Geschichte der Poetik (I/II)

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Geschichte der Poetik (I/II)
Zitate zur Vorlesung im WS 2007/08 und SS 2008
W. Eckel
Lexikondefinitionen zum Stichwort „Poetik“
Die Poetik Alteuropas: Wichtige Referenztexte und -autoren
Poetologische Programmschriften der Moderne
Alteuropäische Poetik im Einflussbereich der Rhetorik
Die Idee der Kunstautonomie
Die Katharsiskonzeption des Aristoteles als Antwort auf Platon
Die Mimesiskonzeption des Aristoteles als Antwort auf Platon: Die Orientierung der
dichterischen Mimesis an den Gesetzen von „Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit“
Der Dichter als Nachahmer des Möglichen bei Breitinger
Die aristotelische Poetik: Grundlagen der Gattungstheorie
Die aristotelische Poetik: Grundbestimmungen der Tragödie
Die aristotelische Poetik: Bestimmungen der dramatischen Handlung
Die aristotelische Poetik: Handlung und Charakter
Die Ars poetica des Horaz: „studium“ und „ingenium“
Die Ars poetica des Horaz: Angemessenheitspostulate (I)
Die Ars poetica des Horaz: Angemessenheitspostulate (II)
Die Ars poetica des Horaz: Der Dichter als Nachahmer
Pseudo-Longinos, Über das Erhabene (Peri Hypsos) (I)
Pseudo-Longinos, Über das Erhabene (Peri Hypsos) (II)
Pseudo-Longinos, Über das Erhabene (Peri Hypsos) (III)
Das Erhabene der Natur bei Longin und Kant
Das Schöne und das Erhabene in der neuzeitlichen Ästhetik
Attribute des Schönen und des Erhabenen bei Burke
Die physiologistische Erklärung des Erhabenen bei Burke
Die idealistische Erklärung des Erhabenen bei Kant
Boileau, L’Art poétique (1674) (I)
Boileau, L’Art poétique (1674) (II)
Boileau, L’Art poétique (1674) (III)
Vorlesungen vom 16. 4. und 23. 4. 2008: Namen, Buchtitel, Zitate etc.
Vorlesung vom 30. 4. 2008: Namen, Buchtitel, Zitate etc.
Vorlesung vom 7. Mai 2008
Vorlesung vom 7. Mai 2008
Vorlesung vom 14. Mai 2008: Die Poetik Friedrich Schlegels (I)
Vorlesung vom 14. Mai 2008: Die Poetik Friedrich Schlegels (II)
Totalisierende Konzepte von Poesie in der Romantik
Realismus/ Naturalismus
Theorie des Naturalismus (I)
Theorie des Naturalismus (II)
Theorie des Naturalismus (III)
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Autoren des Ästhetizismus/ Symbolismus
Die Idee der Selbstbezüglichkeit der Kunst im Ästhetizismus/ Symbolismus
Die andere Sprache der Poesie im Ästhetizismus/ Symbolismus
Das symbolistische Ideal der Suggestion
Mallarmé: Die zwei Zustände der Rede. Das Fastverschwinden der Dinge
Die symbolistische Idee der Andeutung
Mallarmés Orientierung an der Musik
Mallarmés Idee des reinen Werks (I)
Mallarmés Idee des reinen Werks (II)
Die Umkehrung des Nachahmungstheorems im Ästhetizismus (I)
Die Umkehrung des Nachahmungstheorems im Ästhetizismus (II)
Der Angriff auf die bürgerliche Institution Kunst in den historischen Avantgarden
Kunst als „Stimulanz des Lebens“ (Nietzsche) im Futurismus
Der erweiterte Kunstbegriff der Avantgarden
Die avantgardistische Aufwertung des Zufalls zum produktiven Prinzip
Die avantgardistische Idee der permanenten Selbstüberholung
Die futuristischen parole in libertà
Dadaistische Lautpoesie (I)
Dadaistische Lautpoesie (II)
Die surrealistische écriture automatique
Die surrealistische Idee des Bildes
Die Poetik der Postmoderne
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Geschichte der Poetik
Lexikondefinitionen zum Stichwort „Poetik“
Le Dictionnaire du littéraire (2002):
Poétique = „1. L’ensemble de règles présidant à l’élaboration des œuvres poétiques, et donc les
traités à usage des auteurs, tels la Poétique d’Aristote ou l’Art poétique de Boileau. 2. Toute théorie générale de la poésie; aujourd’hui l’objet de la théorie s’est étendu à l’ensemble des genres, ou
plutôt à la caractéristique abstraite qui fait d’un texte donné un texte littéraire: la littérarité.“
Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (2003):
Poetik = „Reflexion auf Prinzipien des dichterischen Schreibens“
1. „eine rein deskriptive, also theoretisch analysierende, philosophisch systematisierende oder auch
historisch typologisierende
Beschäftigung mit
vergangenen, gegenwärtigen
oder
zeitübergreifenden Grundsätzen, Regeln, Verfahrensweisen beim Schreiben von Literatur bzw. im
engeren Sinne von Poesie“.
2. „der Inbegriff jener immanenten dichterischen Regeln oder Maximen, denen ein Autor
(,Autorpoetik‘) bzw. ein poetischer Text (,Werkpoetik‘) bzw. ein literarisches Genre (,Gattungspoetik‘) stillschweigend folgt“.
3. „ein explizit normierendes System poetischer Regeln, das in geschlossener Form (z.B. als
Lehrgedicht oder als gelehrte Abhandlung) schriftlich niedergelegt wird und für Dichtung
insgesamt oder doch für einen bestimmten Teilbereich verbindliche Geltung beansprucht,
mindestens aber gute von schlechter Dichtung verläßlich zu sondern verspricht“.
Metzler Literatur Lexikon (2007):
„Theorie des Dichterischen oder Literarischen, bes. die Reflexion über Entstehung, Wesen,
Formen, Verfahren, Gegenstände, Klassifizierung, Wirkung, Bewertung und Funktion von
Dichtung bzw. Lit. […]. Es kann sich bei P.en um explizite oder implizite, aus den lit. Werken
erschließbare P.en handeln, im Fall der expliziten P.en um selbständige oder unselbständige (z.B.
in Vorreden zu lit. Werken) sowie um präskriptive (normative P.en, Anweisungs- oder
Regelpoetiken) oder deskriptive P.en. […] Als Sonderfall können lit. P.en betrachtet werden, die
nicht behauptend diskursiv, sondern selbst in Modi der Poesie über Poesie und Lit. sprechen (z.B.
in sog. ,poetologischen Gedichten‘).“
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Geschichte der Poetik
Die Poetik Alteuropas: Wichtige Referenztexte und -autoren
Die Poetik der Antike
Aristoteles, Poetik (Peri poietikés, ca. 335 v. Chr.)
Horaz, Brief an die Pisonen, ca. 23-28 v. Chr. (seit Quintilian auch als Ars poetica bezeichnet)
Pseudo-Longin, Über das Erhabene (Peri hypsos, vermutl. 1. Jh. n. Chr.)
Die Poetik des Mittelalters
Matthäus von Vendôme, Ars versificatoria (ca. 1175)
Galfred von Vinsauf, Poetria nova (ca. 1208-1213)
Johannes von Garlandia, Poetria de arte prosaica, metrica et rithmica (nach 1229)
Die Poetik der Renaissance
J. C. Scaliger, Poetices libri septem (1561)
S. A. Minturno, De poeta (1559); L’arte poetica (1563)
Sir Philip Sidney, An Apologie for Poetrie (1595), auch unter dem Titel The Defence of Poetry
Du Bellay (1522-1560), Deffence et illustration de la langue françoyse (1549)
17. Jahrhundert: Französischer Klassizismus und deutscher Barock
Nicolas Boileau, Art poétique (1674)
Charles Perrault, Parallèle des Anciens et des Modernes en ce qui regarde les Arts et les Sciences
(4 Bde, 1688-97)
Martin Opitz, Buch von der deutschen Poeterey (1624)
Poetik der Aufklärung
Alexander Pope, Essay on Criticism (1711)
Jean Baptiste Dubos, Réflexions critiques sur la poésie et la peinture, 1719
Charles Batteux, Les beaux arts réduits à un même principe (1746)
Johann Christoph Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst (1730)
Bodmer/Breitinger
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Geschichte der Poetik
Poetologische Programmschriften der Moderne
Romantik
Friedrich Schlegel, Athenaeums-Fragmente (1797/98)
Friedrich Schlegel, Gespräch über die Poesie (1800)
Percy Bysshe Shelley, Defence of Poetry (1821)
Realismus/ Naturalismus
Émile Zola, Le roman expérimental (1880)
Ästhetizismus/ Symbolismus
Stéphane Mallarmé, Crise de vers (1886-1896)
Oscar Wilde, The Decay of Lying (1889)
Hugo von Hofmannsthal, Das Gespräch über Gedichte (1904)
Historische Avantgarden
F.T. Marinetti, Futurismo (1909)
Richard Huelsenbeck u.a., Dadaistisches Manifest, 1918
André Breton, Manifeste du surréalisme (1924)
Postmoderne
Leslie Fiedler, Cross the Border – Close the Gap (1968)
John Barth, The Literature of Exhaustion (1967)
John Barth, The Literature of Replenishment (1980)
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Geschichte der Poetik
Alteuropäische Poetik im Einflussbereich der Rhetorik
Die aristotelischen Gattungen der Rede:
genus iudicale
genus deliberativum
genus demonstrativum
Die fünf Arbeitsschritte der Rhetorik:
inventio
Findeformel: „quis, quid, ubi, quibus auxiliis, cur, quomodo, quando?“
dispositio
Redeteile: exordium, captatio benevolentiae, propositio, argumentatio,
probatio, refutatio, conclusio
elocutio
Ideale: aptum, puritas, perspicuitas, ornatus
memoria
actio
Die rhetorischen genera elocutionis:
genus humile
Wirkabsicht: docere, probare
genus medium
Wirkabsicht: delectare
Affektgrad: ethos
genus sublime
Wirkabsicht: movere
Affektgrad: pathos
Horaz, Epistula ad Pisones (ca. 23-28 v. Chr.):
„aut prodesse aut delectare volunt poetae“ (V. 333)
Mittelalterliche „Rota Virgilii“, im Anschluß an den Vergil-Kommentar des Aelius Donatus:
Werk
Stil
Stand
Helden
Tiere
Werkzeuge
Orte
Planzen
Bucolica
Georgica
Aeneis
stilus humilis
stilus mediocris
stilus gravis
pastor otiosus (Hirte) agricola (Bauer)
miles dominans (Soldat)
Tityrus, Meliboeus Triptolemus, Coelius Hector, Ajax
ovis (Schaf)
bos (Rind)
equus (Pferd)
baculus (Stock)
aratrum (Pflug)
gladius (Schwert)
pascua (Weide)
ager (Acker)
urbs, castrum (Stadt, Lager)
fagus (Buche)
pomus (Obstbaum) laurus, cedrus (Lorbeer, Zeder)
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Geschichte der Poetik
Die Idee der Kunstautonomie
Karl Philipp Moritz, Über den Begriff des in sich selbst Vollendeten (1785):
„Ein Ding kann also nicht deswegen schön sein, weil es uns Vergnügen macht, sonst müßte auch
alles Nützliche schön sein; sondern was uns Vergnügen macht, ohne eigentlich zu nützen, nennen
wir schön. Nun kann aber das Unnütze oder Unzweckmäßige unmöglich einem vernünftigen
Wesen Vergnügen machen. Wo also bei einem Gegenstande ein äußerer Nutzen oder Zweck fehlt,
da muß dieser in dem Gegenstande selbst gesucht werden, sobald derselbe mir Vergnügen
erwecken soll; oder: ich muß in den einzelnen Teilen desselben so viel Zweckmäßigkeit finden,
daß ich vergesse zu fragen, wozu nun eigentlich das Ganze soll? Das heißt mit andern Worten: ich
muß an einem schönen Gegenstande nur um seiner selbst willen Vergnügen finden; zu dem
Ende muß der Mangel der äußern Zweckmäßigkeit durch seine innere Zweckmäßigkeit ersetzt
sein; der Gegenstand muß etwas in sich selbst Vollendetes sein.“
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Geschichte der Poetik
Die Katharsiskonzeption des Aristoteles als Antwort auf Platon
Platons Auffassung von der Dichtung als Gefährdung der Ataraxie, als problematischer
Verstärkung unwillkommener Affekte:
„Und doch haben wir die größte Anklage gegen sie [die Dichtkunst] noch nicht vorgebracht; denn
daß sie imstande ist, auch die Wohlgesinnten, einige gar wenige ausgenommen, zu verderben,
das ist doch gar arg. […] Auch die Besten von uns, wenn wir den Homeros hören oder einen
andern Tragödiendichter, wie er uns einen Helden darstellt in trauriger Bewegung und eine lange
Klagerede haltend, oder auch singende und sich heftig gebärdende: so wird uns wohl zumute, wir
geben uns hin und folgen mitempfindend, und die Sache sehr ernsthaft nehmend, loben wir den
als einen guten Dichter, der uns am meisten in diesen Zustand versetzt. […] Wenn aber einen von
uns ein eigener Kummer trifft: so merkst du doch, daß wir dann ganz im Gegenteil unseren Ruhm
darein setzen, wenn wir imstande sind, ruhig zu sein und auszuharren, weil das die Sache eines
Mannes sei, jenes aber weibisch […]. Und verhält es sich etwa mit dem Lächerlichen nicht
ebenso? Wenn du einen Schwank, den du dich schämen würdest selbst zu machen, doch, hörst du
ihn in dem öffentlichen Lustspiel oder in einem kleinen Kreise, gewaltig belachst und nicht als
etwas Schlechtes abweist: so tust du dasselbe wie dort bei den Klagen. Was du nämlich durch
Vernunft zurückhieltest, wenn es in dir selbst Schwänke machen wollte, weil du doch den Ruf
eines Possenreißers scheutest, das lässt du nun wieder los; und hast du es dort aufgefrischt, so
wirst du unvermerkt bald auch in deinem eigenen Kreise so weit ausschlagen, daß du einen
Spaßmacher vorstellst. […] Und auch mit dem Geschlechtstrieb und dem Unwillen und allem,
was es der Begierde Angehöriges oder der Lust und Unlust Verwandtes in der Seele gibt […], ist
es dann so, daß uns die dichterische Nachahmung dergleichen antut. Denn sie nährt und
begießt alles dieses, was doch sollte ausgetrocknet werden, und macht es in uns herrschen,
obwohl es doch müsste beherrscht werden, wenn wir Bessere und Glückseligere statt
Schlechtere und Elendere werden wollen.“ (Politeia, 605c-606d; Übers. F. Schleiermacher)
Aristoteles’ Idee der Katharsis:
„Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter
Größe, in anziehend geformter Sprache, wobei diese formenden Mittel in den einzelnen
Abschnitten je verschieden angewandt werden – Nachahmung von Handelnden und nicht durch
Bericht, die Jammer (éleos) und Schaudern (phóbos) hervorruft und hierdurch eine Reinigung
(kátharsis) von derartigen Erregungszuständen bewirkt.“ (Peri poietikés, 6. Kap.; Übers. M.
Fuhrmann)
Wolfgang Schadewaldt, Von der Wirkung des Trauerspiels (1954/55):
„Worauf Aristoteles mit den von ihm gebrauchten griechischen Begriffen phóbos und éleos zielt,
das sind die naturhaften menschlichen Elementaraffekte des Schreckens (oder Schauders) und des
Jammers (oder der Rührung); und auch Katharsis (,Reinigung‘) faßt er durchaus nicht im Sinne
irgendeiner moralischen Besserung: er versteht darunter nach dem Beispiel der alten Medizin und
einiger urtümlich-ekstatischer Kulte die mit einer elementaren Lustempfindung verbundene
Befreiung und Erleichterung beim Ausscheiden (Purgieren) von irgendwelchen störenden Stoffen
oder Erregungen aus dem Organismus oder der Seele. Auf Freude und Lust, nicht auf Moral und
Besserung läuft nach der einfach gesunden Auffassung der Griechen alle Kunst hinaus. […] Jeder
Kunstart aber ist eine spezifische Lustform zugeordnet, und die spezifische Lustform des
Trauerspiels besteht nun darin, daß die Tragödie uns durch die elementaren Affekte des
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Schauderns und des Jammers hindurchjagt, um uns schließlich, wenn wir aus Schauder und
Jammer wieder auftauschen, mit dem Wohlgefühl der befreienden Erleichterung zu entlassen.“
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Geschichte der Poetik
Die Mimesiskonzeption des Aristoteles als Antwort auf Platon: Die Orientierung der
dichterischen Mimesis an den Gesetzen von „Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit“
Beim Aufbau von Handlungen:
„Ein Anfang ist, was selbst nicht mit Notwendigkeit auf etwas anderes folgt, nach dem jedoch
natürlicherweise etwas anderes eintritt oder entsteht. Ein Ende ist umgekehrt, was natürlicherweise
auf etwas anderes folgt, und zwar notwendigerweise oder in der Regel, während nach ihm nichts
anderes mehr eintritt. Eine Mitte ist, was sowohl selbst auf etwas anderes folgt als auch etwas
anderes nach sich zieht. Demzufolge dürfen Handlungen, wenn sie gut zusammengefügt sein
sollen, nicht an beliebiger Stelle einsetzen noch an beliebiger Stelle enden, sondern müssen sich an
die genannten Grundsätze halten.“ (Aristoteles, Poetik, 7. Kapitel, Übers.: M. Fuhrmann)
Bei der Darstellung von Menschen:
„Man muß auch bei den Charakteren – wie bei der Zusammenfügung der Geschehnisse – stets auf
die Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit bedacht sein, d.h. darauf, daß es notwendig oder
wahrscheinlich ist, daß eine derartige Person derartiges sagt oder tut, und daß das eine mit
Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit auf das andere folgt.“ (Aristoteles, Poetik, 15. Kapitel,
Übers.: M. Fuhrmann)
Die Unterscheidung von Dichtung und Geschichtsschreibung:
„Aus dem Gesagten ergibt sich auch, daß es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was
wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d.h. das nach den Regeln der
Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche. Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter
unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, daß sich der eine in Versen und der andere in Prosa
mitteilt – man könnte ja auch das Werk Herodots in Verse kleiden, und es wäre in Versen um
nichts weniger ein Geschichtswerk als ohne Verse –; sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, daß
der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte. Daher ist Dichtung
etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr
das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen mehr das Besondere mit. Das Allgemeine
besteht darin, daß ein Mensch von bestimmter Beschaffenheit nach der Wahrscheinlichkeit oder
Notwendigkeit bestimmte Dinge sagt oder tut – eben hierauf zielt die Dichtung, obwohl sie den
Personen Eigennamen gibt. Das Besondere besteht in Fragen wie: was hat Alkibiades getan oder
was ist ihm zugestoßen.“ (Aristoteles, Poetik, 9. Kapitel, Übers.: M. Fuhrmann)
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Geschichte der Poetik
Der Dichter als Nachahmer des Möglichen bei Breitinger
Johann Jakob Breitinger, Critische Dichtkunst (1740), Dritter Abschnitt „Von der
Nachahmung der Natur“:
„Die Poesie kan alles nachahmen, was der Verstand von den Würckungen und den Kräften der
Natur erkennet, wenig abgezogene Wahrheiten ausgenommen. Solches theilet sich in die
gegenwärtige würckliche Welt, die sichtbare und die unsichtbare, und in die möglichen Welten.
Der Poet nimmt die Originale seiner Nachahmung lieber aus der Welt der möglichen Dinge.“
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Geschichte der Poetik
Die aristotelische Poetik: Grundlagen der Gattungstheorie
Zur Unterscheidung der poetischen Gattungen:
„Die Epik und die tragische Dichtung, ferner die Komödie und die Dithyrambendichtung
sowie – größtenteils – das Flöten- und Zitherspiel: sie alle sind, als Ganzes betrachtet,
Nachahmungen. Sie unterscheiden sich jedoch in dreifacher Hinsicht voneinander: entweder
dadurch, daß sie durch je verschiedene Mittel, oder dadurch, daß sie je verschiedene
Gegenstände, oder dadurch, daß sie auf je verschiedene und nicht auf dieselbe Weise
nachahmen.“ (1. Kapitel, Übers. M. Fuhrmann)
Berichtende und szenisch darstellende Gattungen:
„Nun zum dritten Unterscheidungsmerkmal dieser Künste: zur Art und Weise, in der man alle
Gegenstände nachahmen kann. Denn es ist möglich, mit Hilfe derselben Mittel dieselben
Gegenstände nachzuahmen, hierbei jedoch entweder zu berichten – in der Rolle eines anderen,
wie Homer dichtet, oder so, daß man unwandelbar als derselbe spricht – oder alle Figuren als
handelnde und in Tätigkeit befindliche auftreten zu lassen.“ (3. Kapitel, Übers. M. Fuhrmann)
Verwandtschaft und Differenz von Epos und Tragödie:
„Die Epik stimmt mit der Tragödie insoweit überein, als sie Nachahmung guter Menschen in Versform ist; sie unterscheidet sich darin von ihr, daß sie nur ein einziges Versmaß verwendet und aus
Bericht besteht. Ferner in der Ausdehnung: die Tragödie versucht, sich nach Möglichkeit innerhalb
eines einzigen Sonnenumlaufs zu halten oder nur wenig darüber hinauszugehen; das Epos verfügt
über unbeschränkte Zeit und ist also auch in diesem Punkte anders – obwohl man es hierin ursprünglich bei den Tragödien ebenso gehalten hatte wie bei den Epen.“ (5. Kapitel, Übers. M.
Fuhrmann)
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Geschichte der Poetik
Die aristotelische Poetik: Grundbestimmungen der Tragödie
Die Definition der Tragödie:
„Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von
bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache, wobei diese formenden Mittel in den
einzelnen Abschnitten je verschieden angewandt werden – Nachahmung von Handelnden und
nicht durch Bericht, die Jammer (éleos) und Schaudern (phóbos) hervorruft und hierdurch eine
Reinigung (kátharsis) von derartigen Erregungszuständen bewirkt.“ (6. Kapitel, Übers. M.
Fuhrmann)
Der Primat der Handlung vor dem Charakter:
„Der wichtigste Teil [der Tragödie] ist die Zusammenfügung der Geschehnisse (sýstasis pragmáton). Denn die Tragödie ist nicht Nachahmung von Menschen, sondern von Handlung und
von Lebenswirklichkeit. (Auch Glück und Unglück beruhen auf Handlung, und das Lebensziel ist
eine Handlung, keine bestimmte Beschaffenheit. Die Menschen haben wegen ihres Charakters eine
bestimmte Beschaffenheit, und infolge ihrer Handlungen sind sie glücklich oder nicht.) Folglich
handeln die Personen nicht, um die Charaktere nachzuahmen, sondern um der Handlungen
willen beziehen sie Charaktere ein. Daher sind die Geschehnisse und der Mythos das Ziel der
Tragödie; das Ziel aber ist das Wichtigste von allem. / Ferner könnte ohne Handlung keine
Tragödie zustande kommen, wohl aber ohne Charaktere. Denn die Tragödien der Neueren sind
größtenteils ohne Charaktere […]. Ferner, wenn jemand Reden aneinanderreihen wollte, die
Charaktere darstellen und sprachlich wie gedanklich gut gelungen sind, dann wird er gleichwohl
die der Tragödie eigentümliche Wirkung nicht zustande bringen. Dies ist weit eher bei einer
Tragödie der Fall, die in der genannten Hinsicht Schwächen zeigt, jedoch einen Mythos, d.h. eine
Zusammenfügung von Geschehnissen, enthält.“ (6. Kapitel, Übers. M. Fuhrmann)
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Geschichte der Poetik
Die aristotelische Poetik: Bestimmungen der dramatischen Handlung
Die Forderung der Einheit der Handlung:
„Demnach muß, wie in den anderen nachahmenden Künsten die Einheit der Nachahmung auf der
Einheit des Gegenstandes beruht, auch die Fabel, da sie Nachahmung von Handlung ist, die
Nachahmung einer einzigen, und zwar einer ganzen Handlung sein. Ferner müssen die Teile der
Geschehnisse so zusammengefügt sein, daß sich das Ganze verändert und durcheinander gerät,
wenn irgendein Teil umgestellt oder weggenommen wird. Denn was ohne sichtbare Folgen
vorhanden oder fehlen kann, ist gar nicht Teil des Ganzen.“ „Die Fabel des Stücks ist nicht schon
dann – wie einige meinen – eine Einheit, wenn sie sich um einen einzigen Helden dreht. Denn
diesem einen stößt unendlich vieles zu, woraus keine Einheit hervorgeht. So führt der eine auch
vielerlei Handlungen aus, ohne daß sich daraus eine einheitliche Handlung ergibt. Daher haben
offenbar alle die Dichter ihre Sache verkehrt gemacht, die eine ,Herakleis‘, eine ,Theseis‘ und
derlei Werke gedichtet haben. Sie glaubten nämlich, daß, weil Herakles eine Person sei, schon
deshalb auch die Fabel notwendigerweise eine Einheit sei.“ (8. Kapitel, Übers. M. Fuhrmann)
Einfache und verschlungene Handlungen:
„Von den Mythen sind die einen einfach, die anderen verschlungen. […] Ich nenne eine einfache
Handlung eine solche, deren Ablauf, wenn er an einem bestimmten Punkte eingesetzt hat, sich
kontinuierlich und einheitlich ohne Peripetie oder Entdeckung vollzieht. Eine verschlungene
Handlung ist dagegen eine solche, deren Ablauf über Peripetie oder Entdeckung oder beides
führt.“ (10. Kapitel, Übers. O. Gigon)
Die Peripetie (peripéteia):
„Die Peripetie ist […] der Umschlag dessen, was erreicht werden soll, in das Gegenteil, und zwar
[…] gemäß der Wahrscheinlichkeit oder mit Notwendigkeit. So tritt im ,Ödipus‘ jemand auf, um
Ödipus zu erfreuen und ihm die Furcht hinsichtlich seiner Mutter zu nehmen, indem er ihm
mitteilt, wer er sei, und er erreicht damit das Gegenteil. Und im ,Lynkeus‘ wird der eine abgeführt,
um zu sterben, während der andere – Danaos – ihn begleitet, um ihn zu töten; doch die Ereignisse
führen dazu, daß dieser stirbt und jener gerettet wird.“ (11. Kapitel, Übers. M. Fuhrmann)
Die Wiedererkennung oder Entdeckung (anagnórisis):
„Die Wiedererkennung ist, wie schon die Bezeichnung andeutet, ein Umschlag von Unkenntnis in
Kenntnis, mit der Folge, daß Freundschaft oder Feindschaft eintritt, je nachdem die Beteiligten zu
Glück oder Unglück bestimmt sind. Am besten ist die Wiedererkennung, wenn sie zugleich mit
der Peripetie eintritt, wie es bei der im ,Ödipus‘ der Fall ist. […] Denn eine solche
Wiedererkennung und Peripetie bewirkt Jammer oder Schaudern, und es wurde ja vorausgesetzt,
daß die Tragödie Nachahmung von Handlungen mit diesen Wirkungen sei. Außerdem ergibt sich
gerade aus solchen Wiederkennungen das Unglück und das Glück.“ (11. Kapitel, Übers. M.
Fuhrmann)
Schürzung (thésis) und Lösung (lýsis) des dramatischen Knotens:
„Jede Tragödie besteht aus Verknüpfung und Lösung. Die Verknüpfung umfasst gewöhnlich die
Vorgeschichte und einen Teil der Bühnenhandlung, die Lösung den Rest. Unter Verknüpfung
verstehe ich den Abschnitt vom Anfang bis zu dem Teil, der der Wende ins Glück oder ins
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Unglück unmittelbar vorausgeht, unter Lösung den Abschnitt vom Anfang der Wende bis hin zum
Schluß.“ (18. Kapitel, Übers. M. Fuhrmann)
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Geschichte der Poetik
Die aristotelische Poetik: Handlung und Charakter
„1. Man darf nicht zeigen, wie makellose Männer einen Umschlag von Glück ins Unglück erleben;
dies ist nämlich weder schaudererregend noch jammervoll, sondern abscheulich.
2. Man darf auch nicht zeigen, wie Schufte einen Umschlag vom Unglück ins Glück erleben; dies
ist nämlich die untragischste aller Möglichkeiten, weil sie keine der erforderlichen Qualitäten hat:
sie ist weder menschenfreundlich noch jammervoll noch schaudererregend.
3. Andererseits darf man auch nicht zeigen, wie der ganz Schlechte einen Umschlag vom Glück
ins Unglück erlebt. Eine solche Zusammenstellung enthielte zwar Menschenfreundlichkeit, aber
weder Jammer noch Schaudern. Denn das eine stellt sich bei dem ein, der sein Unglück nicht
verdient, das andere bei dem, der dem Zuschauer ähnelt, der Jammer bei dem unverdient
Leidenden, der Schauder bei dem Ähnlichen. Daher ist dieses Geschehen weder jammervoll noch
schaudererregend.
So bleibt der Held übrig, der zwischen den genannten Möglichkeiten steht. Dies ist bei jemandem
der Fall, der nicht trotz seiner sittlichen Größe und seines hervorragenden Gerechtigkeitsstrebens,
aber auch nicht wegen seiner Schlechtigkeit und Gemeinheit einen Umschlag ins Unglück erlebt,
sondern wegen eines Fehlers (hamartía) – bei einem von denen, die großes Ansehen und Glück
genießen, wie Ödipus und Thyestes und andere hervorragende Männer aus derartigen
Geschlechtern.“ (13. Kapitel, Übers. M. Fuhrmann)
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Geschichte der Poetik
Die Ars poetica des Horaz: „studium“ und „ingenium“
„Weil Demokrit Genie (ingenium) für gesegneter als armselige Kunst (ars) hält und vom Helikon
die vernünftigen Dichter ausschließt, müht sich auch der bessere Teil, nicht die Nägel zu
schneiden, nicht den Bart, sucht einen abgeschiedenen Ort und meidet die Bäder. Erlangt man
doch den Preis und Ruf eines Dichters, wenn man sein Haupt, nicht heilbar durch drei Antikryas,
niemals Licinius, dem Friseur, überantwortet hat. O ich Dummkopf, der ich mir die Galle an
Frühlingstagen purgiere! Es würde kein anderer bessre Gedichte verfertigen – doch das ist die
Sache nicht wert! Also dien ich als Schleifstein, der das Eisen wieder zu schärfen vermag, doch
dem verwehrt ist, selber zu schneiden. Aufgabe und Pflicht – selbst nichts schreibend – werde ich
zeigen: wie man die Mittel bekommt, was den Dichter fördert und bildet, was passend ist, was
nicht, wohin Können führt, wohin Irrtum.“ (V. 295ff.)
„Ich kann nicht erkennen, was ein Bemühen (studium) ohne fündige Ader oder was eine
unausgebildete Begabung (ingenium) nützt; so fordert das eine die Hilfe des anderen und
verschwört sich mit ihm in Freundschaft“ (V. 409ff.)
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Geschichte der Poetik
Die Ars poetica des Horaz: Angemessenheitspostulate (I)
Die Forderung der inneren Stimmigkeit:
„Wollte zum Kopf eines Menschen ein Maler den Hals eines Pferdes fügen und Gliedmaßen, von
überallher zusammengelesen, mit buntem Gefieder bekleiden, so daß als Fisch von häßlicher
Schwärze endet das oben so reizende Weib: könntet ihr da wohl, sobald man euch zur
Besichtigung zuließ, euch das Lachen verbeißen, Freunde? Glaubt mir, Pisonen, solchem
Gemälde wäre ein Buch ganz ähnlich, in dem man Gebilde, so nichtig wie Träume von Kranken,
erdichtet, so daß nicht Fuß und nicht Kopf derselben Gestalt zugehören.“ (V. 1ff.)
„Vielleicht verstehst du es auch, eine Zypresse wiederzugeben: was soll das, wenn du für Geld
jemand darstellst, der aus einem Schiffbruch, beraubt aller Hoffnung, schwimmend entkommt?“
(V. 20ff.).
Die Angemessenheit von Sprache und Gegenstand:
„In welchem Versmaß man von den Taten der Herrscher und Feldherrn und von leidvollen
Kriegen schreiben kann [Hexameter], hat Homer und gezeigt. In ungleiche Verse, gepaart
[Distichen], wurde anfangs die Klage um Tote, dann die Erklärung gefaßt, daß ein Gebet sich
erfüllte. […] Den Archilochos bewaffnete seine Wildheit mit dem ihm eigenen Jambus. […] Den
Saiten gab die Muse auf, von Göttern und Göttersöhnen zu melden, vom Sieger im Faustkampf,
dem ersten Pferde im Rennen, von junger Leute Liebeskummer und vom befreienden Wein.“ (V.
73ff.)
„Wenn ich die festgelegten Unterschiede und den Stil einer Gattung nicht zu beachten vermag und
nicht kenne, was laß ich als Dichter mich grüßen? Warum will ich, auf schlechte Art mich
bescheidend, lieber unwissend sein als was lernen? Ein Komödienstoff mag nicht in
Tragödienversen dargestellt sein. Genauso empört sich das Gastmahl des Thyestes [ein
Tragödienstoff] dagegen, in privater und fast des Soccus [leichter, niedriger Schuh der
Schauspieler in der Komödie, Gegenstück zum tragischen Kothurn] würdiger Dichtung erzählt zu
werden. Jedes Einzelne behaupte den ihm gemäßen, ihm zugefallenen Platz. Bisweilen jedoch hebt
auch die Komödie den Ton an, und zornig schilt Chremes [Figur in den Komödien des Menander]
mit schäumendem Munde; andererseits klagt man in der Tragödie meist in erdnahen Worten –
Telephos und Peleus, beide verarmt und verbannt, werfen die hohldröhnenden Töpfe und sechs
Fuß langen Wörter beiseite –, wenn man bemüht ist, des Zuschauers Herz mit der Klage zu
rühren.“ (V. 86ff.)
Die Angemessenheit von Sprache und Sprecher:
„Steht die Sprache des Sprechers nicht in Einklang mit seinem Stande, wird sich unter römischen
Rittern und Fußvolk Gelächter erheben. Es macht einen großen Unterschied, ob ein Gott spricht
oder ein Heros, ein gereifter Mann oder ein Hitzkopf, noch in der Blüte der Jahre, ob eine
gebieterische Herrin oder ob eine fleißige Amme, ein Kaufmann, immer auf Reisen, oder ein
Mann, der sein grünendes Gütchen bestellt, ob Kolcher oder Assyrer, ob man in Theben erzogen
wurde oder in Argos.“ (V. 112ff.)
„Die Eigentümlichkeiten jeder Altersstufe mußt du kennen, mußt den sich wandelnden Naturen
und Jahren das, was sie auszeichnet, geben. […] daß nicht etwa die Rolle des Alten dem Jüngling,
18
dem Kind die Rolle des Mannes vertraut wird! Immer wird man bei dem, was zu jedem Alter
gehört und paßt, bleiben.“ (V. 156ff.)
19
Geschichte der Poetik
Die Ars poetica des Horaz: Angemessenheitspostulate (II)
Die Angemessenheit von Sprache, Mimik, Empfinden:
„Mit den Lachenden lacht, mit den Weinenden weint das Antlitz des Menschen. Willst du, daß ich
weine, so traure erst selbst einmal (si vis me flere, dolendum est / primum ipsi tibi); dann wird dein
Unglück mich treffen, Telephos und Peleus; entledigst du dich nur eines unpassenden Auftrags, so
schlafe ich ein oder muß lachen. Zu trauernder Miene gehören auch traurige Worte, zu zorniger
solche voll Drohens, zu schelmischer scherzende, zur strengen solche, die man im Ernst sagt.“ (V.
101ff.)
Die Angemessenheit an den Geschmack des Publikums:
„Etwas wird auf der Bühne entweder vollbracht oder wird als Vollbrachtes berichtet. Schwächer
erregt die Aufmerksamkeit, was seinen Weg durch das Ohr nimmt, als was vor die verläßlichen
Augen gebracht wird und der Zuschauer selbst sich vermittelt; doch wirst du nicht, was besser im
Innern sich abspielen sollte, auf die Bühne bringen, wirst vieles den Augen entziehen, was dann
die Beredsamkeit allen verkündet: damit ihre Kinder vor allem Volke Medea nicht schlachte noch
öffentlich menschliche Eingeweide der ruchlose Atreus koche […]; was du mir so zeigst, dem
kann ich nicht glauben, ich muß es verabscheuen.“ (V. 179ff.)
„Entweder nützen oder erfreuen wollen die Dichter (aut prodesse volunt aut delectare poetae) oder
zugleich, was erfreut und was nützlich fürs Leben ist sagen. […] Die Abstimmungsgruppe der
Senatoren verleumdet die Dichtungen ohne Nährwert, die vornehmen Ramnes lassen die herben
links liegen; jede Stimme erhielt, wer Süßes und Nützliches mischte, indem er den Leser ergötzte
und gleicherweise belehrte.“ (V. 333ff.)
20
Geschichte der Poetik
Die Ars poetica des Horaz: Der Dichter als Nachahmer
Dichtung als imitatio exemplarischen Lebens:
„Die richtige Einsicht ist Ursprung und Quelle, um richtig zu schreiben. Den Gehalt können dir die
sokratischen Schriften zeigen, die Worte werden dem vorgesehenen Gehalt nicht ungern folgen.
Wer gelernt hat, was man dem Vaterland schuldet, was seinen Freunden, wie man den Vater lieben
soll, wie Bruder und Gastfreund, was die Pflicht des Senators, was die des Richters ist, welches die
Rolle des Feldherrn, den man in den Krieg schickt – der versteht es bestimmt, einer jeden Person,
was ihr zukommt zu geben. Auf ein vorbildliches Leben und einen vorbildlichen Charakter heiße
ich den kundigen Nachahmer (imitator) blicken, von dorther lebendige Worte gewinnen.“ (V.
309ff.)
21
Geschichte der Poetik
Pseudo-Longinos, Über das Erhabene (Peri Hypsos) (I)
Das Erhabene als Erschütterung:
„Das Übergewaltige nämlich führt die Hörer nicht zur Überzeugung, sondern zur Ekstase; überall
wirkt, was uns erstaunt und erschüttert, jederzeit stärker als das Überredende und Gefällige, denn
ob wir uns überzeugen lassen, hängt meist von uns selber ab, jenes aber übt eine unwiderstehliche
Macht und Gewalt auf jeden Zuhörer aus und beherrscht ihn vollkommen.“ (1, 4)
Möglichkeit und Notwendigkeit einer Kunstlehre des Erhabenen:
„Wir müssen zu Beginn untersuchen, ob es so etwas gibt wie eine Kunstlehre des Erhabenen oder
des Pathos, da gewisse Leute es für einen völligen Irrweg halten, derartiges unter Regel und
Vorschrift zu bringen. Denn die große Naturanlage entspringt, so heißt es, der Natur und lässt sich
durch Lernen nicht erwerben; dafür gibt es nur eine Vorschrift: mit ihr geboren zu sein. Und die
Schöpfungen der Natur, glauben sie, würden nur schlechter und in allem armseliger, wenn man sie
nach Regeln der Kunst zum Skelett abmagert. Ich hingegen behaupte, es werde sich herausstellen,
daß es sich anders verhält; man muß nur in Betracht ziehen, daß die Natur im Leidenschaftlichen
und Gehobenen meist nach eigenem Gesetz, aber trotzdem nicht ziellos und ganz ohne Regeln zu
verfahren pflegt; und daß sie als der Ursprung, als Prinzip und Element des Werdens allem
zugrunde liegt, daß aber die Methode vermag, das rechte Maß und den jeweils günstigen
Augenblick festzulegen und überdies eine ganz sichere Schulung und Anwendung der Stilmittel zu
schaffen; und daß große Naturen mehr gefährdet sind, wenn man sie ohne Wissen schwankend und
schwerelos sich selber und ihrem blind verwegenen Drang überlässt, denn häufig bedürfen sie
zwar des Sporns, aber genauso auch des Zügels.“ (2, 1)
Erhabenheit und Figurengebrauch:
„Es [das Hyperbaton] besteht in einer von der natürlichen Reihenfolge abweichenden Anordnung
der Ausdrücke und Gedanken; in ihm prägt sich gleichsam die heftige Leidenschaft am besten aus.
Denn wie wirklich Menschen, die zürnen, die geängstigt sind oder empört oder erregt von
Eifersucht oder von etwas anderem (es gibt unendlich viele Affekte, und niemand könnte ihre Zahl
nennen), immer wieder von ihrem Weg abirren, sich das eine vornehmen und dann häufig zum
anderen überspringen, sinnlos mittendrin etwas einschieben, dann im Kreis zum Ausgang
zurückkehren und ganz besessen von ihrer Heftigkeit wie von einem Wirbelwind jetzt hier- und
gleich wieder dorthin gerissen werden und in dauerndem Wechsel tausendfach die Ausdrücke und
Gedanken in ihrer natürlichen Ordnung und Verbindung ändern, so ahmen die besten Schriftsteller
durch das Hyperbaton die Natur nach und erreichen die gleichen Wirkungen. Die Kunst nämlich
ist dann vollkommen, wenn sie die Natur zu sein scheint, die Natur wiederum erreicht ihr Ziel,
wenn sie unmerklich Kunst in sich birgt.“ (22, 1)
22
Geschichte der Poetik
Pseudo-Longinos, Über das Erhabene (Peri Hypsos) (II)
Die Ambivalenz der Kunstmittel:
„Der Boden, aus dem uns das Gute erwächst, pflegt auch die Brutstätte des Übels zu sein; für das
Gelingen der Rede sind stilistische Schönheiten, erhabene Wendungen und dazu reizvolle
Sprachformen wichtig, aber eben diese Elemente bilden nicht nur die Grundlage des Gelingens,
sondern auch des Gegenteils. Ganz ähnlich steht es mit den Variationen im Ausdruck, den
Übertreibungen und Formen im poetischen Plural. Wir werden später die Gefahr zeigen, die
offensichtlich in diesen Stilmitteln liegt.“ (5)
Die fünf Quellen des Erhabenen:
„Es gibt fünf Quellen, könnte man sagen, die für die erhabene Sprachkunst am fruchtbarsten sind,
wobei diese fünf Formen als ihre gleichsam gemeinsame Grundlage die Begabung, sich sprachlich
auszudrücken, voraussetzen, ohne die schlechthin nichts gelingt. Das erste nun und wichtigste ist
die Kraft zur gedanklichen Konzeption […]. Als zweites folgt das starke, begeisterte Pathos.
Diese beiden Quellen des Erhabenen beruhen zum größten Teil auf natürlicher Anlage. Die
übrigen können auch durch Kunst erlernt werden: die besondere Bildung der Figuren (es gibt zwei
Arten: Gedankenfiguren und Sprachfiguren), dann eine edle Ausdrucksweise, die wiederum die
Wahl der Worte, den Gebrauch der Tropen und das Ausfeilen der Wendungen umfasst. Die fünfte
Ursache des Großen, die zugleich alles vor ihr Liegende abschließt, ist die würdevoll-hohe
Satzfügung.“ (8, 1)
Die Dynamisierung des Erhabenen:
„Das Übergewaltige nämlich führt die Hörer nicht zur Überzeugung, sondern zur Ekstase; überall
wirkt, was uns erstaunt und erschüttert [→ movere], jederzeit stärker als das Überredende [→
probare] und Gefällige [→ delectare], denn ob wir uns überzeugen lassen, hängt meist von uns
selber ab, jenes aber übt eine unwiderstehliche Macht und Gewalt auf jeden Zuhörer aus und
beherrscht ihn vollkommen. Die Versiertheit im Finden rechter Gedanken [→ inventio] und die
Anordnung und Ökonomie des Stoffes [→ dispositio] beobachten wir nicht an ein oder zwei
Sätzen, sie ziehen sich durch das ganze Gewebe der Rede und zeigen sich nur bei mühsamem
Hinsehen. Das Erhabene aber, bricht es im rechten Moment hervor, zersprengt alle Dinge wie
ein Blitz und zeigt sogleich die gedrängte Gewalt des Redners.“ (1, 4)
23
Geschichte der Poetik
Pseudo-Longinos, Über das Erhabene (Peri Hypsos) (III)
Das Erhabene als Erhebung
„Denn von Natur wird unsere Seele vom wirklich Erhabenen emporgetragen, sie empfängt einen
freudigen Auftrieb und wird erfüllt von Lust und Stolz, als habe sie, was sie hörte, selber erzeugt.“
(7, 2)
Der Beitrag der Satzfügung zur Hervorbringung des Erhabenen:
„Nichts kann so sehr der Rede Größe verleihen wie die Komposition ihrer Glieder – wie beim
Körper: getrennt von den anderen ist jedes Glied wertlos, alle miteinander bilden jedoch eine
vollkommene organische Einheit. Genauso verhält es sich mit den großen, gelungenen
Wendungen; werden sie auseinander und hierhin und dorthin gerissen, so zerstreuen und
vernichten sie zugleich das Erhabene; vereinigen sie sich aber zu einem lebendigen Körper und
umfängt sie dann noch ein Band des Zusammenklanges, so ist die Rede in sich abgerundet und
gewinnt ihren vollen Klang. In den Satzperioden entsteht, könnte man sagen, die Größe aus den
,Festtributen‘ vieler.“ (40, 1)
24
Geschichte der Poetik
Das Erhabene der Natur bei Longin und Kant
Longin, Peri Hypsos:
„Von der Natur irgendwie geleitet, bewundern wir darum nicht die kleinen Bäche, […] wenn sie
auch durchsichtig und nützlich sind, sondern den Nil und die Donau oder den Rhein und noch viel
mehr den Ozean. Und auch über den Flämmchen hier, das wir selbst anzünden, staunen wir, auch
wenn es sein Leuchten rein bewahrt, nicht so sehr wie über jene Feuer des Himmels, die doch
häufig ins Dunkel tauchen; auch die Krater des Ätna halten wir für ein größeres Wunder – große
Steine und ganze Felsbrocken schleudert er bei seinen Ausbrüchen aus den Tiefen hervor, und
manchmal lässt er Ströme jenes erdentstammten, willkürlichen Feuers entspringen.“ (35, 4)
Kant, Kritik der Urteilskraft („Analytik des Erhabenen“):
„Kühne überhangende gleichsam drohende Felsen, am Himmel sich auftürmende Donnerwolken,
mit Blitzen und Krachen einherziehend, Vulkane in ihrer ganzen zerstörenden Gewalt, Orkane mit
ihrer zurückgelassenen Verwüstung, der grenzenlose Ozean, in Empörung gesetzt, ein hoher
Wasserfall eines mächtigen Flusses u.d.gl. machen unser Vermögen zu widerstehen zu einer
unbedeutenden Kleinigkeit. Aber ihr Anblick wird nur um desto anziehender, je furchtbarer er ist,
wenn wir uns nur in Sicherheit befinden; und wir nennen diese Gegenstände gern erhaben, weil sie
die Seelenstärke über ihr gewöhnliches Mittelmaß erhöhen, und ein Vermögen zu widerstehen von
ganz anderer Art in uns entdecken lassen, welches uns Mut macht, uns mit der scheinbaren
Allgewalt der Natur messen zu können.“ (B 105)
25
Geschichte der Poetik
Das Schöne und das Erhabene in der neuzeitlichen Ästhetik
Die Differenz des Schönen und Erhabenen bei Kant:
„Das Schöne der Natur betrifft die Form des Gegenstandes, die in der Begrenzung besteht; das
Erhabene ist dagegen auch an einem formlosen Gegenstande zu finden, sofern Unbegrenztheit an
ihm, oder durch dessen Veranlassung, vorgestellt und doch Totalität derselben hinzugedacht wird:
so daß das Schöne für die Darstellung eines unbestimmten Verstandesbegriffes, das Erhabene aber
eines dergleichen Vernunftbegriffs genommen zu werden scheint.“ (Kritik der Urteilskraft, B 75)
Die Wirkungen des Schönen und des Erhabenen bei Kant:
„Auch ist das letztere der Art nach von dem ersteren Wohlgefallen gar sehr unterschieden: indem
dieses (das Schöne) directe ein Gefühl der Beförderung des Lebens bei sich führt, und daher
mit Reizen und einer spielenden Einbildungskraft vereinbar ist; jenes aber (das Gefühl des
Erhabenen) eine Lust ist, welche nur indirecte entspringt, nämlich so, daß sie durch das Gefühl
einer augenblicklichen Hemmung der Lebenskräfte und darauf sogleich folgenden desto
stärkeren Ergießung derselben erzeugt wird, mithin als Rührung kein Spiel, sondern Ernst in der
Beschäftigung der Einbildungskraft zu sein scheint. Daher es auch mit Reizen unvereinbar ist; und,
indem das Gemüt von dem Gegenstande nicht bloß angezogen, sondern wechselweise auch immer
wieder abgestoßen wird, das Wohlgefallen am Erhabenen nicht sowohl positive Lust als vielmehr
Bewunderung oder Achtung enthält, d.i. negative Lust genannt zu werden verdient.“ (Kritik der
Urteilskraft, B 75f.)
Die Wirkung des Erhabenen bei Burke:
„Dieses Gehobensein ist niemals besser wahrzunehmen und wirkt niemals mit mehr Stärke, als
wenn wir ohne eigene Gefahr mit schreckenerregenden Objekten in Verbindung stehen; das
Gemüt nimmt dann allemal einen Teil der Würde und der Wichtigkeit der Dinge, die es betrachtet,
für sich selbst in Anspruch. Daher kommen das Frohlocken und das Gefühl innerer Größe, das,
wie Longinos bemerkt, den Leser von Dichtern oder Rednern immer bei erhabenen Stellen erfüllt;
ein Gefühl, das jeder bei solchen Gelegenheiten in sich selbst gespürt haben muß.“ (A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and the Beautiful, I, 17)
„Wenn Gefahr oder Schmerz zu nahe auf uns eindringen, so sind sie unfähig, uns irgendein
Frohsein zu verschaffen; sie sind dann schlechthin schrecklich. Aber aus einer gewissen
Entfernung und unter gewissen Modifikationen können sie froh machen – und tun es wirklich, wie
wir alle Tage erfahren.“ (Enquiry, I, 7)
„Schrecken ist eine Leidenschaft, die immer dann Frohsein hervorruft, wenn sie uns nicht zu sehr
bedrängt […]. Kein Schauspiel suchen wir so begierig auf wie das Schauspiel irgendeines
ungewöhnlichen und sehr bedauerlichen Unglücks; so daß uns ein Unglücksfall immer froh macht,
mag er sich nun vor unseren Augen abspielen oder mag unser Blick nur durch eine Erzählung auf
ihn gelenkt werden.“ (I, 14)
26
Geschichte der Poetik
Attribute des Schönen und des Erhabenen bei Burke
SCHÖN
ERHABEN
klein
riesig (Schein von Unendlichkeit)
glatt, zart, weich
rauh, ungehobelt, hart
allmähliche Übergänge
abrupte Übergänge
Kontinuität
Sprünge
sanfte Kurven
schroffe Winkel
plötzliche Anfänge und Abbrüche
Ganzheit
Fragmentarität
maßvoll
Maßlosigkeit, Überfluss
extremes Licht, extreme Finsternis
lichte Farben
düstere Farben
Leere, Finsternis, Schweigen
Geselligkeit
Einsamkeit
Klarheit
Verworrenheit
Schwäche
Stärke, Macht
27
Geschichte der Poetik
Die physiologistische Erklärung des Erhabenen bei Burke
„Ich fürchte, es ist bei Untersuchungen dieser Art ein allzu verbreitetes Verfahren, die Ursache
von Gefühlen, die lediglich in der mechanischen Struktur unsers Körpers oder in dem natürlichen
Gefüge und der Konstitution unseres Gemütes wurzeln, in gewissen Schlüssen unserer Vernunft
über die Objekte zu suchen, die uns gegeben sind; denn ich möchte annehmen, daß der Einfluß,
den unsere Vernunft an der Hervorbringung unserer Leidenschaften hat, auch nicht annähernd so
weit reicht, wie man gewöhnlich glaubt.“ (I, 13)
„Wie gewöhnliche Arbeit, die eine Art von Schmerz ist, die Übung der gröberen, so ist eine Art
von Schrecken die Übung der feineren Teile unseres Systems. […] Wenn in allen diesen Fällen
Schmerz und Schrecken so gemäßigt sind, daß sie nicht unmittelbar schaden; wenn der Schmerz
keine eigentliche Heftigkeit erreicht und der Schrecken nicht den unmittelbaren Untergang der
Person vor Augen hat, – so sind diese Regungen, da sie gewisse Teile unseres Körpers – feine oder
grobe – von gefährlichen und beschwerlichen Störungen (incumbrances) reinigen, fähig, Frohsein
hervorzubringen: nicht Vergnügen, aber eine Art von frohem Schrecken, eine Art Ruhe mit einem
Beigeschmack von Schrecken.“
28
Geschichte der Poetik
Die idealistische Erklärung des Erhabenen bei Kant
„So gibt auch die Unwiderstehlichkeit ihrer [der Natur] Macht uns, als Naturwesen betrachtet,
zwar unsere physische Ohnmacht zu erkennen, aber entdeckt zugleich ein Vermögen, uns als von
ihr unabhängig zu beurteilen, und eine Überlegenheit über die Natur, worauf sich eine
Selbsterhaltung von ganz andrer Art gründet, als diejenige ist, die von der Natur außer uns
angefochten und in Gefahr gebracht werden kann, wobei die Menschheit in unserer Person
unerniedrigt bleibt, obgleich der Mensch jener Gewalt unterliegen müßte. Auf solche Weise wird
die Natur in unserm ästhetischen Urteile nicht, sofern sie furchterregend ist, als erhaben beurteilt,
sondern weil sie unsere Kraft (die nicht Natur ist) in uns aufruft, um das, wofür wir besorgt sind
(Güter, Gesundheit und Leben), als klein, und daher ihre Macht (der wir in Ansehung dieser
Stücke allerdings unterworfen sind) für uns und unsere Persönlichkeit demungeachtet doch für
keine solche Gewalt ansehen, unter die wir uns zu beugen hätten, wenn es auf unsre höchste
Grundsätze und deren Behauptung oder Veranlassung ankäme. Also heißt Natur hier erhaben, bloß
weil sie die Einbildungskraft zur Darstellung derjenigen Fälle erhebt, in welchen das Gemüt die
eigene Erhabenheit seiner Bestimmung, selbst über die Natur, sich fühlbar machen kann.“
„Man siehet hieraus auch, daß die wahre Erhabenheit nur im Gemüt des Urteilenden, nicht in dem
Naturobjekte, dessen Beurteilung diese Stimmung desselben veranlaßt, müsse gesucht werden.
Wer wollte auch ungestalte Gebirgsmassen, in wilder Unordnung über einander getürmt, mit ihren
Eispyramiden, oder die düstere tobende See, u.s.w. erhaben nennen? Aber das Gemüt fühlt sich in
seiner eigenen Beurteilung gehoben, wenn, indem es sich in der Betrachtung derselben, ohne
Rücksicht auf ihre Form, der Einbildungskraft, und einer, obschon ganz ohne bestimmten Zweck
damit in Verbindung gesetzten, jene bloß erweiternden Vernunft, überläßt, die ganze Macht der
Einbildungskraft dennoch ihren Ideen unangemessen findet.“
„Also ist das Gefühl des Erhabenen in der Natur Achtung für unsere eigene Bestimmung, die wir
einem Objekte der Natur durch eine gewisse Subreption (Verwechselung einer Achtung für das
Objekt statt der für die Idee der Menschheit in unserem Subjekte) beweisen, welches uns die
Überlegenheit der Vernunftbestimmung unserer Erkenntnisvermögen über das Größte Vermögen
der Sinnlichkeit gleichsam anschaulich macht.“
29
Geschichte der Poetik
Boileau, L’Art poétique (1674) (I)
Die programmatische Nachfolge des Horaz:
„vous offrir ces leçons que ma Muse au Parnasse
Rapporta jeune encor du commerce d’Horace“ (IV, 227f.)
Spuren des aristotelischen Gedankens der Nachahmung der Natur:
„Il n’est point de Serpent, ni de Monstre odieux,
Qui par l’art imité ne puisse plaire aux yeux“ (III, 1f.)
„Que la Nature donc soit vostre étude unique,
Auteurs, qui prétendez aux honneurs du Comique.“ (III, 359f.)
Die Nachahmung literarischer Vorbilder:
„Tout reconnut ses loix, et ce guide fidele [Malherbe]
Aux Auteurs de ce temps sert encor de modele.“ (I, 139f.)
„Entre ces deux excés la route est difficile.
Suivez, pour la trouver, Theocrite et Virgile.
[…]
Seuls dans leurs doctes vers ils pourront vous apprendre
Par quel art sans bassesse un Auteur peut descendre.“ (II, 25ff.)
Der Primat von Vernunft („raison“) und gesundem Verstand („bon sens“):
„Quelque sujet qu’on traite, ou plaisant, ou sublime,
Que toujours le Bon sens s’accorde avec la Rime.
L’un l’autre vainement ils semblent se haïr,
La Rime est une esclave, et ne doit qu’obeïr.
[…]
Au joug de la Raison sans peine elle fléchit,
Et loin de la gesner, la sert et l’enrichit.
Mais lors qu’on la neglige, elle devient rebelle,
Et pour la ratraper, le sens court aprés elle.
Aimez donc la Raison. Que toûjours vos écrits
Empruntent d’elle seule et leur lustre et leur prix.“ (I, 27ff.)
„Avant donc que d’écrire, apprenez à penser,
Selon que nostre idée est plus ou moins obscure,
L’expression la suit ou moins nette, ou plus pure.
Ce que l’on conçoit bien s’énonce clairement,
et les mots pour le dire arrivent aisément.“ (I, 150ff.)
30
Geschichte der Poetik
Boileau, L’Art poétique (1674) (II)
Stimmigkeitspostulate:
„Il faut que chaque chose y soit mise en son lieu;
Que le début, la fin, répondent au milieu;
Que d’un art délicat les pieces assorties
N’y forment qu’un seul tout de diverses parties.“ (I, 177ff.)
„D’un nouveau Personnage inventez-vous l’idée?
Qu’en tout avec soi mesme il se montre d’accord,
Et qu’il soit jusqu’au bout tel qu’on l’a vû d’abord.“ (III, 124ff.)
Die Voraussetzung höherer Begabung:
„C’est envain qu’au Parnasse un temeraire Auteur
Pense de l’Art des Vers atteindre la hauteur.
S’il ne sent point du Ciel l’influence secrete,
Si son astre en naissant ne l’a formé Poëte,
Dans son génie étroit il est toûjours captif.
Pour luy Phébus est sourd, et Pégase est retif.“ (I, 1ff.)
Wirkungsästhetische Forderungen:
„Vos froids raisonnements ne feront qu’attiedir,
Un Spectateur toûjours paresseux d’applaudir,
[…]
Le secret est d’abord de plaire et de toucher:
Inventez des ressorts qui puissent m’attacher.“ (III, 25f.)
„Que dans tous vos discours la passion émuë
Aille chercher le cœur, l’échauffe, et le remuë.
Si d’un beau mouvement l’agréable fureur
Souvent ne nous remplit d’une douce Terreur,
Ou n’exicite en nostre ame une Pitié charmante,
Envain vous étalez une scene sçavante.“ (III, 15ff.)
„Qu’en sçavantes leçons vostre Muse fertile
Partout joigne au plaisant le solide et l’utile.
Un Lecteur sage fuit un vain amusement,
Et veut mettre à profit son divertissement.“ (IV, 87ff.)
31
Geschichte der Poetik
Boileau, L’Art poétique (1674) (III)
Die Lizenz zum Regelverstoß:
„L’Ode avec plus d’éclat et non moins d’énergie
Elevant jusqu’au Ciel son vol ambitieux,
Entretient dans ses vers commerce avec les Dieux.
[…]
Son stile impetueux souvent marche au hazard.
Chez elle un beau desordre est un effet de l’art.“ (II, 58ff.)
„Faites choix d’un Censeur solide et salutaire,
Que la raison conduise, et le sçavoir éclaire,
Et dont le crayon seur d’abord aille chercher
L’endroit que l’on sent foible, et qu’on se veut cacher.
[…]
C’est luy qui vous dira par quel transport heureux,
Quelquefois dans sa course un esprit vigoureux
Trop resserré par l’art, sort des regles prescrites,
Et de l’art mesme apprend à franchir leurs limites.“ (IV, 71ff.)
32
Geschichte der Poetik (II)
Vorlesungen vom 16. 4. und 23. 4. 2008: Namen, Buchtitel, Zitate etc.
Aristoteles, Poetik (Peri poietikés, ca. 335 v. Chr.)
Horaz, Brief an die Pisonen, ca. 23-28 v. Chr.
Pseudo-Longin, Über das Erhabene (Peri hypsos, vermutl. 1. Jh. n. Chr.)
Gelasius (5. Jh.)
J. C. Scaliger, Poetices libri septem (1561)
Philip Sidney, Defence of Poesy (1595)
Boileau, Art poétique (1674)
Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst (1730)
Batteux, Les beaux arts réduits à un même principe (1746)
Giorgio Vasari, Vite de’ più eccellenti architetti, pittori et scultori italiani da Cimabue insino a’tempi
nostri (1550)
Charles Perrault, Le Siècle de Louis le Grand (1687)
Charles Perrault, Parallèle des Anciens et des Modernes en ce qui regarde les Arts et les Sciences
(1788-1797):
„Il n’y a point d’Art ny de Science où non seulement ceux qui en ont une connoissance parfaite,
mais ceux qui n’en ont qu’une legere teinture ne puissent demontrer qu’ils ont receu, depuis le
temps des Anciens, une infinité d’accroissemens considerables.“
Parteigänger der Alten: Boileau, Racine, La Bruyère, La Fontaine
Parteigänger der Modernen: Fontenelle, Mme Deshoulières, Houdar de la Motte, Saint-Évremont
Johann Gottfried Herder (1744-1803)
Leopold von Ranke (1795-1886)
Charles Baudelaire, Le peintre de la vie moderne (1859), Abschnitt IV („La modernité“):
„Le beau est fait d’un élément éternel, invariable, dont la quantité est excessivement difficile à
déterminer, et d’un élément relatif, circonstanciel, qui sera […] l’époque, la mode, la morale, la
passion.“ „La modernité, c’est le transitoire, le fugitif, le contingent, la moitié de l’art, dont
l’autre moitié est l’éternel et l’immuable.“
„Il s’agit […] de dégager de la mode ce qu’elle peut contenir de poétique dans l’historique, de
tirer l’éternel du transitoire.“ „[…] pour que toute modernité soit digne de devenir antiquité, il
faut que la beauté mystérieuse […] en ait été extraite.“
33
Geschichte der Poetik (II)
Vorlesung vom 30. 4. 2008: Namen, Buchtitel, Zitate etc.
Giorgio Vasari, Vite de’ più eccellenti architetti, pittori et scultori italiani da Cimabue insino a’tempi
nostri (1550)
Charles Perrault, Le Siècle de Louis le Grand (1687)
Charles Perrault, Parallèle des Anciens et des Modernes en ce qui regarde les Arts et les Sciences
(1788-1797):
„Il n’y a point d’Art ny de Science où non seulement ceux qui en ont une connoissance parfaite,
mais ceux qui n’en ont qu’une legere teinture ne puissent demontrer qu’ils ont receu, depuis le
temps des Anciens, une infinité d’accroissemens considerables.“
„Es gibt keine Künste noch Wissenschaften, in denen nicht nur die, die davon eine vollkommene
Kenntnis besitzen, sondern auch die, die davon nur oberflächlich unterrichtet sind, zeigen können,
dass sie seit den Zeiten der Alten eine unendliche Fülle beträchtlicher Zuwächse erfahren haben.“
Parteigänger der Alten: Boileau, Racine, La Bruyère, La Fontaine
Parteigänger der Modernen: Fontenelle, Mme Deshoulières, Houdar de la Motte, Saint-Évremont
Johann Gottfried Herder (1744-1803)
Leopold von Ranke (1795-1886)
Charles Baudelaire, Le peintre de la vie moderne (1859), Abschnitte I („Le beau, la mode et le bonheur“) und IV („La modernité“):
„Le beau est fait d’un élément éternel, invariable, dont la quantité est excessivement difficile à
déterminer, et d’un élément relatif, circonstanciel, qui sera […] l’époque, la mode, la morale, la
passion.“ (I) „La modernité, c’est le transitoire, le fugitif, le contingent, la moitié de l’art, dont
l’autre moitié est l’éternel et l’immuable.“ (IV)
„Das Schöne besteht aus einem ewigen, unveränderlichen Element, dessen Anteil äußerst
schwierig zu bestimmen ist, und einem relativen, von den Umständen abhängigen Element, das
[…] die Epoche, die Mode, die Moral, die Leidenschaft sein wird.“ (I) „Die Modernität ist das
Vergängliche, das Flüchtige, das Zufällige, die eine Hälfte der Kunst, deren andere Hälfte das
Ewige und Unwandelbare ist.“ (IV)
„Il s’agit […] de dégager de la mode ce qu’elle peut contenir de poétique dans l’historique, de
tirer l’éternel du transitoire.“ „[…] pour que toute modernité soit digne de devenir antiquité, il
faut que la beauté mystérieuse […] en ait été extraite.“ (IV)
„Es handelt sich darum […] aus der Mode das, was sie an Poetischem im Historischen enthalten
mag, herauszulösen, das Ewige aus dem Vorübergehenden herauszuziehen.“ „[…] damit jede
Modernität einmal Antike zu werden verdient, muss die geheimnisvolle Schönheit, die das
menschliche Leben ihr unwillkürlich verleiht, herausgefiltert worden sein.“ (IV)
34
Geschichte der Poetik (II)
Vorlesung vom 7. Mai 2008
Charles Baudelaire, Le peintre de la vie moderne (1859), Abschnitte I („Le beau, la mode et le
bonheur“) und IV („La modernité“):
„Le beau est fait d’un élément éternel, invariable, dont la quantité est excessivement difficile à
déterminer, et d’un élément relatif, circonstanciel, qui sera […] l’époque, la mode, la morale, la
passion. Sans ce second élément, qui est comme l’enveloppe amusante, titillante, apéritive, du divin gâteau, le premier élément serait indigestible, inappréciable, non adapté et non approprié à la
nature humaine.“ (I)
„[…] pour que toute modernité soit digne de devenir antiquité, il faut que la beauté mystérieuse
[…] en ait été extraite.“ (IV)
Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft (1790):
„Es gibt weder eine Wissenschaft des Schönen, sondern nur Kritik, noch schöne Wissenschaft,
sondern nur schöne Kunst.“
35
Geschichte der Poetik (II)
Vorlesung vom 7. Mai 2008
Friedrich Schlegel, Fragmente im Lyceum (1797) und Athenäum (1797/98):
„Streng genommen ist der Begriff eines wissenschaftlichen Gedichts wohl so widersinnig, wie
der einer dichterischen Wissenschaft.“ (Lyc. 61)
„Wie die Menschen lieber groß handeln mögen, als gerecht: so wollen auch die Künstler veredeln
und belehren.“ (Lyc. 58)
„Eine Philosophie der Poesie überhaupt aber würde mit der Selbständigkeit des Schönen
beginnen, mit dem Satz, daß es vom Wahren und Sittlichen getrennt sei und getrennt sein solle,
und daß es mit diesem gleiche Rechte habe […].“ (Ath. 252)
„Die romantische Poesie […] allein ist unendlich, wie sie allein frei ist und das als ihr oberstes
Gesetz anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide.“ (Ath. 116)
„Die Poesie ist eine republikanische Rede; eine Rede, die ihr eignes Gesetz und ihr eigner
Zweck ist, wo alle Teile freie Bürger sind, und mitstimmen dürfen.“ (Lyc. 65)
„Poesie kann nur durch Poesie kritisiert werden. Ein Kunsturteil, welches nicht selbst ein
Kunstwerk ist, entweder im Stoff, als Darstellung des notwendigen Eindrucks in seinem Werden,
oder durch eine schöne Form, und einen im Geist der alten römischen Satire liberalen Ton, hat gar
kein Bürgerrecht im Reiche der Kunst.“ (Lyc. 117)
Friedrich Schlegel, Gespräch über die Poesie (1800):
„[…] so läßt sich auch eigentlich nicht reden von der Poesie als nur in Poesie. / Die Ansicht eines
jeden von ihr [der Poesie] ist wahr und gut, insofern sie selbst Poesie ist. Da nun aber seine Poesie,
eben weil es die seine ist, beschränkt sein muß, so kann auch seine Ansicht der Poesie nicht
anders als beschränkt sein. […] Darum geht der Mensch, sicher sich selbst immer wieder zu
finden, immer von neuem aus sich heraus, um die Ergänzung seines innersten Wesens in der Tiefe
eines fremden zu suchen und zu finden. Das Spiel der Mitteilung und der Annäherung ist das
Geschäft und die Kraft des Lebens, absolute Vollkommenheit ist nur im Tode.“
Friedrich Schlegel, Fragmente im Lyceum (1797) und Athenäum (1797/98):
„Um über einen Gegenstand gut schreiben zu können, muß man sich nicht mehr für ihn
interessieren; der Gedanke, den man mit Besonnenheit ausdrücken soll, muß schon gänzlich
vorbei sein, einen nicht mehr eigentlich beschäftigen. Solange der Künstler erfindet und begeistert
ist, befindet er sich für die Mitteilung wenigsten in einem illiberalen Zustande. Er wird dann alles
sagen wollen; welches eine falsche Tendenz junger Genies, oder ein richtiges Vorurteil alter
Stümper ist. Dadurch verkennt er den Wert und die Würde der Selbstbeschränkung, die doch
für den Künstler wie für den Menschen das Erste und das Letzte, das Notwendigste und das
Höchste. […] Ein Schriftsteller […], der sich rein ausreden will und kann, der nicht für sich
behält und alles sagen mag, was er weiß, ist sehr zu beklagen.“ (Lyc. 37)
„Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben, und keins zu haben. Er wird sich also
wohl entschließen müssen, beides zu verbinden.“ (Ath. 53)
36
Geschichte der Poetik (II)
Vorlesung vom 14. Mai 2008: Die Poetik Friedrich Schlegels (I)
Die Idee der Kunstautonomie:
„Eine Philosophie der Poesie überhaupt aber würde mit der Selbständigkeit des Schönen
beginnen, mit dem Satz, daß es vom Wahren und Sittlichen getrennt sei und getrennt sein solle,
und daß es mit diesem gleiche Rechte habe“ (Ath. 252).
„Die romantische Poesie […] allein ist unendlich, wie sie allein frei ist und das als ihr oberstes
Gesetz anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide.“ (Ath. 116)
Gespräch und Fragment als (poetische) Formen poetologischer Reflexion:
„Poesie kann nur durch Poesie kritisiert werden. Ein Kunsturteil, welches nicht selbst ein
Kunstwerk ist, entweder im Stoff, als Darstellung des notwendigen Eindrucks in seinem Werden,
oder durch eine schöne Form, und einen im Geist der alten römischen Satire liberalen Ton, hat gar
kein Bürgerrecht im Reiche der Kunst.“ (Lyc. 117)
„[…] so läßt sich auch eigentlich nicht reden von der Poesie als nur in Poesie. / Die Ansicht
eines jeden von ihr [der Poesie] ist wahr und gut, insofern sie selbst Poesie ist. Da nun aber seine
Poesie, eben weil es die seine ist, beschränkt sein muß, so kann auch seine Ansicht der Poesie
nicht anders als beschränkt sein. […] Darum geht der Mensch, sicher sich selbst immer wieder
zu finden, [im Gespräch, W.E.] immer von neuem aus sich heraus, um die Ergänzung seines
innersten Wesens in der Tiefe eines fremden zu suchen und zu finden. Das Spiel der Mitteilung
und der Annäherung ist das Geschäft und die Kraft des Lebens, absolute Vollkommenheit ist nur
im Tode.“ (Gespräch über die Poesie, Rasch, 474)
Zur Idee von Gesprächen über die Charaktere im Wilhelm Meister: „Gespräche müßten es sein,
um schon durch die Form alle Einseitigkeit zu verbannen. Denn wenn ein Einzelner nur aus
dem Standpunkt seiner Eigentümlichkeit über jede dieser Personen räsonierte und ein moralisches
Gutachten fällte, das wäre wohl die unfruchtbarste unter allen möglichen Arten, den Wilhelm
Meister anzusehn; und man würde am Ende nicht mehr daraus lernen, als daß der Redner über
diese Gegenstände so, wie es nun lautete, gesinnt sei.“ (Über Goethes Meister, Rasch, 469)
„Ein Dialog ist eine Kette oder ein Kranz von Fragmenten“ (Ath. 77).
Zur Rechtfertigung des Fragments: „Um über einen Gegenstand gut schreiben zu können, muß
man sich nicht mehr für ihn interessieren; der Gedanke, den man mit Besonnenheit ausdrücken
soll, muß schon gänzlich vorbei sein, einen nicht mehr eigentlich beschäftigen. Solange der
Künstler erfindet und begeistert ist, befindet er sich für die Mitteilung wenigsten in einem
illiberalen Zustande. Er wird dann alles sagen wollen; welches eine falsche Tendenz junger
Genies, oder ein richtiges Vorurteil alter Stümper ist. Dadurch verkennt er den Wert und die
Würde der Selbstbeschränkung, die doch für den Künstler wie für den Menschen das Erste und
das Letzte, das Notwendigste und das Höchste. […] Ein Schriftsteller […], der sich rein
ausreden will und kann, der nicht für sich behält und alles sagen mag, was er weiß, ist sehr
zu beklagen.“ (Lyc. 37)
„Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben, und keins zu haben. Er wird sich also
wohl entschließen müssen, beides zu verbinden.“ (Ath. 53)
37
Geschichte der Poetik (II)
Vorlesung vom 14. Mai 2008: Die Poetik Friedrich Schlegels (II)
Die Idee der Transzendentalpoesie:
„Es gibt eine Poesie, deren Eins und Alles das Verhältnis des Idealen und des Realen ist, und die
also nach der Analogie der philosophischen Kunstsprache Transzendentalpoesie heißen müsste.
Sie beginnt als Satire mit der absoluten Verschiedenheit des Idealen und Realen, schwebt als
Elegie in der Mitte und endigt als Idylle mit der absoluten Identität beider. So wie man aber wenig
Wert auf eine Transzendentalphilosophie legen würde, die nicht kritisch wäre, nicht auch das
Produzierende mit dem Produkt darstellte, und im System der transzendentalen Gedanken
zugleich eine Charakteristik des transzendentalen Denkens enthielte: so sollte wohl auch jene
Poesie, die in modernen Dichtern nicht seltnen transzendentalen Materialien und Vorübungen zu
einer poetischen Theorie des Dichtungsvermögens mit der künstlerischen Reflexion und schönen
Selbstbespiegelung, die sich im Pindar, den lyrischen Fragmenten der Griechen und der alten
Elegie, unter den Neuern aber in Goethe findet, vereinigen, und in jeder ihrer Darstellungen sich
selbst mit darstellen, und überall zugleich Poesie und Poesie der Poesie sein.“ (Ath. 238)
„Nur sie [die romantische Poesie] kann gleich dem Epos ein Spiegel der ganzen umgebenden
Welt, ein Bild des Zeitalters werden. Und doch kann auch sie am meisten zwischen dem
Dargestellten und dem Darstellenden, frei von allem realen und idealen Interesse, auf den
Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder
potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen.“ (Ath. 116)
Der Begriff der Ironie:
„Die Philosophie ist die eigentliche Heimat der Ironie, welche man logische Schönheit definieren
möchte: denn überall, wo in mündlichen oder geschriebenen Gesprächen, und nur nicht ganz
systematisch philosophiert wird, soll man Ironie leisten und fordern; und sogar die Stoiker
hielten die Urbanität für eine Tugend. Freilich gibt’s auch eine rhetorische Ironie, welche
sparsam gebraucht, vortreffliche Wirkungen tut, besonders im Polemischen; doch ist sie gegen die
erhabene Urbanität der Sokratischen Muse, was die Pracht der glänzendsten Kunstrede gegen
eine alte Tragödie in hohem Stil. Die Poesie allein kann sich auch von dieser Seite bis zur Höhe
der Philosophie erheben und ist nicht auf ironische Stellen begründet, wie die Rhetorik. Es gibt
alte und moderne Gedichte, die durchgängig im ganzen und überall den göttlichen Hauch der
Ironie atmen. Es lebt in ihnen eine wirklich transzendentale Buffonerie. Im Innern die Stimmung,
welche alles übersieht, und sich über alles Bedingte unendlich erhebt, auch über eigne Kunst,
Tugend oder Genialität: im Äußern, in der Ausführung die mimische Manier eines gewöhnlichen
guten italienischen Buffo.“ (Lyc. 42)
„Die Sokratische Ironie ist die einzige durchaus unwillkürliche, und doch besonnene Verstellung.
Es ist gleich unmöglich sie zu erkünsteln, und sie zu verraten. […] In ihr soll alles Scherz und
Ernst sein, alles treuherzig offen, und alles tief verstellt. […] Sie enthält und erregt ein Gefühl
von dem unauflöslichen Widerstreit des Unbedingten und des Bedingten, der Unmöglichkeit
und Notwendigkeit einer vollständigen Mitteilung. Sie ist die freieste aller Lizenzen, denn
durch sie setzt man sich über sich selbst weg; und doch auch die gesetzlichste, denn sie ist
unbedingt notwendig. Es ist ein sehr gutes Zeichen, wenn die harmonisch Platten gar nicht
wissen, wie sie diese stete Selbstparodie zu nehmen haben, immer wieder von neuem glauben
und mißglauben, bis sie schwindlicht werden, den Scherz grade für Ernst, und den Ernst für Scherz
halten.“ (Lyc. 108)
38
Geschichte der Poetik (II)
Totalisierende Konzepte von Poesie in der Romantik
Friedrich Schlegel, Die Idee der Universalpoesie:
„Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß,
alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen und die Poesie mit der Philosophie und
Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik,
Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig
und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen […]. Sie umfasst alles, was nur poetisch
ist, vom größten wieder mehrere Systeme in sich enthaltenden Systeme der Kunst bis zu dem
Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosem Gesang.“ (Ath. 116)
Novalis:
„Die Poësie mit lebendigen Kräften, mit Menschen, und sonst gefällt mir immer mehr. Man muß
eine poëtische Welt um sich her bilden und in der Poësie leben.“ (an Karoline Schlegel, 20.
Januar 1799)
„Die Welt muß romantisirt werden. […] Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem
Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem
Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisire ich es“ (Vorarbeiten 1798)
Friedrich Schlegel, Die Idee der neuen Mythologie:
„Es fehlt, behaupte ich, unsrer Poesie an einem Mittelpunkt, wie es die Mythologie für die der
Alten war, und alles Wesentliche, worin die moderne Dichtkunst der antiken nachsteht, lässt sich
in die Worte zusammenfassen: Wir haben keine Mythologie. Aber, setze ich hinzu, wir sind nahe
daran, eine zu erhalten, oder vielmehr es wird Zeit, daß wir ernsthaft dazu mitwirken sollen, eine
hervorzubringen. / Denn ganz auf dem entgegengesetzten Wege wird sie uns kommen wie die alte
ehemalige, überall die erste Blüte der jugendlichen Phantasie, sich unmittelbar anschließend und
anbildend an das Nächste, Lebendigste der sinnlichen Welt. Die neue Mythologie muß im
Gegenteil aus der tiefsten Tiefe des Geistes herausgebildet werden; es muß das künstlichste aller
Kunstwerke sein, denn es soll alle anderen umfassen, ein neues Bette und Gefäß für den alten
ewigen Urquell der Poesie und selbst das unendliche Gedicht, welches die Keime aller andren
Gedicht verhüllt.“ (Rede über die Mythologie, in: Das Gespräch über die Poesie)
Percy B. Shelley:
„Poetry turns all things to loveliness […]. It makes us the inhabitants of a world to which the familiar world is a chaos. […] It creates anew the universe.“ (Defence of Poetry)
„Poets are the unacknowledged legislators of the world.“ (Defence of Poetry)
„Our singing shall build / In the void’s loose field / A world for the Spirit of Wisdom to wield.“
(Prometheus Unbound, 424)
39
Geschichte der Poetik (II)
Realismus/ Naturalismus
Theodor Fontane:
„[Unter Realismus] verstehen wir nicht […] das nackte Wiedergeben alltäglichen Lebens, am
wenigsten seines Elends und seiner Schattenseiten. […] Diese Richtung verhält sich zum echten
Realismus wie das rohe Erz zum Metall: Die Läuterung fehlt.“
Otto Ludwig:
„Die Kunstwelt des künstlerischen Realisten ist ein erhöhtes Spiegelbild des Gegenstandes […]
[eine Welt], die von der schaffenden Phantasie vermittelt ist […]; sie schafft die Welt noch einmal,
[…] keine zusammenhanglose, im Gegenteil, eine in der der Zusammenhang sichtbarer ist als in
der wirklichen […]. Eine Welt, in der die Mannigfaltigkeit der Dinge nicht verschwindet, aber
durch Harmonie und Kontrast […] in Einheit gebracht ist; nur von dem, was dem Falle
gleichgültig ist, gereinigt. Ein Stück Welt, solchergestalt zu einer ganzen gemacht, in welcher
Notwendigkeit, Einheit, nicht allein vorhanden, sondern sichtbar gemacht sind.“
Georg Büchner:
„Der dramatische Dichter ist in meinen Augen nichts als ein Geschichtsschreiber, steht aber
über Letzterem dadurch, daß er uns die Geschichte zum zweiten Mal erschafft und uns gleich
unmittelbar, statt eine trockne Erzählung zu geben, in das Leben einer Zeit hineinversetzt, uns statt
Charakteristiken Charaktere und statt Beschreibungen Gestalten gibt. Seine höchste Aufgabe ist,
der Geschichte, wie sie sich wirklich begeben, so nahe wie möglich zu kommen.“
Conrad Alberti:
„Es gibt keine künstlerischen Stoffe zweiten und dritten Ranges, sondern als Stoff steht der Tod
des größten Helden nicht höher als die Geburtswehen einer Kuh, denn dasselbe und
einheitliche und allgewaltige Naturgesetz verkörpert sich in diesem wie in jenem.“
40
Geschichte der Poetik (II)
Theorie des Naturalismus (I)
Émile Zola, Le roman expérimentale (1880):
„Dans mes études littéraires, j’ai souvent parlé de la méthode expérimentale appliqué au roman
et au drame. Le retour à la nature, l’évolution naturaliste qui emporte le siècle, pousse peu à peu
toutes les manifestations de l’intelligence humaine dans une même voie scientifique. Seulement,
l’idée d’une littérature déterminée par la science, a pu surprendre, faute d’être précisée et comprise. Il me paraît donc utile de dire nettement ce qu’il faut entendre, selon moi, par le roman expérimental.“ (47)
„In meinen literarischen Studien habe ich häufig von der experimentellen Methode in ihrer
Anwendung auf den Roman und das Drama gesprochen. Die Rückkehr zur Natur, die
naturwissenschaftliche Entwicklung, die das Jahrhundert mit sich fortreißt, drängt nach und nach
alle Bekundungen der menschlichen Intelligenz auf die gleiche wissenschaftliche Bahn. Allein der
Gedanke einer von der Wissenschaft determinierten Literatur konnte, weil er nicht genau
bestimmt und begriffen wurde befremden. Es scheint mir also nützlich, klar herauszustellen, was
man nach meiner Meinung unter dem Experimentalroman zu verstehen hat.“
„Eh bien! en revenant au roman, nous voyons également que le romancier est fait d’un observateur et d’un expérimentateur. L’observateur chez lui donne les faits tel qu’il les a observés, pose
le point de départ, établit le terrain solide sur lequel vont marcher les personnages et se développer
les phénomènes. Puis, l’expérimentateur paraît et institue l’expérience, je veux dire fait mouvoir les personnages dans une histoire particulière, pour y montrer que la succession des faits y
sera telle que l’exige le déterminisme des phénomènes mis à l’étude. C’est presque toujours ici
une expérience ,pour voir‘, comme l’appelle Claude Bernard. Le romancier part à la recherche
d’une vérité.“ (52)
„Nun! Kommen wir jetzt auf den Roman zurück, sehen wir gleichfalls, dass der Romanautor aus
einem Beobachter und einem Experimentator besteht. Der Beobachter in ihm gibt die Tatsachen
so, wie er sie beobachtet hat, setzt den Ausgangspunkt fest und stellt den festen Grund und Boden
her, auf dem die Personen aufmarschieren und die Erscheinungen sich entwickeln können. Dann
erscheint der Experimentator und bringt das Experiment zur Durchführung, d.h. er gibt den
Personen ihre Bewegung in einer besonderen Handlung, um darin zu zeigen, dass die
Aufeinanderfolge der Tatsachen dabei eine solche ist, wie sie der zur Untersuchung stehende
Determinismus der Erscheinungen erfordert. Hier liegt fast ein Experiment ,zum Sehen‘ vor,
wie Claude Bernard es meint. Der Romanschriftsteller geht auf die Erforschung einer
Wahrheit aus.“
„Le problème est de savoir ce que telle passion, agissant dans tel milieu et dans telles circonstances, produira au point de vue de l’individu et de la société; et un roman expérimental, La
Cousine Bette par exemple, est simplement le procès-verbal de cette expérience, que le romancier répète sous les yeux du public.“ (53)
„Das Problem besteht darin zu wissen, was eine solche Leidenschaft, die in einem solchen
Milieu und solchen Umständen agiert, im Hinblick auf das Individuum und die Gesellschaft
bewirken wird; und ein Experimentalroman, zum Beispiel La Cousine Bette, ist einfach das
Protokoll dieses Experiments, das der Romanautor vor den Augen des Publikums wiederholt.“
41
Geschichte der Poetik (II)
Theorie des Naturalismus (II)
Émile Zola, Le roman expérimentale (1880) (Forts.):
„J’en suis donc arrivé à ce point: le roman expérimental est une conséquence de l’évolution
scientifique du siècle; il continue et complète la physiologie, qui elle-même s’appuie sur la chimie
et la physique; il substitue à l’étude de l’homme abstrait, de l’homme métaphysique, l’étude de
l’homme naturel, soumis aux lois physico-chimiques et déterminé par les influences du milieu; il est en un mot la littérature de note âge scientifique, comme la littérature classique a correspondu à un âge de scolastique et de théologie.“ (64f.; dt. 92)
„Ich bin damit also an folgenden Punkt gelangt: Der experimentelle Roman ist eine Konsequenz
der wissenschaftlichen Entwicklung des Jahrhunderts; er setzt die Physiologie fort und
vervollständigt sie; an die Stelle des Studiums des abstrakten, des metaphysischen Menschen setzt
er das Studium des natürlichen Menschen, der den physikalisch-chemischen Gesetzen
unterworfen und durch die Einflüsse des Milieus determiniert ist; er ist in einem Wort die
Literatur unseres wissenschaftlichen Zeitalters, wie die klassische Literatur dem Zeitalter der
Scholastik und Theologie entsprach.
Émile Zola, Du progrès dans les sciences et dans la poésie (1864):
„[…] aux premiers jours la science et la poésie ne firent qu’un. L’imagination aidant, les œuvres
furent pleines de grandioses erreurs, splendides manifestations de la jeunesse du monde. Mais
bientôt certains hommes, lassés de décrire sans comprendre, laissèrent là les effets et achevèrent
les véritables causes. La science naquit et se sépara de la poésie.“ (Œuvres complètes, X, 311)
„[…] am Anfang der Zeiten waren Wissenschaft und Poesie eines. Indem die Einbildungskraft zu
Hilfe kam, entstanden Werke voller grandioser Irrtümer, glänzende Manifestationen der Jugend
der Welt. Aber schon bald ließen Männer, die vom Beschreiben ohne Verstehen müde geworden
waren, die Effekte beiseite und vollendeten die wahrhaften Ursachen. Die Wissenschaft entstand
und trennte sich von der Poesie.“
42
Geschichte der Poetik (II)
Theorie des Naturalismus (III)
Émile Zola, Le roman expérimentale (1880) (Forts.):
„Le but de la méthode expérimentale, en physiologie et en médecine, est d’étudier les phénomènes pour s’en rendre maître. […] Admettons que la science ait marché, que la conquête de
l’inconnu soit complète: l’âge scientifique que Claude Bernard a vu en rêve sera réalisé. Dès lors,
le médecin sera maître des maladies; il guérira à coup sûr, il agira sur le corps vivants pour le bonheur et pour la vigueur de l’espèce. On entrera dans un siècle où l’homme tout-puissant aura asservi la nature et utilisera ses lois pour faire régner sur cette terre la plus grande somme de
justice et le liberté possible. Il n’y a pas de but plus noble, plus haut, plus grand. Notre rôle d’être
intelligent est là: pénétrer le pourquoi des choses, pour devenir supérieur aux choses et les réduire
à l’état de rouages obéissants.
Eh bien! ce rêve du physiologiste et du médecin expérimentateur est aussi le celui du romancier qui applique à l’étude naturelle et sociale de l’homme la méthode expérimentale. Notre but est
le leur; nous voulons, nous aussi, être les maîtres des phénomènes des éléments intellectuels et
personnels, pour pouvoir des diriger. Nous sommes, en un mot, des moralistes expérimentateurs,
montrant par l’expérience de quelle façon se comporte une passion dans un milieu social. Le
jour où nous tiendrons le mécanisme de cette passion, on pourra la traiter et la réduire, ou tout au
moins la rendre la plus inoffensive possible. Et voilà où se trouvent l’utilité pratique et la haute
morale de nos œuvres naturalistes, qui expérimentent sur l’homme, qui démontent et remontent
pièce à pièce la machine humaine, pour la faire fonctionner sous l’influence des milieux. Quand
les temps auront marché, quand on possédera les lois, il n’y aura plus qu’à agir sur les individus et
sur les milieux, si l’on veut arriver au meilleur état social. C’est ainsi que nous faisons de la sociologie pratique et que notre besogne aide aux sciences politiques et économiques. Je ne sais, je le
répète, de travail plus noble ni d’une application plus large. Être maître du bien et du mal, régler la
vie, régler la société, résoudre à la longue tous les problèmes du socialisme, apporter surtout des
bases solides à la justice en résolvant par l’expérience les questions de criminalité, n’est-ce pas là
être les ouvriers les plus utiles et les plus moraux du travail humain?“ (65f.)
„Das Ziel der experimentellen Methode in Physiologie und Medizin ist es, die Phänomene zu
studieren, um sich zu ihrem Herren zu machen. […] Nehmen wir an, die Wissenschaft sei
vorgeschritten, die Eroberung des Unbekannten sei vollständig, so wird das wissenschaftliche
Zeitalter, das Claude Bernard im Traum gesehen hat, Wirklichkeit sein. Von da ab wird der Arzt
Herr der Krankheiten sein; er wird mit Bestimmtheit heilen, er wird zum Glück und zur Blüte der
Gattung auf die lebenden Wesen einwirken. Man wird in ein Jahrhundert eintreten, in dem der
allmächtige Mensch die Natur dienstbar gemacht und ihre Gesetze dazu gebrauchen wird,
das größtmögliche Maß von Gerechtigkeit und Freiheit auf dieser Erde herrschend zu
machen. Es gibt kein edleres, kein höheres, kein größeres Ziel. Unsere Rolle als intelligente
Wesen besteht genau darin: in das Warum der Dinge eindringen, damit wir ihnen überlegen
werden und sie auf die Funktion gehorsamer Werkzeuge reduzieren.
Nun wohl! Dieser Traum des experimentellen Physiologen und Mediziners ist auch der des
Romanschriftstellers, der die experimentelle Methode auf das natürliche und soziale Studium der
Menschen anwendet. Unser Ziel ist das ihre; auch wir wollen die Herren der Erscheinungen der
intellektuellen und persönlichen Elemente sein, um sie lenken zu können. Wir sind mit einem
Wort experimentierende Sittenbildner, indem wir zeigen, wie sich eine Leidenschaft in einem
Milieu verhält. An dem Tage, an dem wir den Mechanismus dieser Leidenschaft besitzen, wird
man sie behandeln und ableiten oder doch mindestens so unschädlich wie möglich machen
43
können. Hier findet sich auch der praktische Nutzen und die hohe Moral unserer
naturalistischen Werke, die mit dem Menschen experimentieren, die die menschliche Maschine
Stück und Stück zerlegen und wieder aufbauen, um sie unter dem Einfluss des Milieus
funktionieren zu lassen. Wenn die Zeiten fortgeschritten sein werden, wenn man die Gesetze hat,
handelt es sich nur mehr darum, auf die Individuen und die Milieus einzuwirken, wenn man zum
besten sozialen Zustand kommen will. Auf diese Weise treiben wir praktische Soziologie, auf
diese Weise unterstützen unsere Arbeiten die politischen und ökonomischen Wissenschaften. Ich
kenne, um es zu wiederholen, keine vornehmere Arbeit, keine weiter reichende Betätigung. Das
Gute und das Böse beherrschen, das Leben regulieren, die Gesellschaft ordnen, mit der Zeit alle
Probleme des Sozialismus lösen, besonders der Rechtsprechung eine feste Grundlage geben,
indem man Fragen der Kriminalität durchs Experiment entscheidet, heißt das nicht der nützlichste
und sittenförderndste Arbeiter am menschlichen werke sein?“
44
Geschichte der Poetik (II)
Autoren des Ästhetizismus/ Symbolismus
Théophile Gautier (1811-1872)
Charles Baudelaire (1821-1867)
Stéphane Mallarmé (1842-1898)
Paul Verlaine (1844-1896)
Jean Moréas (1856-1910)
Paul Valéry (1871-1945)
Algernon Charles Swinburne (1837-1909)
Walter Pater (1839-1894)
Oscar Wilde (1854-1900)
William Butler Yeats (1865-1939)
Stefan George (1868-1933)
Hugo von Hofmannsthal (1874-1929)
Rainer Maria Rilke (1875-1926)
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Geschichte der Poetik (II)
Die Idee der Selbstbezüglichkeit der Kunst im Ästhetizismus/ Symbolismus
Théophile Gautier, Vorwort zu Mademoiselle de Maupin (1835):
„Il n’y a de vraiment beau que ce qui ne peut servir à rien: tout ce qui est utile est laid; car
c’est l’expression de quelque besoin; et ceux de l’homme sont ignoble et dégoûtants, comme sa
pauvre et infirme nature. – L’endroit le plus utile d’une maison, ce sont les latrines.“
„Nur das ist wirklich schön, das zu nichts dienen kann; alles, was nützlich ist, ist häßlich,
denn es stellt den Ausdruck von Bedürfnissen dar – und die Bedürfnisse des Menschen sind
niedrig und ekelhaft, so wie seine arme und schwache Natur. Der nützlichste Ort eines Hauses ist
der Abort.“
Benjamin Constant, Tagebuch 1804:
„Dîner avec Robinson, écolier de Schelling. Son travail sur l’esthétique de Kant. Idées très ingénieuses. L’art pour l’art, et sans but; tout but dénature l’art. Mais l’art atteint au but qu’il n’a
pas.“
„Abendessen mit Robinson, Schüler von Schelling. Seine Arbeit über Kants Ästhetik. Sehr
geistreiche Ideen. Die Kunst der Kunst wegen, und ohne Ziel; jedes Ziel entfremdet die Kunst
von ihrer Natur. Denn die Kunst erreicht ihr Ziel nur, wenn sie keins hat.“
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Geschichte der Poetik (II)
Die andere Sprache der Poesie im Ästhetizismus/ Symbolismus
Stefan George, Ursprünge:
„In einem sange den keiner erfasste
Waren wir heischer und herrscher vom All.
Süss und befeuernd wie attikas choros
Über die hügel und inseln klang:
CO BESOSO PASOJE PTOROS
CO ES ON HAMA PASOJE BOAÑ.“
Rainer Maria Rilke an Gräfin Sizzo, 17. März 1922:
„Kein Wort im Gedicht (ich meine hier jedes „und“ oder „der“, „die“, „das“) ist identisch mit
dem gleichlautenden Gebrauchs- und Konversations-Worte; die reine Gesetzmäßigkeit, das
große Verhältnis, die Konstellation, die es im Vers oder in künstlerischer Prosa einnimmt,
verändert es bis in den Kern seiner Natur, macht es nutzlos, unbrauchbar für den bloßen Umgang,
unberührbar und bleibend.“
Hugo von Hofmannsthal, Poesie und Leben (1899):
„Es führt von der Poesie kein direkter Weg ins Leben, aus dem Leben keiner in die Poesie. Das
Wort als Träger eines Lebensinhaltes und das traumhafte Bruderwort, welches in einem
Gedicht stehen kann, streben auseinander und schweben fremd aneinander vorüber, wie die beiden
Eimer eines Brunnens. Kein äußerliches Gesetz verbannt aus der Kunst alles Vernünfteln, alles
Hadern mit dem Leben, jeden unmittelbaren Bezug auf das Leben und jede direkte Nachahmung
des Lebens, sondern die einfache Unmöglichkeit: diese schweren Dinge können dort ebenso wenig
leben als eine Kuh in den Wipfeln der Bäume.“
47
Geschichte der Poetik (II)
Das symbolistische Ideal der Suggestion
Stéphane Mallarmé, Sur l’évolution littéraire, Interview mit Jules Huret, 1892:
„Je crois […] que, quant au fond, les jeunes sont plus près de l’idéal poétique que les Parnassiens
qui traitent encore leurs sujets à la façon des vieux philosophes et des vieux rhéteurs, en présentant
les objets directement. Je pense qu’il faut, au contraire, qu’il n’y ait qu’allusion. La contemplation des objets, l’image s’envolant des rêveries suscitées par eux, sont le chant: les Parnassiens,
eux, prennent la chose entièrement et la montrent: par là ils manquent de mystère; ils retirent aux
esprits cette joie délicieuse de croire qu’il créent. Nommer un objet, c’est supprimer les troisquarts de la jouissance du poème qui est faite de deviner peu à peu: le suggérer, voilà le rêve.
C’est le parfait usage de ce mystère qui constitue le symbole: évoquer petit à petit un objet pour
montrer un état d’âme, ou, inversement, choisir un objet et en dégager un état d’âme, par une série
de déchiffrements.“
„Ich glaube […], was den Gehalt betrifft, sind die Jungen dem poetischen Ideal näher als die
Parnassiens, die ihre Themen noch nach der Art der alten Philosophen und der alten Rhetoren
behandeln, indem sie die Gegenstände direkt präsentieren. Ich denke, es ist vielmehr nötig, daß
nur eine Anspielung erfolge. Die Kontemplation der Gegenstände, das Bild, das aus den von
ihnen heraufbeschworenen Träumereien auffliegt, sind der Gesang: die Parnassiens hingegen
fassen die Sache ganz und zeigen sie: dadurch ermangeln sie des Geheimnisses; sie entziehen den
Geistern jene köstliche Freude zu glauben, sie schüfen. Einen Gegenstand nennen heißt
dreiviertel des Genusses am Gedicht zu tilgen, der daraus besteht, allmählich zu erraten: die
Sache suggerieren, das ist der Traum. Der vollkommene Gebrauch dieses Geheimnisses ist es,
der das Symbol ausmacht: nach und nach einen Gegenstand erstehen lassen, um einen
Seelenzustand zu zeigen, oder umgekehrt einen Gegenstand wählen und daraus einen
Seelenzustand hervorgehen lassen, vermöge einer Reihe von Entzifferungen.“
48
Geschichte der Poetik (II)
Mallarmé: Die zwei Zustände der Rede. Das Fastverschwinden der Dinge
Stéphane Mallarmé, Crise de vers (1886-1896):
„Un désir indéniable à mon temps est de séparer comme en vue d’attributions différentes le double
état de la parole, brut ou immédiat ici, là essentiel.
Narrer, enseigner, même décrire, cela va et encore qu’à chacun suffirait peut-être pour échanger
la pensée humaine, de prendre ou de mettre dans la main d’autrui en silence une pièce de monnaie,
l’emploi élémentaire du discours dessert l’universel reportage dont, la littérature exceptée, participe tout entre les genres d’écrits contemporains.
[…] Au contraire d’une fonction de numéraire facile et représentatif, comme le traite d’abord la
foule, le dire, avant tout, rêve et chant, retrouve chez le Poète, par nécessité constitutive d’un art
consacré aux fictions, sa virtualité.“
„Ein meiner Zeit unabsprechbares Begehren ist, gleichsam im Blick auf verschiedene
Zuschreibungen den Doppelzustand der Sprache zu separieren, roh und unmittelbar hier, dort
essentiell.
Erzählen, Lehren, selbst Beschreiben, das geht, und wiewohl es jedem vielleicht zum Austausch
des menschlichen Denkens genügen würde, aus der Hand des Nächsten schweigend eine Münze zu
nehmen oder in sie zu legen, unterhält der elementare Gebrauch der Rede die universelle
Reportage, an der, die Literatur ausgenommen, alles teilhat im gegenwärtigen Schrifttum.
[…] Im Gegensatz zu einer leichtfasslichen repräsentativen Geldwertfunktion, wie zunächst die
Menge es behandelt, gewinnt das Sagen, zuvörderst Traum und Gesang, beim Poeten, vermöge
konstitutiver Notwendigkeit einer den Fiktionen geweihten Kunst, seine Virtualität zurück.“
„Parler n’a trait à la réalité des choses que commercialement: en littérature, cela se contente
d’y faire une allusion ou de distraire leur qualité qu’incorporera quelque idée.“
„Sprechen hat nur auf kommerzielle Weise Bezug zur Realität der Dinge: in der Literatur
begnügt es sich mit einer Anspielung darauf oder damit, von ihnen eine Qualität abzulösen, die
von einer Idee inkorporiert werden wird.“
„À quoi bon la merveille de transposer un fait de nature en sa presque disparition vibratoire
selon le jeu le la parole, cependant; si ce n’est pour qu’en émane, sans la gêne d’un proche ou
concret rappel, la notion pure.
Je dis: une fleur! et, hors de l’oubli où ma voix relègue aucun contour, en tant que quelque chose
d’autre que les calices sus, musicalement se lève, idée même et suave, l’absente de tous bouquet.“
„Wozu indes das Wunder, eine Naturtatsache in ihr schwingendes Fastverschwinden gemäß
dem Spiel der Sprache zu transponieren; wenn nicht darum, dass draus, ohne die Störung nahen
oder konkreten Erinnerns, der reine Begriff hervorgehe.
Ich sage: eine Blume! und, jenseits der Vergessenheit, der meine Stimme jede Kontur
überantwortet, als etwas anderes als die gewussten Kelche, steigt musikalisch, Idee selbst und
sanft, die aus allen Sträußen abwesende auf.“
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Geschichte der Poetik (II)
Die symbolistische Idee der Andeutung
Mallarmé an Henri Cazalis, 30. Oktober 1864:
„Peindre, non la chose, mais l’effet qu’elle produit.“
Hugo von Hofmannsthal, Kunst des Erzählens:
„Schildern willst du den Mord? So zeig mir den Hund auf dem Hofe:
Zeig mir im Aug von dem Hund gleichfalls den Schatten der Tat.“
Mallarmé an Eugène Lefébure, 27. Mai 1867:
„je n’ai créé mon Œuvre que par élimination […]. La Destruction fut ma Béatrice“
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Geschichte der Poetik (II)
Mallarmés Orientierung an der Musik
Mallarmé an Edmund Gosse, 10. Januar 1893:
„Je fais de la Musique, et appelle ainsi non celle qu’on peut tirer du rapprochement euphonique
des mots, cette première condition va de soi; mais l’au-delà magiquement produit par certaines
dispositions de la parole; où celle-ci ne reste qu’à l’état de moyen de communication matérielle
avec le lecteur comme les touches du piano. Vraiment entre les lignes et au-dessus du regard cela
se passe en toute pureté, sans l’entremise des cordes à boyaux et des pistons comme à l’orchestre,
qui est déjà industriel; mais c’est la même chose que l’orchestre, sauf que littérairement ou silencieusement. Les poëtes de tous les temps n’ont jamais fait autrement et il est aujourd’hui, voilà
tout, amusant d’en avoir conscience. Employez Musique dans le sens grec, au fond signifiant
Idée ou rythme entre des rapports; là, plus divine que dans l’expression publique ou symphonique.“
„Ich mache Musik, und nenne so nicht jene, die man aus der euphonischen Annäherung der
Wörter gewinnen kann, diese erste Bedingung versteht sich von selbst; sondern das auf magische
Weise von bestimmten Ordnungen der Rede produzierte Jenseits; wo dieser nur der Status
eines Mittels materieller Kommunikation mit dem Leser bleibt wie den Tasten eines Klaviers.
Wirklich zwischen den Zeilen und jenseits des Blicks ereignet sich dies in aller Reinheit, ohne
dass wie im Orchester Darmseiten und Ventile dazwischen treten, was bereits industriell ist; aber
es ist dasselbe wie im Orchester, nur auf literarische oder schweigsame Art. Die Dichter aller
Zeiten haben nichts anderes gemacht, und es ist heute, das ist alles, amüsant, davon Bewusstsein
zu haben. Nehmen Sie Musik im griechischen Sinn, im Grunde Idee oder Rhythmus zwischen
Bezügen bezeichnend; dort göttlicher als im öffentlichen oder symphonischen Ausdruck.“
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Geschichte der Poetik (II)
Mallarmés Idee des reinen Werks (I)
Stéphane Mallarmé, Crise de vers (1886-1896):
„L’œuvre pure implique la disparition élocutoire du poëte, qui cède l’initiative aux mots, par
le heurt de leur inégalité mobilisés; ils s’allument de reflets réciproques comme une virtuelle traînée de feux sur des pierreries, remplaçant la respiration perceptible en l’ancien souffle lyrique ou
la direction personnelle enthousiaste de la phrase.“
„Das reine Werk impliziert das sprechende Hinwegtreten des Dichters, der die Initiative den
Wörtern überlässt, den durch den Anprall ihrer Ungleichheit mobilisierten; sie entzünden sich im
gegenseitigen Widerschein wie ein virtuelles Gleiten von Feuern über Edelsteine, die im früheren
lyrischen Hauch vernehmbaren Atemzüge oder die persönlich-enthusiastische Satzführung
ersetzend.“
Mallarmé an François Coppée, 5. Dez. 1866:
„ce à quoi nous devons viser surtout est que, dans le poëme, les mots – qui déjà sont assez eux
pour ne plus recevoir d’impression du dehors – se reflètent les uns sur les autres jusqu’à paraître
ne plus avoir leur couleur propre, mais n’être que les transitions d’une gamme.“
„Das, worauf wir vor allem zielen müssen ist, dass, in einem Gedicht, die Wörter – die schon
genug sie selbst sind, um nicht noch Eindrücke von außen aufzunehmen – sich gegenseitig
ineinander spiegeln bis sie keine eigene Farbe mehr zu besitzen scheinen, sondern nur Übergänge
auf einer Tonskala zu sein scheinen.“
Mallarmé, Quant au livre. L’Action restreinte (1895)
„Impersonnifié, le volume, autant qu’on s’en sépare comme auteur, ne réclame approche de lecteur. Tel […] il a lieu tout seul: fait, étant.“
„Entpersönlicht verlangt der Band, insofern man sich als Autor davon trennt, nicht die
Annäherung eines Lesers. Als solcher […] hat er statt ganz alleine: gemacht, seiend.“
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Geschichte der Poetik (II)
Mallarmés Idee des reinen Werks (II)
„Ses purs ongles très haut dédiant leur onyx,
L’Angoisse, ce minuit, soutient, lampadophore,
Maint rêve vesperal brûlé par le Phenix
Que ne recueille pas de cinéraire amphore
Sur les crédences, au salon vide: nul ptyx,
Aboli bibelot d’inanité sonore,
(Car le Maître est allé puiser des pleurs au Styx
Avec ce seul objet dont le Néant s’honore).
Mais proche la croisée au nord vacante, un or
Agonise selon peut-être le décor
Des licornes ruant du feu contre une nixe,
Elle, défunte nue en le miroir, encor
Que, dans l’oubli fermé par le cadre, se fixe
De scintillations sitôt le septuor.“
In der Übersetzung von Hugo Friedrich:
„Mit blanken Nägeln bringt sie hoch den Onyx dar,
Die Angst, – als Fackelträgerin in dieser Nacht
Hält sie manch abendlichen Traum: ihn hat Phönix
Verbrannt, kein Aschenkrug wird jemals ihn empfangen
Im leeren Saal, auf den Kredenzen: kein Gefältel,
Getilgter Tand aus hallender Vergeblichkeit
(Denn Tränen aus dem Styx zu schöpfen, ging der Meister
Mit diesem einz’gen Ding, worin das Nichts sich rühmt).
Doch nah dem Fenster, das nach Norden klafft, erstirbt
Ein Gold, entlang vielleicht dem Zierat, daraus her
Einhörner Feuer schleudern gegen eine Nixe,
Erlosch’ne Wolke sie im Spiegel, – wiewohl bald,
Im eingerahmt verschlossenen Vergessen, dann
Stillsteht des riesigen Gefunkels Siebenklang.“
Mallarmé an Henri Cazalis, 18. Juli 1868 über die Erstfassung des obigen Gedichts (noch
unter dem Titel Sonnet allégorique de lui-même):
„le sens, s’il en a un, (mais je me consolerais du contraire grâce à la dose de poësie qu’il renferme,
ce me semble) est évoqué par un mirage interne des mots mêmes.“
„der Sinn, wenn es einen gibt (aber ich würde mich über das Gegenteil trösten dank der Dosis
Poesie, die es, wie mir scheint, enthält) wird evoziert durch das interne Spiegelspiel der Wörter
selbst.“
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Geschichte der Poetik (II)
Die Umkehrung des Nachahmungstheorems im Ästhetizismus (I)
Oscar Wilde, The Decay of Lying (1889):
„CYRIL. […] But you don’t mean to say that you seriously believe that Life imitates Art, that Life
in fact is the mirror, and Art the reality?
VIVIAN. Certainly I do. Paradox though it may seem – and paradoxes are always dangerous
things – it is none the less true that Life imitates art far more than Art imitates life. We have all
seen in our own day in England how a certain curious and fascinating type of beauty, invented and
emphasised by two imaginative painters, has so influenced Life that whenever one goes to a private view or to an artistic salon one sees, here the mystic eyes of Rossetti’s dream, the long ivory
throat, the strange square-cut jaw, the loosened shadowy hair that he so ardently loved, there the
sweet maidenhood of The Golden Stair, the blossom-like mouth and weary loveliness of the Laus
Amoris, the passion-pale face of Andromeda, the thin hands and lithe beauty of the Vivian in Merlin’s Dream. And it has always been so. A great artist invents a type, and Life tries to copy it,
to reproduce it in a popular form, like an enterprising publisher. Neither Holbein nor Vandyck
found in England what they have given us. They brought their types with them, and Life with her
keen imitative faculty set herself to supply the master with models.“
„CYRIL. […] Aber du willst doch nicht ernsthaft behaupten, dass das Leben die Kunst nachahmt,
das Leben tatsächlich der Spiegel, die Kunst aber die Realität ist?
VIVIAN. Gewiß will ich. Obwohl es paradox scheint – und Paradoxe sind immer gefährliche
Dinge –, es ist doch gleichwohl wahr, dass das Leben die Kunst weit mehr nachahmt als die
Kunst das Leben. Wir alle haben es in England miterlebt, wie ein bestimmtes, seltsames,
bezauberndes Schönheitsideal, das von zwei schöpferischen Malern erfunden und hervorgehoben
wurde, das Leben derartig beeinflußte, daß sooft wir auf eine private Gesellschaft oder in einen
Kunstsalon gehen, wir hier den geheimnisvollen Augen begegnen, von denen [der Präraffaelitische
Maler] Rossetti träumte, dem schlanken Elfenbeinhals, dem eigentümlich eckig geschnittenen
Kinn, dem losen, dunklen Haar, das er so glühend liebte, und dort der süßen Jungfräulichkeit der
Golden Stair, dem Blütenmund und der müden Schönheit der Laus Amoris, dem bleichen
Leidensgesicht der Andromeda, den schmalen Händen und der geschmeidigen Anmut des Vivian
in Merlin’s Dream. Und es ist seit jeher so gewesen. Ein großer Künstler erfindet eine
Idealfigur, und das Leben versucht sie nachzubilden, in einer leichtverständlichen Form zu
reproduzieren, wie ein geschäftstüchtiger Verleger. Weder Holbein noch van Dyck haben in
England angetroffen, was sie uns gegeben haben. Sie trugen ihre Urbilder in sich, und das Leben
mit seiner genauen Imitationsgabe verschaffte den Meistern die Modelle.“
„Schopenhauer has analysed the pessimism that characterises modern thought, but Hamlet invented it. The world has become sad because a puppet was once melancholy. The Nihilist, that
strange martyr who has no faith, who goes to the stake without enthusiasm, and dies for what he
does not believe in, is a purely literary product. He was invented by Tourgénieff, and completed by Dostoieffski. Robespierre came out of the pages of Rousseau as surely as the People’s Palace rose out of the débris of a novel. Literature always anticipates life. It does not copy it, but
moulds it to its purpose.“
„Schopenhauer hat den Pessimismus analysiert, aber Hamlet hat ihn erfunden. Die Menschen sind
schwermütig geworden, weil eine Theaterfigur einmal an Melancholie erkrankte. Der Nihilist,
dieser wunderliche Märtyrer ohne Glauben, der ohne Inbrunst an den Pfahl geht und für etwas
stirbt, woran er nicht glaubt, ist ein reines Produkt der Literatur. Er ist von Turgenjew erfunden
und von Dostojewski vollendet worden. Robespierre ist aus den Werken Rousseaus
hervorgegangen, genauso wie der Peoples-Palace aus den ,débris‘ eines Romans hervorwuchs. Die
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Literatur greift immer dem Leben vor. Sie ahmt das Leben nicht nach, sondern formt es nach ihrer
Absicht.“
Geschichte der Poetik (II)
Die Umkehrung des Nachahmungstheorems im Ästhetizismus (II)
Oscar Wilde, The Decay of Lying (1889):
„CYRIL. Nature follows the landscape painter, then, and takes her effects from him?
VIVIAN. Certainly. Where, if not from the Impressionists, do we get those wonderful brown fogs
that come creeping down our streets, blurring the gas-lamps and changing the houses into monstrous shadows? To whom, if not to them and their master, do we owe the lovely silver mists that
brood over our river, and turn to faint forms of fading grace curved bridge and swaying barge? The
extraordinary change that has taken place in the climate of London during the last ten years is entirely due to a particular school of Art. You smile. Consider the matter from a scientific or a metaphysical point of view, and you will find that I am right. For what is Nature? Nature is no great
mother who has borne us. She is our creation. It is in our brain that she quickens to life.
Things are because we see them, and what we see, and how we see it, depends on the Arts
that have influenced us. To look at a thing is very different from seeing a thing. One does not see
anything until one sees its beauty. Then, and then only, does it come into existence. At present,
people see fogs, not because there are fogs, but because poets and painters have taught them the
mysterious loveliness of such effects. There may have been fogs for centuries in London. I dare
say there were. But no one saw them, and so we do not know anything about them. They did not
exist till Art had invented them.“
„CYRIL. Die Natur richtet sich also nach dem Landschaftsmaler und erhält ihre Wirkungen
von ihm?
VIVIAN. Gewiß. Woher, wenn nicht von den Impressionisten, stammen jene wundervollen
braunen Nebel, die durch unsere Straßen ziehen, die Gaslampen verschleiern und die Häuser in
ungeheuerliche Schatten verwandeln? Wem verdanken wir die köstlichen Silbernebel, die über
unserem Fluß brauen und die die geschwungene Brücke, die schwankende Barke in die zarten
Linien vergänglicher Anmut hüllen, wenn nicht ihnen und ihrem Meister? Der ungewöhnliche
Umschwung, der während der letzten zehn Jahre in den klimatischen Verhältnissen Londons
stattfand, ist einzig und allein einer besonderen Kunstrichtung zuzuschreiben. Du lächelst.
Betrachte die Sache vom wissenschaftlichen oder metaphysischen Standpunkt, und du wirst
einsehen, daß ich recht habe. Denn was ist die Natur? Die Natur ist keineswegs die große
Urmutter, die uns gebar. Sie ist unsere Schöpfung. Es ist unsere Einbildungskraft, die sie
beseelt. Die Dinge sind, weil wir sie sehen, und was wir sehen und wie wir sehen, hängt von
den Künsten ab, die uns beeinflusst haben. Es ist ein großer Unterschied, ob man ein Ding
ansieht, oder ob man es sieht. Man sieht nichts, solange man nicht seine Schönheit sieht. Dann,
und erst dann, wird es lebendig. Jetzt sehen die Leute Nebel, nicht weil es Nebel gibt, sondern weil
die Dichter und Maler ihnen die geheimnisvolle Schönheit solcher Erscheinungen offenbarten. Es
hat vielleicht schon seit Jahrhunderten in London Nebel gegeben. Das glaube ich sogar ganz
sicher. Aber niemand hat sie gesehen, und deshalb wissen wir nichts darüber. Sie waren nicht
vorhanden, bis die Kunst sie erfunden hat.“
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Geschichte der Poetik (II)
Der Angriff auf die bürgerliche Institution Kunst in den historischen Avantgarden
F.T. Marinetti, Il futurismo (1909):
„Museen: Friedhöfe!… Wahrlich identisch in dem unheilvollen Durcheinander von vielen
Körpern, die einander nicht kennen. Museen: öffentliche Schlafsäle, in denen man für immer
neben verhaßten oder unbekannten Wesen schläft! Museen: absurde Schlachthöfe der Maler und
Bildhauer, die sich gegenseitig wild mit Farben und Linien entlang der umkämpften
Ausstellungswände abschlachten! […]
Mögen also die lustigen Brandstifter mit ihren verkohlten Fingern kommen! Hier! Da sind sie!…
Drauf! Legt Feuer an die Regale der Bibliotheken!… Leitet den Lauf der Kanäle ab, um die
Museen zu überschwemmen!… Oh, welche Freude, auf dem Wasser die alten, ruhmreichen
Bilder zerfetzt und entfärbt treiben zu sehen!… Ergreift die Spitzhacken, die Äxte und die
Hämmer und reißt nieder, reißt ohne Erbarmen die ehrwürdigen Städte nieder!“
„Musei: cimiteri!… Identici, veramente, per la sinistra promiscuità di tanti corpi che non si
conoscono. Musei: dormitorî pubblici in cui so riposa per sempre accanto ad esseri odiati o
ignoti! Musei: assurdi macelli di pittori e scultori che vanno trucidandosi ferocemente a colpi di
colori e di linee, lungo le pareti contese! […]
E vengano dunque, gli allegri incendiarii dalle dita carbonizzate! Eccoli! Eccoli!… Suvvia! Date
fuoco agli scaffali delle biblioteche!… Sviate il corso dei canali, per inondare i musei!… Oh,
la gioia di veder galleggiare alla deriva, lacere e stinte su quelle acque, le vecchie tele gloriose!…
Impugnate i picconi, le scuri, i martelli e demolite, demolite senza pietà le città venerate!“
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Geschichte der Poetik (II)
Kunst als „Stimulanz des Lebens“ (Nietzsche) im Futurismus
F.T. Marinetti, Al di là del comunismo/ Jenseits des Kommunismus (1919):
„Die Kunst darf kein Balsam, sie muß Alkohol sein. Kein Alkohol, der Vergessen bringt,
sondern ein Alkohol, der zum Optimismus anregt, der die Jugend vergöttlicht, die Jahre der Reife
verhundertfacht und das Alter wieder jung werden läßt. […] Unser Verdienst ist es, daß die Zeit
kommen wird, in der das Leben nicht mehr einfach ein Leben des Brotes und der Mühe sein wird,
auch kein Leben des Müßigganges, sondern in der das Leben Kunstwerk-Leben sein wird. /
Jeder Mensch wird seinen bestmöglichen Roman leben. Die genialeren Geister werden ihr
bestmögliches Gedicht leben. Es wird kein Wettlaufen mehr nach Besitz und Prestige geben. Die
Menschen werden in lyrischer Inspiration, Originalität, musikalischer Eleganz, Überraschung,
Fröhlichkeit und geistiger Elastizität wetteifern.“
„L’arte dev’essere non un balsamo, un alcool. Non un alcool che dia l’oblio, ma un alcool di
ottimismo esaltatore, che divinizzi la gioventù, centuplichi la maturità e rinverdisca la vecchiaia.
[…] Grazie a noi il tempo verrà in cui la vita non sarà più semplicemente una vita di pane e di
fatica, né una vita d’ozio, ma in cui la vita sarà vita-opera d’arte. / Ogni uomo vivrà il suo
migliore romanzo possibile. Gli spiriti più geniali vivranno il loro miglior poema possibile.
Non vi saranno gare di rapacità né di prestigio. Gli uomini gareggeranno in ispirazione lirica,
originalità , eleganza musicale, sorpresa, giocondità, elasticità spirituale.“
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Geschichte der Poetik (II)
Zur Idee der Kunst im Dienste des Lebens in den historischen Avantgarden
Hugo Ball, Die Flucht aus der Zeit, postum 1927:
„Sich nicht in die Ästhetik abdrängen lassen. Um den Menschen geht es, nicht um die Kunst.
Wenigstens nicht in erster Linie um die Kunst.“ (5. März 1916) „Man kann wohl sagen, daß uns
die Kunst nicht Selbstzweck ist – dazu bedürfte es einer mehr ungebrochenen Naivität –, aber sie
ist uns eine Gelegenheit zur Zeitkritik und zum wahrhaften Zeitempfinden […] So sind
unsere Debatten ein brennendes, täglich flagranteres Suchen nach dem spezifischen Rhythmus,
nach dem vergrabenen Gesicht dieser Zeit. Nach ihrem Grund und Wesen; nach der Möglichkeit
ihres Ergriffenseins, ihrer Erweckung. Die Kunst ist dazu nur ein Anlaß, eine Methode.“ (5.
April 1916) „Wir neigen dazu, das Gewissen nur noch für die Leistung, für das Werk zu haben,
das Leben aber und die Person als inkurabel auf sich beruhen zu lassen. Das aber hieße den
Künstler selbst zur Dekoration, zum Ornament erniedrigen. Die Menschen dürfen nicht weniger
wert sein als ihre Werke.“ (19. Mai 1917) „Der kürzeste Weg zur Selbsthilfe: auf Werke zu
verzichten und das eigene Dasein zum Gegenstande energischer Wiederbelebungsversuche zu
machen.“ (10. November 1915)
F.T. Marinetti, Al di là del comunismo/ Jenseits des Kommunismus, 1919:
„Die Kunst darf kein Balsam, sie muß Alkohol sein. Kein Alkohol, der Vergessen bringt,
sondern ein Alkohol, der zum Optimismus anregt, der die Jugend vergöttlicht, die Jahre der Reife
verhundertfacht und das Alter wieder jung werden läßt. […] Unser Verdienst ist es, daß die Zeit
kommen wird, in der das Leben nicht mehr einfach ein Leben des Brotes und der Mühe sein wird,
auch kein Leben des Müßigganges, sondern in der das Leben Kunstwerk-Leben sein wird. /
Jeder Mensch wird seinen bestmöglichen Roman leben. Die genialeren Geister werden ihr
bestmögliches Gedicht leben. Es wird kein Wettlaufen mehr nach Besitz und Prestige geben. Die
Menschen werden in lyrischer Inspiration, Originalität, musikalischer Eleganz, Überraschung,
Fröhlichkeit und geistiger Elastizität wetteifern.“
„L’arte dev’essere non un balsamo, un alcool. Non un alcool che dia l’oblio, ma un alcool di
ottimismo esaltatore, che divinizzi la gioventù, centuplichi la maturità e rinverdisca la vecchiaia.
[…] Grazie a noi il tempo verrà in cui la vita non sarà più semplicemente una vita di pane e di
fatica, né una vita d’ozio, ma in cui la vita sarà vita-opera d’arte. / Ogni uomo vivrà il suo
migliore romanzo possibile. Gli spiriti più geniali vivranno il loro miglior poema possibile.
Non vi saranno gare di rapacità né di prestigio. Gli uomini gareggeranno in ispirazione lirica,
originalità , eleganza musicale, sorpresa, giocondità, elasticità spirituale.“
André Breton, Manifeste du Surréalisme/ Manifest des Surrealismus, 1924
„La poésie […] porte en elle la compensation parfaite des misères que nous endurons. Elle peut
être une ordonnatrice, aussi, pour peu que sous le coup d’une déception moins intime on s’avise
de la prendre au tragique. Le temps vienne où elle décrète la fin de l’argent et rompe seule le pain
du ciel pour la terre! Il y aura encore des assemblées sur les places publiques, et des mouvements
auxquels vous n’avez pas espéré prendre part. […] Qu’on se donne seulement la peine de pratiquer la poésie. N’est-ce pas à nous, qui déjà en vivons, de chercher à faire prévaloir ce que nous
tenons pour notre plus ample informé?“
„Die Poesie […] trägt in sich den vollkommenen Ausgleich für das Elend, das wir ertragen. Sie
vermag auch eine ordnende Kraft zu sein, wenn es einem, unter dem Eindruck einer weniger
persönlichen Enttäuschung, einfallen sollte, sie tragisch zu nehmen. Die Zeit komme, da sie das
Ende des Geldes dekretiert und allein das Brot des Himmels für die Erde bricht! Es wird noch
Versammlungen auf den öffentlichen Plätzen geben und Bewegungen, den denen teilzunehmen ihr
nicht zu hoffen gewagt habt. […] Man gebe sich doch nur die Mühe, die Poesie zu praktizieren.
Ist es nicht an uns, die wir bereits davon leben, zu versuchen, dem größere Geltung zu verschaffen,
was am meisten von uns zeugt?“
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Geschichte der Poetik (II)
Der erweiterte Kunstbegriff der Avantgarden
Tristan Tzara, Essai sur la situation de la poésie/ Versuch über die Lage der Poesie, 1931:
„Il s’agit de dénoncer le malentendu qui prétendait classer la poésie sous la rubrique des moyens
d’expression. La production poétique qui ne se distingue des romans et des autres genres littéraires
que par sa forme extérieure, la poésie qui exprime uniquement soit des idées soit des sentiments,
ne saurait plus définir la poésie à son stade actuel. A cette conception périmée il y a lieu d’opposer
la poésie-activité de l’esprit. […] Il est parfaitement admis aujourd’hui qu’on peut être poète sans
jamais avoir écrit un vers, qu’il existe une qualité de poésie dans la rue, dans un spectacle,
n’importe où. La confusion elle-même est appelée ,poétique‘ et Proust s’était ingénié à la trouver
jusque dans les pissotières.“
„Es gilt das Mißverständnis aufzudecken, das glaubt, die Poesie in der Rubrik der Ausdrucksmittel
klassifizieren zu können. Die poetische Produktion, die sich nur durch ihre äußere Form von den
Romanen und anderen literarischen Gattungen unterscheidet, die Poesie, die allein entweder Ideen
oder Gefühle ausdrückt, vermag die Poesie auf ihrem aktuellen Entwicklungsstand nicht mehr zu
definieren. Es besteht Anlaß, dieser veralteten Konzeption die Poesie-Aktivität des Geistes
gegenüberzustellen. […] Heute wird zugestanden, daß einer Dichter sein kann, ohne je einen
Vers geschrieben zu haben, daß eine poetische Qualität auf der Straße, in einem Spektakel,
egal wo existiert. Die Verwirrung selbst wird ,poetisch‘ genannt, und Proust kam auf die geniale
Idee, sie sogar in den Pißbuden zu finden.“
Dadaistische Manifest, 1918:
„Dada ist eine Geistesart […]. Dadaist sein kann unter Umständen heißen, mehr Kaufmann, mehr
Parteimann als Künstler sein – nur zufällig Künstler sein“
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Geschichte der Poetik (II)
Die avantgardistische Aufwertung des Zufalls zum produktiven Prinzip
Tristan Tzara, Um ein dadaistisches Gedicht zu machen, 1920:
„Nehmt eine Zeitung.
Nehmt Scheren.
Wählt in dieser Zeitung einen Artikel von der Länge aus, die Ihr Eurem Gedicht zu geben
beabsichtigt.
Schneidet den Artikel aus.
Schneidet dann sorgfältig jedes Wort dieses Artikels aus und gebt sie in eine Tüte.
Schüttelt leicht.
Nehmt dann einen Schnipsel nach dem anderen heraus.
Schreibt gewissenhaft ab
in der Reihenfolge, in der sie aus der Tüte gekommen sind.
Das Gedicht wird Euch ähneln.
Und damit seid Ihr ein unendlich origineller Schriftsteller mit einer charmanten, wenn auch von
den Leuten unverstandenen Sensibilität.“
Hans Richter, DADA – Kunst und Antikunst, 1964:
„Arp hatte lange in seinem Atelier am Zeltweg an einer Zeichnung gearbeitet. Unbefriedigt zerriß
er schließlich das Blatt und ließ die Fetzen auf den Boden flattern. Als sein Blick nach einiger Zeit
zufällig wieder auf diese auf dem Boden liegenden Fetzen fiel, überraschte ihn ihre Anordnung.
Sie besaß einen Ausdruck, den er die ganze Zeit vorher vergebens gesucht hatte. Wie sinnvoll sie
dort lagen, wie ausdrucksvoll! Was ihm mit aller Anstrengung vorher nicht gelungen war,
hatte der Zu-Fall, die Bewegung der Hand und die Bewegung der flatternden Fetzen,
bewirkt, nämlich Ausdruck. Er nahm diese Herausforderung des Zufalls als ,Fügung‘ an und
klebte sorgfältig die Fetzen in der vom ,Zu-Fall‘ bestimmten Ordnung auf. […] Die
Schlußfolgerung, die Dada daraus zog, war, den Zufall als ein neues Stimulans des künstlerischen
Schaffens anzuerkennen. Dieses Erlebnis war so erschütternd, daß man es sehr wohl als das
eigentliche Zentral-Erlebnis von Dada bezeichnen kann, welches Dada von allen
vorhergehenden Kunst-Richtungen unterscheidet.“
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Geschichte der Poetik (II)
Die avantgardistische Idee der permanenten Selbstüberholung
F.T. Marinetti, Manifest des Futurismus, 1909: „Die Ältesten von uns sind jetzt dreißig Jahre
alt: es bleibt uns also mindestens ein Jahrzehnt, um unser Werk zu vollbringen. Wenn wir
vierzig sind, mögen andere, jüngere und tüchtigere Männer uns ruhig wie nutzlose
Manuskripte in den Papierkorb werfen. Wir wünschen es so!“ (SB 79) Wenig später im
Zweiten Manifest erscheint noch einmal eine Bejahung des eigenen Untergangs „Wir wollen,
daß unsere Kinder fröhlich ihrer Laune folgen, brutal den Greisen [d.h. in Kürze: uns!] sich
entgegensetzen und auf das pfeifen, was die Zeit geheiligt hat.“ (SB 81)
F.T. Marinetti, Das Varieté, 1913: „Man muß verhindern, daß sich im Varieté Traditionen
bilden.“ (SB 225) „Die Autoren, die Schauspieler und die Techniker des Varietés haben eine
einzige Daseinsberechtigung und Erfolgschance: ständig neue Möglichkeiten zu ersinnen,
um die Zuschauer zu schockieren.“ (SB 220)
Antonio Sant’Elia, Die futuristische Architektur, 1914: „[…] die Grundeigenschaften der
futuristischen Architektur werden Hinfälligkeit und Vergänglichkeit sein. DIE HÄUSER
WERDEN KURZLEBIGER SEIN ALS WIR. JEDE GENERATION WIRD SICH IHRE
EIGENE STADT BAUEN MÜSSEN. Diese ständige Erneuerung der architektonischen
Umwelt wird zum Sieg des FUTURISMUS beitragen, […] für den wir pausenlos gegen die
passatistische Feigheit kämpfen.“ (SB 235)
Hugo Ball, 1916 im Tagebuch: „Unser Versuch, das Publikum mit künstlerischen Dingen zu
unterhalten, drängt uns in ebenso anregender wie instruktiver Weise zum
ununterbrochen Lebendigen, Neuen, Naiven. Es ist mit den Erwartungen des Publikums
ein Wettlauf, der alle Kräfte der Erfindung und der Debatte in Anspruch nimmt.“ (FZ 83)
„Was uns bei unseren Bemühungen zustatten kam, waren zunächst die besonderen Umstände
dieser Zeit, die eine Begabung von Rang weder ruhen noch reifen läßt und sie somit auf die
Prüfung der Mittel verweist. Sodann aber war es der emphatische Schwung unseres Zirkels,
von dessen Teilnehmern einer den anderen stets durch Verschärfung der Forderungen und
Akzente zu überbieten suchte.“ (FZ 101)
Raoul Hausmann, Dada ist mehr als Dada, 1921: „Dada ist ein Wirbel, der aus seiner
eigenen Peripherie geboren, hervorgegangen aus einem allgemeinen Daseinszustand, die
Menschen in sich hineinreißt, sie umherschleudert, durcheinanderrüttelt“ (RH 40). Dada
versuche, keine intellektuelle Erfassungsmöglichkeit zu bieten „aus Bewußtsein seiner
fortwährenden Beweglichkeit; es sieht, schrecklich zu sagen, sich selbst morgen anders
an, als es heute ist“ (RH 40). Tendenz zur Selbstüberbietung: Der „Dadaismus ist seine
eigene Gegenläufigkeit, er will fort und fort Bewegung, er sieht die Ruhe nur in der
Bewegung“ (RH 42). Er sei eine „taktische Einstellung, die Standpunkte um des in ihnen
sich zeigenden Unlebendigen willen ablehnt“ (RH 43).
Walter Conrad Arensberg, DADA is American, 1920: „A true work of DADA shouldn’t live
more than six hours.“ (dt. DADA total, 188)
Francis Picabia, Dadaisme, Instantanéisme 391, 1924: „L’INSTANTANEISME: ne veut pas
d’hier. L’INSTANTANEISME: ne veut pas de demain […] L’INSTANTANEISME: ne
croit qu’à aujourd’hui. […] L’INSTANTANEISME: ne croit qu’au mouvement perpétuel.“ „Le seul mouvement c’est le mouvement perpétuel!“ (AF 337)
61
Geschichte der Poetik (II)
Die futuristischen parole in libertà
F.T. Marinetti, Technisches Manifest der futuristischen Literatur, 1912:
„Ich saß im Flugzeug auf dem Benzintank und wärmte meinen Bauch am Kopf des Fliegers,
da fühlte ich die lächerliche Leere der alten, von HOMER ererbten Syntax. Stürmisches
Bedürfnis, die Worte zu befreien, sie aus dem Gefängnis des lateinischen Satzbaus zu
ziehen! Dieser hat natürlich, wie alle Dummköpfe, einen vorausschauenden Kopf, einen
Bauch, zwei Beine und zwei Plattfüße, aber er wird niemals zwei Flügel haben. Es reicht
gerade, um zu gehen, einen Augenblick zu laufen und fast sofort wieder anzuhalten! / Das hat
mir der surrende Propeller gesagt, während ich in einer Höhe von zweihundert Metern über
die mächtigen Schlote von Mailand flog. Und er fügte hinzu: / 1. MAN MUSS DIE
SYNTAX DADURCH ZERSTÖREN, DASS MAN DIE SUBSTANTIVE AUFS
GERATEWOHL ANORDNET, SO WIE SIE ENTSTEHEN. / 2. MAN MUSS DAS VERB
IM INFINITIV GEBRAUCHEN, damit es sich elastisch dem Substantiv anpaßt, und es nicht
dem Ich des Schriftstellers unterordnen, der beobachtet oder erfindet. Nur das Verb im
Infinitiv kann das Gefühl für die Fortdauer des Lebens und die Elastizität der Intuition, durch
die sie wahrgenommen wird, vermitteln. / 3. MAN MUSS DAS ADJEKTIV ABSCHAFFEN,
damit das Substantiv seine wesenhafte Färbung beibehält. Da das Adjektiv seinem Wesen
nach nuancierend ist, ist es mit unserer dynamischen Vision unvereinbar, denn es setzt
einen Stillstand, eine Überlegung voraus. / 4. MAN MUSS DAS ADVERB ABSCHAFFEN,
diese alte Schnalle, die ein Wort an das andere bindet. Das Adverb gibt dem Satz einen
lästigen einheitlichen Ton. […] 11. MAN MUSS DAS ,ICH‘ IN DER LITERATUR
ZERSTÖREN […]. An seine Stelle muß endlich die Materie treten, deren Wesen schlagartig
durch Intuition erfaßt werden muß […]. An die Stelle der längst erschöpften Psychologie des
Menschen muß DIE LYRISCHE BESESSENHEIT DER MATERIE treten. […] Nur der
asyntaktische Dichter, der sich der losgelösten Worte bedient, wird in das Wesen der Materie
eindringen und die dumpfe Feindschaft, die sie von uns trennt, zerstören können.“
Marinetti, Schlacht. Gewicht + Geruch, 1911, Auszüge:
„Mittag ¾ flöten gestöhn gluthitze bumbum alarm Gargaresch krachen knattern marsch
Geklirr tornister gewehre hufe nägel kanonen mähnen räder kisten juden schmalzgebäck
ölkuchen kantilene kramläden dunstwolken schillern augenbutter gestank zimt“
„Vorhut: 20 meter bataillone-ameisen reiterei-spinnen straßen-furten general-inselchen
meldereiter-heuschrecken sand-revolution haubitzen-volksredner wolken-gitter gewehremärtyrer schrapnells-heiligenscheine multiplikation addition division haubitzen-abziehen
granate-tilgung triefen fließen erdrutsch blöcke lawine“
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Geschichte der Poetik (II)
Dadaistische Lautpoesie (I)
Hugo Ball, Tagebuch, 23. Juni 1916:
„Ich habe eine neue Gattung von Versen erfunden, ,Verse ohne Worte‘ oder Lautgedichte, in
denen das Balancement der Vokale nur nach dem Werte der Ansatzreihe erwogen und ausgeteilt
wird.“
Hugo Ball, Eröffnungs-Manifest zum 1. Dada-Abend im Zürcher „Zunfthaus Waag“, am 14.
Juli 1916:
„Ich lese Verse, die nichts weniger vorhaben als: auf die konventionelle Sprache zu verzichten, ad
acta zu legen […]. Ich will keine Worte, die andere erfunden haben. Alle Worte haben andre
erfunden. Ich will meinen eigenen Unfug, meinen eigenen Rhythmus und Vokale und
Konsonanten dazu, die ihm entsprechen, die von mir selbst sind. […] Da kann man nun so recht
sehen, wie die artikulierte Sprache entsteht. Ich lasse die Vokale kobolzen. Ich lasse die Laute
ganz einfach fallen, etwa wie eine Katze miaut… Worte tauchen auf, Schultern von Worten;
Beine, Arme, Hände von Worten. Au, oi, uh. Man soll nicht zu viel Worte aufkommen lassen. Ein
Vers ist die Gelegenheit, allen Schmutz abzutun. Ich wollte die Sprache hier selber fallen
lassen. Diese vermaledeite Sprache, an der der Schmutz klebt, wie von Maklerhänden, die die
Münzen abgegriffen haben. Das Wort will ich haben, wo es aufhört und wo es anfängt. Dada ist
das Herz der Worte.“
Hugo Ball, gadji beri bimba, 1916
gadji beri bimba glandridi laula lonni cadori
gadjama gramma berida bimbala glandri galassassa laulitalomini
gadji beri bin blassa glassala laula lonni cadorsu sassala bim
gadjama tuffm i zimzalla binban gligla wowolimai bin beri ban
o katalominai rhinozerossola hopsamen laulitalomini hoooo
gadjama rhinozerossola hopsamen
bluku terullala blaulala loooo
zimzim urullala zimzim urullala zimzim zanzibar zimzalla zam
elifantolim brussala bulomen brussala bulomen tromtata
velo da bang band affalo purzamai affalo purzamai lengado tor
gadjama bimbalo glandridi glassala zingtata pimpalo ögrögöööö
viola laxato viola zimbrabim viola uli paluji malooo
tuffm im zimbrabim negramai bumbalo negramai bumbalo tuffm i zim
gadjama bimbala oo beri gadjama gaga di gadjama affalo pinx
gaga di bumbalo bumbalo gadjamen
gaga di bling blong
gaga blung
63
Geschichte der Poetik (II)
Dadaistische Lautpoesie (II)
Raoul Hausmann, Cauchemar, entstanden während des zweiten Weltkriegs:
„bbg bbg bgg jjj ji jj zzzuuuu oooooo O! / uuuachtachtj hhh hzz hhzzz ggggzzzggg zgg z’ – / kkk i
i u kkiuu kki […]“
Raoul Hausmann, Courrier Dada (Kapitel: „Poème phonétique“), 1958:
„Ich hielt mich, vermeintlich zu Recht, für den ersten Erfinder. Ich muß indes sagen, daß es Ball
war. Aber die Phonetismen Balls waren aus ,unbekannten Wörtern‘ gebildet, während meine
Gedichte direkt und ausschließlich auf Buchstaben gründeten, sie waren ,lettristisch‘. Das
phonetische Gedicht, Reinigung der ,poetischen‘ Poesie, war dermaßen notwendig, daß ich es
noch einmal erfand.“
„Ich dachte, daß das Gedicht der Rhythmus der Klänge ist. Warum Wörter? Aus der
rhythmischen Folge der Konsonanten, Diphthonge und aus ihrer Vokalergänzung als GegenBewegung resultiert das Gedicht, das gleichzeitig optisch und phonetisch ausgerichtet sein muß.
Das Gedicht ist die Verschmelzung der Dissonanz und der Lautmalerei. Das Gedicht entspringt
dem inneren Blick und Gehör des Dichters durch die materielle Gewalt der Töne, der Geräusche
und der in der Geste der Sprache verankerten tonalen Form.“
„Das ist der Punkt, an dem ich mich von Ball unterscheide. Seine Gedichte schufen neue Wörter,
Klänge, vor allem musikalisch arrangierte Lautmalereien; die meinen sind auf dem Buchstaben
begründet, dort, wo es nicht die geringste Möglichkeit mehr gibt, eine einen Sinn anbietende
Sprache zu schaffen, koordinierte Abläufe.“
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Geschichte der Poetik (II)
Die surrealistische écriture automatique
André Breton, Manifeste du surréalisme/ Manifest des Surrealismus, 1924:
„SURREALISME, n. m. Automatisme psychique pur par lequel on se propose d’exprimer, soit verbalement, soit par écrit, soit de toute autre manière, le fonctionnement de la pensée. Dictée de la
pensée, en l’absence de tout contrôle exercé par la raison, en dehors de toute préoccupation esthétique ou morale.
ENCYCL. Philos. Le surréalisme repose sur la croyance à la réalité supérieure de certaines formes
d’associations négligées jusqu’à lui, à la toute-puissance du rêve, au jeu désintéressé de la pensée.
Il tend à ruiner définitivement tous les autres mécanismes psychiques et à se substituer à eux dans
la résolution des principaux problèmes de la vie. Ont fait acte de SURREALISME ABSOLU MM.
Aragon, Baron, Boiffard, Breton, Carrive, Crevel, Delteil, Desnos, Éluard, Gérard, Limbour, Malkine, Morise, Naville, Noll, Péret, Picon, Soupault, Vitrac.“ (36f.)
„SURREALISMUS, Subst., m. – Reiner psychischer Automatismus, durch den man mündlich oder
schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht.
Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen
Überlegung.
ENZYKLOPÄDIE. Philosophie. Der Surrealismus beruht auf dem Glauben an die höhere
Wirklichkeit gewisser, bis dahin vernachlässigter Assoziationsformen, an die Allmacht des
Traumes, an das zweckfreie Spiel des Denkens. Er zielt auf die endgültige Zerstörung aller
anderen psychischen Mechanismen und will sich zur Lösung der hauptsächlichen Lebensprobleme
an ihre Stelle setzen. Zum ABSOLUTEN SURREALISMUS haben sich bekannt: Aragon, Baron,
Boiffard, Breton, Carrive, Crevel, Delteil, Desnos, Éluard, Gérard, Limbour, Malkine, Morise,
Naville, Noll, Péret, Picon, Soupault, Vitrac.“ (26f.)
André Breton, Philippe Soupault, Gants blancs/ Weiße Handschuhe, erster Abschnitt, aus: Les
champs magnétiques/ Die magnetischen Felder, 1919:
„Les couloirs des grands hôtels sont désert et la fumée des cigares se cache. Un homme descend
les marches du sommeil et s’aperçoit qu’il pleut: les vitres sont blanches. On sait que près de lui
repose un chien. Tous les obstacles sont présents. Il y a une tasse rose, un ordre donné et sans hâte
les serviteurs tournent. Les grands rideaux du ciel s’ouvrent. Un bourdonnement accuse ce départ
précipité. Qui peut courir aussi doucement? Les noms perdent leurs visages. La rue n’est qu’une
voie déserte.“
„Die Gänge der großen Hotels sind verlassen, und der Rauch der Zigarren versteckt sich. Ein
Mensch steigt die Stufen des Schlafes herab und bemerkt, daß es regnet: die Scheiben sind weiß.
Man weiß, daß neben ihm ein Hund ruht. Alle Hindernisse sind gegenwärtig. Es gibt eine
rosafarbene Tasse, einen gegebenen Befehl, und ohne Eile drehen sich die Kellner. Die großen
Vorhänge des Himmels öffnen sich. Ein Summen unterstreicht diese überstürzte Abreise. Wer
kann so leise laufen? Die Namen verlieren ihre Gesichter. Die Straße ist nur ein verlassener Weg.“
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Geschichte der Poetik (II)
Die surrealistische Idee des Bildes
Pierre Reverdy, 1918, zitiert von Breton im Manifest des Surrealismus von 1924:
„L’image est une création pure de l’esprit. / Elle ne peut naître d’une comparaison mais du
rapprochement de deux réalités plus ou moins éloignées. / Plus les rapports des deux réalités rapprochées seront lointains et justes, plus l’image sera forte – plus elle aura de puissance
émotive et de réalité poétique…“ (31)
„Das Bild ist eine reine Schöpfung des Geistes. / Es kann nicht aus dem Vergleich entstehen,
vielmehr aus der Annäherung von zwei mehr oder weniger voneinander entfernten
Wirklichkeiten. / Je entfernter und je genauer die Beziehungen der einander angenäherten
Wirklichkeiten sind, um so stärker ist das Bild – um so mehr emotionale Wirkung und
poetische Realität besitzt es…“ (23)
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Geschichte der Poetik (II)
Die Poetik der Postmoderne
John Barth, The Literature of Replenishment. Postmodern Fiction (1979):
„If the modernists, carrying the torch of romanticism, taught us that linearity, rationality, consciousness, cause and effect, naïve illusionism, transparent language, innocent anecdote, and middle-class moral conventions are not the hole story, then from the perspective of these closing decades of our century we may appreciate that the contraries of those things are not the whole story
either. Disjunction, simultaneity, irrationalism, anti-illusionism, self-reflexiveness, medium-asmessage, political olympianism, and a moral pluralism approaching moral entropy – these are not
the whole story either. A worthy program for postmodernist fiction, I believe, is the synthesis or
transcension of these antitheses, which may be summed up as premodernist and modernist modes
of writing. My ideal postmodernist author neither merely repudiates nor merely imitates either his
twentieth-century modernist parents or his nineteenth-century premodernist grandparents.“
Umberto Eco, Postmodernismus, Ironie und Vergnügen (1983):
„Die sogenannte ,historische‘ Avantgarde […] will mit der Vergangenheit abrechnen, sie
erledigen. ,Nieder mit dem Mondschein!‘, die Kampfparole der Futuristen, ist ein typisches
Programm jeder Avantgarde, man muß nur etwas Passendes an die Stelle des Mondscheins setzen.
Die Avantgarde zerstört, entstellt die Vergangenheit: Picassos Demoiselles d’Avignon sind die
typische Auftrittsgebärde der Avantgarde; dann geht die Avantgarde weiter, zerstört die Figur,
annulliert sie, gelangt zum Abstrakten, zum Informellen, zur weißen Leinwand, zur zerrissenen
Leinwand, zur verbrannten Leinwand; in der Architektur ist das Ende die Minimalbedingung des
Curtain Wall, das Bauwerk als glatte Stele, das reine Parallelepiped, in der Literatur die Zerstörung
des Redeflusses bis hin zur Collage à la Burroughs, bis hin zum Verstummen oder zur leeren Seite,
in der Musik der Übergang von der Atonalität zum Lärm, zum bloßen Geräusch oder zum totalen
Schweigen (in diesem Sinn ist der frühe Cage ein Moderner).
Es kommt jedoch der Moment, da die Avantgarde (also die Moderne) nicht mehr weitergehen
kann, weil sie inzwischen eine Metasprache hervorgebracht hat, die von ihren unmöglichen Texten
spricht (die Concept Art). Die postmoderne Antwort auf die Moderne besteht in der Einsicht und
Anerkennung, daß die Vergangenheit, nachdem sie nun einmal nicht zerstört werden kann, da
ihre Zerstörung zum Schweigen führt, auf neue Weise ins Auge gefaßt werden muß: mit Ironie,
ohne Unschuld. Die postmoderne Haltung erscheint mir wie die eines Mannes, der eine kluge
und sehr belesene Frau liebt und daher weiß, daß er ihr nicht sagen kann: ,Ich liebe dich inniglich‘,
weil er weiß, daß sie weiß (und daß sie weiß, daß er weiß), daß genau diese Worte schon, sagen
wir, von Liala geschrieben worden sind. Es gibt jedoch eine Lösung. Er kann ihr sagen: ,Wie jetzt
Liala sagen würde: Ich liebe dich inniglich.‘ In diesem Moment, nachdem er die falsche Unschuld
vermieden hat, nachdem er klar zum Ausdruck gebracht hat, daß man nicht mehr unschuldig reden
kann, hat er gleichwohl der Frau gesagt, was er ihr sagen wollte, nämlich daß er sie liebe, aber daß
er sie in einer Zeit der verlorenen Unschuld liebe. Wenn sie das Spiel mitmacht, hat sie in gleicher
Weise eine Liebeserklärung entgegengenommen. Keiner der beiden Gesprächspartner braucht sich
naiv zu fühlen, beide akzeptieren die Herausforderung der Vergangenheit, des längst schon
Gesagten, das man nicht einfach wegwischen kann, beide spielen bewußt und mit Vergnügen das
Spiel der Ironie… Aber beiden ist es gelungen noch einmal von Liebe zu reden.“
John Barth, The Literature of Exhaustion (1967), über die eigenen Romane:
„novels which imitate the form of the Novel, by an author, who imitates the role of the Author.“
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