. Stifel besprochen wurde“, sagte er. „Er oder ich, einer von uns wird Ihnen
die Tür wieder öffnen, morgen nacht um eins oder zwei, so daß Sie genügend Zeit haben, auf
dem vereinbarten Wege hinaus zu gelangen. Halten Sie sich morgen tagsüber gut verborgen,
wenn Essen gebracht oder der Kübel gelehrt wird, Sir, das tun nicht wir, sondern anderes Personal, fallen Sie nicht darauf herein, wenn die Tür geöffnet wird. Bleiben Sie versteckt.“
„Woran merke ich, wann die Zeit um ist?“ fragte ich mit einem Anflug von Bitterkeit oder
Schlimmerem: Verzweiflung.
James Crucible machte eine Geste mit seiner jungen Hand und fand zu einem vagen, schmalen Lächeln. „Sie werden es am Rhythmus Ihres Hungers merken, denke ich, Sir“, sagte er
leise, „und“ – und er wies darauf, „wann Sie den Kübel benutzen müssen ... wenn sonst nichts
mehr ist, Sir …?“
Ich sah, wie er langsam, von außen, die Türe heranzog, ich hörte, wie sie ins Schloß fiel, und
ich hörte, wie er etliche Male den Schlüssel herumdrehte. Die Türe war zu dick, zu stabil, so
daß der leichte Tritt seiner jungen Füße, indem er sich entfernte, hier herinnen nicht hörbar
wurde. Ich stand zur Türe gewandt, mit dem Rücken oder jedenfalls der Seite zu dem Mädchen Virginia gekehrt, ich sah sie nicht, ich wußte nicht, was das nun in mir war. Irgendetwas
schien mich zu warnen, ich solle verhindern, daß diese Türe geschlossen wurde, die bereits
geschlossen war. Irgendetwas gellte und schrie in mir und sagte mir, daß dies hier auf eine
unnennbare Art nicht richtig war.
Ich war zum ersten Mal in einem Raum mit meiner Io, und das frohe Herzklopfen blieb gänzlich aus, das ich für diesen Fall mit Sicherheit erwartet hatte. Ich konnte nur denken, daß ich
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zweiundzwanzig Stunden mit diesen drei Gefangenen verbringen würde und nun selbst gefangen war, zudem auf die dümmste aller denkbaren Weisen: freiwillig. Die Maus, auf den
Käse aus und in der Falle. Zweiundzwanzig Stunden, welch endlose Zeit! Was konnte unterdessen geschehen! Zweiundzwanzig Stunden in Gefahr, während derer man mich hier jede
Minute würde ausfinden können. Warum war Franklin Stifel nicht gekommen? Und war
James Crucible tatsächlich der lautere Charakter, als der ihn sein junges Gesicht auswies?
Ich mußte daran denken, wie ich damals bei der Vernissage jenem anderen Bediensteten,
o’Haney war sein Name gewesen, meine doch so gänzlich unschuldigen Fragen gestellt – und
das grausige Ergebnis war gewesen, daß er noch quasi in der nämlichen Minute zu seinem
Herrn und Meister, Sir Enid Luciter, gelaufen sein und dort Alarm geschlagen haben mußte,
denn als dessen Ergebnis war ich vorübergehend von der Feier in das Boudoir mit den Ampeln und dem betäubenden Räucherwerk entführt und peinlich einvernommen und übel bedroht worden. Damals hatte Luciter mir überaus höhnisch die Frage gestellt, ob ich allen Ernstes glauben könne, ihm einen seiner Bedienten vorübergehend entfremden, abspenstig machen zu können – natürlich ein Unding, das sah der einfachste Tor ein – und jetzt auf einmal
… Stephen Grains … Franklin Stifel … James Crucible … arbeitete die halbe Belegschaft für
mich, zudem für fast keinen oder gar keinen Obolus …?! Ich fühlte eine scheußliche Schwäche im Leib und die Frage kam mich an, worauf ich mich hier eingelassen …?
Ich kehrte mich, als die Zellentür verschlossen war, zurück gegen das Mädchen rechterhand,
die immer noch unverändert in der schwach erleuchteten Türnische lehnte, mit einem, soweit
das Licht es nur irgend zuließ zu erkennen, durchaus spöttischen Ausdruck, der zu dem paßte,
was sie zu mir gesagt … „Sieh da … da ist er ja … unser Retter und Edelmann …“.
Das waren ihre Worte gewesen.
„Mein Name ist Domenic Holland“, sprach ich zu der jungen Frau, „und Sie also sind das
Mädchen Virginia“, und ich hoffte, sie solcherart wenigstens doch etwas überrumpeln oder
übertölpeln oder verblüffen zu können - darüber, daß ich zumindest diesen Teil ihres Namens
kannte, obwohl wir uns nie begegnet, aber ich muß bekennen, sie war hinreichend hartgesotten, über diese meine Bemerkung nicht die Miene zu verziehen … „Und wollen Sie mir verraten, wie Ihr Familienname lautet?“ erkundigte ich mich.
„’Familie’ klingt gut, sehr gut“, gab sie rauh, in recht offenem Hohne zurück. Sie hatte den
Kopf etwas weiter in meine Richtung gedreht, so daß ich den Blutschwamm auf ihrer Wange
nun auch im Halbdüster recht deutlich erkennen konnte. „’Familie’“, wiederholte sie und
spuckte mir das Wort sozusagen vor die Füße. „Meinen Vater habe ich nicht gekannt, …
meine Mutter nannte sich Sykes, falls Ihnen das in irgendeiner Weise weiterhelfen sollte, Mr.
Holland. – Mr. Domenic Holland“, sagte sie mit Betonung, „Sie wurden uns avisiert …“
„Uns“, nickte ich mit Betonung, um ihr zu bedeuten, daß es für mich wichtigeres gab als die
Anwesenheit gerade ihrer Person. Eusebia Purcell war es gewesen, entsann ich mich, die zu
mir zuallererst davon gesprochen, daß eines der „Modelle“ für das teuflische Antiken-Bild ein
verderbtes Frauenzimmer gewesen sei, und ich hatte mein leichtfertiges, tollkühnes Abenteuer
gewißlich nicht auf mich genommen, um eine Virginia Sykes aus ihrer alltäglichen und
selbsterwählten Verdammnis zu erretten. „Uns“, wiederholte ich, „ … wo also sind die anderen?“
„Die anderen“, wiederholte sie mit maliziösester, gehässigster Modulation, „nun, dann treten
Sie doch nur herein in den Kreis der erlauchten Gesalbten und Erwählten, Mr. Domenic Holland, Sir … kommen Sie nur herein!“ und zugleich zu diesen Worten vollführte sie eine
übertriebene Geste der Demut und zog sich von der Türe zurück.
Ich folgte ihr nach in den anderen Raum, indem ich ungefähr das nämliche erblickte wie in
dem ersten Gelaß, nämlich eine Strohschütte, nur stand hier ein Licht an der Erde - das nämli249
che, das all die Beleuchtung verbreitete - und auf dem Stroh gebettet lag eine weitere junge
Person. Ich erkannte sie auf Anhieb, obwohl sie das Gesicht abkehrte, und ich fand nun bestätigt, was ich im Grunde seit langem gewußt. Dies hier war Leda mit dem Schwane, nur
waren der Schwan, der Glanz, der Gott, die Lust, das ganze Leben so entsetzlich weit entfernt
von ihr, wie man nur denken mochte, denn hier lag das junge Mädchen, von Vertrauten „Gossamer“ genannt, wie ich von Rosetta Manderlay wußte, hier lag die sechste der sieben Frauen,
und sie lag im schaudernden Fieber, seit etlichen Tagen womöglich, Stella Floyd, das arglose
Dienstmädchen aus Dullwich oder Islington, war sterbenskrank und verharrte auf der
Schwelle zwischen Leben und Tod.
Seitlich von ihrem Lager gab es einen weiteren offenen Durchgang hinein in eine dunkle
Kammer. Warum zeigte sich Io nicht?
Ich kehrte mich brüsk gegen Virginia Sykes und erkundigte mich: „Wo ist die dritte Frau?“
Ihr gewöhnliches Gesicht nahm womöglich noch einen Zug mehr des Hohnes an. Sie zog eine
schmale Augenbraue hoch. „Oh, Mr. Holland“, sagte sie breit, „Sie werden mit uns beiden
Hübschen vorlieb nehmen müssen, wenn nicht alles täuscht. Die dritte Frau … nun gut … die
dritte Frau … Fast machen Sie mich glauben, Mr. Domenic Holland, Sie seien eigens nur für
sie gekommen. Da haben Sie, fürchte ich bald, sollte dies der Fall sein, Ihren Weg umsonst
gemacht,“ - sie lachte hell auf, „und sitzen jetzt gerade hier wie wir gefangen, denn die andere, Mr. Holland, nun, die andere, wie Sie sie nennen, ist nicht mehr da.“ Sie breitete in gespieltem Bedauern die Hände aus und wiederholte: „Nicht mehr da.“
Was sollte ich sagen – damals, auf dieses „Nicht mehr da“? - Und was soll ich nun, hier und
jetzt, unternehmen, um Dir, geneigter Leser, mein Entsetzen und Bedauern, meinen Schrekken, meine Trauer, meine Wut zu beschreiben. Welche Worte reichen da aus? Man hat
Schiffe versinken sehen, unmittelbar vor den rettenden Hafenmauern wurden sie von den
Wogen verschluckt. Junge Frauen verstarben tagtäglich in unserem London und überall anderswo im Kindbett in der nämlichen Sekunde, in der sie eigentlich beginnen sollten, Mutter
zu sein, so endeten Ehen auf dem Höhepunkte des irdischen Glücks. Das Schicksal – immer
wieder erzeigte es sich als ein barbarisches, abgestumpftes, zügelloses Monster, das Menschen zermalmte mit gigantischem, bestialischem Kiefer.
Es war ein wahres Wort darum, daß ein Schritt vor dem Ziele im Grunde das nämliche war,
wie noch gar nicht losgelaufen sein. Mein Gott, wie lange und mühsam hatte ich auf diesen
Augenblick hingearbeitet, hingebebt, hingewirkt – und nun dies …. „Nicht mehr da …“
Ein Schrei wollte eigentlich aus meiner Kehle, der mir, wie ich spürte, im selben Moment die
Luft abwürgte, wutverzerrt. Ich hätte dieser Person vor mir, die dort lächelnd stand, die letzten Fetzen ihres ehemals ach so üppigen Kleides vom Leibe reißen und sie damit erdrosseln
mögen, dafür, daß sie mir das gesagt, daß sie mir das angetan, dabei hatte sie mir nichts angetan, nur etwas mitgeteilt, eine traurige, eine unumstößliche, eine schreckliche Tatsache, sie
war die Botin einer Nachricht, und es hatte schon immer zu den lächerlichsten Gepflogenheiten des Menschen gehört, eine Nachricht an ihrem Boten zu ahnden.
Aber in der nämlichen Sekunde ward mir mit einem Male klar, was Franklin Stifels Kommen
verhindert hatte. Er war ein kluger Mensch. Er hatte es für möglich gehalten, daß, hätte er
mich dort im Weinkeller angetroffen, wir sogleich in ein Gespräch geraten wären, aus dem
sich notwendigerweise sehr schnell ergeben hätte, daß die eine Frau, an der mir lag, entfernt
worden war. Er fürchtete für die beiden anderen, ahnte er doch, nein, wußte er doch vermutlich, daß es mir nur um die eine zu tun gewesen, und er hatte in die Kalkulation einbezogen,
daß ich noch dort im Weinkeller umgekehrt und die Flucht angetreten hätte. Indem er James
Crucible, jemand mir Fremden, schickte, hatte er die Möglichkeit eines solch vetrauten Ge-
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spräches verhindert. Er wollte, daß ich den verbliebenen Frauen half, der Fuchs, der Hund, der
gerissene!
Fast hätte ich selber lächeln müssen, dort im Gelaß mit den beiden Verbliebenen, als mir dies
durch den Kopf schoß, wäre es mir nur nicht ein solch schrecklicher Umstand gewesen, der
hier unvermutet eingetreten, die grausigste Kehrtwende der Geschichte, die sich ausmalen
ließ! Und warum nur, warum?!
Ich befeuchtete die Lippen mit der Zunge und brachte genau die Frage hervor: „Warum ist das
geschehen? Warum hat man sie hier fortgebracht?“
Virginia Sykes hatte mich beobachtet, in der geraumen Weile, in der ich nicht gesprochen,
und jetzt spielte sich neben all dem Hohn und der Gewöhnlichkeit Erstaunen in ihren Zügen
ab. Ich sah, daß sie antworten wollte - und ich sah, daß sie sich im letzten Moment zügelte
und anders besann. Und es war nun zum ersten Mal fast etwas wie Schonung oder Milde in
ihrer Stimme, als sie Antwort gab.
„Mr. Holland“, sagte sie. „Ich zweifle nicht, daß wir lange genug beisammen in dieser Zelle
bleiben werden, um in aller Ausführlichkeit zu besprechen, was Sie an Ungewißheiten auf
dem Herzen haben mögen. Zu dieser Frage indessen nur so viel: Glauben Sie allen Ernstes,
man sagt uns Bescheid, warum man die eine oder andere hier herausholt? Jede von uns ist
schon geholt worden, einmal, mehrmals, für diesen oder jenen Zweck, und hinterher, wenn
wir wieder herkamen, wußten wir, welchem Ansinnen unser Ausflug in diesem Falle gedient
hatte. Aber …“ fuhr sie mit erhobener Stimme schneller fort, indem sie in meine Augen
blickte, in denen sich angesichts dieser Mitteilung wohl ein Funke wie Hoffnung gezeigt haben muß, „freuen Sie sich nicht zu früh, Mr. Holland, freuen Sie sich nicht zu früh! Das junge
Ding kommt nicht mehr zurück, das ist gewiß, dazu ist sie schon viel zu lange fort.“
Ich stand dort, wie erstarrt, wie tot, und wußte instinktiv, daß es vorbei war. Ich war zu spät
gekommen, so einfach war die Lage. Und jetzt war ich hier eingeschlossen. Und jede Minute
meines Aufenthaltes hier, über dessen Ende ich nicht vorzeitig verfügen konnte, brachte sie,
Io, weiter von mir fort. Zwanzig oder zweiundzwanzig Stunden hatte ich hier auszuharren,
bevor mir Franklin Stifel oder James Crucible wieder aufschlossen, grundgütiger Himmel,
was alles konnte in dieser endlos langen Zeit geschehen! Die Spur war abgerissen, wohin
hatte man sie gebracht?
„Sie ist nicht mehr im Hause“, sprach das Mädchen Virginia Sykes. „Ich spüre so etwas. Sie
hat es übrigens vorher selbst gespürt. Sie hat gemeint, daß sie jetzt wohl bald fortgebracht
werden würde.“
Mir ging eine Gänsehaut über den Rücken. „Sie hat es gespürt?“ fragte ich. „Wann“, fragte
ich, „wann und wie, wann ist das alles passiert?“
Virginia Sykes überlegte. „Ich habe keinen Kalender geführt“, meine sie etwas schnippisch,
spöttisch, ein Rückfall in den alten Ton, aber als ich sie fest ansah, mäßigte sie ihre Stimme.
„Vorgestern wohl muß es gewesen sein, in der Frühe“, murmelte sie vorsichtig. „Wir hatten
gerade die Morgenmahlzeit bekommen, als es geschah, daß sich ein Schlüssel im Schloß
rührte und sie herausgeholt wurde.“
„Vom wem?“ fragte ich.
Die junge Frau zuckte die Schultern. „Zwei Diener.“
„Namen?“
„Was tun hier Namen zur Sache? Sie kamen gewiß nicht aus eigenem Antrieb. Abgesehen
davon, es gibt hier so viele Bedienstete, Mägde und Diener, sie kommen, bringen das Essen,
holen die Kübel ab - man sieht ständig andere, von den wenigsten kenne ich die Namen. Der,
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der Sie hergebracht hat, heißt James Crucible, das weiß ich wohl, weil ich ihn gefragt habe –
er ist ein freundlicher Mensch.“ Ich sah, wie ihr Auge glänzte, als sie den Namen nannte. Er
gefiel ihr. „Er kümmert sich um uns, wenn er kommt. Er hat uns auch angekündigt, daß Sie
bei uns erscheinen würden. Er und ein anderer sind freundlich … der andere heißt Franklin
mit Vornamen. Der Rest“, seufzte sie, „… nun ja. Wir sind hier nicht eingeladen, um freundlich behandelt zu werden, Mr. Holland, so ist das Leben.“
„Gewiß“, sagte ich und blickte sie an. Natürlich hatte sie recht. Zwei Diener also. Es hatte
mich nur interessiert, ob womöglich o’Haney dabeigewesen war oder jener kahlköpfige Sekretär, der damals bei meinem Verhör im Boudoir mit den Ampeln die Feder geführt, bis er
von Enid Luciter hinausgeschickt worden war.
Zwei Diener hatten vorgestern meine Io abgeholt, in der Frühe. Das war also am Dienstag
gewesen, einer der Tage, an denen ich sinnlos hierhin und dorthin durch London gelaufen
war, fiebernd auf den Augenblick hin, der mich hierher, in diese Zelle führen würde. Pah!
Was für ein grausiger Witz! Ich hätte mir stattdessen eine Kutsche mieten sollen und mich
hier in der Nähe des Anwesens aufhalten, so daß ich in der Lage gewesen wäre, ein Gefährt,
das Morass Manor verließ, selbst zu verfolgen.
Und „Pah“ dachte ich im nämlichen Moment ein zweites Mal. Was für ein Tor war ich doch!
Wie hätte ich mich mit einer Kutsche hier auf der flachen Heide ungesehen verbergen sollen –
eine Kutsche war immerhin eine Kutsche!, wenn ich doch selbst beobachten wollte? Ferner:
Wie hätte ich wissen sollen, wenn denn eine Kutsche herausgefahren gekommen wäre, daß
gerade sie, die Gesuchte, die Geliebte, darinnen saß, es stand doch vermutlich nicht an der
Außenseite verzeichnet! Und drittens: Woher, aus welchem Hinweis heraus, hätte ich ahnen
sollen, daß man sie – ausgerechnet sie, warum nicht eine der beiden anderen? – von hier herausnehmen wollte? Und warum?! Warum?! Nein, nein, dachte ich bitter, ich war im Grunde
nie mit einer Chance versehen gewesen, dies hier zu hindern!
Und während Steven Grains mich gestern früh in meiner Dachkammer bei Mrs. Hamlet aufgesucht hatte und während ich gestern Mittag ungestüm über die Heide gen Hounslow aufgebrochen war, um vierzehn Stunden später todesmüde mein Ziel, nämlich dieses Gelaß hier zu
erreichen - die ganze Zeit über … da war sie schon längst von hier entfernt gewesen! Oh Gott,
es war so sinnlos, so dumm, so gemein!
Gestern vor zwei Wochen war es gewesen, im Middlesexhospital hatte ich sie in der rasenden
Kutsche erblickt. Ich war ihr noch am nächsten Tag ins Bedlam nachgesetzt, hatte dort ausmitteln können, daß sie hierhergebracht worden sei. Dann indessen kam der Mord an Rosetta
Manderlay, die Nacht in Bunhill Fields, die Krankheit, die Planung all dessen hier … all das
hatte zwei Wochen gekostet … zu lang, zu lang, ich hätte es wissen müssen, und vielleicht
hatte ich es sogar gewußt … die Resignation kam über mich wie eine große Welle im Ozean.
Damals im Middlesex hatte ich sie gesehen, ja, aber seither war sie mir im Grunde nur immer
ferner und ferner geraten. Zweimal hatte ich noch gewußt, wo sie zu finden sein würde, jetzt,
beim dritten Mal, war der Faden endgültig abgerissen. Was tun? Ich war am Ende meiner
Weisheit. Ich fühlte, wie in mir die heißen, bitteren Tränen aufstiegen. Ich fühlte den Salzgeschmack im Mund.
Ich wandte mich von Virginia Sykes fort. Ich wollte nicht, daß sie es sah, und ich kniete mich
nun neben Stella „Gossamer“ Floyd ins Stroh. Überhaupt. Was war dies hier? Ich war hier
hereingebrochen in die Zelle, mit sturem, starrem Sinn, der nur auf eines gerichtet gewesen,
und hatte mich hier exaltiert, während dieses Menschenkind daneben krank auf dem Lager
darbte. Was war los mit mir? Vergaß ich in all meinem törichten Zorn, meiner Trauer, meiner
Unbedachtheit nunmehr schon die einfachsten Gebote der Menschlichkeit?
252
Ich dachte, was ich über dies Mädchen von Rosetta Manderlay gehört, daß sie ein Dienstmädchen mit dem hübschen Namen Stella Floyd sei, daß sie sie alle aber nur „Gossamer“ genannnt hatten, weil sie so zart gewesen sei. Daß sie häufig geweint habe. Und sie habe Grund
gehabt für dies häufige Weinen, denn sie war damals in Cornwall, als das Bild entstand, nicht
nur wie die anderen immer wieder und wieder von jenem eklen schmutzigen Meister, Giovanni Battista Condonniere oder Jean Baptist Cordonnier oder Johann Baptist Schuster oder
wie auch immer zu lästerlichen, unzüchtigen Dingen abgeholt und gezwungen worden, sondern sie hatte zuletzt sogar gemeint, daß sie nun davon in Umständen sei.
Stella Floyd. Ich hob die Lampe vom Boden und beleuchtete mir vorsichtig ihren Leib, ihr
Gesicht. Sie war ein hübsches Mädchen - Stella, in der Tat, wie hübsch, der Stern, das Sternenkind! –
Ein auf die eine oder andere Art hübsches Mädchen, rechnete man einmal den furchtbaren
Blutschwamm ab, war im übrigen trotz des etwas gewöhnlichen Ausdrucks zweifellos auch
Virginia, die sich nun ebenfalls zur Seite der Liegenden mir gegenüber im Stroh niederhockte
und mir zusah bei dem, was ich tat – das waren sie alle, alle – alle waren sie hübsch gewesen,
das hatte der Anspruch des Bildes wohl notwendig gemacht …
Gossamer … nun denn … die Augen geschlossen, feinen Schweiß auf der Stirn, ein blasses
Gesichtchen, in dem sich aufgrund der Blässe Sommersprossen um die Nase überdeutlich
abhoben, blasse halbgeöffnete Lippen, durch die sie fiebernd und stoßweise atmete. Die Augen unter den Lidern bewegten sich wild, die Lider flatterten, dunkle Wimpern trotz der blonden Haare. Ein feines, ich mochte fast sagen, edles Gesicht, obwohl sie „nur“ ein einfaches
Dienstmädchen war, ein unschuldiges Menschenkind, dem man Übles angetan. Sie fieberte,
ich spürte, als ich mich neben ihr niederließ, die Hitze, die von ihrem Körper ausging, noch
bevor ich mit der Rückseite meiner Finger sachte ihre Stirn und Wangen berührt hatte.
„Man sollte sie kühlen, wenn wir die Mittel dazu hätten“, meinte ich leise.
Virginia Sykes ließ ein spöttisches Schnauben hören. Sie wies auf einen seitlich stehenden
Krug mit Wasser und einige feuchte Tücher, die da im Stroh lagen. „Was meinen Sie wohl,
womit ich mir die Zeit vertrieben habe, Sir, bis Sie kamen“, stieß sie unfreundlich hervor.
Krug und Tücher … ich hatte dies bisher übersehen.
Sie lehnte sich etwas nach vorne, mir entgegen, so daß ich genötigt war, viel zu tief in ihren
Brustausschnitt zu blicken, was mich bei jeder anderen Gelegenheit in tiefe Verlegenheit versetzt hätte. Mit einer brüsken, ruppigen Bewegung griff sie nach dem Kleidersaum des zwischen uns liegenden Mädchens und riß diesen, Unterröcke inbegriffen, eine Stück weit hoch,
so daß Gossamer Floyds Beine bis zu den Knien sichtbar wurden. Ich sah dort Tücher, nasse,
vermutlich kalte Tücher, die um die Waden gewickelt waren. Nach einem Moment zog sie
das Kleid wieder herunter, diesmal fast sanft, fast zärtlich zupfte sie es zurecht.
„Ich verstehe“, sagte ich leise. „Natürlich … Bitte … verzeihen sie mir.“
Sie lehnte sich wieder zurück. „Gut“, sagte sie harsch, und einen Augenblick lang trafen sich
unsere Augen. Es war ein auf sonderbare Weise sehr intensiver Moment, der mich frösteln
machte.
Vieles machte mich frösteln. Gossamer Floyd lag vor mir und sie hatten ihr Übles angetan, in
der Tat. Mir schien, daß ihr Bauch leicht gerundet war. Wenn dies im Mai oder Juni passiert
war … nun, jetzt hatten wir Mitte November. Und dann ihr Fieber … es wollte mir nicht gefallen. Ich war natürlich kein Arzt, aber die Erklärung, die sich mir aufdrängte, war die, daß
etwas mit diesem Kinde nicht in Ordnung war.
„Gibt es hier … kommt hier nie ein Arzt?“ fragte ich, und es war mir gleich, ob Virginia Sykes über der Naivität meiner Frage in Gelächter ausbrechen würde. Aber das tat sie gar nicht.
253
„Ich habe zu James Crucible gesprochen“, meinte sie ruhig. „Er hat das Mädel auch in diesem
Zustande gesehen. Er hat es weitergegeben, sagt er. Aber es ist nichts geschehen seither. Sie
ist seit vier, fünf Tagen in diesem Zustand, gelangt kaum einmal zum Bewußtsein. Ich flöße
ihr Wasser ein, wenn es geht, mache sie sauber, soweit das geht …“ sie brach ab.
Ich errötete und nickte hastig. Es war grotesk. Dabei, dachte ich, hätte es hier doch gar nicht
schwer sein dürfen, einen Arzt beizutreiben, wenn schon nicht aus dem nächsten Flecken, aus
Acton oder meinethalben Kensington, so hatte der Hausherr doch beste Beziehungen, wie ich
wußte, zu einem Menschen namens Dr. Gideon Copeland, wenngleich dieser auch, wie ich
geneigt war zu glauben, den hippokratischen Eid wohl eher für nichts als ein entbehrliches
Stückchen Papier hielt. Der Plan war ganz offensichtlich, Gossamer Floyd, die das Zeugnis
einer barbarischen Sünde in ihrem Schoße barg … und zur Welt bringen würde, ein Zeugnis,
das womöglich angetan war, gewisse einflußreiche Personen zu verderben, der Plan war ganz
offensichtlich, Gossamer Floyd aus ebendiesem Grunde hier verrotten zu lassen; überdies:
Wen kümmerte schon ein verschwundenes Dienstmädchen – zumal es seit ihrem Verschwinden vor über einem halben Jahre auch offensichtlich niemanden gekümmert hatte. Der Beweis
war längst erbracht, daß niemand sie vermißte.
Nun gut, dachte ich zornig. Wenn also kein Arzt hierherkam, dann mußte dieses Menschenkind zu einem Arzt gebracht werden, und es war meine Pflicht dies zu tun. Einen Tag noch
mußte sie durchhalten, nur noch einen Tag … wenngleich mich Furcht und Zagen neuerlich
ankommen mochten beim Gedanken daran, wie ich es am Ende bewerkstelligen sollte. Es
wäre schwierig genug gewesen, hier heraus mit meiner Io zu flüchten. Es wäre ungleich
schwieriger gewesen, mit dreien von ihnen von diesem Anwesen zu entkommen. Es würde so
gut wie unmöglich sein, dasselbe mit zweien zu unternehmen, von der sich die eine in diesem
erbarmungswürdigen Zustande befand.
Virginia Sykes hatte unterdessen sich der Tücher und des Kruges wieder bemächtigt und
tupfte sanft Gossamer Floyds Gesicht ab, den Hals, das Décolleté, die bloßen Arme, die
Hände, und das Mädchen schien etwas leichter unter ihren Fingern zu atmen.
„Was ist dies?!“ entfuhr es mir.
„Was meinen Sie, Sir?“
Ich starrte wie von allen guten Geistern verlassen darauf, deutete hin. Denn als Virginia Sykes
die rechte Hand des Mädchens versorgt hatte, hatte ich dort etwas Rotes glitzern gesehen …
einen Ring … einen kostbaren Ring von, was mir schien, Diamanten und Rubinen, kein Ring,
den ein Dienstmädchen getragen haben würde … einen Ring in der Form eines roten Herzens
… Von diesem Ring, dachte ich, und ich entsann mich, hatte dort in Southwark in jener
mondhellen Nacht heraußen auf der Straße am Themseufer Rosetta Manderlay zu mir gesprochen.
„Grundgütiger Himmel!“ stammelte ich.
„Ich verstehe, Sir“, sprach Virginia Sykes, „von diesem Ring haben Sie also auch schon gehört. Oh ja, ein köstliches, ein wunderhübsches, ein äußerst kostbares Stück!“ Sie hielt mir die
Hand des bewußtlosen jungen Mädchens entgegen, so daß ich den Ring genauer studieren
konnte.
„Aber das ist ihr Ring …“ sagte ich fassungslos. „Dieser Ring gehörte ihr!“
„Ihr“, wiederholte Virginia Sykes mit Betonung, aber es war diesmal nur geringer Spott aus
diesem Wort zu hören. „Oh ja, ganz recht, Sir, dieser Ring gehörte ihr …“
„Nun …. und?“ heischte ich ungeduldig zu wissen.
254
Virginia Sykes legte die Hand der Kranken wieder ins Stroh. Mir galt ein kurzer, aufmerksamer Blick. Dann beschäftigte sie sich weiter mit der Pflege des hilflosen Körpers, der dort
schwer atmend zwischen uns lag, während sie sprach.
„Nun, dies hängt offenbar damit zusammen, daß das andere Mädchen es ahnte, daß es von
hier fortmüsse – Sie erinnern sich, daß ich es Ihnen sagte?“ fragte sie.
„Ja, gewiß, ich erinnere mich“, antwortete ich, und ich spürte, wie mich, genau wie beim ersten Mal, abermals eine eisige Gänsehaut erfaßte, als die Rede darauf kam, daß Io es zuvor
geahnt haben müsse, daß sie bald fortmüsse von hier.
„Vorgestern, den Morgen haben sie sie geholt“, sprach Virginia Sykes. „Aber sie war am
Tage zuvor schon einmal abgeholt worden, um Mittag herum, wenn ich nicht irre. Da war sie
nicht lange fortgewesen. Als sie zurückkam, weinte sie. Und von da an brach es immer wieder
aus ihr heraus, daß sie nun wohl bald fortgeschafft werden würde. Ich befragte sie, warum das
denn so sei, aber sie schüttelte nur den Kopf. - In der Nacht dann ging es Gossamer sehr
schlecht. Da war es, daß das Mädchen zu ihr hinkroch, und ich sah, wie sie sie umarmte und
ihr diesen Ring ansteckte, den sie bis dahin immer selbst getragen, seit ich sie kenne. Gossamer war ganz ohne Bewußtsein, wie jetzt, und spürte nichts von alledem. Sie blieb die ganze
Nacht bei ihr, während sie sonst immer in der anderen Kammer schlief, hielt sie im Arm, und
ich bemerkte, daß sie weinte. Und morgens wurde sie geholt …“
„Grauenvoll“, dachte ich, „schlicht entsetzlich … grauenvoll!“
„Und es gibt noch etwas“, sprach Virginia Sykes leiser und nestelte an Gossamers Kleid, wo
sich seitlich eine kleine Tasche befand. „Ich sah, daß sie dies hier schrieb und ihr hineinsteckte“, sprach sie und fingerte ein Zettelchen hervor, hielt es mir hin. „Ich kann bedauerlicherweise nicht lesen“, sagte sie, „und Gossamer im übrigen, selbst wenn sie in besserem
Zustande wäre, auch nicht.“
Ich nahm das Zettelchen entgegen, entrollte es und hielt es ins Licht. Die feine Schrift dort
war mir sofort vertraut. Zu oft hatte ich den Zettel mit dem wunderbaren Gedicht gelesen, das
damals Fiona de Cato mir überlassen.
Dies hier war kein Gedicht. Es war nur ein kurzer Spruch, zwei knappe Zeilen, aber er berührte mich fast genauso. Dort stand geschrieben:
„Du schenktest mir Dein Herz.
So nimm denn, Stella, hin das meine.“
Welch ein Abschied! Und am Morgen darauf war sie geholt worden. Ich spürte abermals, wie
Tränen in mir aufstiegen und reichte dem Mädchen Virginia den Zettel zurück.
„Wollen Sie ihn mir nicht vorlesen?“ fragte sie leise.
„Oh, natürlich, vergeben Sie mir meine Unbedachtheit.“ Ich stellte fest, daß es andauernd
dazu kam, daß ich sie um Verzeihung zu bitten hatte. So nahm ich den Zettel noch einmal zurück, las ihn ihr vor und bemerkte, gleichwohl überrascht, daß auch ihre Augen mit einem
Male feucht glänzten. Schließlich reichte ich ihn ihr sanft, und sie steckte ihn zurück in die
Tasche.
Ich verfiel in Grübeln und sah ihr zu, wie sie ihre mildtätigen Handlungen an der Kranken
wieder aufnahm. Ich sah die Szene vor mir, wie meine Io geholt worden war, des Morgens,
und ich sah sie die letzte Nacht zuvor, die sie durchweint, wie sie dort das Zettelchen geschrieben und der besinnungslos Kranken ihren kostbaren Ring an den Finger gesteckt. Schon
am Tage zuvor war sie hier für einige Zeit herausgezwungen worden, gegen Mittag, hatte
Virginia Sykes berichtet, und dann, als sie zurückgekommen, von da an habe sie gewußt, daß
sie hier hinausmüsse, und geweint.
255
Das war demnach der Montag gewesen, schoß es mir durch den Kopf, als ich im ‚Monthly
Mercury’ vorgesprochen und Franklin Stifel wieder seine Arbeit in Morass Manor angetreten
hatte, daß man sie mittags hier herausgeholt. Augenblick … sollte es da irgendeinen Zusammenhang geben? Ich hatte mit Franklin Stifel meinen Plan geschmiedet, dann war er wieder
hierher zurückgekehrt, um wie verabredet alles Notwendige in die Wege zu leiten, am Montag, und noch am gleichen Tage ward sie aus der Zelle gebracht und am nächsten Tage gänzlich auf und davon … Da sollte doch der Teufel …!
Was war das? War Franklin Stifel erwischt worden, etwa, als er einen Schlüssel zu stehlen
versuchte? Oder hatte er immer auf der anderen Seite gestanden und mich nur geschickt getäuscht? Hatte man ihn gefangen, gefoltert, und unter den Schmerzen hatte er unser Vorhaben
eingestanden? Hatte man im Hause Luciter solcherart erfahren, weshalb ich auf dem Wege
hierher war - um sie zu holen, meinen Engel, meine Io - und hatte sie deshalb entfernt, als
Vorsichtsmaßnahme vor der Zeit? War ich dergestalt womöglich selbst an ihrer Entfernung
schuld? Doch nein, nein, nein … der alte Fehler … ich nahm mich schon wieder zu wichtig.
Derart würde sich Luciter seine Kreise nicht stören lassen, er würde meinetwegen keine ursprünglichen Pläne ändern.
Zudem, wenn sie denn schon wußten, daß ich kam, und auf welchem Wege, warum spielte
man dann mein Spiel sozusagen mit, ließ mich erst noch hier herein, anstatt mich gleich beim
Eindringen festzusetzen? Hatte man mir beim Betreten dieses Grundstücks aus dem Dunkeln
höhnisch lächelnd zugeschaut? – unheimlicher Gedanke! Mit welchem Ziele – wenn sie denn
wußten – mit welchem Ziele ließ man mich gewähren?! - Narr! schalt ich mich im nächsten
Moment. Warum hätten sie etwas dagegen tun sollen, als ich um Einlaß in mein Gefängnis
bat. Sie hatten mich immerehin nicht zu holen brauchen, ich war aus freiem Willen in ihre
Falle getappt. Welch eine schauerliche Farce!
Wie würde es sein? Würde es einfach kein Essen mehr geben, morgen früh? morgen mittag?
morgen abend? und immer so weiter die Tage hin, bis wir hier drinnen den Staub und die
Feuchtigkeit von den Wänden kratzten, bis wir verhungerten und verdursteten? Brachte ich
dergestalt, der ich doch nur meine Io hatte retten wollen, mich selbst und zwei junge Frauen
ums Leben?
Fragen über Fragen. Und das ständige Warum! Nun: War Franklin Stifel gefangengesetzt oder
nicht? Oh, Herr im Himmel, warum war er nicht selbst gekommen?! Ich fühlte, wie sich
meine Gedanken im Kreise drehten.
Ein Schweigen war zwischen uns hereingebrochen, indem ich nachgedacht und während Virginia Sykes dem armen Mädchen mit den kühlen Tüchern Linderung verschafft, ein Schweigen, das ich schließlich mit den Worten endete: „Sagen Sie, Miss Sykes, wie geht es morgen
früh hier üblicherweise weiter?“
„Sagen Sie nicht ‚Miss’ zu mir“, schnappte sie zurück. „Niemand nennt mich ‚Miss’, Sir.
Nennen Sie mich ‚Hure’ oder ‚Bankert’ oder ‚Blutschorf’ oder ‚Dreckstück’, so wie mich
mein Lebtag alle genannt haben. Oder sagen Sie in Gottes Namen ‚Virginia’!“
„Ich denke, ich werde das letztere vorziehen“, meinte ich.
Sie zog die Stirne kraus und blickte mich an. „Wie es weitergeht? Nun, irgendwann wird das
Frühstück gebracht, es wird, wie die anderen Tage auch, aus Kleie bestehen, eine Art Porridge. Es ist nicht Porridge, Sir“, setzte sie hinzu, „nur so eine Art. Daneben gibt es Wasser,
zum Waschen, zum Trinken, Wasser gibt es genug. Verdursten werden wir nicht.“
‚Wenn Du wüßtest, Virginia’, dachte ich, ‚was ich gerade eben Furchtbares überlegt …’ Aber
ich ließ nichts von meinen Ängsten verlauten. Ich wollte sie nicht unnötig bedrücken.
256
„Und für den Fall, daß eine Mahlzeit gebracht wird?“ fragte ich sie, „was empfiehlst Du mir,
wie ich mich verhalten soll? Ich meine, wenn sie hereinkommen, wie soll ich mich verstekken? Hier ist nichts, kein Schrank, kein Vorhang, wo ich mich verbergen könnte. Nur die
kahlen Wände und das wenige Stroh auf dem Boden …“
„Hätten Sie sich das nicht vorher überlegen sollen, Sir?“ erkundigte sie sich bissig - abermals
ein Rückfall in den alten Ton – um dann friedlicher hinzuzusetzen: „ich denke, Sie müssen
sich darum keine Sorgen machen, Sir, Mr. Holland. Wenn Sie sich dorthin zum Schlafen zurückziehen“, sie deutete auf das Nebengelaß, in dem es dunkel war und das ich noch nicht
betreten hatte, das Gelaß, das durch diesen Raum hier, in dem Stella Floyd lagerte, von jenem
getrennt war, in welchen auf der anderen Seite die Eingangstüre mündete und das mithin am
weitesten von diesem Zugang entfernt lag, „wenn Sie sich in diesem Raume aufhalten, Sir,
wenn das Essen gebracht wird, wird das, denke ich, in der Ordnung sein. Es ist noch nie jemand hereingekommen und hat die Kammern kontrolliert – wozu auch?“ – sie lachte boshaft
– „hier kommt niemand unentdeckt herein oder heraus, das wissen Sie doch. - Obendrein“,
setzte sie hinzu, „es wird Ihnen da gefallen, denn es ist ihr Raum.“
Ich drehte mich um, musterte die offene, dunkle Türöffnung. Ja das gefiel mir, ihr Raum. Ich
würde in dem Stroh ruhen, in dem sie sich bis vor zwei Tagen gebettet hatte … welche eine
Ironie!
„Und wo schlafen Sie?“ fragte ich das Mädchen.
„Oh, ganz am anderen Ende, im vierten Raum von Ihnen“, sie lachte erneut. Sie warf einen
prüfenden Blick auf die Kranke zu ihren Füßen, der es etwas besser zu gehen schien, denn sie
atmete jetzt ruhiger. Sie strich ihr sanft über die Stirn, dann warf sie das Tuch über den Krug.
„Schlafe gut, mein Engel“, murmelte sie.
Sie blickte mich unvermutet an, und ihr Blick gab mir einen Stoß.
„Im vierten Raum von Ihnen“, wiederholte sie. „So hat es keinerlei Gefahr, Mr. Holland,
keine Gefahr. Außerdem …“, sie beugte sich abermals vor wie zuvor, so daß ich unbeabsichtigt einen Blick in ihr zu weites Décolleté tun mußte, aber sie tat es nur, um sich auffällig an
dem Blutschwamm auf der Wange zu kratzen, „außerdem“, wiederholte sie ernsthaft, „ist es
nicht ansteckend …“
Mein Blick irrte von ihrer Brust hoch auf den Blutschwamm, und ich stieß hervor: „Oh mein
Gott, nein, gewiß nicht.“
Da richtete sie sich wieder auf und lachte abermals, es war ein fast fröhliches Lachen, und ich
begriff, daß sie mich zum Besten gehabt. Ich versuchte ebenfalls zu lächeln, und ich denke,
daß es mir nach den Umständen nicht übel gelang.
Eine Pause senkte sich über uns, in der eine lange Zeit verstrich. Ich bemerkte plötzlich meine
Müdigkeit, und ich wußte, daß ich mich darüber nicht zu wundern brauchte.
„Warum,“ fragte ich schließlich, warum nennen auch Sie sie immer nur ‚sie’? Wissen auch
Sie denn nichts über ihren wahren Namen?“
Und als sie schwieg, fuhr ich fort: “Was glauben Sie, was ich inzwischen alles darüber gehört!
- Daß es ein französisches Wort sei und überhaupt kein Name, ein französischer Begriff.
Und“, setzte ich hinzu, als sie weiter schwieg, „er beginne mit einem ‚O’ – das habe ich noch
herausbekommen …“ und ich dachte dabei bei mir an ‚Odeur’, … ‘Ombre’, … ‘Odéon’ …
und ‘Odalisque’ und all die anderen nur halb spaßigen Vermutungen, die Ambroise Tardieu
dort in der Kutsche geäußert, als wir vom Bedlam wegfuhren.
Virginia Sykes saß mir gegenüber im Halbdunkel, der Körper Stella Floyds lagerte wie ein
sanfter Tisch zwischen uns. Wäre der Blutschwamm auf der Wange nicht gewesen, dachte
257
ich, so wäre sie ein recht ansprechendes Mädchen gewesen, aber das Licht stand jetzt dergestalt an der Erde, daß man gar nicht viel von der Entstellung in ihrem Antlitz wahrnahm.
„Aber ich weiß, wie sie heißt“, sagte Virginia Sykes.
Sie sprach es so leise und so zurückhaltend, daß ich einen langen Augenblick lang glaubte, ich
hätte sie falsch verstanden.
„Was haben Sie eben gesagt?“ fragte ich zitternd, atemlos.
Sie saß reglos und gerade aufgerichtet. „Ich weiß, wie das Mädchen heißt, das Sie lieben“,
wiederholte sie ruhig. „Sie hat es mir selbst gesagt. Und ich kenne sogar – von ihr selbst – die
Geschichte, warum sie so heißt … - Nun … was bekomme ich von Ihnen, Mr. Holland, wenn
ich es Ihnen weiterverrate?“
Ich saß da wie vom Blitz getroffen, starrte sie einfach an, atemlos und ratlos und wußte nicht,
wie weiter. „Alles“, brachte ich schließlich hervor. „Alles bekommen Sie von mir, was Sie
nur wollen …“
Sie blickte mir gerade in die Augen, eine lange Zeit.
„Nun gut“, sagte sie schließlich mit sonderbar lebloser Stimme. „Dann möchte ich, daß Sie
mir die Hand geben und dazu meinen Namen nennen.“
Ich holte tief Luft. Es war, als ob mein Herz stehengeblieben war. „Aber das würde ich jederzeit tun, auch ohne daß …“
„Geben Sie sie mir einfach“, unterbrach sie mich mit ihrer sonderbar leblosen Stimme und
hielt mir ihre Hand hin.
Ich nahm sie. Sie fühlte sich warm an und weich und trocken und hübsch, die Hand, die zuvor
noch Gossamer Floyd versorgt …
„Virginia …“, sagte ich.
Sie löste ihre Hand ruckartig aus meiner, zog sie zurück, sah mich starr an. „Danke“, murmelte sie.
Ich mußte unter diesem Blick meine Augen senken. Ich fühlte mich zutiefst beschämt. Ich
starrte blicklos hinunter auf Stella Floyds kleinen, schwangeren Bauch zwischen uns.
„Das Mädchen, das Sie lieben … sie kam noch als Säugling nach England, heißt es“, hörte ich
Virginia Sykess Stimme. „Aber sie wurde in einem Gasthaus in Nordfrankreich geboren, sie
kannte ihre Mutter nicht, nur ihren Vater; das hat sie mir erzählt, und mit ihm kam sie nach
England. Sie hat keinen Namen, keinen christlichen Namen, und keinen Familiennamen. Aber
sie wurde in einem französischen Gasthause geboren. Und deshalb … deshalb heißt sie so. Es
ist das französische Wort für ‚Herberge’, ‚Gasthaus’ …“
„Auberge“, murmelte ich und fühlte mich, als ob mir die Sinne schwänden … deshalb ‚vorne
mit ‚O’’ …
„Natürlich“, sagte Virginia, und in ihrer Stimme klang ein Anschein der alten Bitterkeit mit.
„Natürlich – Sir - Mr. Holland, Sir, natürlich können Sie Französisch …“
„Auberge …“ wiederholte ich flüsternd bei mir.
„Da haben Sie den Namen der Frau, die Sie lieben“, bestätigte sie mir leise, und es war, als ob
sie den Geschmack dieses Wortes kosten wollte, als sie es gedämpft und prüfend selbst noch
einmal murmelte: „… Auberge …“ --Ihre französische Aussprache klang nicht schlecht …
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Wir versanken im Schweigen wie in einem Sumpf. Sie saß mir reglos gegenüber, gerade aufgerichtet, musterte mein Gesicht. Das Licht schimmerte und zuckte zutraulich auf den Wänden. Zwischen uns atmete Gossamer Floyd, friedlich und recht ruhig. ‚Auberge’, dachte ich in
meinem Innern - und wieder und immer wieder ‚Auberge’ und ‚Auberge’ und ‚Auberge’ …
Nun war das Geheimnis gefallen, das Mysterium gelöst, dieses eine Verborgene zumindest,
nie, niemals wieder mußte ich sie ‚Io’ nennen …
Aber wo war sie jetzt, das Mädchen ‚Auberge’, wo war sie jetzt da draußen … irgendwo in
kalter Nacht … vielleicht in einer Kutsche unterwegs … wohin …? Und würde ich sie jemals
wiedersehen …?
„Ich weiß nicht, wie Sie darüber denken“, sagte mit einem Male Virginia Sykes rauh, nachdem wir – ich weiß nicht, wie lange – geschwiegen hatten, „aber mich kommt jetzt deutlich
die Müdigkeit an, Mr. Holland, Sir. Ich weiß nicht, wie spät wir es haben mögen, denn ich
besitze keine Uhr, drei oder vier oder fünf, aber unserer Kranken geht es für den Augenblick
annähernd befriedigend, und es könnte Zeit sein, sich zur Ruhe zu begeben.“
„Gewiß“, sagte ich, „gewiß, Virginia.“
Wir griffen beide gleichzeitig nach dem Licht, und unsere Hände stießen zusammen.
„Oh“, machte sie leichthin. „Lassen Sie dies mich für Sie tun.“ Ich zog sie Hand zurück.
Wir erhoben uns gleichzeitig, ich kehrte mich um und tat die wenigen Schritte auf den offenen Durchgang nach nebenan zu. Daher, daß sie mir mit dem Lichte unmittelbar folgte, wurde
es augenblicklich dort herinnen hinreichend hell, und ich sah eine Strohschütte wie in den
anderen Räumen. Das Mädchen Virginia blieb hinter mir an der Türöffnung stehen, und ich
trat hinein und bettete mich flink in das Stroh, während sie mir von der Türe her leuchtete.
„Schlafen Sie wohl“ flüsterte sie, als ich lag. „Hier sind Sie so sicher wie, wenn auch nicht in
Abrahams Schoß, so doch dem Ihrer Geliebten, wenn man so sagen darf …“
Und ehe ich etwas darauf erwidern konnte, war sie aus der Türöffnung verschwunden, und
das Licht, das sie trug, schimmerte auf dem Türrahmen schwächer und schwächer, bis völlige
Dunkelheit dort verblieb, während sie sich, zwar nur durch offene Türdurchgänge von mir
getrennt, wie ich wußte, jedoch drei Zimmer weit zurückzog, an das andere Ende der Kammern.
Ich lag im Dunkeln und schief langsam ein. Nebenan hörte ich Stella Floyd leise atmen. Virginia Sykes … dachte ich, während ich in die Finsternis vor mir starrte … wäre der scheußliche Blutschwamm auf der linken Wange nicht gewesen ... Sollte es am Ende dazu kommen,
daß ich mich ein weiteres Mal bei ihr zu entschuldigen hatte?
Denn gerade erst war es mir ins Gedächtnis gekommen, wie erstaunlich es doch im Grunde
schien, daß ein gefallenes Weib wie sie, verderbt zweifellos bis ins Mark, eine Hure, gänzlich
ein Kind der Gosse, daß sie in all der verflossenen Zeit es nicht unternommen hatte, diese
Kostbarkeit aus Rubinen und Brillanten an Stella Floyds Finger an sich zu bringen. Dieser
Ring konnte Lebensexistenz sein, und der Schutz vor Hunger, er konnte Brot sein und Unterkunft und Ruhe, die Flucht aus ihrem Gewerbe - für ein Mädchen mit einem Blutschwamm.
Immerhin wußte die besinnungslose Gossamer bislang nichts von ihrem neuen, köstlichen
Besitz, und das Mädchen Auberge war längst nicht mehr da, um den Raub zu hindern.
Und trotzdem hatte sie, Virginia, den Ring dort gelassen, wo er war, am Finger des Dienstmädchens. Ich fühlte, ich sagte es, in mir ein mildes Erstaunen.
Ich lag dort im Stroh – es war nicht mein Bett – es war, unglaublich genug, Morass Manor.
Kurios, dachte ich, während mein Verstand langsam in die Schwärze des Schlafes hinüberdämmerte, daß ich zuvor gar nicht daran gedacht hatte und wie es schließlich sein würde, daß
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ich hier, bei meiner Expedition in Feindesland, einfach aufgrund ihrer Dauer, genötigt sein
würde, die Augen zuzutun und tief zu schlafen, reglos, wehrlos, ungesagten Gefahren ausgesetzt …
.....
Ich erwachte von einem Geräusch, das ich nicht einordnen konnte. Etwas klirrte, hatte gescheppert. Dann hörte ich Stimmen, dumpf, und verstand kein Wort. Es schepperte wieder.
Ein Krug war abgesetzt worden oder eine Schüssel aus Zinn. Zinn … dachte ich … woran,
entfernt, erinnerte mich dies? Um mich war es gänzlich dunkel, so daß ich zunächst nicht
wußte, wo ich mich befand, nur ganz schwach etwas wie ein Türrahmen auszunehmen, und
dann, plötzlich, war alles wieder bei mir, und mein Verstand setzte mit dem neuen Tage ein.
Ich hörte, wie eine Türe ins Schloß fiel und ein Schlüssel gedreht ward, und plötzlich geisterte
mehr Licht als zuvor auf dem Türrahmen meiner Kammer. Dann erschien das Licht selbst,
und es erschien Virginia Sykes, die es in der Hand trug. Sie spähte in mein Gelaß hinein, bemühte sich zu erkennen, ob ich wach war, und sprach, als sie erkannte, daß dies der Fall sei,
mit einer sonderbar guten Laune: „Guten Morgen, Mr. Holland, Sir, Mr. Holland - ich wollte
lediglich vermelden, daß das Frühstück bereitsteht, es ist angerichtet, es wurde soeben serviert.“
Ich räusperte mich. „Porridge?“ versuchte ich zu scherzen.
„Etwas ähnliches“, gab sie zurück. „Und Wasser. Und Rotwein – Ihre Ankunft hier scheint
ein besonderer Festtag zu sein. Rotwein hatten wir noch nie.“
„Rotwein?“ fragte ich ungläubig und erschreckt zurück. Etwas tief in mir rief einen scharfen
Alarm. Was sollte nun das wieder sein?! Rotwein? Was für ein abgeschmackter Witz war
dies?! Was sollten eine todkranke Frau und eine Hure mit Rotwein, wie sie ihn zuvor nie bekommen? - Konnte, wenn sie hier in solch unerwarteter Weise die Gepflogenheiten änderten,
dies nicht wirklich nur eines heißen, nämlich daß sie wußten, das ich hier war? Und konnte
dies nicht nur heißen, daß sie mir signalisieren wollten, daß sie es wußten? Aber wenn ja, was
- was hatte das zu bedeuten, daß sie es mir zeigten? Ich war hier herinnen hilflos gefangen,
ich konnte doch sowieso nichts tun. All meine schlimmsten Befürchtungen und Ängste vom
Vorabend waren mit einem Male wieder da.
Ich sprang auf, streifte das Stroh von mir ab, trat zur Tür. Virginia kehrte sich fort von mir, in
den anderen Raum hinein, wo Gossamer lag, nach wie vor ohne Besinnung, aber in nicht
schlechterem Zustand, schien mir, als ich sie am Schlusse erlebt.
Virginia zeigte auf den Krug, der bei ihr stand. „Nehmen Sie den“, sagte sie fast fröhlich,
„falls Sie sich ein wenig waschen wollen. Wir haben neues Wasser gekriegt. Kommen Sie!“
Ich folgte ihr durch den zweiten Durchgang in den Raum, in welchem es die schwere Türe
nach draußen gab. Gegenüber war die Öffnung ihr ihr, Virginias Gelaß. Hier, bei der Pforte
nach draußen in den Korridor, standen eine Schüssel mit genug Porridge, daß sie uns beide
sättigen würde, denn Gossamer konnte fuglich leider nichts essen, ferner ein Krug mit fri-
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schem Wasser und ein weiterer, der – ich nahm ihn hoch und roch hinein – in der Tat Rotwein
enthielt.
„Aber was soll das … was heißt das?“ fragte ich verwirrt. „Warum verwöhnt man uns mit
derlei Köstlichkeiten?“
„Einerlei, warum man es tut“, sprach Virginia freudig, „man tut es, vielleicht ist es der Namenstag von Mrs. Danray oder eines anderen, und wir sollten uns nicht darum kehren. Rotwein … Rotwein und andere gute Dinge haben wir zuletzt bekommen in der schönen Zeit
damals im Sommer, in Cornwall, als das Bild noch nicht fertig war, aber das ist lange her …“
Ich hielt den Krug in der Hand, roch ein weiteres Mal daran, er schien in Ordnung. Nun war
es normalerweise nicht so, daß ich den Tag mit Rotwein begann. Andererseits, das fröhliche
Gesicht von Virginia, die Tatsache, daß Gossamers Zustand stabilisiert schien, dazu die ganze
Sorge vor der ungewissen Zukunft, auch eine herzklopfende Freude, daß mich oder uns jede
Minute, die verging, der Flucht aus diesen unsäglichen Kerkern näherbrachte; immerhin hatte
man Frühstück serviert, und das hieß, immerhin war es Morgen, und das wiederum bedeutete,
in weniger als achtzehn oder neunzehn Stunden war ich, waren wir hier alle wieder hier heraus, ich oder wir, wir würden frei sein - auf sonderliche Art wirkte all dies zusammen, und ich
setzte mutwillig den Krug an die Lippen und nahm einen tiefen Zug.
Der Rotwein war gut, so weit ich etwas davon verstand, und ich reichte den Krug an Virginia
weiter, die ihn ihrerseits an ihre Lippen setzte und trank. Dann reichte sie ihn mir zurück.
„Wir sollten versuchen“, schlug sie vor und wischte sich den Mund, „Gossamer vorsichtig
etwas davon einzuflößen. Man hat schon von den heilenden Kräften von Rotwein gehört.“
Ich neigte zustimmend den Kopf. Ich trank einen weiteren Schluck und reichte Virginia den
Krug. Sie trank und gab ihn mir wieder. Ich nahm ihn und trat langsam durch die Öffnung in
Gossamers Kammer. Sie lag ruhig und schlief. Und während ich sie betrachtete, geschah etwas mit mir, das ich nie zuvor erlebt. Das Bild des schlafenden Mädchens explodierte vor mir
in den überirdischen Farben einer Sonnenblume.
Ich wußte nun, daß ich oder wir den Wein nicht hätten trinken sollen. Deshalb hatten sie Wein
genommen, nicht Wasser – bei Wasser hätte man es gerochen oder geschmeckt. Ich fühlte,
daß ich in die Knie brach, und instinktiv kroch ich auf meine Kammer zu. Ich wußte nicht
mehr, wo Virginia hinter mir war oder was sie tat. Ich wußte nur, daß ich, wenn ich überleben
wollte, unbedingt meine Kammer zu erreichen hatte und mich nicht hier im freien Bereich bei
Gossamer durfte finden lassen. Ich schwand dahin, und ganz am Rande meines Bewußtseins
tanzte die schöne Rosetta Manderlay entlang, wie sie gesagt hatte: „Man flößte uns Tränke
ein. Wir mußten uns gegen die Sitte entblößen.“
Ja, gewiß: In der Tat, man hatte uns einen Trank eingeflößt … nein … abermals, nicht eingeflößt … ich Tor hatte ihn freiwillig getrunken …
.....
Ich erwachte erneut, aber nun wußte ich überhaupt nicht mehr, wann ich mich befand.
261
Ich war allerdings vom Augenblick des Erwachens an sofort sonderbar klar im Kopf, hatte
alles vor mir, was geschehen war, daß man mich, uns, heimtückisch betäubt hatte, und wußte,
daß es Gefahr hatte, wenn ich nicht ermitteln konnte, wie spät es war. Und wie sollte ich dies
tun, hier in der immerwährenden, gleichen Dunkelheit unseres Kerkers. Es war gefährlich,
nicht zu wissen, ob es morgens, mittags, abends sei, so viel war mir helle, denn heute nacht,
das war mir brennend klar, heute nacht würde ich, würden wir, würden wir dieses Verließ
verlassen müssen, und wer half mir weiter, wenn ich nicht sagen konnte, wann dies war …
Ich lag an der Erde in meiner Kammer, entdeckte ich, nicht im Stroh, aber in meiner Kammer
- ich war erwacht, immerhin, ich war erwacht und nicht getötet - zu welchem Grunde man
immer auch mich oder uns betäubt. Ich hörte das Weinen einer Frau, nicht allzu entfernt, im
Nebengelaß, und ich schloß daraus mit hellsichtiger Klarheit, daß es wohl Gossamer sein
mußte, die erwacht war, das arme Menschenkind, und immerhin hieß das, daß es ihr besser
ginge, und das war ein Grund zu angenehmen Gedanken.
Ich versuchte mich zu erheben, gleichviel, solches wollte mir zunächst nicht gelingen. War
ich gefesselt? Ich starrte meine Handgelenke an, nein, ich war nicht im mindesten gefesselt,
gleichwohl, es dauerte geraume Zeit, bis ich mich auf die Hände und Knie erheben konnte –
der falsche Rotwein wirkte unangenehm nach.
Schließlich war es soweit, und dann wurde es sogar möglich, mich zu erheben, und ich tat
dies mit sorgfältigster Mühe und stützte mich an der Wand. Und ich kehrte mich gegen die
Türöffnung meines Gelasses und taumelte nach nebenan, wo das Licht stand und wo man
etwas erkennen konnte. Ich hielt mich an der Wand.
Und ich erkannte sofort: Nein, es war in der Tat nicht Gossamer, die weinte, sondern es war
Virginia. Sie saß an der Erde, Gossamer gegenüber an die Wand gelehnt. Sie zitterte und
schluchzte, daß ihr das Wasser aus den Augen schoß, sie bedeckte den scheußlichen Blutschwamm mit den Händen, zitterte und zuckte.
Gossamer mit ihrem leicht gewölbten Leib lag nach wie vor auf ihrem Lager aus Stroh gebettet. Sie rührte sich nicht. Ich konnte ihren Atem nicht mehr hören. Das war es, weshalb
Virginia schluchzte: daß man Gossamers Atem nicht mehr hörte. Denn Gossamer, das Sternenkind, Stella Floyd, das schwangere Dienstmädchen, lag auf ihrem Lager und war tot.
Das war es, warum man uns betäubt. Das Stroh, überall, strotzte gräßlich von gestocktem
Blut. Denn Stella Floyd lag inmitten dieser Lache, mit über der weißen Brust zerfetztem
Kleid. Dort war alles zerstört - dort hatte man ihr das Herz herausgerissen.
.....
Nun wußte ich erst recht nicht mehr, wie spät es war. Einerlei, es waren viele Stunden seitdem
verstrichen. Mochte es später Nachmittag sein, Abend, fortschreitende Nacht, es war nicht
auszumachen in diesem ewiggleichen, düsteren, fensterlosen Gefängnis. Niemand mehr war
an diesem Tage erschienen, um uns Essen zu bringen oder Wasser oder die Kübel zu leeren.
Neben der Tür stand immer noch die Schüssel mit erkaltetem Porridge, so daß wir noch eine
Weile zu essen haben würden, sollte uns danach zumute sein. War es jetzt soweit, fragte ich
mich, daß das einpassierte, was ich schon gestrigen Tages befürchtet? Würde man uns ver262
hungern und verdursten lassen? Ich saß, an die Wand gelehnt, seit vielen Stunden in Virginias
Kammer und hielt ihren weichen Leib im Arm. Drüben, in der anderen Kammer, lag der aufgerissene Leichnam Stella Floyds. Dort lag auch der zerbrochene Krug mit dem Wein.
Stella Floyd war getötet worden, wie Asunción Lozano, wie Rosetta Manderlay, wie Eusebia
Purcell vor ihr. Der grausige Unterschied diesmal: Ich war unmittelbar dabeigewesen, nur
hatte ich nichts davon bemerkt, weil man mich höhnisch, halb mit meiner eigenen, dummen
Hilfe, vorübergehend ausgelöscht wie eine Flamme. Es war fast wie bei Rosetta Manderlay.
Man hatte mir den Leichnam Stella Floyds verächtlich vor die Füße geschleudert, wie bei ihr.
Aber man hatte mir nichts getan, und man hatte Virginia Sykes verschont. Warum? Was sollte
all dies? All dieses lief, konnte ich mich des unheimlichen Eindrucks nicht erwehren, nach
einem festgefügten, unberufenen Plane ab, den ich nicht im Ansatz zu verstehen schien.
Immerhin: die sieben Geliebten des Zeus. Und nun waren mehr als die Hälfte von ihnen erloschen, ermordet, buchstäblich zum Teil vor meinen Augen! Was wollte man mir damit bedeuten, was hatte ich damit zu tun - … und warum tat man mir das alles an? Und wer steckte
dahinter? Welches war die mörderische Todeswut hinter jenem Bildnis, das ich einst hier in
diesem Hause gesehen …?!
Virginia Sykes hatte lange geweint und geschrien, dann war sie mit der Zeit abgestumpft und
still geworden. Sie hatte es willenlos geschehen lassen, daß ich sie aufgehoben und hier herüber in ihre Zelle getragen hatte, somit möglichst weit entfernt von der schauerlich zugerichteten Leiche des anderen Mädchens, die nun dort drüben im Dunkel lag. Ich hatte mich mit ihr
ins Stroh gesetzt und sie seitlich, halb an meiner Schulter lehnend, die Brust mir zugekehrt, in
meinen Schoß gebettet, hielt sie in meinem Arm und fühlte ihre Wärme ihres Leibes an mir.
Fast meinte ich, ihr Herz schlagen zu hören, aber dieses war natürlich eine Täuschung, verursacht durch meine angegriffenen Nerven.
Ich starrte in die Kerze neben unserem Lager, die sehr still brannte, da hier unten keinerlei
Luftzug ging. Die Stille dieses Lichts untermalte die taube Lautlosigkeit unserer Zelle und des
ganzen Hauses über uns. Es war fast unheimlich, keinerlei noch so leises Geräusch war von
dort oben zu vernehmen, so als ob auch da alles ermordet war. Ich hörte das Stroh knistern,
wenn ich mich vorsichtig bewegte, um eine etwas andere Stellung zu suchen – sonst nichts.
Stunden um Stunden verrannen. Es mußte jetzt wirklich späte Nacht sein, ich wußte es nicht,
und Hunger begann in meinen Eingeweiden zu brennen. Irgendwann entdeckte ich, daß Virginia Sykes mit offenen Augen lag. Da hatte ich begonnen, ihr Gesicht zu streicheln, ihr Haar,
ihren Nacken, ihr Gesicht mit dem Blutschwamm, minutenlang, eine halbe Stunde, eine
Stunde. Sie hatte auch dies geschehen lassen, ohne sich zu regen. Diese Stille griff mich an,
und ich mußte Tränen niederkämpfen. Diese Stille war wie der leibhaftig manifestierte Tod
jenes anderen Mädchens, das dort drüben reglos in seiner Zelle lag.
„Hören Sie“, sagte ich nach unendlicher Zeit zu Virginia Sykes, und versuchte, zuversichtlich
zu klingen, weit zuversichtlicher, als ich in Wahrheit war. „Es ist nun alles bald vorbei, Virginia, und man wird uns holen kommen. Wir werden hier hinausgelangen und flüchten. Auf der
Themse erwartet uns ein Boot, dasselbe, mit dem ich gestern nacht gekommen. Morgen früh
sind Sie in London, in Sicherheit …“
Sie schaute mich an, als hätte ich ihr vom Mond geredet, und daß wir bald dorthin eine Reise
unternähmen … Sie antwortete nicht, aber schaute mich unverwandt an.
„Hören Sie“, versuchte ich es nach einer Weile erneut, in der wir uns beide unentwegt in die
Augen geblickt. „Sie schauen mich an, als glaubten Sie, ich erzählte Ihnen Märchen wie einem Kinde. Aber so verhält es sich nicht, Virginia. Sie werden bemerken, daß ich Ihnen die
Wahrheit sage. Franklin Stifel oder eher noch, denke ich, James Crucible, sicherlich einer von
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ihnen beiden wird die Türe dort drüben aufschließen. Dann wird er da stehen, und dann wird
es schnell gehen müssen. Darauf müssen wir uns vorbereiten.“
Sie schaute mich an, und ihre Blick änderte sich nicht. Ich fragte mich mit einem Male, ob sie
überhaupt verstand, wovon ich redete.
„James Crucible“, erinnerte ich sie. „Sie mögen ihn doch …“, aber auch dies rief keinerlei
Reaktion bei ihr hervor. Unverwandt blieben ihre Augen auf mein Gesicht gerichtet.
„James Crucible wird uns holen“, versprach ich und streichelte sanft ihr Gesicht, „in einer
Stunde oder zweien oder dreien. Ich weiß nicht, wie spät es augenblicklich ist. Aber es ist
alles vorbereitet. Wir gehen durch diesen Keller hinaus, niemand wird uns hören, durch insgesamt vier Türen, von denen er die Schlüssel hat, dann gelangen wir in den Weinkeller. Dort
gibt es eine schräge Rutsche, deren Deckel geöffnet sein wird, und ein Seil wird dort bereitliegen, oben befestigt, an dem wir uns hochziehen können, einfach auf der schrägen Ebene
laufen und uns hochziehen, ich habe das alles mit Franklin Stifel besprochen in seiner Wohnung in London in Soho, in der Frith Street, vor fast einer Woche, Virginia. Wir werden dort
hochklettern, und auch Sie werden das schaffen, denn Sie sind weder schwach noch krank,
und so sind wir bereits im ummauerten Garten.“ Meine Rede ging wie ein plätschernder Bach,
aber nichts, nichts vermochte eine Regung aus ihr herauszulocken. Ich sah sie an, streichelte
ihr Gesicht, sie blickte stetig in meine Augen.
„Um den Garten ist eine Mauer“, sagte ich. Auch dort klettern wir hinüber. Ich habe das alles
auf dem Herweg schon einmal gemacht.Warum sollten Sie das nicht schaffen?! Im Gegenteil,
da wir zu zweit sind, können wir uns bequem gegenseitig hinüberhelfen … Es wird viel einfacher sein als gestern nacht!“
Ich sagte ihr nichts von dem Glas oben auf der Mauer, ich schaute sie an, wie sie an meiner
Brust lagerte und spähte dabei in den Ausschnitt meines Hemdes, wo die längst verkrustete
Wunde – keine schlimme Wunde – auf der Brust saß, die ich mir auf dem Herweg dort oben
auf der Mauerkrone zugezogen.
„Wenn wir über die Mauer sind“, fuhr ich fort, „kommt ein Stück freier Garten.“ Ich zögerte,
überlegte, ob ich ihr von den Hunden erzählen sollte. Aber ich wollte meine Geschichte nicht
zu unglaubwürdig erscheinen lassen. „In dem Garten … Virginia, hören Sie mir zu? … in
dem Garten sind allerdings Hunde … was“, setzte ich schnell hinzu, „was indessen nicht
wirklich allzu gefährlich ist, denn nicht weit von der Mauer befindet sich ein Waschhaus, in
das wir uns notfalls vorübergehend retten können. Entsinnen Sie sich, Virginia, es ist nicht
unmöglich, denn ich bin genau diesen Weg gestern nacht gekommen.“
Sie schaute in mein Gesicht.
„Und dann laufen wir siebzig, achtzig Yards hinunter zum Ufer, wo das Boot uns erwarten
wird, das mich hergebracht hat. Es wird von einem Manne namens Peter Hobblit gesteuert,
ich kenne seine Familie, er wohnt oben in Hounslow. Er hat vier Kinder. Er wird uns nach
Hammersmith mitnehmen zu seinem Schwager, der Pierce heißt und einen Fuhrbetrieb besitzt. Virginia, ein Fuhrbetrieb,“ sagte ich dringlich. „Mr. Pierce wird Mr. Hobblits Boot nach
Hounslow zurückbringen, wie heute nacht schon einmal, aber da es ein Fuhrbetrieb ist, bin ich
sicher, wird es dort auch eine Kutsche haben, und, Sie werden sehen, Virginia, vierspännig“,
machte ich einen kleinen Spaß, „vierspännig oder gar sechsspännig werden wir morgen früh
nach der Sperrstunde in London einreisen … Morgen früh, das ist in fünf oder sechs Stunden
…“
Ihr regloser Blick machte mir angst. Ich beugte mich hinunter zu ihr und küßte sie auf die
Stirn. Ich wollte diesen Blick nicht mehr sehen. Ich hielt sie an mich geklammert.
264
„London“, sagte ich. „Erinnern Sie sich? Sie werden wieder frei sein. Sie werden in London
sein, oder nein, Sie werden London auch verlassen können und in die Yorkshire Dales gehen
oder nach Snowdonia, wenn Sie das wollen oder wenn Sie sich fürchten … Sir Enid Luciter
wird sie niemals wiederfinden, Ihr Lebtag nicht, oder einer der Spitzel, den er schicken mag.
Dies alles, die Morde, das Bild, dies alles wird Vergangenheit sein und vergessen. Begraben
und vergessen. Sie werden sich auf Lebzeiten verbergen können und nie wieder … nie wieder
ihrem Beruf nachgehen müssen. Sie werden reich sein, Virginia, vermögend, begütert, eine
wohlhabende Frau …“
Ich küßte sie abermals und ließ sie sinken, aber ihr Blick hatte sich nicht geändert. Sie blickte
mir mit einer merkwürdigen, fast kindlich zu nennenden Aufmerksamkeit ins Gesicht, aber
dieser Mund schien mir in einer schreckenerregenden Weise nie mehr sprechen zu wollen. Ihr
Blick war wach, so als ob sie durchaus verstand - aber warum redete sie nicht, warum half sie
mir nicht aus meiner Herzensnot?
„Gestatten Sie, daß ich Sie einen Augenblick ins Stroh bette“, bat ich sie nach einer weiteren
geraumen Zeit. Als sie nicht reagierte, schob ich sie vorsichtig von mir herunter und lagerte
sie an der Erde. Ich sah, daß ihre Augen mir folgten, aber sonst tat sie nichts. Ich kroch zur
Lampe und nahm sie auf. „Ich bin gleich zurück“, sagte ich hinüber über meine Schulter.
Ich erhob mich, wandte mich zur Tür, durchquerte das Nachbargelaß, in dem sich die Eingangstür befand und trat zögernd weiter ins nächste, wo reglos und verstümmelt der Leichnam von Stella Floyd lag. Ich kniete vor ihr nieder, sie lag mit geschlossenen Augen, so wie
ich sie kennengelernt. Wäre nur die grausige Wunde nicht gewesen …
Ich löste ihr vorsichtig den Ring vom Finger. Es geriet mir leicht; er war zu weit für sie, er
war nicht für sie gemacht, und ich kehrte mit diesem Ring zu Virginia Sykes zurück. Sie lag
im Stroh, wie ich sie zuvor hingebettet.
Ich kniete mich zwei Fuß von ihr entfernt und zeigte ihr den Ring. „Das haben zuerst Auberge
und nun Stella für Sie hinterlassen, Virginia“, sagte ich. „Nehmen Sie ihn. Das ist Ihre Zukunft, verstehen Sie? - ein Leben irgendwo in England, in Wohlanständigkeit, Prosperität und
Glück. Das ist das Ende einer Geschichte, die für viele Beteiligte allzu unglücklich war.“
Liegend, langsam, sehr langsam, streckte sie ihre Hand aus und nahm den Ring aus der meinen. Fast war ein Lächeln in ihrem Gesicht, aber nur beinah. Sie betrachtete das Schmuckstück, liebkoste es mit den Fingerspitzen, eine kleine Zeit lang. Auf ihrem Antlitz spiegelten
sich die dunklen Berge von Snowdonia, die Burgen von Caernafon und die verträumten Weiler der Cotswolds. Dann erlosch ihr Gesicht, und sie legte den Ring still neben sich an die
Erde. Zwischen uns stand das kleine, einzige Licht und flackerte leicht.
„Virginia“, flüsterte ich. „Kommen Sie mit mir. Ich werde Sie hier hinausgeleiten, sicher und
gut. Glauben Sie mir.“
Aber ihr Gesicht antwortete nicht mehr. Es war weit, weit entfernt. Ich zog mich kauernd an
die andere Wand zurück und weinte.
.....
265
Ein oder zwei Stunden später kam James Crucible. Zuerst hörte ich den Schlüssel und dann
das Geräusch der sich öffnenden Tür im Nebenraum.
„Hier sind wir“, flüsterte ich halblaut, und nach einer Sekunde trat der zartgewachsene, junge
Bediente zu uns herein, die Lampe in der Hand. Er orientierte sich mit einem raschen Blick,
sah das Mädchen an, dann mich und nickte.
„Kommen Sie, Sir“, flüsterte er hastig, „es ist fast zwei Uhr, wir müssen uns sputen. Ich
konnte nicht früher herunter.“
„Wie geht es Franklin Stifel?“ erkundigte ich mich in möglicherweise etwas bitterem Tone.
„Geht es ihm gut?“
James Crucibel blickte mich erstaunt an. „Sicher, Sir. Warum fragen Sie?“
„Nun, warum kommt er nicht selbst?“
„Er hat immerhin mich geschickt, Sir“, sagte er, und seine Stimme klang etwas empfindlich.
„Haben Sie daran etwas auszusetzen, Sir? Ich denke, ich führe Sie genauso gut hier hinaus
wie jeder andere.“
Ich erhob mich vom Stroh. „Kommen Sie“, forderte ich ihn auf. „Ich muß Ihnen unbedingt
etwas zeigen.“
„Etwas zeigen? Nun, Sir, wie gesagt, wir haben es etwas eilig, ich weiß nicht, ob wir …“
Meine Stimmung war möglicherweise recht mörderisch, als ich ihn an dieser Stelle mit einiger Schärfe unterbrach: „Also kommen Sie nun, Crucible, oder nicht?! – Na los, kommen Sie
schon!“
Ich trat vor ihm ins Dunkel und etwas zögernd, wie es mir schien, folgte er mir, und ich ging
hinüber in die Kammer, in der Stella Floyd lag. Als er hinter mir erschien und das Licht auf
den Leichnam fiel, gab er einen bestürzten, ja entsetzten Laut von sich und hielt sich am Türdurchgang fest. Das, nur das, hatte ich wissen wollen – er hatte von all dem nichts gewußt,
stand also auf der „gerechten Seite“.
„Ich wollte Ihnen Kenntnis davon geben“, sagte ich, „was in diesem Hause vorgeht. Sicher
wollen Sie Ihre Arbeit nicht verlieren, das verstehe ich. Dennoch sollten Sie und vielleicht
auch Franklin Stifel bei Gelegenheit über Konsequenzen wie eventuell einen Wechsel Ihres
Brotherrn nachdenken, finden Sie nicht?“
„Mein Gott, mein Gott!“ ächzte er und hielt sich nach wie vor am Türrahmen fest. „Wer ist
das gewesen?“
„Sie werden lachen“, sagte ich, „ich weiß es nicht.“
„Aber Sie waren doch die ganze Zeit hier herinnen …!“ stieß er hervor.
„Gewiß, gewiß doch, das war ich“, bestätigte ich, „nur waren wir unterdessen betäubt, das
Mädchen und ich. Es war etwas im Wein gewesen.“
„Im Wein?!“ fragte er entgeistert zurück. „Sie haben hier drinnen Wein bekommen?! Ja, aber
haben Sie sich denn da nicht gefragt …“
„Nein, wir haben uns gar nichts gefragt, sondern einfach den Wein getrunken“ unterbrach ich
ihn bitter.
„Mein Gott“, stöhnte er erneut und starrte das tote Mädchen an.
„Gut. Jetzt können wir gehen“, erinnerte ich ihn.
Langsam kehrte sich sein Blick gegen den meinen. „Und das andere Mädchen, Sir?“ fragte er
und deutete mit dem Daumen hinter sich. „Nehmen Sie sie mit?“
266
Ich zuckte resigniert die Schultern. „Ich denke, nicht“, erklärte ich ihm. „Sehen Sie sich sie
an, Mr. Crucible, wenn wir hinübergehen. Sie ist im Grunde nicht ansprechbar. Ich wüßte
nicht, wie ich sie zum Laufen bewegen sollte, geschweige eventuell zu schneller Reaktion
oder zum Rennen. Ich kann sie ja nicht tragen, und über die Mauer des Gärtchens werfen
kann ich sie auch nicht. Nein, ich fürchte vielmehr, wenn ich längerfristig etwas für dieses
arme Mädchen tun können möchte, muß ich im Augenblick in erster Linie dafür sorgen, selbst
heil und sicher hier hinauszukommen, verstehen Sie?“
Er folgte mir atemlos mit den Augen, und ich erklärte weiter: „Immerhin ist sie heute nicht
ermordet worden, und dazu hatte es durchaus reichlich Gelegenheit, glauben Sie mir: Stella
Floyd war wegen ihrer Krankheit besinnungslos und Virginia Sykes war betäubt. Warum also
hat man die eine getötet und die andere verschont?“
Er schüttelte den Kopf, konnte keine Antwort geben, aber die Frage war auch nicht eigentlich
an ihn gerichtet gewesen …
„Daß ich nicht getötet wurde, Mr. Crucible“, erklärte ich weiter, „mag ganz einfach daran
gelegen haben, daß der Mörder gar nicht wußte, daß ich hier herinnen war - und ich hatte nur
das Glück, in letzter Sekunde noch in meine Kammer kriechen zu können, wohin er mir offensichtlich nicht gefolgt ist. -- Er hat hier mit der Anwesenheit von zwei Mädchen gerechnet,
nicht mit mir, und deshalb hat er nicht nach mir gesucht.“ Ich wiegte den Kopf. „Aber daß er
willentlich Virginia Sykes verschont hat, verstehen Sie, das eben macht mich glauben, daß
wir vielleicht abermals Glück haben werden darin, daß sie aus irgendeinem Grunde auch hier
drinnen für eine gute weitere Weile in Sicherheit sein wird - bis man von außen etwas unternehmen kann, um sie zu befreien.“
Er nickte hastig und hielt sich immer noch am Türrahmen fest.
Ich zuckte die Schultern. „Ich verstehe das Ganze sowieso nicht. Haben Sie denn niemanden
oben im Hause gesehen, haben Sie den Mörder nicht gesehen, einen jungen Mann mit Brille
und Handschuhen zum Beispiel? Ich meine, ich gebe mir weiß Gott rechtschaffen Mühe, hier
ungesehen hinein- und hinauszuwischen, wie aber bewerkstelligt dieser Mensch denn das,
ohne daß einer der Diener ihn sieht? Und er hat es schließlich tagsüber getan.“
„Sie überschätzen das“, murmelte James Crucibel. „Ich und jeder der Bedienten hat ganz
seine eigenen Aufgaben an dieser und jener Stelle im Haushalt. Es ist partout nicht so, daß wir
ständig frei durch’s Haus liefen. Hier könnte durchaus jemand ungesehen herein und heraus,
denke ich, zumalen, wenn dieser jemand mit der Herrschaft des Hauses im Verbunde stünde
…“
Oder, dachte ich, wenn es Sir Enid selber war, der das Messer führte, aber das traute ihm nicht
zu. Er mochte jederzeit mörderische Aufträge erteilen und Todesurteile aussprechen, das
wohl, das sicher sogar mit Leichtigkeit, aber ich schätzte ihn nicht derartig ein, daß er selber
Hand anlegen würde. Indessen, er hatte natürlich seine Leute … einen Menschen wie Dr. Gideon Copeland zum Beispiel, der schon von Berufs wegen mit geschicktester Hand das Skalpell zu führen wußte … Und ein solcher Mensch konnte natürlich ganz offen hier aus und ein,
und weil das vermutlich ständig geschah, fiel er auch niemandem auf. Man sah ihn durch’s
Haus gehen wie immer, man nahm das zur Kenntnis und nichts weiter, und so konnte er sein
übles Tun ins Werk richten … Einerlei …
Mir fiel bei, daß es wohl wirklich an der Zeit war, sich auf den Weg zu machen, und ich
zupfte James Crucible am Ärmel, der mit schauderndem Ausdruck im Gesicht wieder das
arme, tote Mädchen anstarrte. „Kommen Sie“, sagte ich leise. „Sie schlugen selbst vor, daß
wir uns sputen sollten.“
„Ja, Sir, ja“, murmelte er, „ja, natürlich.“
267
Ich trat gleichwohl an der offenstehenden Verliestür noch einmal vorbei in die Kammer, wo
Virginia im Stroh lag und sprach sie an: „Virginia … Virginia …“, aber sie zeigte, wie zuvor
und obwohl sie mich mit großen offenen Augen aufmerksam ansah, keinerlei Reaktion.
Ich kehrte mich in der Hocke zu James Crucible um. „Vielleicht sollten Sie ein Auge auf sie
haben“, schlug ich vor. „Heute ist niemand zu uns herabgekommen, um uns zu essen zu bringen. Zwar hat sie noch die Schüssel mit dem Brei, und sie sieht auch nicht so aus, als ob sie in
nächster Zeit etwas zu sich nehmen wollte … aber vielleicht sollten Sie gelegentlich nach ihr
sehen, auch daß sie Licht hat, und ihr zu trinken einflößen – Trinken nimmt sie an - nur damit
das nicht gänzlich in Vergessenheit gerät.“
„Ja, Sir“, sagte er leise. „Ich werde mich bemühen, daß dergleichen geschieht.“
Wir verhandelten all dies in ihrer Gegenwart. Jetzt wandte ich mich zu ihr zurück. „Virginia“,
sagte ich sanft und streichelte ihr Gesicht. „Ich muß nun fort. Ich kann Sie nicht mit mir nehmen, in dem Zustande, in dem Sie sind, es tut mir so leid. Aber ich werde dafür sorgen, daß
sie befreit werden und nicht hier verrotten. Irgendwann … bald …“
Sie sah mich an, mit offenem, wachem Blick und schwieg.
Ich steckte ihr den Ring an den Finger, der immer noch neben ihr lag. Dann erhob ich mich
und folgte James Crucible zur Tür hinaus.
Ich wartete, bis er abgeschlossen hatte, dann schritten wir den Gang hinunter zum Zentralkorridor. Auch die Türe hier hatte er weit offenstehen gelassen, was ich als etwas leichtfertig
empfand. Jetzt schloß er sie hinter uns ab, und wir folgtem dem Zentralkorridor. Das Licht
von Crucibles Lampe tanzte unheimlich auf den Wänden, und unsere Schritte erzeugten in
dem Gang ein hohles Echo, obwohl wir uns bemühten, flink, aber leise zu gehen. Wir kamen
an die Stelle, wo man rechts zum Weinkeller abbog. Die Türe hier hatte er geschlossen, ob
auch mit dem Schlüssel verschlossen, wußte ich nicht. Links erkannte ich schwach die untersten Stufen jener Treppe, die nach oben vor die Türen von Sir Enid führte.
„Halt“, murmelte ich unterdrückt, und James Crucibel verhielt reaktionsschnell sofort seinen
Schritt, fuhr zu mir herum und blickte mir alarmiert in die Augen.
„Was gibt es?“ fragte er flüsternd.
„Ich habe es mir anders überlegt“, teilte ich ihm leise und hastig mit.
„Was meinen Sie, Sir?!“
„Ich folge Ihnen nicht weiter“, sagte ich. „Sondern ich nehme die Treppe da herüben. Sie gehen in den Dienstbotentrakt zurück, schließen alle Türen ab, die Sie abschließen müssen, machen die Klappe am Weinkeller zu, lassen das Seil verschwinden undsoweiter und haben fürderhand nichts mehr mit mir zu tun. Ich gehe ohne Begleitung dort drüben hoch.“
„Aber warum, Sir, warum? Warum ändern Sie den Plan?“ Er klang immer noch erschrocken.
„Hören Sie, Mr. Crucible“, wisperte ich ungeduldig. „Ich habe keine Lust, mich hier an diesem Ort und vor allem nicht zu dieser Zeit in umständliche Erläuterungen zu verlieren, nur
soviel: Natürlich könnte ich mich jetzt umständlich durch den Weinkeller schleichen und über
die Rampe klimmen, ich könnte mir auf der Mauer abermals in die Brust oder zur Abwechslung ins Bein schneiden, anschließend noch ein paar ängstliche Stunden im Waschhause
verbringen und vielleicht am Schluß mich mit ein bißchen Pech von den Hunden kriegen lassen. Das heißt: Von jetzt an noch stundenlange Aufregung, mein Freund – wofür?! Ich habe
dort in der Zelle lange genug überlegt. Wir haben einen Denkfehler begangen, folgenden: Nur
beim Hereinkommen war es wichtig, daß man mich nicht entdeckte, weil ich ja gedachte,
lange vierundzwanzig Stunden ungestört in diesem Hause zu verweilen – und überdies unentdeckt. Aber warum sollte ich jetzt noch freiwillig einen äußerst langwierigen und komplizier268
ten Weg nach draußen wählen und diese Flucht von hier aus künstlich in die Länge ziehen,
wenn dasselbe in wenigen Minuten getan sein kann? Ich denke, jetzt gilt es nur noch, hier herauszukommen, ganz gleich, ob man mich hört oder sieht - wichtig ist nur, in einem einzigen
Gewaltstreich auszubrechen, je schneller, je überraschender, je angenehmer - und ich schwöre
Ihnen bei Gott, das wird mir gelingen, wenn ich diese Treppe dort nehme.“
Er blickte mich nachdenklich an, dann, mit einem Male lächelte er leicht. „Sie könnten eventuell recht haben, Sir“ meinte er leise. „Zumal Sir Enid seit einigen Tagen nicht mehr im
Hause ist. Solange er nicht im Hause ist, verläuft hier alles etwas … etwas leichter.“
„Ich verstehe“, sagte ich steif. „Er ist bereits seit einigen Tagen fort, bedeuten Sie mir? Er war
schon fort, als ich hier ankam?“
„Das ist richtig, Sir.“
„Und wohin ist er abgegangen, wenn ich höflichst anfragen darf?“
„Nach Cornwall, Sir. In sein Anwesen in Botallak, ‚Unicorn Mansions’, Sir, dort, wo das Bild
auch ist.“
„’Unicorn Mansions’, oh, wie hübsch!“ sagte ich bitter. „Ja, von den ‚Unicorns’ habe ich
schon vernommen. Und das Bild ist auch da. Gott, wie sich das trifft! Und ich bin sicher, Mr.
Crucible, daß Sie mir gerade verraten wollten, daß sich bereits vor Tagen, als Sir Enid geruhte
abzureisen, das dritte Mädchen, ich spreche von jenem, welches zufällig in der Zelle fehlte, in
der angenehmen Gesellschaft seiner Reisebegleitung befand.“
„Ja, Sir, genau so verhält es sich.“
„So verhält es sich, das ist schön, junger Mann! Sie war schon weg, als ich hier ankam! Und
Sie haben die Stirn, mir das jetzt zu sagen, Sie verdammter Mensch?! Warum nicht vor vierundzwanzig Stunden im Weinkeller?“
„Nun, Sir …“ Ich sah im Scheine der Lampe, wie er zutiefst errötete. Er war als erstes errötet,
als ich ihn zuerst im Weinkeller getroffen, jetzt, zum Abschlusse unserer kurzen Bekanntschaft errötete er erneut. „Sir, Mr. Stifel meinte …“
„Oh, ich bedanke mich, ich weiß, was Mr. Stifel meinte“, unterbrach ich ihn gleichermaßen
zornig wie unterdrückt. „Bestellen Sie Ihrem elenden Mr. Stifel, daß er ein verdammter Feigling ist!“
Halbwegs war ich amüsiert, als ich nun Crucibles unglückliche Augen mein Gesicht mustern
sah. Er wußte sichtlich nicht, was zu sagen, und schwieg.
„Nun, es ist schon gut, Mr. Crucible“, lenkte ich schließlich ein. „Bestellen Sie Ihrem Mr.
Stifel von mir aus, was sie wollen - oder auch nicht. - Aber Sie und er – ich bitte Sie - kümmern Sie sich um Miss Sykes.“ Ich legte meine Hand auf seine Schulter und drehte ihn brüsk
weg von mir. „Das ist nun alles. Ich danke Ihnen. Sie haben Ihre Sache gut gemacht.“
Er blickte über die Schulter zurück zu mir, und ich erkannte in dem jungen Gesicht seine Erleichterung.
„Trollen Sie sich“, flüsterte ich. „Ich gebe Ihnen zehn Minuten. Die sollten Ihnen reichen, das
Seil an der Weinkellerklappe zu entfernen, alles ordentlich zu verschließen, ihre Spuren zu
verwischen und wieder im Dienstbotentrakt unterzutauchen. Verstehen wir uns? Gehen Sie
jetzt. Nun gehen Sie schon.“
„Brauchen Sie nicht das Licht, Sir?“
269
„Nein“, sagte ich. „Ich brauche das Licht nicht, ich komme zurecht. Aber Sie: Im Weinkeller
wird es ohne Lampe nicht abgehen, jedenfalls nicht, sobald die Klappe an der Rampe zu ist.
Also los schon, machen Sie, verschwinden Sie!“
Er zog sich gegen die Türe zurück, wo er innehielt.
„Und vielen Dank, Sir“, wisperte er. „Mr. Stifel und ich, wir werden uns gewiß kümmern, um
das Mädchen Virginia, meine ich. Und Ihnen, Sir … Ihnen … viel Glück auf dem weiteren
Weg ...“
„Oh, ich bin ganz sicher“, murmelte ich, „ich werde es gut brauchen.“
Ich sah ihm zu, wie er die Tür aufschloß, und ich sah ihn dahinter verschwinden. Dann hörte
ich, wie er abschloß - darauf nichts mehr, er hatte einen leisen Schritt.
Nun stand ich in absoluter, völliger Dunkelheit. Ich ließ mich sehr vorsichtig nieder, hockte,
lehnte mich gegen die Wand. Zehn Minuten, dachte ich, und keine Sekunde länger. Dann
würde ich aufbrechen von hier. Und es würde mich nicht mehr als höchstens weitere zehn
Minuten kosten, hier herauszugelangen, das schwor ich mir. Alles auf eine Karte!
13. Kapitel
The White Hart
Ich hockte dort in völliger Finsternis und Lautlosigkeit und hörte auf das Schlagen meines
Herzens. Auf sonderbarste Art und Weise war ich fast glücklich in jenen Minuten, nicht nur,
weil ich mir sicher war, daß ich sogleich diesem Ort des Schreckens würde entfliehen können.
Andres fügte sich hinzu.
Ich war hier aufgetreten, hatte Kopf und Kragen riskiert, um meine Io zu retten und war zu
spät gekommen, hatte sie nicht angetroffen, mehr noch, ich hatte ihre Spur verloren. Wenn ich
überlegte, wie das launige Schicksal es gefügt – was hatte es gebracht, daß ich hier geweilt?
Ich hatte einen Eindruck gewonnen von dem Mädchen Gossamer, Stella Floyd, wenn auch
einen verfälschten, kranken, und ich hatte Virginia Sykes kennengelernt, bevor jene zusammengebrochen und nicht mehr sie selbst gewesen war. Ich hatte den furchtbaren Mord an
Stella Floyd – fast – miterlebt, und ich hatte den Namen meiner Io und einen weiteren Teil
ihrer Geschichte erfahren … Auberge … Und ich spürte, wie allein dieses – auch wenn dies
grausam von mir klingen mag – wie allein diese Nachricht alles andere in meinem Herzen
überwog und betäubte. Auberge … Auberge … meine Auberge … Und zu guter Letzt hatte
ich ihre Spur wieder aufgefunden und wußte nun, wohin mein fürderer Weg mich leiten
müßte: nach Cornwall, nach Botallak in das Anwesen mit den Einhörnern, dorthin, wo das
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Bild entstanden war und alles begonnen hatte. Ich wußte, daß ich das Mädchen Auberge wiedersehen würde, und allein dies senkte diesen merkwürdigen Zwischenzustand eines flüchtiges Glückes in mein Herz. Nach Cornwall, dachte ich, Cornwall also, wo sich alles entscheiden würde, und, wie bemerkt, es war eigenartig und sonderbar - denn wenn ich ganz tief mein
Herz befragte, so wollte es mir nun fast scheinen, als ob ich dieses doch immer gewußt …
Ich saß dort reglos und lautlos im Dunkeln, und als ich das Gefühl hatte, daß die gebotene
Zeit verstrichen war, erhob ich mich äußerst vorsichtig und tastete mich, indem ich die Füße
leise direkt über den Boden schob, auf jene Treppe zu, die ich zuvor im Scheine der Lampe
ausgemacht. Und jetzt, nachdem ich so lange dort in grabkammerähnlicher Finsternis gesessen, befand ich für mich sogar, daß ich meinte, die Stufen irgendwie doch wahrnehmen zu
können, weil von oben gleichwohl ein unendlich schwacher Lichtschimmer darauf zu fallen
schien.
Ich fand dies bestätigt, als ich nähertrat, und indem ich mich äußerst vorsichtig und langsam
diese Stufen hochtastete und an der Wand hielt, erkannte ich, daß ich sie tatsächlich sehen
konnte, bemerkte auch, was die Natur dieses Lichts war – es war der klare gleiche Mondenschein wie gestern, der dort oben wahrscheinlich durch irgendein Fenster hereinströmte und,
um etliche Ecken und Winkel gebrochen, dennoch bis zu mir hier unten gelangte.
Ich tappte lautlos diese Treppe hoch und befand mich schon, nun zu ebener Erde, in einem
Gang, der nach zwei Richtungen auseinanderlief, nach rückwärts zu, wie ich vermutete, zu
den privaten Gemächern und Räumen Sir Enid Luciters, vorne dagegen verschwand er um
eine Ecke, von dorther kam das Licht. Diese vordere Ecke, wenn mich nicht alles täuschte –
ich hatte den von Franklin Stifel gezeichneten Plan des Anwesens hinlänglich im Kopfe –
mußte an der Südseite des Hauses liegen, mithin Richtung Themse gelegen - meine Richtung,
wie ich befand, und deshalb war es selbstverständlich, daß ich zunächst diesen Weg einschlug.
Und in der Tat, es war so: An der Ecke bog der Gang um, für zwanzig oder dreißig Fuß führte
er an der Außenseite des Gebäudes entlang – ich erkannte es daran, daß es hier das erwähnte
Fenster gab, durch das hell der Mondenschein hereinströmte - bevor er, der Korridor, abermals ins Innere des Hauses abbog.
Ich schlich zu dem Fenster hin. War dies hier der Ort, um aus dem Anwesen auszubrechen?
Ich blickte hinaus und fühlte, wie mein Herz schlug, denn ich schaute auf den großen Rasen
hinaus, auf dem seinerzeit das Fest im güldenen Sonnenschein des warmen Septembernachmittags stattgefunden, mit all den vornehmen Damen und Herren in Weiß – ja, ich blickte auf
die Bankettwiese. Dort unten in siebzig oder achtzig Yards Entfernung war der Fluß. Mein
Herz schluß, und ich probierte den Riegel – einmal, zweimal, dreimal, verblüfft, ungläubig –
er rührte sich keine Spur, und ich hätte ihn auch nicht mit Hilfe eines Werkzeuges bewegt, er
war verschlossen oder eingerostet, ich wußte es nicht, einerlei, merkwürdige Fügung, dachte
ich, so kurz vorm Ziel, und einen flüchtigen Moment lang geriet ich fast in Panik.
Aber das ging flink vorüber, ich faßte mich, und schlich den Korridor weiter hinunter – dieses
Haus hatte mehr als ein Fenster.
Hinter der Ecke, nach cirka zwanzig Fuß, wieder ins Dunklere hinein, gab es eine Teilung,
geradeaus und rechts, ich hielt mich rechts, weil ich möglichst dicht parallel zur Südseite des
Hauses Richtung Themse mich bewegen wollte. Hier, im inzwischen wieder völlig Finsteren
– eine Finsternis wie im Keller - stieß ich auf eine, wie ich ertastete, zweiflügelige Tür. Ich
probierte leise die Klinke – Gott sei Dank, die Tür war nicht verschlossen – ich zog sie auf,
trat hindurch … und hatte ein weiteres, sehr sonderbares Deja-vu: Dies war die Tür, durch die
damals seitlich hinter dem Bild die Diener eingetreten waren – und dies war der riesengroße
Raum, gefüllt von Menschen und erleuchtet vom Kaminfeuer, in dem die Vernissage stattge271
funden. Jetzt natürlich lag er nächtlich leer, kalt und dunkel, aber durch die etlichen französischen Fenster auf der ganzen rechtsseitigen Front strömte breit das Mondlicht herein. Dahinter abermals der Rasen, die Wiese hinunter zum Fluß. Ich fühlte mich fast wie am Ziel.
Ich trat schnell herzu und probierte nacheinander die Klinken und Riegel der Türen nach
draußen, indessen, eine unverschlossen zu lassen, diesen Gefallen hatte man mir nicht getan.
Ich sah mich um und überlegte, wie ich weiter verfahren sollte. Sollte ich hier hinter den
Scheiben erst eine Weile ausharren, den Rasen draußen beobachten und warten, ob die Führer
mit den Hunden vorbeikamen?
Ich entschied mich dagegen, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil ich hier herinnen
nichts hörte. Ob sie kamen und ob sie gerade vorbei waren, keine Ahnung. Es war besser,
jetzt auszubrechen, geschwind, und sollte es Gott wirklich gefallen, in all der Zeit, die innerhalb dieser Nacht verstrich, die Hunde gerade in jener einen Sekunde dort draußen auf dem
Rasen vorbeizuschicken, in der ich von hier herinnen meinen Ausbruch tat, nun so war er
womöglich ein ausgemachter Schalk und Spaßvogel, und ich hatte die letzten Sekunden meines Lebens vielleicht genügend Zeit, darüber nachzusinnen, wofür er mich derart bestrafte –
und ihn um Verzeihung zu bitten. Nein, ich beschloß festen Sinnes, daß dies der Moment für
mich sein mußte.
Ich schaute mich um, was mir für das Weitere zuhanden sein mochte und machte unschwer
ein etwa hüfthohes, augenscheinlich recht stabiles Möbel aus, das Gläser und Flaschen zu
enthalten schien, welches auf der Seite des Kamins stand, und zwar dankbarerweise auf kleinen Rollen, damit die Diener es zur gefälligen Bedienung herumschieben konnten.
Ich trat darauf zu, prüfte durch leichtes Hin- und Herbewegen, wie die Rollen funktionierten,
und befand das Ergebnis in erfreulichem Maße für genau in meinem Sinne. Ich machte mich
bereit, indem ich prüfend den Wagen in die geeignete Position schob, und dann hub ich ein,
wenngleich sehr kurzes, so doch äußerst intensives Rennen quer durch den Raum an, indem
ich an ausgestreckten Armen meinen Rammbock vor mir her führte.
Dies waren französische Fenster, die Scheiben viel zu klein, um hindurchzuklettern, wenn ich
etwa eine mit meinem Ellenbogen oder einem herumstehenden Kerzenleuchter eingeschlagen
und herausgebrochen hätte, ja, das wäre ein spaßiges Unterfangen geworden - die Sprossen
zwischen den einzelnen Scheiben saßen viel zu dicht, zu eng beieinander. Nein, nein, nein, ein
bescheidenes, vergleichsweise leises Ausbrechen war hier leider nicht möglich, es gehörte ein
kräftigeres Kaliber angewendet – und so raste ich denn mit meinem Rammbock quer durch
den Raum.
Die kleinen Räder, schien mir, dröhnten auf dem Boden - und wäre es dies vielleicht nicht allein gewesen, so hätte es anschließend doch das explosionsartige Krachen, das Bersten von
Holz, das Splittern von Glas, befand ich, sein müssen - das vor mir in wilden Scherben auseinanderstob, indem der Wagen in seiner Gesamtheit gewaltsam durch das Fenster nach draußen brach, wo er anschließend flaschenscheppernd umstürzte, indem noch das halbe Fenster
mitgerissen wurde, durch das ein weitaus größerer Mann als ich hätte klettern können - daß
das ganze Haus im Bruchteil einer Sekunde in äußerste Wachheit und Alarm versetzt wurde.
Ich selbst ward durch den eigenen Schwung mit hinausgetragen, stürzte fast noch, leichtfertig,
in die Scherben, konnte mich aber halten, verletzte mich in keiner Weise und stürmte in vollem weiterem Lauf über den gefallenen Getränkewagen hinweg und nun über den nächtlichen
leeren Rasen nach unten in Richtung auf das Ufer. Das Bersten, Scheppern, Klirren, Brechen,
Bersten meines Ausbruchs durchdröhnte noch tobend meinen ganzen Leib, während ich haltauf die Wiese hinabrannte. Der Mond stand am Himmel wie gestern und leuchtete taghell,
über der Themse trieb dünner Dunst.
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Meine Ohren gingen ungewiß irgendwo in die Weite, irgendwo nach rückwärts und zur Seite,
ob ich Hundebellen vernähme, ob die Bestien blutdürstig heranhetzten, und ich vernahm es in
der Tat, aber ungefährlich weit, weit entfernt. Keines der Monster war in der Nähe. Oh, nun
ja, dachte ich, bebend glücklich, wenn mir doch alles im Leben so gelänge wie dieses nie zuvor vollführte tollkühne Bubenstück meines Ausbruchs…!
Als ich halb über die Wiese hinuntergestürmt war, löste sich aus dem Nebel, der über der
Themse hing, und den Schatten gegenüber unter den Trauerweiden, das Boot, das ich von
gestern kannte, Peter Hobblit stand darin und stakte den Nachen herüber, stetig näherte er sich
diesem Ufer, wie ich, der ich abwärts dem Flusse zujagte, und es ergab sich, daß wir wirklich
fast gleichzeitig an der nämlichen Stelle anlangten. Fast war ich enttäuscht über einen gewissen Mangel an Dramatik, wenn ich so sagen darf, ich hatte zumindest erwartet, daß mir die
Mordbestien unmittelbar auf den Fersen sein würden, mich hetzen würden bis auf’s Blut, gefolgt von ihren brüllenden, mit Knüppeln bewaffneten Herrn und Meistern, und daß es mir
vielleicht gelang, sie mit einem letzten verzweifelten Sprunge am Wasser knapp hinter mir
zurückzulassen, und daß sie mir nicht folgten, wenn ich mich in die eiskalten Fluten stürzte.
Aber nichts von alledem. Ich sprang bequem hinüber ins Boot, das kaum schaukelte, Peter
Hobblit stieß uns vom Ufer los, und wir trieben ab. Ich hatte im Ohr, wie barbarisch mein
Ausbruch gedröhnt haben mußte, es mußte jeden Schlafenden im Anwesen aus dem Schlummer gerissen haben, ich konnte bis hierher das gewaltige Loch in der französischen Türe erkennen und den umgestürzten, zersplitterten Wagen auf dem Rasen liegen sehen, aber es war
kein Mensch, kein Hund auf dem ganzen Grundstück zu sehen, das Bellen, das ich hörte, derartig ferne, daß ich nicht einmal sicher zu sagen vermochte, ob mein Ausbruch bislang denn
überhaupt bemerkt worden war.
„Und Sie sind alleine, Sir?“ fragte Peter Hobblit etwas erstaunt über die Schulter. Er stakte
uns vorwärts, und unser Boot glitt schnell in den dichteren Nebel hinein. „Ich hatte Sie in Begleitung erwartet.“
„Ich gedachte auch in Begleitung zu sein“, erwiderte ich, und mein Herz klopfte von der überstandenen Aufregung und dem schnellen Lauf. „Aber es hat nicht alles geklappt, wie ich es
gewünscht.“
Ich sah mich um, aber ich konnte im Dunst das Anwesen bereits nicht mehr deutlich erkennen. „Diese Flucht jedoch, Mr. Hoblitt“, sagte ich, „hat blendend funktioniert, wie nur irgendetwas im Leben, nicht zuletzt dank Ihrer tätigen Hilfe …“
.....
Ich lernte auch Courtney Pierce, den Fuhrunternehmer in Hammersmith, und seine vielköpfige Familie kennen, einen freundlichen Menschen, der gleichwohl den Einfall nicht hatte,
mich vier- oder sechsspännig nach London kutschieren zu lassen, wie ich es Virginia Sykes
gegenüber so farbig ausgemalt, und ich fragte auch nicht danach - und so traf mich der hereinbrechende Tag, neblig und dunstig, dies war der 14. November, Freitag, die Sperrstunde
längst vorüber - auf dem nämlichen Wege hinein nach London an, auf welchem ich in jener
lange zurückliegenden Nacht im September in der Kutsche meines Freundes Seb mitgenommen worden war, weil er mich in der Heide aufgelesen.
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An der Stadtgrenze, direkt an der Zollschranke, nahm ich mir einen Einspänner, der dort gerade seinen Passagier entlud und ließ mich zum „Belle Sauvage“ fahren, wo vor zwei Wochen
Amboise Tardieu logiert hatte. Hier erkundigte ich mich und erfuhr, daß jeden Tag außer am
Sonntag die Fahrpost nach Cornwall abginge, allerdings nur bis Falmouth, noch weiter westlich gab es keinen geregelten Reiseverkehr und ich würde mich allein durchschlagen müssen.
Gleichwohl dankte ich Gott dafür, in modernen Zeiten zu leben. Noch dreißig Jahre zurück
hatte es in diesem Landstrich so gut wie überhaupt keine befahrbaren Wege gegeben, und
jetzt, hieß es, brauche es für die Reise von über vierhundert englischen Meilen bis in die Hafenstadt am Meer nur siebenundvierzig Stunden, den Aufenthalt am Sonntag nicht mitgerechnet.
Ich würde, wenn ich heute abend abfuhr, demnach damit rechnen dürfen, den folgenden
Montag am späten Abend beziehungsweise, genauer gesagt, den frühen Dienstag Morgen dort
einzutreffen, und von dort, rechnete ich mir aus, mochte es noch einen, zwei, höchstens drei
Tage dauern, bis nach Botallak zu gelangen. Den Donnerstag oder Freitag der nächsten Woche denn, heute in einer Woche also, mochte ich spätestens mein Ziel erreicht haben und wieder in ihrer Nähe sein. Die Zeit erschien mir geradezu unendlich bis dahin und machte mir das
Herz schwer, aber ich tröstete mich mit dem Gedanken oder hoffte zumindest darauf, daß Sir
Enid Luciter, der natürlich mit seiner privaten Kutsche fuhr, auch mit seinen eigenen Pferden
reiste und sich nicht etwa schnöde Postgäule lieh und somit über deren Disposition verfügte,
daß er vermutlich auch nicht über Nacht fahren würde wie jene, sondern zum Beispiel genötigt war, in Gasthöfen zu nächtigen etc. – er würde auf alle Fälle drei, wenn nicht gar vier oder
fünf Tage länger für die Reise brauchen als ich, hoffte ich, womöglich war er sogar, wenngleich vor einer knappen Woche abgegangen, heute immer noch unterwegs …
Ich erstand am Schalter mein Billett nach Falmouth, einfache Fahrt, und gab dafür volle vierzehn Schilling aus. Ich überschlug meine Ausgaben. Für zwei Billets zurück, denn ich würde
Auberge mitbringen, hieß das, eingerechnet der Tatsache, daß ich mir und später uns würde
Nahrung kaufen und übernachten müssen, daß mein Geld trotz der 5 Sovereigns, die mir Finlay Burkitt freundlicherweise zukommen lassen, bereits absehbar knapp würde, und daß ich
womöglich nicht würde umhin kommen können, mir irgendwann unterwegs eine Art Broterwerb zu suchen. Einerlei, dachte ich, und bezahlte den Fahrpreis für die Innenkabine. Obenauf wäre nur elf Schilling gekommen statt vierzehn, aber ich mochte mir die Strapazen einer
siebenundvierzigstündigen Reise außen auf der Kutsche bei Winterwetter nicht zumuten, wäre
doch niemandem damit gedient gewesen, wenn ich in Exeter oder Truro mit einer beginnenden Pneumonie eingetroffen wäre. Nachdem ich mein Billet erstanden und sorgfältig verstaut
hatte, begab ich mich heim nach Holborn.
Ich gelangte todmüde bei meiner Mrs. Hamlet an, die mich aufnahm wie den verlorenen
Sohn, und ich verschlief den Rest dieses Tages im Bett oben in meiner Kammer. Spätnachmittags erst stand ich auf, überreichte meiner wackeren Wirtin die Kleidung Sir Enids mit
dem Vermerk, daß diese in den nächsten Tagen von irgendeinem Bedienten von Morass Mansor abgeholt und zurückgebracht werden würde, Franklin Stifel, James Crucible oder jemand
anderem, und erschütterte sie des ferneren mit der sie völlig überraschenden Ankündigung,
daß ich sie abermals, und diesmal sogar für längere Zeit, und zwar noch des heutigen Abends
verlassen würde für eine Reise ins ferne Cornwall. Sie drängte mir daraufhin abermals die
dicke Winterkleidung ihres verblichenen Gatten auf, „Du gutes Kind“ - und einen Schafspelz
zum Unterziehen und einen dicken Mantel nahm ich tatsächlich an, weil ich die Kälte der
nächtlichen Postkutsche zu fürchten wußte und ahnte, worauf ich mich einließ.
Kaum, daß die abendliche Dämmerung eingebrochen, schnürte ich mein Bündel, das mir leider schwerer geriet, als daß ich es aufgrund der unfänglichen Winterwäsche noch bequem zu
transportieren hätte nennen dürfen, verabschiedete mich von meiner Wirtin und lief im Lichte
der aufflammenden Gaslampen die schmale Halbestunde zurück zum „Belle Sauvage“. Dort
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war Himmel und Hölle unterwegs, der Rauch der Tabakspfeifen in der riesenhaften Wirtsstube und der ungeheure Lärm vernebelten mir die Stirn und machten mir Kopfschmerzen.
Die Kutschen warteten im Hofe, in der Tat vierspännig und sechsspännig, die Pferde wurden
noch gefüttert und getränkt, und ich gab mir Mühe, nicht etwa das Gefährt nach Hull oder
Dover zu erwischen, die ebenfalls um acht abfuhren. Ich holte mir bei einer lustigen, dicken
Frau, die zu den Umstehenden die launigsten Bemerkungen machte, ein belegtes Sandwich
mit gesalzenem Rindfleisch und wartete dann in der Nähe der Kutsche auf deren Abfahrt.
Die Menschen strömten herein und hinaus, es war trotz der Abendstunde ein Lärm wie auf
Smith Market am Mittwoch, ich sah Damen und Herren flanieren, mir schwirrte der Kopf, es
war ein Abenteuer, wie ich es nie zuvor erlebt. Einen unangenehmen Menschen und offensichtlichen Trunkenbold in meiner Nähe, der mich lange Zeit nicht aus den Augen ließ, verdächtigte ich, daß er mich bestehlen wolle, ich wußte mir nicht anders zu helfen: Schließlich
beobachtete ich ihn meinerseits so auffällig und unentwegt, daß er wohl die Aussichtslosigkeit
seines Vorhabens einsah und sich trollte, um sich eines anderen Opfers zu versichern.
Um acht war Abfahrt, das wußte ich, wie angemerkt, sehr wohl, und obwohl ich unmittelbar
in der Nähe der Kutsche verblieb und lange genug vorher aufmerksam gewartet hatte, und
obwohl ich ein Billet für den Innenraum gelöst hatte, stellte es sich heraus, als es ans Einsteigen ging und alle Reisenden herandrängten, daß sich für mich kein Platz mehr im Innenraum
fand, und ich mußte mit zwei anderen, die allerdings Außenplätze gelöst hatten, hinter den
Kutschern oben auf dem Wagen im sogenannten Basket platznehmen, gänzlich der nächtlichen Winterkälte und dem Fahrtwind ausgesetzt. Ich fluchte still in mich hinein – noch einmal
abzusteigen und zum Schalter hinüberzulaufen, um mich zu beschweren oder einige meiner
Münzen zurückzuverlangen, dazu war es zu spät, womöglich fuhr die Kutsche ohne mich ab und so war ich Mrs. Hamlett und ihrem Schafspelz sehr dankbar, den ich dafür aus meinem
Bündel zerrte. Im übrigen – dort drinnen hatte es Platz für 6 Passagiere, aber soweit ich gesehen, drängten sich dort in qualvoller Enge zehn oder elf.
Ringsum läuteten St. Paul’s, St. Alban’s, St. Mary le Bow, St. Andrews und mindestens fünfzehn andere Kirchen im unmittelbaren Umkreis und entboten mir wehmütig ihren Klang zum
Abschied – und auf dieses Signal pünktlich rollte die Kutsche rasselnd durch die Toreinfahrt
auf die Straße und bog nach rechts, Richtung Fleet Street. Ich saß obenauf und hatte mich
bestmöglich eingemummt. Der Kutscher gab den Pferden die Peitsche, „hü“ und „ho“, ich
bekam dies aus nächster Nähe mit, was durchaus auch seinen Reiz hatte, und wir rollten geschwind durch unser großes London, gar nicht weit entfernt von meiner Behausung vorbei,
wo ich mich der ärmlichen Gemütlichkeit meiner Dachkammer und der anrührenden Sorge
meiner Wirtin um mich plötzlich warm erinnerte. Es ging nach Westen, über Trafagar Square,
Haymarket, Pall Mall und vorbei an Hyde Park Corner, dann vorübergehend nach Norden und
wieder nach Westen, dann den Weg, den Sebs Kutsche damals mit mir in der anderen Richtung gefahren. Die Zollschranke flog vorüber, der Wächter hatte geöffnet und winkte uns hindurch, der Kutscher schwang die Peitsche und schneller sausten wir hinaus auf’s Land in die
weite, nächtliche Heide. Der Sandweg dämpfte die Hufe der Pferde, die weit ausholten. Wir
rollten nun noch geschwinder.
Im Grunde schien es wie Zufall, bis Hounslow nahmen wir den gleichen Weg, den ich vor
wenigen Tagen zum Hause von Peter Hobblit gewandert, und ich erfuhr ein Déja-vu nach
dem anderen. Wir führen an den Dörfern von Knightsbridge und Kensington vorbei. Hier
hatte ich ausgeruht, dort hatte ich das Brot von Mrs. Hamlet verzehrt. Nach rechts zweigte die
Straße ab, die nach Windsor und seinen Parks mit dem königlichen Schlosse und dahinter in
die dürre Heide von Ascot führt. Irgendwo hier links, eine halbe Meile weit entfernt am
Strome der Themse, von hier nicht zu sehen, mußte Morass Mannor liegen. Ich dachte an
Virginia Sykes und fragte mich, ob die erstarrte Leiche Gossamers immer noch in der Zelle
ruhte.
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Kurz nach neun rasten wir durch die weiten Straßen von Chiswick vorbei an Griffin’s Brauerei, die jetzt im Dunkel lag, ohne anzuhalten, und ich sah hier zum ersten Male, wie später
noch des öfteren, wie der Kutscher mittels einer Stange, die er zu seiner Rechten senkrecht
seitlich an der Kutsche einstecken hatte, ohne Anzuhalten, nur im Vorbeifahren, den sattelartigen Sack aufnahm, der vor der Poststelle auf einem Gestell auslag. Ein Bedienter stand
daneben, gab Obacht und winkte, als wir vorbeirasselten, bevor er wieder zurück in seine beleuchtete Hütte trat. Das Manöver hätte, meinte ich, den Kutscher bequem seinen rechten Arm
kosten mögen, wenn er mit der Fangstange nur um ein Weniges nicht richtig gezielt hätte.
Bereits eine Meile danach kam Hounslow – ich sah zwar rechterhand die langgestreckten Kasernen der Garnison im Dunst der Nacht liegen, aber es ging zu flink, als daß ich einen Blick
auf den Weg hätte werfen können, wo ich hier links hinunter zur Behausung von Peter Hobblit am Ufer der Themse abgebogen war. Hier in Hounslow gab es einen kurzen Aufenthalt,
und die Pferde wurden versorgt. Aber bereits nach wenigen Minuten brachen wir wieder auf,
verließen das Städtchen und reisten weiter hinein westwärts in Regionen, die ich in meinem
noch jungen Leben bislang nie bretreten.
Die Landschaft blieb wie zuvor heidearteig, später mehr taufeuchte Wiesen, dann auch kahler
winterlicher Wald, hauptsächlich Eichen und Buchen. Der Mond war heute hinter hohen
Wolken und Dunst versteckt, anders als in den beiden Nächten, als ich in Morass Manor gewesen, und ich sah nicht recht in die Ferne. Wir preschten dahin, daß mir hätte schwindlig
werden können. Die zwei Reisenden mit mir auf dem Dache respektive im „Basket“ froren
erbärmlich, mir dagegen ging es dank Mrs. Hamlets Schafspelzes einigermaßen wohl.
Kurz nach zehn, hier bereits in Berkshire, gelangten wir nach Salt Hill und Slough, beides
zusammen, eng beeinander gelegen wie die Dioskuren, ein wohl respektables Städtchen: viel
Licht, viele Leute auf der Straße, dementsprechend viel Unruhe. Hier gab es unterhalb einer
mächtigen Kathedrale – St. Laurences’s, wie ich mir sagen ließ - eine Anzahl großer Coaching Inns, hübsche, gemauerte Häuser mit Vorbauten und Lauben, bewachsen mit wildem
Wein – dessen Blätter indessen winterzeitlich fehlten, einige der Häuser im Innern offenbar
fast so lebhaft wie das „Belle Sauvage“ in London, denn der Lärm drang heraus. Hier wurden
zum ersten Male die Pferde getauscht, die bisherigen fortgeführt, abgerieben, gefüttert, und
neue eingespannt. Wir warteten auf der Straße, fuhren nicht durch die Durchfahrt in den Hof.
Gaffer standen herum und glotzten, und ich starrte, eingehüllt in meinen Pelz und müde, von
meinem hohen Aussichtspunkte auf sie hinunter.
Es stiegen bei dieser Gelegenheit auch drei Reisende aus, darunter eine junge Dame, die mich
in ihrer Eleganz entfernt an Fiona de Cato gemahnte, aber ein neuer, überdies recht korpulent
und cholerisch aussehender Mensch mit rotem Antlitz kam zu gleicher Zeit hinzu, so daß es
im Innern nun zwar theoretisch etwas geräumiger, aber immer noch, verbunden mit allen Gerüchen, die damit zu tun hatten, grauenvoll überfüllt sein mochte, so daß ich - auch schon, um
Streitereien mit meinen anderen Mitfahrenden zu vermeiden - davon Abstand nahm, auf mein
Recht zu pochen und ins Innere des Wagens umzusiedeln. Ich rührte mich nicht von meinem
Platze obenauf.
Erneut setzte sich die Kutsche schließlich in Bewegung, und bald umfingen uns wieder die
dunkle Nacht, die Natur, die Kälte und der Wind der geschwinden Fahrt. Obwohl kein Mond
da war, versandten der Dunst und die Wolken doch genügend Licht, so daß ich beiderseitits
des stillen Flusses, dem wir folgten, dunkle Hügelketten mit dichtem Wald darauf ausmachen
konnte, dann auch wieder offenes flaches Gelände mit einem einzigen spitzen Kegel, fast wie
ein Vulkan, der an die Wolken stieß in der Ferne, in der Gegend von Longwhittenham. Ich
mußte daran denken, welch wilde Geschichten über diese Gegend kursiert, noch fünfzig Jahre
zurück war sie verrufen und gefährlich gewesen wegen der Highwaymen, die es sich angele-
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gen sein ließen, jede zweite oder dritte Diligence, die diese Strecke zurücklegte, zu überfallen
und auszurauben. Aber was dies betraf, so lebten wir heute in den Zeiten der Sicherheit.
Gelegentlich verfiel ich nun in kurzzeitigen Schlummer, andererseits, aufgrund des beißenden
Frostes, des Gerucke und Gestoßes wegen, war an wirklichen Schlaf nicht zu denken.
Um elf gab es einen weiteren vorübergehenden Halt und zwei aus- und zwei zusteigende
Fahrgäste vor dem Greyhound Inn in der High Street von Maidenhead, welchletztere Ortschaft immerhin bereits im Doomsday Book erwähnt wird. – Auch um dieser ständigen Unterbrechungen willen, dachte ich, während meine Glieder bereits böse schmerzten, und dennoch halb im Schlummer - schon um dieser Unterbrechungen willen glich die Reise für jemanden, der müde war, einer Tortur, denn jeder Halt forderte plötzliche Wachsamkeit, es war
schrecklich laut und wimmelte um den Wagen. Die ganze Straße hinunter brannten Fackeln,
lagerte sich sich ein Inn und ein Theater an das andere. Das war, wie ich mir von dem einen
meiner im Korb Mitreisenden sagen ließ, wegen der Themsebrücke. Die alte Strecke war hier
extra verlegt worden, damit man die Brücke benutzen mußte – ich schüttelte ratlos und müde
darüber den Kopf.
Gleichwohl, irgendwann fuhren wir in einem lichten Birkenwald direkt am Ufer der Themse
entlang, und ich hatte die Annäherung nicht einmal bemerkt, mußte wohl also doch eingenickt
gewesen sein.
Eine halbe Stunde nach Mitternacht kreuzten wir den Fluß über eine hohl dröhnende, hölzerne
Brücke, kaum oberhalb der Stelle, wo Themse und Kennet zusammenfließen, und erreichten
solcherart Reading. Die Poststation lag unten in der Nähe des seit einigen wenigen Jahren
vollständig kanalisierten Flusses, die Stadt, über der auch in der Nacht rot die industriellen
Essen glühten, zog sich rechterhand den Hügel hoch. Wir fuhren nicht hinauf, blieben unten
am Wasser, und der Aufenthalt dauerte abermals kaum eine Viertelstunde. Die Pferde wurden
hier zum zweiten Male ausgetauscht. Trotz der übermäßig späten Stunde waren überraschend
viele Leute am Ufer unterwegs, lungerten herum und sahen uns zu, auch wenig Zutrauen erweckendes Volk. Der Kutscher hatte hart zu tun, ansässige Männer halfen ihm. Postsäcke
wurden auf- und abgeladen, es ging äußerst rege zu.
Ich überlegte, ob ich kurz hineinschlüpfen sollte, um gegen die zitternde Kälte, die mich inzwischen nun doch erbarmungslos gepackt, einen Punch oder wenigstens einen heißen Tee zu
mir nehmen, aber ich getraute mich einerseits nicht, weil ich fürchtete, unter Umständen bei
meiner Rückkehr trotz meines Billets auch noch diesen kalten Sitzplatz verloren zu haben,
anderererseits wagte ich aber auch nicht, mein Bündel auf dem Sitz zurückzulassen, um zu
zeigen, daß er besetzt sei, weil ich Sorge trug, daß man es mir in der Zeit meiner Abwesenheit
statt dessen stehlen konnte. Also verzichtete ich auf den Ausflug und die Labsal eines wärmenden Getränks.
Dann kletterte der Fahrer wieder herauf, und noch bevor die Glocke im Kirchturm zur ersten
Stunde schlug, verließen wir die Lichter des Ortes und fuhren wieder hinaus in die kalte
Nacht. Wir hatten nun den Lauf der Themse verlassen, die hier von Norden heranfloß, und
folgten dem Verlauf des Kennet-Kanals. Wenn ich mehr Muße gehabt hätte, dachte ich träumerisch und mit klappernden Zähnen, während ich vom Rütteln der Räder auf meinem Sitz
grob hin- und hergestoßen ward, hätte ich auch über diesen Kanal und später den Avon hinab
bis Bath mit einem Narrow Boat warm und gemütlich fahren können, aber das dauerte natürlich Tage, und diese Weile konnte ich mir nicht gönnen, nein, diese kostbare Zeit durfte ich
nicht verschwenden, denn es galt schließlich, Menschenleben zu retten.
Wir rollten weiter durch die Nacht, auf einer, wie mir schien, insgesamt doch sehr guten, ausgebauten Strecke und hatten den Kanal zumeist direkt zu unserer Linken, auf dem ich hin und
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wieder vertäut an der Böschung des Ufers eines jener Boote gewahrte, an die ich zuvor gedacht.
Der nächste Aufenthalt war Newbury in West Berkshire, hier waren wir bereits an die sechzig
englische Meilen von London entfernt, und bei der Einfahrt in den Ort zeigte die Uhr am ersten Kirchturme, den wir passierten, auf kurz nach halb drei - soweit ich das im Vorübersausen recht wahrnehmen konnte. Halb auf drei, und das hieß, rechnete ich schlaftrunken, während ich langsam wieder zu mir kam, daß dies ziemlich genau die halbe Strecke nach Bath
war, der Stadt, wo wir morgen in der Frühe anlangen sollten.
Newbury war ein bedeutender Knotenpunkt, hier kreuzte die große Straße von den Midlands
herunter nach Southhampton unten an der Küste hindurch, dementsprechend zahlreich waren
die Gasthäuser, Tavernen und Inns. Fackeln brannten, die Straßen vor den Inns waren gleichwohl, der späten Stunde geschuldet, leerer als ich es bisher gesehen. Halb drei Uhr des nachts,
dachte ich übermüdet – vierundzwanzig unglaubliche Stunden war es erst her, seit ich von Sir
Enid Luciters Besitzung, über den nächtlichen, mondhellen Rasen gehetzt und geflüchtet und
zu Peter Hobblit ins Boot gesprungen war. Heute nacht, und hier, sah ich keinen Mond, auch
waren die Lichter der Siedlung zu hell.
„Brrr …“ machte der Kutscher, und das Gefährt kam vor einer prächtigen Taverne zum Stehen, die sich „The George And The Bear“ nannte. Hier – ich litt es nicht länger, griff ich mir
mein Bündel, murmelte einige Worte zu meinen Mitreisenden, kletterte steif und mit taumeligem Kopf herunter, erkundigte mich hinsichtlich der Länge unseres Aufenthaltes und trat
schwankend in die weite Halle des Gebäudes ein, wo es, wie ich ungläubig wahrnahm eine
breite weiße Marmortreppe und Palmen in Kübeln gab. Ich wandte mich linkerhand in die
Gaststube, wo der Rauch – seit Sir Walter Raleigh zweifellos eines der größten Übel in England neben der Trunksucht – wie Nebel unter der Decke hing und ein Lärm und Treiben
herrschte, als sei es mitten am Tage. Ich verstand nun den Spaß, den ich einst über das Reisen
gehört, daß die Fahrpost alles auf den Preis aufschlage außer dem Krach in den Herbergen.
Ich trat hinüber an den Bartresen und bestellte mir einen Punch und kaum hatte ich diesen
erhalten, noch ein Glas Gin, den ich hasse, und stürzte beides jeweils so schnell hinunter, wie
es nur ging, aber ich fühlte nach wenigen Minuten neue belebende Wärme in meinen Körper
dringen, und mir wurde wohler. Der Wirt hatte für die Getränke einen höheren Preis gefordert, als es in jenem – fast packte mich das Weh - so weit hinter mir liegenden London üblich
gewesen, und ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, das ich an diesem fernen Ort womöglich betrogen worden sei, aber in all meiner Müdigkeit und Zerschlagenheit war es mir
beinahe gleich. Ich kontrollierte die Standuhr in der Ecke des Raumes, forderte nun einen mit
Branntwein versetzten Cabernet, bezahlte alles drei, und trank auch diesen fast auf einen Zug
- was hatte ich soeben über die Trunksucht gesagt?
Ich griff mir mein Bündel, suchte den Abtritt hinten im Hof auf, seitlich konnte ich große
Mengen von Pferden in langgestreckten Ställen stampfen und schnauben hören und roch ihren
Geruch, dann kehrte ich nochmals durch die Wirtschaft zurück, in der warm das Kaminfeuer
flackerte, blickte auf die große Standuhr, deren schweres Perpendikel golden und zutrauenerweckend hin und herschwang, riß mich von diesem heimeligen Anblicke los und begab
mich nach draußen zur Kutsche, die in einer oder zwei Minuten abfahren würde. Ich fühlte,
wie mir die genossenen Getränke zu Kopfe gestiegen waren und meinen Schritt unsicher
machten, aber wir war so warm und wohl wie seit gestern abend nicht. Die Pferde waren
abermals getauscht worden, sogar der Kutscher war, wie ich sah, abgelöst, von hier ab lenkte
ein anderer den Wagen, und es hatte eine sehr angennehme Überraschung für mich, indem es
sich jetzt erzeigte, daß uns hier einge Reisende verlassen hatten, so daß ich nun doch endlich
noch den mir zustehenden Sitzplatz im Inneren der Kutsche bekam – und – dies vorwegzu-
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nehmen, ich brauchte auch im ferneren Verlaufe der Reise nie mehr im Basket platzzunehmen.
Als wir - im Inneren der Kutsche waren alle Laute gedämpfter, und man merkte das Schaukeln und Stoßen weniger, wie mir schien – als wir abfuhren, machten es die übermäßig genossenen alkoholischen Getränke, daß ich fast augenblicks in einen wenngleich häufig gestörten
Schlummer verfiel, in dem wirre Dinge im Traume mein Hirn umwebten, so daß der Schlaf
kein wirklich erholsamer war, gleichwohl war es ein tauber Zustand von Ruhe. Immer wieder
in jener Nacht wurde ich wachgerissen durch Aufenthalte – ein sonderbares Phänomen: durch
die ständigen Unterbrechungen kam mir die Reise nicht wirklich lang vor, obwohl es die
längste war, die ich jemals getan und vermutlich tun würde. Ich saß jetzt vor der Winternacht
geschützt, dank meines Pelzes, den ich trug, im bequem gepolsterten Warmen und schaute
durch das Glas des Fensters hinaus.
In Hungerford, nur zehn knappe Meilen westlich von Newbury, jedoch bereits in Wiltshire,
hielten wir kurz an und nahmen einen weiteren Passagier aufs Dach, in Marlborough, sechzehn weitere Meilen von London entfernt, bereits gegen halb fünf, wurden zum vierten Mal
die Pferde getauscht. Marlboro besaß einen eigenartig schräggelegenen, nach links abfallenden Markplatz, so als wolle es in seiner Gänze gleich von dem steilen Hügel hinunterrutschen,
auf welchem es lag, die Kutsche hielt hier direkt vor einer Kirche, die sich, wie ich auf einem
Schilde lesen konnte, St. Peter nannte und die mit ihrem hübschen gotischen, wenngleich gedrungenen und oben abgeflachten Turme inmitten der langgestreckten Hauptstraße an einer
Stelle trohnte, wo jene sich auffällig teilte.
Dann, erneut, rollten wir durch die Nacht, durch Wiltshire, durch recht hügelige Landschaft,
wie mir schien und oftmals recht fern vom Kanal.
Zwei Stunden später, morgens um sieben, es war immer noch dunkel, geschah es in Chippenham zum fünften Male in dieser Nacht, daß die Pferde ausgewechselt wurden, nachdem wir
zuvor in Calne ein paar Minuten angehalten, ich bekam nicht mit warum, niemand stieg aus
und niemand stieg zu, und ich lehnte todmüde dämmernd gegen das Fenster gelehnt und
starrte hinaus, ohne etwas anderes zu sehen als einen dunklen, recht geräumigen Marktplatz
und einen Kirchturm und ausnehmend enge, krumme und steil abfallende Straßen, als wir
wieder hinausfuhren.
Zwanzig Minuten später, nun in Chippenham, hielten wir vor zwei direkt nebeneinandergelegenen Inns, das eine „The Palace“ geheißen, das andere „The Bear And The Angel“. Es war
wieder lauter draußen herum um die Kutsche zugegangen, und obwohl die Winternacht noch
gänzlich über der Stadt hing, hatte man das Gefühl, daß der neue Tag begonnen, deshalb
brachte ich von hier an die Zeit wieder zunehmend wacher zu.
Es war etwas sonders Eigenartiges, befand ich im Stillen bei mir, um das Reisen. Ich dachte
darüber nach, was ich über das Unterwegssein in der Ferne bereits im Leben gelesen. Bislang
war es mir nie selber zugestoßen, aber nun: Wie sollte mein armer Kopf, der dies jetzt alles
erlebte, es auch behalten können und hüten? Die moderne Zeit, ja, die moderne Zeit: Man
kam herum, weiter denn je, in der Welt, aber war der Mensch überhaupt für dergleichen vorbereitet?
In mir vermischten sich, während ich zurückgelehnt in den Polstern ruhte, bereits die Eindrücke der Nacht. War es in Slough oder Reading gewesen, grübelte ich schwach, wo ich diesen Sekundenblick erhascht, der sich mit den anderen Erlebnissen und flüchtigen, vorüberfliegenden, flackernden Impressionen der Nacht mischte? Eine Frau des einfachstes Volkes,
nicht mehr ganz jung, hatte dort im Gewühl und Gemenge seitab gesessen, auch geistig abgesondert, und hatte ihr nicht mehr ganz kleines Kind gestillt. Dann hatte sie es nachlässsig von
der Brust gelassen, ebenso nachlässig das Hemd zusammengerafft und ihm die dunkle Zi279
garre, die sie in der Hand hielt, hingehalten, und das kaum zweijährige Kind saugte daran und
blies den Rauch heraus – dies ganze wirkte auf mich durchaus nicht wie ein Unfall oder ein
momentanes Versehen, sondern gewiß nur wie häufig, gewohnheitsmäßig und beiläufig geübte Praxis. Gleichwohl, dachte ich, es mußte vor Newbury gewesen sein, denn ich hatte noch
oben gesessen. Ich starrte auf den viereckigen, belebten Marktplatz von Chippenham, wo man
unsere neuen Pferde heranführte, die nervös tänzelten.
Nach zwanzig Minuten fuhren wir ab, unterdessen wohl gut hundert Meilen von London entfernt, weiter auf unserem stetigen Wege in den fernen Westen des Landes.
Als das Licht langsam heraufdämmerte, sah ich, daß wir durch eine ausnehmend liebliche,
recht bergige Landschaft rollten, über den Bergen färbte sich der Himmel, und ich konnte
erkennen, daß die Wolken des gestrigen Abends gänzlich verschwunden waren und wir in
einen klaren, hellen Tag hineinfuhren. Dann ging hinter uns gleißend hell die Sonne auf, wenn
wir um Kurven rollten, sah ich den langen Schatten der Kutsche und der galoppierenden
Pferde vor uns oder hinter uns auf der Straße, und beim Anblick dieses Tageslichtes und trotz
meiner Müdigkeit und meiner schmerzenden Glieder fühlte ich so etwas wie Glück oder Zuversicht in die Zukunft in mir aufsteigen. Häufig begleitete Immergrün die Straße, unten im
Tal wandte sich ein Flüßchen, das mußte der Avon sein, von hier oben ein atemnehmender
und wunderschöner Anblick, dann fuhren wir hinunter und um neun, abermals mit den Schlägen der Glocken von den Kirchen, dreizehnStuinden von London und mithin auf die Minute
wie verabredet, gelangten wir nach Bath.
Die Stadt war ein mir höchst erstaunlicher Anblick. Sie lag auf der frühmorgendlichen Sonnenseite in einer Art steilem Talkessel oder Amphittheater gebettet und zog sich mit großen,
noblen Häusern, Terrassen, Straßen und Parks imponierend den Hang hoch, ganz dort oben
sah ich langgestreckte, in Winterweiß und Morgensonne goldgelb warm erstrahlende, sonderbare Ketten von fünf- und mehrstöckigen Häusern um halbmondförmige üppige Plätze errichtet, wie ich dergleichen nie zuvor erblickt, zum Teil auch noch gerade in der Konstruktion, denn ich erkannte Gerüste daran aufragen. Auch hier unten war Sonne, der Fluß stürzte
über ein Wehr, unter den römisch nachempfundenen Colonnaden herrschte das bunte und
fröhliche Treiben samstäglichen Marktes, dahinter ragte die gleichermaßen bescheidene wie
stolze Abteikirche auf – alles hier war gebaut in derselben goldgelben Farbe des Steins, ein
wahrlich berauschender, wunderhübscher Anlick. Eine Brücke wölbte sich seitlich in drei
engen Bogen über den Fluß, darauf gab es dichtgedrängt beisammen und ohne Durchblick
bunte Buden und Häuser, so daß es einen, ging man dort die Straße entlang- ich probierte dies
aus - nicht so ankam, als befände man sich auf einer Brücke, sondern nur in einer Straße.
Auf diesem Platze am eingezäunten Wasserlauf des Avon war ich in der frühen Morgensonne
ausgestiegen, denn hier gab es eine volle Stunde Aufenthalt. Ich hatte mein Bündel frech auf
meinem Sitz in der Kutsche zurückgelassen, sollte man es mir doch stehlen, es enthielt ja
doch nichts Wertvolles! – aber inzwischen fühlte ich mich in der Tat genug Reisender, um zu
ahnen, wo Sicherheit war und wo nicht und daß sich hier und an diesem heiteren Morgen ein
Diebstahl mitnichten würde ereignet haben. Ich war auch zu den Kollonaden hinüber gelustwandelt und hatte mir ein Sandwich mit köstlichem Käse erstanden, das ich nun mit Genuß
und in Ruhe, gegen die steinerne, aus vielen hüfthohen Säulchen bestehende Brüstung des
Avon gelehnt, der zwölf oder fünfzehn Fuß unter mir dahinrauschte, in der Morgensonne stehend, verzehrte. Mein Atem ging kalt in die Luft, aber das Sonnenlicht und der Schafspelz
machten, daß ich mich fast sommerlich warm befand.
Von diesem Platze beziehungsweise gleich um die Ecke gingen kleinere, geradezu niedliche
Kutschen nach Bristol und Clifton ab, die ich zuvor mir beiläufig angesehen; ich dagegen
würde um zehn mit der nämlichen Kutsche weiterreisen, mit der ich gekommen. Ich blinzelte
in die Sonne und ließ sie mir auf die Nase scheinen, der Alkoholdunst der zurückliegenden
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Nacht war auf angenehme Weise verflogen. Ich beobachtete die Herren in ihren Zylindern,
die eleganten Damen mit den Hüten und Schirmen, wie sie unter den gestutzten Bäumen im
Lichte flanierten. Ich erinnerte mich wohl, was ich gelesen, daß es mit Bath als Kurbad
bergab ginge und daß die noblen Londoner neuerdings das langweilige und flache Brighton
am Meere bevorzugten, aber ich fragte mich dennoch, wenn ich mir die hölzernen, kühnen
Baugerüste an den Häuserketten auf dem Berge besah und der Tatsache gedachte, daß es im
Süden am Meer doch wohl keine heißen Quellen gab, wie hier hinter den Colonnaden, ob das,
was ich vernommen, wirklich stimmte.
So verhielt es sich. Ich weilte diese gute Stunde meines Lebens in Bath und hätte mir doch
wohl vorstellen mögen, wenn es denn London nicht sein durfte, daß ich durchaus hier hätte
leben mögen, zumal mir die Preise der Tücher und anderen Waren, die auf dem Markte feilgeboten wurden, eher unter als über denen meiner großen Heimatstadt zu liegen schienen. Ich
wäre zu gerne ein Stück weit den steilen Berg hinaufspaziert, nur um zu schauen und zu erleben, aber ich wagte es nicht, mich allzuweit von der Kutsche zu entfernen, in die nun auch
gerade das neue Gespann Pferde eingeschirrt ward. Also blieb ich in ihrer Nähe und war dergestalt, als es ans Einsteigen ging, nachdem ich die Damen vorgelassen, einer der ersten, der
in die Kabine kletterte.
Der neue Kutscher schwang knallend die Peitsche über den Pferderücken und wir rollten aus
Bath hinaus in den herrlichen, klaren Wintermorgen hinein, noch eine kleine Weile nordwestlich auf Bristol zu, dann jedoch verließen wir das Tal und fuhren über mehrere dicht bewaldete, wenngleich nun winterlich kahle Höhenrücken nach Südwesten und nach einer Stunde,
ich bedauerte dies, gänzlich aus den Bergen und den Bäumen hinaus. Somerset war hier flach
und weit und bot den Blicken, befand ich, nicht allzu viel Abwechslung, die Gegend zuvor
war bei weitem reizvoller gewesen. Zudem bezog sich die Sonne mit feinen Schleierwolken,
wobei nicht zu entscheiden war, ob wirklich das Wetter sich änderte oder wir nur in Gegenden vordrangen, in denen eben anderes Wetter herrschte.
Es gab weiterhin den üblichen Rhythmus der Unterbrechungen und Pferdewechsel, letztere in
Radstock, Shepton Mallet und Glastonbury. Nachmittags, mit Einbruch der Dunkelheit, erreichten wir Taunton, eine häßliche, ganz im Flachen an einem Flusse gelegene Stadt, wo wir
eine weitere ganze Stunde Aufenthaltes verzeichneten. Ich trat hier in ein Gasthaus ein und
nahm ein warmes Mahl zu mir, das außer den in der Tat geringen Kosten, wie ich im Nachhinein sagen muß, bedauerlicherweise wenig Erfreuliches aufwies. In der Kutsche, als wir
weiterfuhren, war das Licht aufgesteckt, weshalb man wenig von der Landschaft draußen erkennen konnte. Dafür ergab sich das Gespräch unter den Reisenden in größerer Lebhaftigkeit
als zuvor, als man draußen noch vieles zu schauen hatte.
Seit Bath hatte die Besetzung der Kutsche mehrfach gewechselt, der letzte jener, den ich
schon in London gesehen, ein recht wohlbeleibter Mensch, wurde, als wir uns, abends um
acht Uhr, kurze Zeit in dem winzigen Städtchen von Cullompton an der Grenze zu Devon
aufhielten, von einem Diener mit seinem Gepäck per Pferdefuhrwerk abgeholt, so daß ich als
der einzige Reisende in der Kutsche verblieb, der ganz von London her und seit nunmehr genau vierundzwanzig Stunden diese große Straße befuhr.
In Cullompton stieg im übrigen auch ein Mann zu, der, wie er verlautete, hier seine jüngere
Schwester besucht hatte, deren Gatte bedauerlicherweise verschieden war, er selbst ein
Mensch am Eingange seines Lebensabends, aber mitteilsamer als alle anderen, die ich bislang
auf dieser Fahrt angetroffen. Er wollte jetzt nach Exeter zurück, woselbst er mit Weib und
Kindern lebte, die Schwester würde anfangs des neuen Jahres nachkommen, und er unterhielt
das Coupé mit lebhaftesten Erzählungen aus dem Umkreise seiner Heimatstadt, der wir uns
näherten, Geschichten, die sämtlich zunächst äußerst alltäglich und harmlos schienen und
verliefen, indessen allesamt Pointen sonderlich grausamer und schrecklicher Art aufwiesen.
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Eine, die ich mir behalten habe, sei gerade erst passiert gewesen, bevor er von dem Tode seines Schwagers gehört und dorthin gefahren, erzählte der Mann, und sie lautete folgendermaßen: Zwei junge Leute, ein Liebespaar, angestellt in einer Tuchfabrik, fielen, miteinander
schäkernd und sich jagend, in eine kochende Masse, welche noch viele Grade heißer als hochsiedendes Wasser war. Obgleich beide nach vorwärts fielen, sprangen doch auch beide im Nu
wieder heraus, rannten aber, wie wahnsinnig, gegen die vorstehende Wand, wo sie in Konvulsionen verschieden. Ihr Anblick sollte, nach Aussage der Augenzeugen, über alle Beschreibung furchtbar gewesen sein, weil in der ungeheuren Hitze alles von den Kleidern ungeschützte Fleisch im Augenblicke gänzlich konsumiert worden war und sie daher mit noch
lebenden Totenschädeln auf den Schultern aus der kochenden Pfanne hervorgestürzt.
Ferner erzählte er, jener leutselige Mann, der von der Beerdigung seines Schwagers kam –
daß es noch kein Jahr her sei, sondern gerade erst im letzten Februar geschehen, daß hinter
Exeter auf der mittleren Route hoch nach Moretonhampstead, mithin jener Strecke, die dieses,
unser Gefährt in späterer Nacht auch noch würde nehmen müssen, bei eisiger Straße und
Wind mit Schneetreiben die Londoner Kutsche von der Straße abgekommen und in eine
Schlucht gestürzt sei, wobei alle vier Pferde, der Kutscher und zwei Passagiere ums Leben
gekommen seien. Nur einer der Insassen habe das Unglück überlebt, aber gerade dem habe es
nichts genutzt, weil er auf der Flucht vor seiner Frau zu einer Mätresse gewesen. Er sei äußerst vorsichtig nach Exeter zurücktransportiert worden, seine Frau, die inzwischen von der
Untreue wußte, habe ihn jedoch im Hospital besucht und den Bewußtlosen daselbst erwürgt.
Ihrer gerechten Strafe sei sie ihrerseits entkommen, weil sie im Gefängnis die Scherben einer
Flasche verzehrt.
Solcher Art waren die Geschichten des Mannes, und er brachte eine nach der anderen dieser
gleichermaßen komischen wie zum Grauen schrecklichen Kuriosa hervor, wie die Engländer
sie im übrigen allzugern in den Gazetten lesen – ich hatte da selbst schließlich meine einschlägigen beruflichen Erfahrungen – und jener Mann wäre gewiß hemmungslos fortgefahren,
solcherlei zum Besten zu geben, wäre da nicht mit einem Mal ein streng wirkender, vertrockneter, älterer Mensch, der seit Taunton in Begleitung seiner stillen und verhärmten Frau mitreiste, mit Hinweis auf eben die letztere ihm an einer besonders lebhaften Stelle seiner Erzählung in die Parade gefahren und hätte sich dergleichen weitere Geschmacklosigkeiten
strikt verbeten.
Danach schwieg der Erzähler beharrlich und wie mir schien, obendrein recht verstimmt, und
es wurde still in der Kutsche.
Eine kurze Weile nach zehn erreichten wir Exeter. Hier hatten wir, wie es plötzlich hieß, eine
Viertelstunde Verspätung, was unseren Aufenthalt abkürzen sollte, ohne daß es mir möglich
gewesen wäre zu bestimmen, was dieses plötzliche Zurückliegen verursacht haben mochte,
denn wir waren die ganze Zeit über gleich stetig und schnell gerollt.
Hier gab es im Grunde zwei Halte, einen unten auf dem Kai am Hafen, einen weiteren oben in
der Stadt. Hafen und Stadt liegen getrennt voneinander. Der Hafen selbst ist klein, er verfügt
nur über ein recht schmales Becken - keinerlei Vergleich mit London - und wiewohl man
auch seetaugliche Schiffe liegen sieht und ich zuvor schon gehört hatte, daß diese bis Exeter
fahren können, erblickt man doch überraschenderweise das Meer nicht, so daß die ganze Anlage eher einem Kanal im Binnenland denn einem Meereshafen gleicht. Eine Viertelmeile
oberhalb im Dunkel glühen die nächtlichen Lichter der Stadt, und man erkennt von unten, daß
es, wenngleich nicht mehr vollständig, mächtige mittelalterliche Befestigungen mit hohen
Mauern und runden Türmen gibt, ferner daß das alles erhaben überragt wird von mehreren
schlanken Kirchtürmen und einer wirklich gewaltigen, zweiturmigen Kathedrale im normannischen Stil, der größten Kirche, die ich bisher gesehen, außer St. Paul’s in London.
282
Nachdem binnen Kurzem der Halt am Hafen unten abgetan und Pferde und Kutsche gewendet
waren, fuhren wir über einige Serpentinen und Schlaufen dort hinauf und hielten auf dem
großen, zumeist von Häusern im Fachwerkstil umstandenen, dreieckigen Platze, auf dessen
gegen das Meer gerichteter Seite sich, dem heiligen Petrus geweiht, übergroß die besagte Kathedrale erhob. Die vielen Fackeln, das ganze Licht reichte kaum aus, die gewaltigen Klötze
der Türme bis zu ihrem wie üblich flachen oberen Ende in der Nacht auszumachen. Ich
konnte meine Augen nicht von diesem beeindruckenden Bauwerk lösen und bedauerte, daß
keine Zeit war, für ein stilles Gebet in das Innere einzutreten.
Das Meer im übrigen, ich registrierte es mit einiger Enttäuschung und Verwunderung, konnte
man entgegen meiner sicheren Erwartung auch von hier oben nicht sehen, möglicherweise
war die Höhe der umliegenden Gebäude und Mauern oder einfach die Tatsache, daß es Nacht
und dunkel war, daran schuld – ich konnte es nicht ausmachen. Also würde die Erfahrung, mit
eigenen Augen erstmals den großen Ozean zu erblicken, vermutlich doch bis zum Endpunkte
der Reise, Falmouth, warten müssen.
Hier, auf dem Platz vor der Kathedrale, wurden die Pferde gewechselt und fortgeführt, und
auch ein neuer Kutscher kam hinzu. Er und der andere, der uns von Bath bis hierher gebracht,
kannten sich, und manches Scherzwort flog zwischen ihnen hin und her. Ich erhaschte etwas
von dem, worüber sie plauderten, und fand bestätigt, was ich schon in London gelernt, daß
von der britischen Hauptstadt hierher alle Kutschen die nämliche Strecke kamen, die auch wir
in den letzten siebenundzwanzig Stunden genommen, es von hier jedoch drei Wege nach
Falmouth gebe und es sich nach dem Wochentag richte, welchen der Wege die Fahrpost jeweils nahm. Es gab einen südlichen, etwas längeren, der, wenn er auch kaum die Küste berührte, dennoch über Plymouth verlief, und weiter über Liskeard nach Bodmin, ferner gab es
einen ebenfalls längeren, nördlichen über Okehampton, Launceston, am Jamaica Inn vorbei
und durch das Bodmin Moor nach Bodmin, wo er mit dem südlichen Wege wieder zusammentraf.
Wir dagegen würden, weil heute Samstag war, die mittlere, den kürzeste, aber, wie ich gehört
hatte, nicht unbedingt bequemste Passage nehmen, über Moretonhampstead, Princetown und
Tavistock, natürlich ebenfalls nach Bodmin, aber heute galt es in einer letzten anstrengenden
Etappe nur noch diese erste kleine Siedlung oben im Gebirge zu erreichen, was in zwei bis
drei Stunden zu schaffen sein sollte, so daß wir zwischen ein und zwei Uhr morgens des
Sonntags dort einzutreffen erwarteten.
Morgen, den ganzen Tag des Herrn über, würden Pferde und Kutsche ruhen, die Fahrgäste
hatten Zeit, an der Messe im Dorfe teilzunehmen und den Tag über stiller Betrachtung und
der Ruhe zu pflegen, es gab ausreichend Quartier für Durchreisende, wußte ich; erst übermorgen, Montag früh um acht, würden die Kutsche und die Passagiere auf bezeichnetem Wege
weiterfahren, das Dartmoor durchqueren und abermals achtzehn Stunden später, nachts um
zwei, in Falmouth am Meere eintreffen.
Siebenundvierzig Stunden Fahrzeit insgesamt von London - nur siebenundvierzig Stunden!
Mir ging ein Schauer über den Rücken, wenn ich mir die Karte des Königreiches vergegenwärtigte, die ich oft genug gesehen, da sie in den Räumen des ‚Monthly Mercury’ in gewaltiger Größe aushing, und wenn ich an das Wunder modernen Reisens dachte – fast war es doch
wie ein Traum, daß ich hier auf dem Platze in Exeter stand und mir von einem Händler am
Stand ein Sandwich und einen Tee reichen ließ.
Hier auf dem Pflaster vor der Kathedrale von Exeter hatten uns im übrigen auch der Geschichtenerzähler - wie der Geschichtenverschmäher und seine Gattin – verlassen. Dafür hatte
sich eine junge Witwe in tiefer Trauer eingefunden, so daß, als wir schließlich gegen halb elf
von der Stelle abrollten und weiterfuhren, das Gefährt beinahe leer zu nennen war, denn nur
drei andere Personen teilten noch mit mir das Coupé.
283
Dies waren die vorerwähnte junge Witwe, ferner zwei Frauen mittleren Alters, zwei unverheiratete Schwestern, wie ich inzwischen wußte, die bereits seit dem Mittag in Glastonbury dazugekommen waren, wo sie sich in dringenden Familiengeschäften aufgehalten, und nun zurück nach Truro reisen wollten, von woher sie stammten, und ein ebenfalls junger, sehr sehr
blasser Vikar, der bereits morgens in Bath zugestiegen und den ganzen Tag über trotz des Gerumpels und Geschichtenerzählens gleichmütig in sein Brevier vertieft geblieben war und
außer allgemeinen Segenswünschen kein Wort verlautet hatte.
Bevor wir von Exeter abgingen, hatte der hier neu hinzugekommene Kutscher, ein frischer,
junger Mensch, uns gebeten, für den Rest der Strecke des heutigen Tages das Licht in der
Kabine zu löschen, was von allen, auch dem Vikar, klaglos hingenommen wurde, obwohl ihm
durch die Maßnahme die weitere Vertiefung in seine Schrift zwangsläufig verwehrt war.
So fuhren wir denn wie zuvor in südwestliche Richtung weiter, aber wie anders als zuvor war
nun der Charakter der Strecke. Bald nach Verlassen der großen Stadt hatte es begonnen. Die
Kutsche bewegte sich spürbar langsamer, vorsichtiger, bog um scharfe Kurven, rollte an
plötzlichen Schlünden entlang, kreuzte steinerne Brücken, fuhr dabei bei all dem dennoch
meist tief in engen Tälern und quälte sich stetig, stetig aufwärts, und schoß dann wieder in
wilder, wenngleich gebremster Fahrt steil bergab bis zum nächsten mörderischen Anstieg –
ich hörte die angestrengten Pferde bis zu uns herein, durch das Glas der Scheiben und die
geschlossenen Türen, ich hörte ihr Schnauben und Stöhnen. Die Peitschenknalle der Kutschers und seine warnenden Zurufe waren fast die ganze Zeit über dem Malen der Räder zu
vernehmen.
Und noch etwas war gänzlich anders als auf der Strecke vor Exeter. Hier gab es keinerlei Ortschaften mehr. Gelegentlich, aber nur sehr selten - so daß ich sie hätte zählen können, wenn
mir der Sinn danach gestanden hätte - sah ich ein einzelnes Haus oder eine dunkle Hütte hingeduckt kauern, zumeist in einer Mulde oder Schlucht, kaum eines oberhalb unseres Wegs.
Zudem, war es die nahe Seeluft oder was auch immer, die Wolkendecke war gelegentlich
dramatisch aufgerissen, und dann konnte ich zwischen zerklüfteten, scharf beleuchteten Wolken den Mond erkennen, der nur noch fünf Tage vor seiner vollen Rundung stand, und er
leuchtete erbarmungslos weiß herunter und offenbarte schroffe Abstürze und Schlüfte und
gleichwohl die weiter aufstrebenden Berge über uns, die zunehmend kahler wurden und
manchmal so eng beieinander standen, daß man den Mond dahinter nicht mehr sah. Dies war
die Strecke, dachte ich bei mir, wo vor einem dreiviertel Jahr die Londoner Kutsche verunglückt und abgestürzt war, wie jener lustige, böse, alte Mann erzählt …
Es war eine unruhige, mich zutiefst ängstigende Fahrt. Am Mondstand schätzte ich, daß Mitternacht längst vorbei sein mußte. Niemand in der Kabine sprach ein Wort, und obwohl draußen der Mond schien, drang sein Licht nicht ins Innere des Coupés. Die Insassen waren sich
im Takte der Fahrt wiegende und festhaltende, gesichtslose Schatten in der Kabine, fast,
dachte ich bei mir, wie schon selbst gestorben und auf grausiger Fahrt unterwegs im Totenreich - oder zumindest im Begriffe, dorthin zu gehen. Eine nächtliche Kutsche unterwegs in
die ewige Verdammnis. Und einen Moment lang fragte ich mich, was mich wohl in Botallak
erwartete, wenn ich es denn je erreichte.
Ich hörte den Kutscher fluchen, dann glitt das Gefährt mit einem Male ruhiger dahin, immer
noch steil bergauf, aber weniger in einem Tale denn zuvor, wie ich mit einem Blick aus dem
Fenster prüfte, denn der Mond stand hoch, nun aber verhüllte er sich gerade. Die Straße war
hier sehr glatt, wie eine schräge Ebene, fast fuhren wir wie über die Außenseite einer Kugel
nach oben, und mit einem Mal, als wir nach oben kamen, änderte sich das Geräusch, und der
Ton unserer Kutsche wurde von außen zurückgeworfen, von plötzlichen, dunklen, engen Häuserwänden beidseits, an denen wir sehr dicht vorbeiglitten, und nach 50 Yards kamen wir auf
einen kleinen Platz, eher nur eine Straßenkreuzung.
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Hier waren vor einem weichgetünchten Hause Fackeln in die Erde gesteckt, deren Licht auch
nach oben fiel und solcherart das über der Tür im Winde baumelnde typische Schild eines
Gasthofes beleuchtete. Eine weiße Hirschkuh war darauf zu erkennen und darunter ein geschwungener, roter Schriftzug: ‚The White Hart’.
Dies war es. ‚Hart’, das wußte ich, war ein altes, englisches, heute nicht mehr gebräuchliches
Wort für ‚Hirschkuh’. Der Kutscher brachte die Pferde zum Stehen, das Licht der Fackeln fiel
in die Kutsche und beleuchtete die Passagiere im Innern. Ich öffnete die Türe auf meiner
Seite, vergewisserte mich meines Bündels und kletterte mit steifen Beinen hinaus. Ein kalter
Wind blies, der mir für den Augenblick wohltat. Wir standen auf diesem winzigen Platze,
kaum mehr als einer Straßenkreuzung, die Fackeln zur Linken vor dem weißgetünchten Hause
gaben das einzige Licht. Die Pferde zitterten und schnaubten.
Jenseits der Kreuzung, hinter uns, zwischen den Häusern, stieg die Straße an, und hinter einer
Höhe fiel sie steiler und steiler ab - wieder der Eindruck, wie auf einer Kugel zu stehen. Von
dort waren wir heraufgekommen, direkt aus der Hölle. Ringsum die dunklen Häuser des Dorfes, nur der Gasthof war durch die Fackeln vor der Tür beleuchtet, die Fenster selbst dunkel,
er war das größte Haus an der Kreuzung. Dort, von woher wir gekommen, in der Dunkelheit,
erhob sich, etwas zurückliegend, auch ein alter, klobiger Kirchturm in die Nacht.
Ich hielt den beiden Schwestern, die hinter mir herauskletterten, die Türe auf. Der Vikar und
die Witwe waren zu ihrer, das heißt, der anderen Seite hin ausgestiegen und kamen nun um
den Wagen herum. Der Kutscher war herabgeklettert und tätschelte die zitternden und
schnaubenden Pferde, die aufgeregt und erschöpft ihre Köpfe warfen.
Dann wurde es hinter der Tür des ‚White Hart’ lebendig, ein Schlüssel drehte sich, und der
Wirt schaute heraus.
Solcherart erreichten wir, nachts um eins, in der zweiten Nacht meiner Reise, Moretonhampstead in Devon.
.....
Der dickbäuchige Wirt des ‚White Hart’, ein Mensch erst knapp in seinen Dreißigern, hatte
sich als umgänglich und jovial entpuppt, das Haus selber als äußerst reizendes, überdies sehr
reinliches und ältliches Labyrinth. Unten hinter der Eingangstür gab es ein Gewirr von Fluren
und winzigen Gaststuben, die ineinander übergingen und sich linkerhand nach hinten in kompliziertester Weise um den ganzen Hof herum erstreckten, welchletzterer, wie ich bei einem
Blick durch die Scheiben einer hinteren Türe erkennen konnte, von einem im Sommer gewiß
sehr hübsch bewachsenen Spalier überspannt war. Rechterhand schloß diesen gleichen Hof
der unübersichtliche, dunkle Trakt der Küche, Schuppen, Abtritte und Wirtschaftsgebäude ab.
Wenn man sich in diesem Hause bewegte, mußte man allenthalben überraschende Stufen,
Treppen und enge Durchgänge gewärtigen. Dieses Anwesen war nicht auf einmal gebaut
worden, sondern hatte sich aus dem vorderen, glatten Hause im Verlaufe der Jahrhunderte zur
Seite und nach hinten hinaus entwickelt, war wieder und wieder den Bedürfnissen seiner Besitzer durch Veränderung angepaßt worden. Ich dachte an die weißen Marmortreppen und
Palmenkübel, die ich vor knapp vierundzwanzig Stunden in dem Coaching Inn zu Newbury
gesehen, ich erinnerte mich des ohrenbetäubenden Lärms und des Tabakdunstes in der präch-
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tigen, gewaltigen Gaststube, und mir wurde mit Wärme klar, daß mir ein Nachtquartier wie
dieses hier um hunderte Male lieber war.
Dies Haus ruhte angenehm still und im ganzen dunkel, als wir eingetreten, die anderen Gäste,
wenn es denn welche gab, lagen längst zu Bett. Der Kutscher war draußen verblieben, ich
nahm an, daß er sich hier auskannte und erst später hereinkäme, vorerst aber noch Pferde und
Wagen versorgte. In einer der vorderen Gaststuben war in Erwartung unserer Ankunft ein
Kamin am Laufen gehalten. Der Wirt erkundigte sich, ob er uns durch einen Imbiß oder einen
Tee erfreuen könne, den er vorsorglich für uns vorbereitet, aber keinem von uns Reisenden
stand zu so später Stunde noch der Sinn danach, wir entschuldigten uns herzlich, waren alle
nur rechtschaffen müde von der langen, aufreibenden Fahrt.
So weckte er seine Familie, und binnen kurzem standen eine höflich sich verneigende, außerordentlich hübsche, augenscheinlich sehr tüchtige Frau seines Alters und zwei Töchter von
gerade vierzehn oder fünfzehn Jahren, Zwillinge ganz offensichtlich und ebenfalls recht anmutig und schüchtern, für uns bereit, sich unseres Gepäckes zu versehen und uns hinaufzugeleiten, die Zimmer zu zeigen.
Für das obere Stockwerk galt in verstärktem Maße, was ich über das untere Geschoß gesagt,
es war ein wahrer Irrgarten von schmalen Gängen und Seitenfluren. Es schien so, als ob dies
ursprünglich wenige große Räume gewesen seien, von denen nachträglich ein Dutzend hölzerne Abteile, mit Glasfernstern in ihrer oberen Hälfte, abgetrennt worden waren, so daß nun
diese winzigen, winkligen, auch fortlaufend über Stufen und um Ecken sich bewegenden,
kaum zwei Ellen breiten Korridore zwischen all diesen Kabinen oder Räumen hindurch entstanden waren. Die vielen Fenster oder Glasscheiben all dieser Verschläge und Kammern
waren von innen ordentlich mit Vorhängen verhängt.
Der Vorteil dieses Ensembles war, das begriff ich, sobald die Familie des Wirtes uns einwies
– in meinem Falle hatte dies eine der reizenden Zwillingstöchter übernommen – der Vorteil
war, daß hier jeder Gast, anders als in den meisten der anderen Häuser, einen Raum für sich
ganz allein bekäme, und ich hatte den Verdacht, daß auch jeder dieser Räume nicht nur diese
verhängten Fenster zum Flur hin besaß, sondern auch eines nach außen.
Und so verhielt es sich in der Tat in meinem Fall. Ich hatte ein Fenster, das hinaus auf das
verwirrende Chaos der Dächer des hinteren Anwesens um den Hof herum ging. Über all den
spitzen und krummen Winkeln und Schindeln stand jetzt ein wieder klarer Mond, der Himmel
war vollständig freigefegt von Wolken.
Die Stube selbst war winzig wie ein Puppenhaus, augenscheinlich ohne Ungeziefer, reinlich
und praktisch möbliert. Bett, Stuhl, eine Anrichte mit dem Waschgeschirr, emailliertem Krug,
Schüssel, und ein Licht, das das Zwillingskind nun entzündete. Die Tür besaß von außen eine
sorglich und hübsch mit der Hand aufgemalte 10, und eine ebensolche prangte auf einem
Holzschildchen, welches an einem Schlüssel befestigt war, der von innen im Schloß steckte.
Jawohl, man konnte das Zimmer von innen verschließen, und all dies, auch die Winzigkeit der
Stube, erinnerte mich fast ein wenig an meine heimelige Kemenate daheim unter dem Dach in
London.
Ich entlohnte das Mädchen mit einem Penny. Sie bedankte sich artig und wünschte mir eine
gute Ruhe.
Als sie hinausgeschlüpft, drehte ich den Schlüssel, überblickte mein kleines Reich – es würde
pro Nacht eine halbe Krone kosten, die Mahlzeiten wären hinzuzurechnen, hatte der Wirt uns
erklärt, und es schien mir dies ein durchaus angemessener, ja bescheidener Preis für das herrliche Quartier.
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Ich bereitete mich für’s Bett. Als ich hineingeschlüpft war, wartete ich ab, daß Wärme und
Schlaf zu mir kämen, aber letzterer stellte sich nicht ein. Zu sehr wirbelten in meinem Kopfe
die Eindrücke der zurückliegenden Fahrt, der Landschaften, der ersten Nacht, des Tages und
dieser Nacht, der unendlichen Aufenthalte und Dörfer und Städte durcheinander, Reading und
Maidenhead und Bath und Exeter, der Mitreisenden und zuletzt die grausigen Schluchten hier
herauf - und aus meinem Körper wollten, obwohl es doch totenstill in meiner Kammer war,
die Bewegung und das Geräusch der fahrenden Kutsche noch längst nicht weichen, so als ob
mein Lager dort oben in Devon, während ich lag, sich mit mir sich hob und wiegte und bewegte - und ich selbst, mit dem Mondlichte verschwimmend, hinausflog und segelte in die
eisige Winternacht ...
.....
Ich wußte zuerst nicht, wo ich mich befand, als ich erwachte - und ich wußte nicht, was mich
geweckt. Dann kehrte ersteres zu mir zurück – ich lag in meiner Kammer im ‚White Hart’ in
Moretonhampstead, natürlich, und es war immer noch allertiefste Nacht, der Mondenschein
auf der Fensterbank kaum ein Stück weitergewandert, lange konnte ich wirklich nicht geschlafen haben. Dann – da war es wieder – wußte ich, was mich geweckt. … Jemand spielte
auf einer Flöte …
Zuerst glaubte ich an eine grobe Sinnestäuschung oder daß ich einfach noch träume, dann als ich es so rein und klar hörte und es nicht endete, obwohl ich mir unter der Decke ins Bein
kniff und mich prüfte und mir schließlich bewußt wurde, daß ich in der Tat so wach war, wie
man nur wach sein kann - dann dachte ich daran, daß es wohl aus einem der Nachbarzimmer
kommen müsse, oder ob es eventuell eines der Zwillingsmädchen des Wirtes oder eine der
reisenden Schwestern oder gar jene mitreisende trauernde Witwe sein konnte, die dort des
Nachts plötzlich ohne Rücksicht auf die anderen Gäste beschlossen hatte, Flöte zu spielen,
und befand bei mir, daß dies zumindest ein sehr seltsames Verhalten war.
Doch … je länger ich zuhörte, desto mehr spürte ich, daß etwas falsch war an meinen bisherigen Vermutungen. Die Melodie klang überirdisch schön, fern und nah zugleich, unendlich
traurig, verzweifelt, unendlich sehnsuchtsvoll, und sie lag in der Luft wie der Wind selbst. Sie
ruhte über allem … eindringlich, engelszart zugleich, klar und schön, die Stimme eines wunderbaren Instruments, und doch war es wie die Stimme der Sterne selbst, die zu mir sprach,
denn – das war mir nun klar - sie kam von draußen. Wer immer dort Flöte spielte, er tat es
nicht in diesem Hause, sondern von ferner her.
Als mir das bewußt geworden – mein Herz schlug mir hart im Halse, erhob ich mich von
meinem Lager, hielt gegen die Kälte die Bettdecke, so gut ich es vermochte, eng um mich
geschlossen, schlich hin zu meinem Fenster, klinkte den Haken auf der Fensterbank aus und
schob es leise nach oben, unhörbar. Zuerst hörte ich nur lauter, sehnsüchtig und zum Sterben
traurig, die Melodie eines verwunschenen, verzauberten Wesens, das einst in ferner Vergangenheit ein Mensch gewesen war, jetzt aber eine weiße Hirschkuh … eine Färse ... oder ein
Einhorn … Und dann sah ich sie.
Der Mondschein lag weiß auf dem Gewirr der frostbeglänzten Dächer und Schornsteine, die
sich in chaotischem Durcheinander länglich nach hinten um jenen von dem Spalier überspannten Hof gruppierten. Das Mädchen saß, wo jetzt der Mond hinter den Hügeln, die Mo287
retonhampstead überragten, bald versinken würde, auf der Schräge eines Daches, so daß man
ihr Herunterstürzen befürchten mußte. Sie saß mit untergeschlagenen Beinen alleine und einsam dort, in einem weißen Gewand, das ein Nachthemd oder auch ein Kleid sein konnte, und
mit ihren bloßen Armen in der Kälte, so als ob sie sie nicht spürte. Sie spielte, die Flöte zur
Seite gehalten, wie man auf Abbildungen Pan die Flöte spielen sieht.
Sie blickte in meine Richtung und ich erkannte aus der geringen Entfernung ihr Gesicht so
klar wie am Tage. Ich hatte damit nicht gerechnet – und mich traf das Wissen wie ein Blitz,
der mich in einem einzigen Augenblicke zu Asche verbrannte.
Sie war es. Auberge …
Es raubte mir für den Moment den Verstand und jegliche Kraft. Aber aus irgendeinem rätselhaften, gottgegebenen Grunde … hatte ich sie in dieser Nacht … Auberge … in dieser Herberge eingeholt.
.....
Ich stand am Fenster und mir pochte das Blut schmerzhaft in der Brust. Ich stand im Mondlicht, und sie sah zu mir her. Es war klar, daß sie mich sehen konnte.
Es gelang mir nur noch eine kleine Minute, dieser engelsgleichen, zeitlosen, unkörperlichen
wunderbaren Stimme zu lauschen, dann war es zu Ende, und der Ton der Flöte erstarb und
ging unter. Das Mädchen war fertig, hatte die Melodie zuende gespielt. Nun erhob sie sich auf
dem steil abfallenden Dache, und ich fürchtete erneut, sie würde hinunterstürzen. Aber sie
stand dort sicher - nein, nicht sicher, nur leicht, leicht, schwebend leicht wie die Luft selbst,
sie würde nicht hinunterfallen, und sie blickte reglos zu mir her, betrachtete mich mit ihren
schönen, warmen Augen, während ich gebannt war von dem Blick und der Musik zuvor, mich
nicht zu rühren wagte. Dann, nach mir endlos erscheinender Zeit, sah ich, wie sie sich bewegte, und ich betete, Gott, laß sie nicht weggehen. Aber sie hob nur leicht die Hand, ein
zaghaftes Lächeln spielte um ihre Lippen, und es war mir, als ob sie mir winkte. Sie winkte
nicht wirklich, aber sie hob ein wenig die Hand, wie zum Gruß. Dann zeigte sie auf mich, dies
alles nur in vorsichtigen Bewegungen, nur angedeutet, zeigte auf mich, zeigte auf sich, mehrmals, wie fragend, bis ich es wagte zu nicken.
Da kam das schüchterne, verzweifelte Lächeln erneut - für einen kurzen, unerahnbaren kurzen
Augenblick - zurück auf ihre Lippen, und ich sah sie sprechen. Sie sprach nicht wirklich, sie
ahmte nur mit ihren Lippen Sprache nach, im Grunde nur ein Wort, wieder und wieder, bis
ich es hatte lesen können. Sie deutete auf sich und auf mich, und ihr Mund formte: „Morgen.“
Dann, als hätte sie zu viel gesagt, flog ihr Kopf mit einem Male herum, als hätte sie etwas
gehört, und ihr Gesicht erstarrte, und sie starrte in panischer Angst in den Abgrund hinunter,
aus welchem sie hochgekommen, um auf dem Dach im Mondlicht die Flöte zu spielen. Und
nun mußte sie dort hinab, ich ahnte es, bevor ich wußte, daß sie gehorchen würde, und ich sah
ihr verzweifelt zu, wie sie mit erloschenem Gesicht langsam hinabstieg, sah sie hinter der
Kante des Daches untertauchen. Das letzte, was ich hörte, war ein unterdrücktes Schluchzen
von dort unten – dann nur noch nächtliche, weiße, letzte Mondlichtstille.
288
.....
Ich lag wieder im Bett, aber der Schlaf mied mich, und wen wollte das schon verwundern?!
War es vier Uhr des Nachts, war es schon fünf? – ich hätte es nicht zu sagen vermocht –
Sonntag früh indessen, auf meinem Lager in Moretonhamstead ...
Ich hatte Auberge oder Io zuerst auf dem unzüchtigen Gemälde gesehen und war dann aufgebrochen, einen langen Weg gegangen, um sie aufzuspüren, zunächst mit der Hilfe meines
ehemaligen Freundes Seb, und er hatte mich auf die Spur geführt von Rosetta Manderlay. Ich
hatte durch einen Zufall – über den ominösen Kutschenunfall ihres Gatten - Eusebia Purcell
ausgefunden, sie hatte mich weitergeleitet zu Asunción Lozano - und William Carlisle, der
Freund und Arbeitskollege beim ‚Monthly Mercury’, hatte durch einen weiteren Zufall Fiona
de Cato ausfindig machen können. Ich war nach ‚Morass Manor’ eingedrungen und hatte, wie
auch immer, dort Stella Gossamer Floyd und Virginia Sykes angetroffen. Und mit ihr … Auberge … waren sie das alle – alle sieben „Geliebten des Zeus“ … Nun denn …
Rosetta Manderlay, Asunción Lozano. Eusebia Purcell und Stella Floyd waren grauenvollen
Morden zum Opfer gefallen, ihre Herzen waren geraubt. Auberge, das Mädchen ohne Namen,
indessen, die, auf die es mir ankam, hatte ich in der ganzen Zeit nur ein einziges Mal wirklich
und mit eigenen Augen erblickt, mit aufgerissenen Panikaugen durch das Rückfenster der
Kutsche – und heute nacht völlig überraschend ein zweites Mal!
Ich hatte sie gesehen, als sie aus dem Middlesex-Hospital gebracht wurde. Vorher war sie,
wie ich wußte, im Bedlem gehalten worden, und ich war dort zu spät gekommen, um sie daraus zu erretten. Ich hatte sie ausfindig gemacht, war seit September – das war inzwischen
immerhin seit Monaten - in einer unglaublichen Verfolgung ihr hinterher gejagt; doch immer,
immer, wie dicht ich ihr auch auf den Fersen gewesen, im Bedlam und dann ein zweites Mal,
in Morass Manor, immer war sie mir gerade wieder knapp vor den Augen entwendet worden
und verschwunden – im Gegenteil, ich hatte in letzter Zeit sogar den Eindruck gewinnen müssen, daß ich in der Verfolgung zunehmend hinter ihr zurückfiel.
Denn es war nicht lange her – bei der Abfahrt in London – daß ich gerechnet und kalkuliert –
und ihren Entführern im Geiste fast eine Woche Vorsprung vor mir gegeben … und nun hatte
ich sie eingeholt; irgendetwas Unvorhergesehenes mußte ihre Flucht nach Cornwall aufgehalten haben, so daß sie noch hier weilte --- nun, nur desto besser für mich … ein Gottesgeschenk … und ich hatte sie auf dem Dache gesehen …
Auf dem Dach? – Dies war es, was Fiona de Cato von Cornwall erzählt: das Mädchen mit der
Flöte bei Mondschein auf dem Dach, und sie hatte ergreifende, sehnsüchtige Melodien gespielt, wovon ich nun erschüttert eine vernommen – doch Fiona de Cato … sie hatte manch
anderes Sonderbare verlautet.
Wie kam sie, Auberge, auf’s Dach? War sie nicht bei Sinnen? Nun, immerhin alle, die sie im
Bedlam getroffen, wie Amboise Tardieu mir wärmstens erzählt, hatten dies strikt ausgeschlossen … ich entsann mich genau … vielleicht etwas manisch, hieß es, weil sie eingesperrt
war und man über sie verfügte … aber nicht nervenschwach, keine körperlichen Anfälle oder
irres Reden, nicht streitbar, schon gar keine Idiotin, keine Anzeichen von Dämonomanie ...
nein, Sir, so gesund wie Sie und ich ... jawohl, so hatte man gesagt. – Oh, ich entsann mich
gut der Urteile.
Doch Fiona de Cato hatte dagegengehalten: die Verrückte, die im Schweinekoben Ferkel gesäugt … „Sie werden sie niemals erreichen, Mr. Holland, denn sie ist tot, tot, tot …“ – Fiona
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de Cato, die mit meinem ehemaligen Freund und Vertrauten Seb eines Tages, gar nicht so
sehr lange zurück, in der Kutsche davongerollt war … der junge, erfolgreich aufstrebende
Anwalt, der ihre desolaten Finanzen regelte …
Werde sie nie erreichen, nein? fragte ich mich voller Hohn eingedenk der bösen Versprechen
Fiona de Catos –
Nun immerhin hatte sie, keine sechzig Fuß von mir, auf dem Dache sitzend, Flöte gespielt …!
- Was sagen Sie dazu, Mrs. Fiona de Cato?!
Aber ein anderes beschäftigte mich weit tiefer als dies Erwähnte. Es war kein neuer Gedanke,
beileibe nicht. Ich hatte ihn viele Male zuvor bewegt, und ich habe davon berichtet.
Ich liebte sie, oh ja. Ich liebte dieses herrliche, traurige, rätselhafte, unglückliche Menschenkind, seit ich ihr halbes Gesicht auf jenem Gemälde erblickt, und konnte nichts dagegen tun,
mit einer verzweifelten Hingabe, mit meinem letzten Blutstropfen, mit allem, was mir an Gefühl nur zur Verfügung war.
Aber ich hatte mich oft gefragt, was war mit ihr?! – Ja, es mochte die Lächerlichkeit und Borniertheit und Blindheit und Selbstverliebtheit des Liebenden sein, auf dem Grunde der Beschaffenheit seiner Seele anzunehmen, die Geliebte liebe ihrerseits ihn wieder – aber was gab
mir eigentlich auch nur einen Gran von Sicherheit, daß es sich, wenigstens im Ansatze, so
verhielt?! Woraufhin und aufgrund welcher Zeichen und Handlungen von mir oder von ihr?!
Woher wußte sie, woher sollte sie wissen, wer ich war, was ich für sie bereit war zu tun, was
ich für sie empfand - woher?! Sie hatte mich bislang ein einziges Mal wahrgenommen, durch
das Rückfenster einer rasenden Kutsche, und jetzt … nun gut … in der Nacht und im Nachtgewand am Fenster des ‚White hart’ in Moretonhampstead stehend im hellen Mondschein –
aber war dies nicht alles von Grund auf lächerlich?! … was wußte, was konnte sie sonst von
mir und meiner Liebe wissen?
Aber … sie hatte mich gesehen, und ich unterstellte ihr, daß sie mich wiedererkannt! Auf gewisse Art hatte sie mich gegrüßt, oder nicht? Und überdies sich, wenn ich das recht deutete,
ebenso auf gewisse Art, verabredet für morgen.
Nun und, wenn ja, was sollte das heißen, wie sollte es gehen? Erwartete sie, daß ich zu Ihr
kam?
Nein, das konnte nicht sein, sie konnte fuglich nicht erwarten, daß ich ahnte, wo sie zu finden
sei, oder gar noch, daß es mir möglich sein würde, in ihr Verlies, wie immer es sich verhielt,
hineinzuspazieren, als sei es eine öffentliche Markthalle. – Konnte ich morgen, bei Helligkeit,
was mir vielleicht möglich gewesen wäre, über die auf komplexe Art miteinander verbundenen Dächer spazieren, über Abgründe und Höfe springen und über drei Fuß hohe Stufen
klimmen, bis in jene Dachgegend, wo ich sie in der Nacht gesehen? Wohl kaum …
Mithin, wie dann?
Nein, nein, nein, nein, nein. Sie hatte sich mit mir verabredet, „Morgen“, hatten mir ihre Lippen bedeutet. Das war ein Versprechen, ein Gelübde, eine Zusage. „Morgen.“ Und da ich
nicht zu Ihr konnte, was ihr helle sein mußte, konnte dies nur bedeuten, daß Sie zu mir kommen würde. Irgendwie, auf irgendeine Weise würde sie kommen.
Nur, wenn sie morgen kommen konnte, warum war sie dann nicht jetzt gekommen, jetzt
gleich, in dieser Nacht?
Ich wälzte mich in meinem warmen Bette unruhig von einer Seite auf die andere. „Tor“,
dachte ich bei mir, denn mir war der entsetzte Blick wieder eingefallen, den sie dort, nachdem
sie ihr Flötenspiel beendet und mich angesehen hatte, hinuntergesandt.
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Irgendjemand mir Unsichtbarer mußte abrupt dort unten aufgetaucht sein, so viel war deutlich, und hatte mit dem Finger gewinkt, und sie war dieser Aufforderung nachgekommen und
wieder hinab in den Hof gestiegen- so wie das Lämmerkind der Mutter folgt, die Prozession
der Reliquie, das Schiff der Kompaßnadel.
Dennoch … Was hatte dies zu bedeuten? Sie konnte nachts heraus, zumindest bis aufs Dach,
und Flöte spielen. Nun denn und überhaupt, was war dies für eine sonderbare Art von Gefangenschaft? Wenn sie bis auf’s Dach konnte, warum flüchtete sie dann nicht, nicht generell
und für alle Zeit? Warum war sie nicht längst geflüchtet? – Und „Tor“, schalt ich mich abermal. Flüchten, Du guter Gott, wohin? auf’s Dartmoor in die Einsamkeit, oder zurück nach
Exeter, in die große Stadt, besser noch gleich nach London, tagesreisenweit - ohne Geld, ohne
Gepäck, ohne Hilfe - als junge Frau? Spaßig, spaßig, spaßig, dachte ich bei mir – so spät in
der Nacht fand ich wirklich zu glänzenden, naheliegenden Ideen. Sie hätte längst flüchten
können, natürlich, vielleicht auf offener Landstraße Adé sagen, die Kleider raffen und aus der
rasenden Kutsche springen. Oh, ganz gewiß.
Nun ernsthaft: Sie reiste in Begleitung oder besser gesagt unter Bewachung von Sir Enid Luciter, der ein, zwei Hunde dabei hatte – davon ging ich aus – oder hatte er die Verantwortung
an jemand anders delegiert, einen Wächter, eine Wächterin, ein Horde von Aufpassern, die in
der Nacht betrunken im Heu gelegen? War Luciter womöglich auf dem Reisewege voraus
oder hinterher oder gänzlich woanders? Einerlei, es durfte auf meine Pläne keinen Einfluß
haben!
Aber welches waren denn meine Pläne? Ich lag im Bett und tat nichts außer mir das Hirn zu
zergrübeln. Meine ersten Gedanken waren gewesen, hinaus zu ihr, auf der Stelle, sofort, umgehend. – Im Nachthemd bei Frost über die Dächer? Nun, immerhin, sie hatte es ja auch dort
ausgehalten, mit bloßen Armen, warum nicht auch ich - für lächerliche ein, zwei Minuten, um
damit alles zu gewinnen? Ich hätte sie greifen können, leiten können, behüten können, zurückgeleiten über die Dächer in mein Zimmer, in einer oder zwei Minuten. Und das wäre es
bereits gewesen, sie in meinem Zimmer in Sicherheit – das wäre es gewesen, jedenfalls bis zu
einem gewissen Grade. Denn sie bei mir im Zimmer bergen - und mit ihr ungesehen aus Moretonhampstead zu verschwinden, das waren, das gab selbst ich bei mir zu, doch wohl grundsätzlich zweierlei Geschichten. Aus Moretonhampstead zu verschwinden, sich abseits der
Route durchzuschlagen, Pferde zu besorgen, unterzutauchen, nach London durchzukommen
oder nach Plymouth zu gehen und von dort nach Amerika … für ein langes weiteres Leben,
und Luciters wütende Suche ins Leere verlaufen zu lassen ...
Gewiß kein leichtes Spiel, das mit einer lächerlichen Groteske begann, würdig einer französischen Farce: sie im Nachthemd und ich im Nachthemd nachts auf dem Dache. Verzerrt, verschroben, absurd! Abgesehen davon, daß, noch bevor ich diese wilde Gedankenkette zuende
gedacht, sie dem Blick aus der Tiefe gefolgt und verschwunden war, eine Marginalie, die es
sich vielleicht verlohnte, nicht gänzlich zu vergessen …!
Nun gut, denn „morgen, morgen, morgen“, dachte ich, resigniert in meinem Bette liegend,
und in der Hoffnung, Sir Enid oder seine Vertrauten mochten nicht etwa, da man das Mädchen auf dem Dache erwischt, die Pläne geändert haben und jetzt, jetzt, vielleicht noch diese
Sekunde, im Begriffe stehen, Pferde und Kutsche bereitet und in wilder Flucht westwärts die
Stadt verlassen zu wollen, hinaus auf’s hohe Moor.- Und ich lauschte dort in meinen Bette
liegend in der absoluten Stille, im winternachtschwarzen Morgen, ängstlich und bebend auf
etwaige sich entfernende Fahrgeräusche oder Pferdehufe – wiewohl, und ich badete wohl
auch einen Augenblick selbst in dieser sehr angenehmen, wenngleich denkbar abwegigen
Vorstellung, daß, wenn es denn so gewesen, es ja doch geheißen hätte, daß Sir Enid sich auf
der Flucht vor mir, dem kleinen Liebenden und Zeitungsschreiber, befand, ja, ein wahrlich
unmöglicher, wenngleich überaus köstlicher Gedanke.
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Ich lag in meinem Bett, und irgendwie muß ich doch, ohne es zu merken, schließlich ein weiteres Mal eingeschlummert sein, denn ich fuhr hoch, ja, wachte auf von Geräuschen hinter der
Holzwand meiner Kammer - Geräusche, wie sie der neue Tag brachte, obwohl es vor dem
Fenster nach wie vor stockdunkel war. Jemand lief dort den Korridor entlang und stieg über
die Stufen ab nach unten. Und gleich darauf öffnete sich eine Tür, schloß sich wieder, und
eine weitere Person kam den Flur herunter, ging an meiner Tür vorbei, und dann hörte ich sie
oder ihn auf der Treppe.
In dieser Situation bedauerte ich, keine eigene Uhr zu besitzen – ja, besonders ein Reisender,
dachte ich, hatte einen Chronometer dringend nötig, es wäre so viel angenehmer gewesen aber einerlei, ein Reisender ohne Uhr weiß auch durch Übung die Zeichen der Zeit zu lesen und es war gewiß, in Moretonhampstead hatte der neue Tag begonnen. So rollte ich mich aus
meinem Lager, erhob mich und erledigte die Morgentoilette. Das Wasser auf der Waschschüssel, das ich gesteren abend eingegossen, trug auf seiner Oberfläche eine hauchzarte
Schicht Eises, das knisternd brach, als ich die Hände eintauchte.
.....
Die Standuhr unten in der Wirtsstube zeigte auf halb acht, als ich hinunterkam, wo alle bis auf
die trauernde Witwe, die jedoch ebenfalls kurz nach mir eintraf, bereits beim Frühstück saßen.
Der Kamin loderte warm, und es war ein köstliches Mahl für jeden angerichtet, mit Ei, Speck,
Würsten, Pilzen, Brot und heißem Tee - der Wirt stand zufrieden lächelnd dabei, und die Frau
und die beiden Mädchen flogen und rannten zu unserer Versorgung, daß es nur eine Freude
war zu sehen - ich stillte rechtschaffen meinen Appetit. Danach, kaum war dies abgetan, hörte
ich durch die dicken Wände und die kleinen Fenster der Wirtsstube, hinter denen es jetzt grau
wurde, die dünne Stimme des Glöckleins zum Heiligen Dienst rufen, denn es war Sonntag.
Ich bekenne, geneigter Leser, daß ich den Umständen geschuldet, in London häufig ein allzu
säumiger Kirchgänger bin – ich bin sicher, der Herr, der alles sieht, sieht auch, warum dies
sich so verhält und nicht anders sein kann, und schenkt mir gleichwohl sein gütig verzeihendes Herz; hier jedoch, in diesem Dorfe, hoch und einsam am Eingange zum Dartmoor gelegen, hier freute ich mich auf die Litanei, den Text aus der heiligen Schrift, die Auslegung und
Predigt, die Lieder, und deshalb versah ich mich in meinem Zimmer mit meinem respektive
des seligen Mr. Hamlets Schafspelz, und wir gingen alle, in einer lockeren Gruppe hinüber;
auch der Kutscher von gestern nacht, der nicht mit uns, sondern in einem anderen Raume gefrühstückt hatte, kam mit uns, und man nickte sich gemessen zu. Einzig der Wirt und seine
Familie waren zurückgeblieben, sie würden zu einem späteren Dienste gehen.
Es war ein Fußweg von nur einigen wenigen Minuten, die Kirche in Sichtweite, sie war gedrungen aus grauem Granit in der klobigen normannischen Bauweise gehalten, die den Turm
fast wie den einer Burg aussehen ließ, und besaß keine Uhr, sie lag inmitten eines Kirchhofes
auf einem kleinen Hügel ein Stück weit jene Straße zurück, die wir heute nacht gekommen.
Wir aus dem ‚White Hart’ waren nicht die einzigen, die zum Gottesdienst gingen. Gruppen
von Menschen und Familien, wenige einzelne Personen, schritten jetzt schweigend die Straße
entlang oder traten gerade aus den Häusern, ein ewiges, schönes, sicheres Ritual, nur der Ton
der vielen Füße auf dem Erdboden, die über den knirschenden Streaßenkies alle demselben
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aus grauem Granit aufragenden Ziele auf dem kleinen Hügel zustrebten, wo bestetig das
dünne Glöcklein läutete …
Die Stadt oder das Dorf Moretonhampstead, dies beiseite bemerkt, schien im übrigen doch
größer, als ich es mir nachts beim Ankommen im Scheine der Fackeln zunächst vorgestellt.
Nun, am Morgen, hatte ich an der Kreuzung vor dem ‚White Hart’ meinen Blick in alle vier
Windrichtungen senden können und gesehen, daß es durchaus weitläufiger war, als ich zuerst
eingeschätzt. Es lag auf der Höhe von rund siebenhundert Fuß, erfuhr ich bei einem späteren
Gespräche mit dem Wirt, so weit waren wir von Exeter heraufgekommen, gleichwohl zog es
sich gegen Westen und Norden gesehen in einer Art Talkessel noch ein Stück höher, und darüber erhoben sich gerundete Hügel bis auf elfhundert Fuß, und zwar im Umkreis, wie ich vernahm, von kaum einer Stunde Fußweges. Dahinter, dort oben, begann für die nächsten fünfzehn Meilen der Länge und der Breite nach das wilde Moor.
Der Himmel hatte sich vollständig bezogen, war düster und grau, als wir jetzt schweigend zur
Kirche schritten, keinerlei Sonne in Sicht, und der Wind ging frisch, blies scharf von den Höhen im Westen herunter - das Wetter änderte sich hier überraschend von Stunde zu Stunde,
wie bereits angemerkt.
Dann standen wir im Halbdunkel der Pfarrkirche und lauschten dem Unterricht. Der Pastor,
der die Verrichtung leitete, öffnete nach der Art John Wesleys die Bibel auf’s Geradewohl,
auf daß Gott ihn zur rechten Stelle führe, jedoch öffnete er sie gleich am Anfange, nicht mitten darin, und fast meinte ich daher geahnt zu haben, was nun kam. Er war ein kleingewachsener Mann, der seine Rede mit großer Bescheidenheit und stiller Freude führte, welches ihn
mir trotz des mir in jeder Beziehung Grauen einflößenden Textes ans Herz legte. Er sprach
mit einer leisen, in den Mauern der Kirche dennoch gerade genug tragenden Stimme:
„Und sie hörten die Stimme Gottes, des HErrn, der im Garten wandelte bei der Kühle des
Tages. Da versteckten sich der Mensch und seine Frau vor dem Angesicht Gottes, des HErrn,
mitten zwischen den Bäumen des Gartens. Und Gott, der HErr, rief den Menschen und sprach
zu ihm: Wo bist du? Da sagte er: Ich hörte deine Stimme im Garten, und ich fürchtete mich,
weil ich nackt bin, und ich versteckte mich. Und er sprach: Wer hat dir erzählt, daß du nackt
bist? Hast du etwa von dem Baum gegessen, von dem ich dir geboten habe, du solltest nicht
davon essen? Da sagte der Mensch: Die Frau, die du mir zur Seite gegeben hast, sie gab mir
von dem Baum, und ich aß. Und Gott, der HErr, sprach zur Frau: Was hast du da getan! Und
die Frau sagte: Die Schlange hat mich getäuscht, da aß ich. Und Gott, der HErr, sprach zur
Schlange: Weil du das getan hast, sollst du verflucht sein unter allem Vieh und unter allen
Tieren des Feldes! Auf deinem Bauch sollst du kriechen, und Staub sollst du fressen alle Tage
deines Lebens! Und ich werde Feindschaft setzen zwischen dir und der Frau, zwischen deinem Samen und ihrem Samen; er wird dir den Kopf zermalmen, und du, du wirst ihm die
Ferse zermalmen. Zu der Frau sprach er: Ich werde sehr vermehren die Mühsal deiner
Schwangerschaft, mit Schmerzen sollst du Kinder gebären! Nach deinem Mann wird dein
Verlangen sein, er aber wird über dich herrschen! Und zu Adam sprach er: Weil du auf die
Stimme deiner Frau gehört und gegessen hast von dem Baum, von dem ich dir geboten habe:
Du sollst davon nicht essen! - so sei der Erdboden verflucht um deinetwillen: mit Mühsal
sollst du davon essen alle Tage deines Lebens; und Dornen und Disteln wird er dir tragen, und
du sollst das Kraut des Feldes essen! Im Schweiße deines Angesichts wirst du dein Brot essen, bis du zurückkehrst zum Erdboden, denn von ihm bist du genommen. Denn Staub bist
du, und zum Staub wirst du zurückkehren! Und Gott, der HErr, sprach: Siehe, der Mensch ist
geworden wie einer von uns, zu erkennen Gutes und Böses.“
Der junge Vikar, der mit mir in der Kutsche heraufgekommen war, stand seitlich rechts vor
mir im Düster zwischen den Säulen und folgte mit großen Augen der Andacht. Später, danach, sah ich ihn mit seinem Amtsbruder in der Sakristei verschwinden. Ich selbst ging nicht
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mit den anderen zum Inn zurück, sondern trat seitlich durch eine Türe hinaus, strich müßig
über den Kirchhof und las ein paar der verwitterten Inschriften.
Was hatte ich erwartet, Auberge inmitten der Gemeinde beim Gottesdienst vorzufinden und
ein paar unbeobachtete Worte mit ihr wechseln zu können?
Unbedachter Narr! Ich stand bei den Grabsteinen. „… denn Staub bist du, und zum Staub
wirst du zurückkehren …“, dachte ich. Inzwischen sprühte ein feiner Regen nieder und ich
ließ ihn mir ins Gesicht wehen.
Auch auf der anderen Seite jenes Weges, über welchen wir von der Küste heraufgekommen,
gab es ein kleines Feld mit Grabsteinen und direkt an der Straße, auf deren Nordseite, ein uraltes, sonderbar geducktes, schweres Haus aus massiven Granitquadern, das auf seiner Vorderseite eine überdachte, langgestreckte Galerie hinter halbhohen Mäuerchen und Säulen besaß, die an einen Kreuzgang gemahnten, und daneben wuchs eine riesenhafte, hunderte von
Jahren alte Ulme, in deren Gezweig hoch oben, in dreißig oder mehr Fuß Höhe, eine Art hölzerne Terrasse, Balkon oder Plattform mit Geländer hineingebaut worden war, wozu eine gewundene Treppe hochführte.
Ich hatte dergleichen nie gesehen und konnte mir den Zweck der Anlage auch nicht vorstellen.
Ich schlenderte in Richtung auf den Gasthof zurück. An der großen Kreuzung blickte ich die
beiden anderen Straßen hinab und hinauf. Es gab dort weitere Coaching Inns mit dahintergebetteten Ställen zum Pferdewechsel und großen Remisen zum Unterstellen von Kutschen,
sogar direkt diagonal gegenüber vom ‚White Hart’, an der Nordost-Ecke, lag eines, wie ich
erst jetzt wahrnahm - im Grunde war es von außen sogar hübscher als jenes, da es in Fachwerk ausgeführt war, aber es schien geschlossen, wie auch die anderen ein Stück weiter die
Straße hinunter.
Im Sommer, dachte ich, mochten diese Häuser stark belegt sein, jetzt zu Winterzeiten, wenn
es gerade fünf Passagiere von Exeter hier herauf verschlug, war es natürlich nicht notwendig,
sie zu öffnen.
.....
Es war jetzt, am späteren Vormittag, immerhin einiges Volk flanierend auf den Straßen unterwegs, und ich hörte überraschend viel Französisch. An der Ecke las ich einen Wegweiser,
der nicht nur mit den zugehörigen Meilenangaben auf Exeter im Osten und Tavistock und
Plymouth an der Straße nach Westen zeigte, sondern nach Newton Abbot im Süden und Bideford und Bude und Barnstaple im Norden. Die Ansiedlung von Moretonhampstead war, wie
ich mit einiger Verzögerung begriff, in der Tat eine wesentliche Kreuzung im weiten Nichts
der wind- und regendurchzausten Berge. Oberhalb trieben jetzt graue Wolkenfetzen an den
Hängen entlang.
Ich bummelte die Straße nach Süden, dann, wo sich ein Durchlaß ergab, zwischen den engstehenden Häusern nach Westen, dann durch einen Weg oder eine Gasse nach Norden zurück,
und schließlich ging ich die offene Straße zu meinem Quartier und umrundete solcherart in
möglichst engem Kreise das mit dem ‚White Hart’ zusammenhängende Häusergewirr, die
hundert Höfe und Mäuerchen und Zugänge, und hielt dabei aufmerksam Ausschau, wo inner294
halb dieser Gesamtanlage Auberge gefangengehalten sein konnte, gefangen sein mußte, und
ob sich dem Suchenden eine Möglichkeit bot, dort einzudringen.
Das Ganze war natürlich ein höchst törichtes Unterfangen, ich sah nichts, ich fand nichts, ich
hörte nichts, und ich hätte die Schnurre auch getrost bleiben lassen können.
Ich kehrte unverrichtet in das ‚White Hart’ zurück, wo ich das vorerwähnte, längere, freundliche Gespräch mit dem Wirt führte, das mir aber nichts einbrachte außer erweiterter Kenntnis
der Umgegend, ein wenig zur Geschichte des Ortes und seinen besonderen Attraktionen – daß
bereits Anfang des 13. Jahrhunderts von König Johann dem Flecken Stadtrechte mit wöchentlichem Markt und einem alljährlichen fünftägigen Viehmarkt verliehen worden seien,
wofür im Gegenzuge sich die Stadt nur verpflichten mußte, dem großzügigen König jährlich
einen Sperber zu Zwecken der Jagd zustellen zu lassen.
Das ganze Mittelalter hindurch und bis ins letzte Jahrhundert sei Moretonhampstead berühmt
für seine Schafzucht und die Wollweberei gewesen, bereits das Doomsday Book erwähne
über fünftausend Tiere. Die Pfarrkirche, in der ich dem Gottesdienst beigewohnt, sei dem
heiligen Andrew geweiht - und ich erhielt ferner den Hinweis, daß es am Fuße von Fore
Street, am Square, sogar eine public library gebe.
Ich fragte ihn nach den vielen Franzosen, die ich unterwegs wahrgenommen, und er erklärte
mir, daß dies mit dem Zuchthaus oben im Moor zu tun habe – in Princetown, acht Meilen von
hier. Die meisten der dort Eingekerkerten seien nämlich immer noch gefangene Angehörige
der Napoleonischen Armee, und in den umliegenden Orten, so auch hier, hatten sich deren
Familien angesiedelt. Oh, die Kriege lagen lange zurück, nicht wahr, es war ein durchaus offenes Leben; daher durften Familienangehörige, wenn sie denn den Weg nach England gefunden, die Insassen, die für zwanzig Jahre oder gar bis zum Lebensende gefangen saßen,
nicht nur besuchen, sondern sie sogar im Gefängnis zeitweise vertreten, so konnten jene für
Tage zwischendurch heraus, besonders gern zu Festen und Begängnissen im Sommer und
Herbst, dann wurden unter dem Cross Tree die einheimischen Mädchen von den Franzosen
herumgeschwenkt.
Mein Wirt machte sich für die Zukunft durchaus Sorgen hinsichtlich seiner beiden halbwüchsigen Töchter. Einen kurzen, erstarrten Moment lang dachte ich an jenen anderen Wirt, fern
von hier, in London am Ufer der Themse, der auch eine Tochter besessen. Ich dachte an
Raymond Manderlay und daran, was ich ihm Furchtbares gelobt. Aber ich versuchte, die
schrecklichen Gedanken, die damit einhergingen, nicht zu vertiefen.
„Cross Tree?“ fragte ich statt dessen.
„Oh, Sie haben ihn gewiß auf dem Kirchgang gesehen, Sir“, machte der Wirt begeistert. „Sie
sollten zur Sommerzeit wiederkommen und ihn sich anschauen, wenn er belaubt ist, Sir, ein
herrlicher Anblick, die mächtige Ulme bei Alms House, der ‚Dancing Tree’ oder ‚Cross
Tree’, wie wir sagen, viele hundert Jahre alt. Oben ist eine Terrasse hineingebaut, dort sitzen
die Musiker, und für eine Extra-Münze darf man auch hinauf und auch dort oben tanzen …“
„Gewiß, ich habe das gesehen“, warf ich ein, „und mich gefragt, was der Sinn dieser Konstruktion sei. Und das Haus daneben mit dem Kreuzgang als Vorveranda, wie nannten Sie
das, Alms House?“
„Kreuzgang“, lachte der Wirt, „da haben Sie recht, Sir, daran erinnert es wohl ein wenig im
Aussehen, an einen Kreuzgang.“
„Und was ist das, Alms House? – Ein ehemaliges Kloster?“
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„Oh nein, Sir“, lachte er, „Sie meinen, wegen der Nähe zur Kirche? Aber es ist gar nichts dergleichen, nur ein Haus, in dem vier Familien wohnen. Es war wohl früher ein Hospital, vor
hundert oder mehr Jahren, aber ich weiß es nicht ...“
Ich hatte ihn mir gutgestimmt und die ganze Zeit doch nur überlegt, wie ich ihn in meiner
Sache befragen sollte, ohne seinen Verdacht zu erregen.
Moretonhampstead, so beschaulich und abgelegen es wirken mochte, dort oben am Eingang
des Dartmoors, so war es doch Post- und Pferdewechselstation in vier Himmelsrichtungen,
und Sir Enid Luciter, das war erwiesen, nahm hier seinen Aufenthalt auf dem Wege von London nach Cornwall, und da er in der einen wie der anderen Richtung fortwährend und regelmäßig diese Reise unternahm, würde er auch oft hier unterkommen – ich wußte ihn, seinen
schrecklichen Hausstaat und das gefangene Mädchen in meiner unmittelbaren Umgebung,
aber wo … wo?!
Es war gräßlich, sie einen ganzen Tag lang so nahe zu wissen und nichts … nichts tun zu
können! Im ‚White Hart’ logierten sie nicht, so viel war klar, hier waren die gestern nacht mit
der Stagecoach angelangten Passagiere - wir – die einzigen Gäste, die anderen Häuser, soweit
ich gesehen, geschlossen. Außerdem – durfte man einen Wirt nach seinen Konkurrenten befragen, ohne es sich ein für allemal mit ihm zu verscherzen?
Und überdies, auf meinem Rundgang über die Rückseite dieses Häusergeviertes, in der Richtung, wo ich Auberge auf dem Dach gesehen, hatte ich überhaupt keine andere Adresse gefunden, die nach einem Coaching Inn oder einem ähnlichen Quartier aussah. Das konnte indessen heißen, daß Sir Enid privat logierte, bei einem Freund, oder einem Bauern – oder daß
ihm das betreffende Grundstück selbst gehörte – so viele … so viele der Möglichkeiten!
Aber wo … wo? Und wie sollte ich meinen Wirt danach ausforschen?
Schließlich brach ich das Gespräch ab und fragte nicht. Ich sagte ihm, daß ich mich nach der
gehabten Reise der letzten Tage unendlich müde fühlte, was im Grunde nichts anderem als
der lauteren Wahrheit entsprach; ich teilte ihm mit, daß ich gedachte, auf den Lunch zu verzichten und statt dessen auf meinem Zimmer etwas der Ruhe zu pflegen, er solle sich nicht
sorgen, ich würde allein wieder herauskommen.
Und so ging ich in meiner stillen Verzweiflung nach oben. Ich dachte an so schrecklich viel,
was ich tun oder nicht tun konnte, und was ich doch unterlassen würde, allein schon aufgrund
der Tatsache, daß es Sonntag war. Ich konnte jetzt immer noch, von meinem Zimmerfenster
aus, quer über die Dächer dorthin turnen, wo ich sie gesehen, in den Hof dort absteigen und
keck mit meiner Untersuchung beginnen. Ich hätte – ich, der ich noch nie auf einem Pferderücken gesessen - mir ein Pferd leihen und auf der Straße, die nach Westen hinausführte oder
einem hohen Aussichtspunkte lauern können und die Kutsche von Sir Enid Luciter, von der
ich schon bedauerlicherweise in London nicht gewußt, wie sie aussah, abpassen, ich hätte ihr
hinterherjagen können und dem Schurken seine Beute abnehmen. Ich hätte natürlich auch
gleich Kutsche, Pferde und Kutscher leihen können, denn, fiel mir bei, wenn wir zu zweit
flüchten wollten, war es mit einem Gaul wohl nicht getan.
Und wie würde sie sich auf einem Pferde machen? War sie jemals geritten?
Sie! – und hatte sie nicht mit dem Lippen bedeutet: „Morgen“, - und hätte ich daraus nicht
eigentlich schließen dürfen, daß sie einen Weg wußte, dies Versprechen einzulösen, daß sie
den Weg zu mir gefunden hätte, noch bevor ich auf der Suche nach ihr gänzlich scheiterte?
Statt dessen stand ich wieder bei mir an dem Fenster in dem Gasthof und schaute auf eben
jene Dächer hinaus, wo ich sie in der Nacht erblickt.
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Die Tränen der Wut rannen über mein Gesicht. Ich hätte eine Armee bei mir haben wollen zu
ihrer gewaltsamen Befreiung - oder wenigstens ein Dekret des Königs - und eine Montgolfiere zur anschließenden Flucht!
Statt dessen tauchte ich mein Gesicht in das eisige Wasser der Waschschüssel, und danach
zog ich mich unter die Decke meines Lagers zurück und versuchte erschöpft, der ich letzte
Nacht allzu wenig geschlafen, für eine kleine Weile die Augen zuzutun.
14. Kapitel
Cross Tree
Ich war tatsächlich tief eingeschlafen - ein Klopfen an der Tür schreckte mich auf. Es war vor
dem Fenster immer noch hell, aber Mittag vorbei, und es herrschte in meiner Kammer bereits
das Licht der von den Hügeln herabsteigenden Dämmerung dieses Wintertages, demnach
etwa vier Uhr des Nachmittags. Ich hatte, als ich mich vor Stunden gebettet, nur die obere
Bekleidung ausgezogen, also warf ich mir, als ich mich erhob, flüchtig den Schafspelz um,
ging zur Tür und öffnete. Draußen stand das eine Zwillingsmädchen des Wirtes und schlug,
als sie meiner ansichtig wurde, schicklich die Augen nieder.
„Bist du dieselbe, die mir gestern dies Zimmer gezeigt?“ erkundigte ich mich, vermutlich in
einer Mischung aus Schlaftrunkenheit und Freundlichkeit, woraufhin sie eifrig nickte.
„Und wie heißt du?“ fragte ich.
„Margo“, flüsterte sie.
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„Nun, Margo“, sagte ich, „und was führt Dich zu mir?“
Da erst sah ich, daß sie einen kleinen Zettel in der Hand hielt, den sie mir jetzt vorsichtig hinreichte. Ich nahm ihn, faltete ihn auseinander und las nur zwei Worte, aber in einer Schrift,
die mir innig bekannt geblieben seit jenem Tage, als mir Fiona de Cato jenes wunderbare Gedicht übermittelt.
Ich las nur zwei Worte, und die lauteten: „Cross Tree“.
Ich sah Margo an, während ein ungeheurer Tumult in mir auftobte. „Wer hat dir das gegeben,
Kind?“
„Westpoint, Sir“, sagte sie verschüchtert.
„Ah ja“, sagte ich, augenblicklich etwas ernüchtert. „Und wer oder was ist Westpoint?“
„Ein Knabe oben aus der Stadt, der für alle Leute Botendienste macht“, gab sie Auskunft.
„Ah, ich verstehe“, murmelte ich. - Die Botschaft war also durch mehrere Hände gegangen,
aber dieser Westpoint oder ein anderer vor ihm hatte sie unmittelbar von Auberge empfangen,
wußte also, wo sie war – andererseits - war das nicht sowieso ganz gleich, da mich der Zettel
doch unmittelbar zu ihr führen würde? „Cross Tree“ war der Treffpunkt, den sie, den Auberge
mir genannt … Sie hatte Ihr Versprechen „Morgen …“ wahrgemacht. In mir mischten sich zu
gleichen Teilen Unglaube und ungeheurer, tanzender, bebender Triumpf. War ich nun am
Ende meines ach so langen Weges, am Ziel?
„Ich danke dir“, stammelte ich und gab dem Mädchen Margo einen weiteren Penny, worauf
sie dankbar lächelnd knickste und sich zurückzog. Ich schloß die Tür und schlüpfte, so schnell
ich vermochte, in meine Kleidung, ich warf abermals den Schafspelz über, ging hinaus, und
schon die nächste Minute sah mich die Straße hinunterlaufen, die ich frühmorgens zur Kirche
schon einmal genommen. Ich wählte meine Schritte in einer Geschwindigkeit, die mich, so
hoffte ich, gerade noch nicht auffallen lassen sollte - aber schon von weitem erkannte ich, daß
sie nicht da war.
Der Treffpunkt unter der Ulme war leer, auch oben, natürlich, auf der Terrasse im Baum, bewegte sich nichts. Ich trat näher und warf einen Blick hinter die Säulen von Alms House, aber
auch hier hatte sie sich nicht versteckt. Ich trat zurück, und meine Seele wollte in schiere Verzweiflung verfallen. Sollte dieser Teufel in Lebendgestalt, Sir Enid Luciter, sie mir abermals
in letzter Minute vor den Augen weggefischt haben? Wunders genug, dachte ich, daß sie - für
eine allzu kurze Zeit - so weit herausgekonnt …?
Das Firmament über den Hügeln im Westen war urplötzlich aufgerissen, die Sonne schon untergegangen, aber dort glühte ein roter Himmel wie Blut, und die Wolken, von unten beleuchtet, zogen wie glühende Galleonen ihre Bahnen auf Moretonhampstead zu.
Ich trat im Herzen erschüttert auf die Stufen, die zur Kirche führten. Selbst der graue Granit
des alten Gotteshauses glänzte im Lichte des scheidenden Tages, als ob er in der nächsten
Sekunde schmölze. Ich stieg langsam unter den Bäumen die Treppe hinauf und näherte mich
dem Eingang. Die Gräber, welche nicht im Schatten lagen, sahen aus, als ob sie sich sogleich
im blutüberströmten Widerscheine öffnen wollten. Ich zog die schwere Tür der Pfarrkirche
mit der hohen Klinke vor mir auf und trat ins Dämmernde hinein. Ich wußte, daß es noch Zeit
war bis zur Abendandacht und daß ich hier eine kleine Weile würde ungestört verbringen
können, allein mit mir und mit Gott, den ich befragen wollte, warum er mich so erbarmungslos prüfte.
Ich durchschritt langsam den großen, leeren, bereits in halber Dunkelheit liegenden Innenraum in Richtung auf den goldfunkelnden Altar, und ich hatte wohl schon mehr als den halben Weg zurückgelegt, als die Knie drohten, unter mir wegzusinken und ich wankend und
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ungläubig stehen blieb. Halb zur Linken, an einer der ersten Säulen, vom Altare aus gesehen,
unterhalb der Statue des Heiligen Andreas, kniete eine Frau, versunken ins Gebet, und obwohl
sie ein Tuch um ihr Haar geschlungen trug, in eine schwarze Mantille gehüllt war und mir den
Rücken zuwandte, erkannte ich sie umgehend und sah, daß sie es war. Sie war es, und sie war
tatsächlich gekommen. Ein kostbares Wunder … wahrgeworden …
Dort, unter dem Andreaskreuz mit der Statuette, kniete mit gesenktem Kopf … Auberge.
Ich stand dort, lange, lange … dann zog ich mich auf leisen Sohlen rückwärts langsam in den
Schatten der rechten Säulenreihe zurück und wartete, daß sie ihre heilige Verrichtung beendet
haben würde. Und dies geschah nun auch nach einiger Zeit, ich weiß nicht, wie lange es in
Wirklichkeit gewährt – sie war so versunken ... Und es war mir auch vollständig gleich, offen
gesprochen, es hätte liebend gerne auch Tage dauern mögen, und genauso lange hätte ich dort
still hinter ihr verharrt. So lange sie nur da war, und ich in ihrer Nähe sein konnte …
Dann aber, in der Tat, schlug sie ein Kreuz auf ihrer Brust, erhob sich auf ihre zarten Füße, sie
seufzte einmal tief auf, sah sich flüchtig um, und, ohne mich im Schatten zu erblicken, ging
sie gesenkten Hauptes an mir vorbei auf die Kirchentüre zu. Nun trat ich hervor und sprach
gedämpft das erste Wort – trotz alledem schien es mir, als ob es im stillen Kirchenraume wie
eine Glocke nachhallte: „Auberge …“.
Ich sah sie zusammenzucken und sich umdrehen, sie fuhr nicht herum, wie im Todesschrekken, aber ihr Antlitz, als sie sich umwandte, trug die Züge plötzlicher Angst. Dann erkannte
sie mich - und die Furcht verging und wich … nein, keinem Lächeln, aber einem sanften,
herrlichen Ausdruck.
„Auberge“, wiederholte ich flüsternd, und nun traten wir beide über eine kurze Entfernung
aufeinander zu, blieben in zwei Schritten Abstand voreinander stehen.
Ich bemühte mich, nicht zu wanken oder sonst eine Form von Schwäche zu zeigen … Der
Moment, den ich seit Monaten herbeigesehnt – er war nun da, endlich da, und nun stand ich
vor ihr und wußte nicht, was ich sagen oder tun sollte – ich wußte es nicht. „Auberge“, flüsterte ich statt dessen zum dritten Mal.
Sie trug unter der schwarzen Mantille, das sah ich, das nämliche, lange, weiße Gewand, das
sie in der Nacht zuvor getragen, welches solcherart, wie sich zeigte, natürlich kein Nachthemd
war, wie ich geglaubt. Sie war ohne Handschuh und Hut, hatte lediglich ein einfaches, wollenes Tuch, das einer Magd, um ihr volles, dunkles Haar geschlungen.
Sie blickte mich an. Mit ihren Augen, von denen ich in der fallenden Dämmerung des weiten
Kirchenraumes nicht die Farbe erkennen konnte, blickte sie mich an und erforschte vorsichtig,
zurückhaltend mein Gesicht. Um uns war jene Stille, wie man sie nur in Kirchenräumen antrifft. Schließlich seufzte sie leise und nickte. Es war kaum ein Nicken, nur eine Bewegung
des Kopfes, dann schlug sie die Augen nieder.
Und dann, und es durchfuhr mich wie ein Feuerstoß, fühlte und sah ich, wie ihre Hand langsam nach der meinen griff, ich fühlte plötzlich an meiner Hand die Wärme ihrer Haut, ihres
Blutes, und ich hörte ich sie sprechen, es war das erste Mal im Leben, daß ich ihre Stimme
vernahm.
„Komm“, flüsterte sie, und sie führte mich langsam und sorglich an der Hand hinüber zu der
Statuette des Andreas, ich folgte ihr willig - sie hatte nicht wissen können, daß ich sie zuvor
bereits beobachtet, als sie schon dort gewesen - und dort sank sie langsam in die Knie und
nötigte mich so, der sie mich sanft an der Hand hielt, ebenfalls mit ihr hinabzugehen, und so
knieten wir wie Geschwister nebeneinander auf dem kühlen Steinboden der Pfarrkirche vor
dem Abbild des Heiligen. Sie blickte mich mit ihren rätselvollen Augenlichtern an und bat
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mich mit diesen Augen, indem sie sie nach oben und zu dem Heiligen kehrte, daß ich ihn auch
anschauen sollte, und ich tat, wie sie mich mit ihren Blicken gelehrt.
Und ich sah das von vielen Darstellungen und Abbildern vertraute bärtige, milde und weißhaarige Antlitz über mir, ich sah den Strick, sah den Fisch, den er demütig in der Hand hielt,
und seine bloßen Füße, und ich hörte dazu ihre Stimme, wie ich noch nie zuvor eine Stimme
vernommen, nun, als sie sprach, eine für diesen kleinen Leib überraschend dunkle, aber eine
so weiche, wunderbare Stimme, und sie sprach verhalten, fast flüsternd.
„Das ist der heilige Andreas“, sagte sie zart. „Er war der erste Jünger des Herrn, weißt du, der
erste, den ER sich erwählt. Er war vorher ein Jünger des Johannes gewesen, er war Fischer
und sein Bruder ist Petrus. – ‚Es war aber um die zehnte Stunde’, steht geschrieben. ‚Einer
von den zweien, die es von Johannes hörten und Jesus nachfolgten, war Andreas, der Bruder
des Simon Petrus. Der findet zuerst seinen Bruder Simon und spricht zu ihm: Wir haben den
Messias gefunden, das ist verdolmetscht: der Gesalbte, und führten ihn zu Jesus. Da ihn Jesus
sah, sprach er: Du bist Simon, des Johannes Sohn; Du sollst Kephas heißen, das ist verdolmetscht: Fels.’“
Ich hatte heute in dieser Kirche bereits eine Predigt gehört, aber wie anders war dieses hier
nun! Ihre Hand drückte sacht und langsam die meine. Auf dieses Signal hin sah ich sie an,
und ich nahm wahr, daß sie mir direkt in die Augen blickte. Sie sprach in tiefen Ernst, und mir
wurde klar, daß dies es eigentlich war, woran ihr lag, nicht an dem Heiligen – dies war es,
worum es ihr ging, und der Heilige nur ein Mittel, sich mir verständlich zu machen.
„Willst Du“, fragte sie verhalten, „willst du mir schwören, daß du mir nichts Übles tun wirst,
was immer in der Zukunft geschieht, willst du schwören beim heiligen Andreas, - sondern daß
du zu mir halten wirst, auf meiner Seite stehen und mir helfen? Wirst du meinen Weg begleiten und für mich da sein, wann immer ich bedroht bin vom Bösen und Menschen, die mir
schaden und mich vernichten wollen, wann immer ich in Not bin und dich benötige, mein
Freund? Wirst du das?“ fragte sie dringlicher, „und willst Du mir das wirklich schwören?“
Meine Stimme klang rauh, und sie hallte in dem weiten, dunkelnden Gewölbe nach, als ich
sagte: „Ja, ich schwöre.“
Und ich fühlte, wie sie nach einer kleinen Pause dankbar meine Hand drückte, wie sie mich
ansah, und, wenn auch nicht lächelte, so doch immerhin etwas Ähnliches um Ihre Lippen
schien.
„Mein Freund“, flüsterte sie.
Sie richtete ihre Augen wieder auf den Heiligen, ich beobachtete sie von der Seite, ohne daß
sie es bemerkte, und ihr Gesicht bekam den Ausdruck tiefsten Schmerzes. Ihre Stimme, als sie
sprach, blieb im Grundton der Trauer. Zutiefst litt sie durch, was sie erzählte, und sie sprach
im leisen, einfachen Ton, sprach gänzlich einfache Dinge …
„Er wurde von Kaiser Nero ans Kreuz geschlagen“, flüsterte sie, „jedoch nicht an eines wie
unser HErr, sondern, um ihn zu lästern und zu schänden, wurde er an roh zugeschnittene und
schräg zusammengebundene Äste gebunden, an das Schragenkreuz für Märtyrer, jenes Kreuz,
das seit jenem Tage nach ihm heißt. -- Heute genau in zwei Wochen, auch auf den Sonntag,
ist sein Tag, der 30. November, und seine liturgische Farbe ist rot, die des Blutes. -- Ist es
nicht sonderbar?“ fragte sie mich, ohne wirklich Antwort zu heischen, „ist es nicht sonderbar,
daß sogar die Flagge unseres ehrwürdigen Landes Gebrauch vom blutigen Andreaskreuz
macht?“
Ihre Augen vertieften sich erneut in das Antlitz des Heiligen. „Wußtest du, was nach seinem
Tode mit ihm geschah?“ fragte sie, und ich bemerkte, wie ihr zarter Körper schauderte. „Seine
Gebeine wurden dreihundert Jahre nach seinem Tod auf Dekret Kaiser Konstantins nach Kon300
stantinopel überfüh
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